Über das Buch

Nach einer atemlosen gemeinsamen Zeit in London stehen Hannah, Cate und Lissa mit Mitte dreißig an ganz unterschiedlichen Punkten. Hannah liebt ihr Leben und das Leben mit Nathan, doch alles scheint wertlos ohne ein Kind. Cate ist nach der Geburt ihres Sohnes nach Canterbury gezogen und hat das Gefühl, sich mehr und mehr selbst zu verlieren. Und Lissa steht nach einer schwierigen Beziehung auf der Schwelle zu ihrem Traum. Was wollen wir, was können wir sein? »Beeindruckend scharfsinnig und voller emotionaler Weisheit« (The Observer) erzählt Anna Hope von drei Frauen unserer Zeit und kommt dabei ihren Figuren so nah wie wir sonst nur uns selbst.

Anna Hope

Was wir sind

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Carl Hanser Verlag

Für Bridie, wenn sie älter ist,

und für Nimmi, die mich in die Erzählung zurückgeholt hat.

Das Problem oder die Frage der Mutterschaft löst man nicht. Man begibt sich hinein, auf eigenes Risiko.

Jacqueline Rose: Mütter. Ein Essay über Liebe und Grausamkeit

London Fields

2004

Es ist Samstag, Markttag. Es ist später Frühling, oder früher Sommer. Es ist Mitte Mai, und im verwilderten Garten vor dem Haus blühen die Heckenrosen. Für einen Morgen am Wochenende ist es noch früh, nicht einmal neun Uhr, aber Hannah und Cate sind schon auf. Sie sprechen wenig, während sie nacheinander am Wasserkocher stehen und sich Tee und Toast zubereiten. Das Sonnenlicht fällt schräg durchs Zimmer und trifft auf die Regale mit den willkürlich zusammengestellten Töpfen, die Kochbücher und die nachlässig gestrichenen Wände. Bei ihrem Einzug vor zwei Jahren hatten sie sich geschworen, das grässliche Lachsrosa der Küche zu übermalen, doch dann sind sie nie dazu gekommen. Inzwischen mögen sie die Farbe, sie fühlt sich warm an, wie alles in diesem freundlichen, schäbigen Haus.

Lissa ist oben und schläft. Am Wochenende steht sie nur selten vor zwölf auf. Sie jobbt im Pub um die Ecke und geht nach der Arbeit oft noch feiern. Auf eine Party in einer Wohnung in Dalston, in einer Bar an der Kingsland Road, oder etwas weiter draußen in einem der Künstlerateliers von Hackney Wick.

Cate und Hannah essen ihren Toast und lassen Lissa schlafen. Sie nehmen die verwaschenen Stofftaschen vom Türhaken und treten in den hellen Morgen hinaus. Sie gehen nach links, und biegen dann nach rechts ab in den Broadway Market, wo gerade die Stände aufgebaut werden. Die Stunden vor dem großen Andrang sind ihnen die liebsten. Beim Bäcker an der Ecke kaufen sie Marzipancroissants; sie kaufen würzigen Cheddar und einen kleinen, in Asche gerollten Ziegenkäse. Sie kaufen reife Tomaten und Brot. Vor dem türkischen Kiosk ziehen sie eine Zeitung aus dem hohen Stapel, dann gehen sie hinein und suchen zwei Flaschen Wein für später aus. (Rioja, immer Rioja. Sie haben keine Ahnung von Wein, aber eins wissen sie: Sie mögen Rioja.) Sie schlendern an den Marktständen vorbei, begutachten billigen Schmuck und Secondhandklamotten. Vor den Pubs halten die Leute um neun schon ein Bier in der Hand, wie auf fast allen Londoner Märkten.

Zu Hause packen sie ihre Einkäufe auf den Küchentisch. Sie kochen eine riesige Kanne Kaffee, legen Musik auf und öffnen die Fenster zum Park, wo sich die ersten kleinen Gruppen auf dem Rasen versammeln. Gelegentlich wirft jemand einen Blick herüber, und sie wissen, was er denkt: Wie kommt man an so ein Haus? Wie landet man in einer dreigeschossigen viktorianischen Villa unmittelbar neben Londons schönstem Park? — Mit viel Glück. Eine entfernte Bekannte hatte Lissa ein Zimmer angeboten, später im selben Jahr wurden zwei weitere frei, und seither wohnen sie hier zu dritt zusammen. Sie haben sich die Villa in jeder Hinsicht angeeignet, außer auf dem Papier vielleicht. Irgendwo im fernen Stamford Hill sitzt eine Hausverwaltung, die aber anscheinend nicht weiß, wie die Gegend sich entwickelt hat, und so ist die Miete seit zwei Jahren nicht gestiegen. Die drei haben sich geschworen, niemals irgendwelche Forderungen zu stellen; sie werden sich weder über die Wellen im Linoleum beschweren noch über den fleckigen Teppichboden. In einem Haus, das so innig geliebt wird wie dieses, spielen solche Kleinigkeiten keine Rolle.

Gegen elf wacht Lissa auf und kommt die Treppe herunter. Sie hält sich den Kopf, trinkt ein großes Glas Wasser, nimmt ihren Kaffee mit nach draußen, dreht sich eine Zigarette und setzt sich auf der breiten Steintreppe in die warme Morgensonne, die bis an die unteren Stufen herangekrochen ist.

Wenn sie genug Kaffee getrunken und geraucht haben und aus dem Vormittag Nachmittag geworden ist, packen sie Teller, Essen und Decken ein, gehen in den Park, legen sich in den gesprenkelten Schatten ihres Lieblingsbaums und picknicken in aller Ruhe. Hannah und Cate lesen abwechselnd Zeitung, Lissa schirmt sich die Augen mit dem Kunstteil ab und stöhnt. Später entkorken sie den Wein, er trinkt sich gut. Der Nachmittag schreitet voran, das Licht wird zäher und die Unterhaltungen im Park stetig lauter.

So sieht es aus, ihr Leben im London Fields des Jahres 2004. Sie arbeiten viel und gehen oft ins Theater, ins Museum oder zu Auftritten befreundeter Bands. Sie essen in vietnamesischen Restaurants in der Mare Street oder der Kingsland Road. Donnerstags fahren sie zu den Galerien in der Vyner Street, wo es regelmäßig Vernissagen und das Bier und den Wein gratis gibt. Sie nehmen sich vor, beim Einkaufen keine Plastiktüten mehr zu verwenden, was sie manchmal aber vergessen. Sie fahren Rad, immer und überallhin. Und tragen dabei selten einen Helm. Sie schauen sich Filme im Rio an, einem Kino in Dalston, und danach gehen sie in ein türkisches Restaurant und bestellen türkisches Bier und Pide, mit diesem sauer eingelegten Gemüse, von dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Auf dem Blumenmarkt an der Columbia Road kaufen sie frische Schnittblumen, ganz früh am Sonntagmorgen. (Manchmal bringt Lissa vom Heimweg nach einer Party Blumen fürs ganze Haus mit, Armladungen voll Gladiolen und Iris. Und weil sie schön ist, bekommt sie sie manchmal geschenkt.)

Einmal gehen sie total verkatert zur Hackney City Farm. Sie sitzen zwischen Eltern und weinenden Kindern vor dem fettigen Frühstück und schwören sich, nie wieder einen Sonntagvormittag hier zu verbringen, es sei denn mit eigenen Kindern.

An manchen Sonntagen unternehmen sie lange Spaziergänge am Regent’s Canal entlang bis zum Victoria Park und noch weiter. Sie folgen dem alten Greenway bis zur Three Mills Island und genießen die Blickschneisen in die Stadt, die sich hier am Wasser bieten.

Sie interessieren sich für die Geschichte des East End. Im Buchladen in ihrer Straße kaufen sie Literatur zum Thema Psychogeografie und versuchen sich an Iain Sinclair, scheitern aber schon an den ersten Kapiteln. Sie wenden sich anderen, leichter verständlichen Büchern zu und informieren sich über die Einwanderungswellen aus Hugenotten, Juden und Bengalen, die den Stadtteil bis heute prägen. Sie machen sich bewusst, dass auch sie auf einer Welle hergeschwommen sind. Eigentlich würden sie diese jüngste Entwicklung gern aufhalten, denn sie fürchten, eines Tages nur noch von ihresgleichen umgeben zu sein.

Sie machen sich Sorgen. Um den Klimawandel, und um die Geschwindigkeit, in der der sibirische Permafrost taut. Sie machen sich Sorgen um die Kinder in den Hochhäusern hinter dem Deli, wo sie regelmäßig Kaffee und Tabouli bestellen. Sie fragen sich, welche Chancen diese Kinder haben. Sie sorgen sich um die eigenen, bescheidenen Privilegien. Die zunehmenden Messerstechereien und Schießereien machen ihnen Angst, aber dann lesen sie in einem Artikel, die Gewalt bleibe meist auf kriminelle Gangmitglieder beschränkt; sie sind erleichtert und fühlen sich gleich schlecht deswegen. Sie fürchten die Gentrifizierung, die von Londons Zentrum heranschwappt und jetzt schon den Park erreicht hat. Manchmal glauben sie, sich noch viel größere Sorgen um all diese Dinge machen zu müssen, aber in diesem Moment sind sie zufrieden mit ihrem Leben und lassen es bleiben.

Sie machen sich keine Gedanken um einen drohenden Atomkrieg oder steigende Zinsen, um die eigene Fruchtbarkeit, den Sozialstaat, alternde Eltern oder Studienkredite.

Sie sind neunundzwanzig und alle kinderlos. Jede andere Generation der Menschheitsgeschichte hätte den Umstand ganz erstaunlich gefunden, aber hier staunt niemand.

Sie wissen, dass London Fields — der Park und das Gras, auf dem sie liegen — immer schon der Allgemeinheit gehört hat. Früher haben die Leute ihre Kühe und Schafe hier weiden lassen. Der Gedanke gefällt ihnen, und zu einem gewissen Teil erklärt er die Anziehungskraft, die das fleckige Grün auf sie ausübt. Sie fühlen sich als seine rechtmäßigen Besitzerinnen, und in der Tat gehört es ihnen, denn es gehört allen.

Am liebsten würden sie die Zeit anhalten, hier und jetzt, in diesem Park und diesem herrlichen Nachmittagslicht. Sie wünschten, die Mieten würden bezahlbar bleiben. Sie möchten rauchen und Wein trinken, als wären sie jung und als machte es nichts aus. Am liebsten würden sie sich für immer in diesem wunderschönen, warmen Nachmittag im Mai vergraben. Sie bewohnen das schönste Haus neben dem schönsten Park im schönsten Teil der schönsten Stadt des Planeten. Ihr Leben liegt vor ihnen, größtenteils. Sie haben Fehler gemacht, aber keiner davon war wirklich schlimm. Sie sind vielleicht nicht mehr jung, aber alt fühlen sie sich nicht. Das Leben ist immer noch formbar und voller Potenzial. Noch sind die unerkundeten Straßen nicht versperrt.

Sie haben noch Zeit zu werden, wer sie später einmal sein wollen.

2010

Hannah

Hannah sitzt auf der Bettkante und hält die Verpackung mit den Fertigspritzen in der Hand. Sie zieht den Daumennagel über das dünne Papier und drückt eine heraus. Sie ist fast gewichtslos. Hannah steckt die Nadel auf und schnipst mit dem Finger gegen den Kolben, um die Luftbläschen zu lösen. Sie weiß, was sie tut, sie hat Übung darin. Dennoch. Vielleicht wäre es angemessen, den Moment feierlicher zu begehen?

Beim ersten Versuch, vor zwei Jahren, hat Nathan sich jeden Morgen mit der Nadel über sie gebeugt und sie auf den Bauch geküsst, bevor die Injektion hineinging.

Heute Morgen war sein Kuss anders als sonst.

Versprich es mir, Hannah. Danach ist Schluss.

Und sie hat es ihm versprochen, weil sie weiß, dass für ein Danach keine Notwendigkeit bestehen wird.

Sie hebt ihr T-Shirt an und kneift sich in die Haut. Ein kurzer Pieks, und es ist vorbei. Hannah steht auf, sie zieht ihre Kleidung glatt und bricht auf in den Morgen, zur Arbeit.

Als sie am Rio ankommt, ist Lissa noch nicht da, also holt Hannah sich an der kleinen Bar einen Tee und tritt wieder nach draußen. Es ist September und immer noch warm, der kleine Platz neben dem Kino voller Menschen. Nach einer Weile entdeckt sie Lissas hochgewachsene Gestalt, die sich von der U-Bahn-Station nähert. Sie hebt die Hand und winkt. Lissa trägt einen Mantel, den Hannah noch nie gesehen hat, schmal an den Schultern und unterhalb der Taille weit ausgestellt. Ihr langes Haar ist wie immer offen.

»Der ist toll«, murmelt Hannah, als Lissa sich vorbeugt und sie auf die Wange küsst. Sie nimmt das Revers aus grobem Leinen zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Der?« Lissa sieht an sich hinunter, als wäre sie überrascht über das, was sie trägt. »Den habe ich schon seit Jahren. Aus dem Secondhandladen in der Mare Street. Weißt du noch?«

Nie ist es ein Teil, das man einfach irgendwo nachkaufen könnte, immer muss es aus dem Secondhandladen sein oder von dem kleinen Stand auf dem Markt in Portobello, du weißt schon, der von diesem Typen.

»Wein?«, fragt Lissa.

Hannah zieht die Nase kraus. »Ich darf nicht.«

Lissa berührt sie am Arm. »Du hast wieder angefangen?«

»Heute Morgen.«

»Wie geht es dir?«

»Gut. Es geht mir gut.«

Lissa drückt sanft ihre Hand. »Bin gleich zurück.«

Hannah schaut zu, wie ihre Freundin sich bis an die Bar vordrängelt. Bei Lissas Anblick leuchtet das Gesicht des jungen Barkeepers auf. Sie lachen zusammen, und kurz darauf steht Lissa wieder draußen in der Sonne und hält einen Plastikbecher mit Rotwein in der Hand. »Darf ich schnell eine rauchen?«

Während sie sich eine Zigarette dreht, hält Hannah den Wein. »Wann willst du damit eigentlich aufhören?«

»Bald.« Lissa zündet sich die Zigarette an und bläst den Rauch über die Schulter aus.

»Das sagst du seit fünfzehn Jahren.«

»Wirklich? Tja.« Lissa greift nach dem Plastikbecher, ihre Armreifen klirren. »Ich wurde noch mal zum Vorsprechen eingeladen«, sagt sie.

»Echt?« Es ist beschämend, aber Hannah kann es sich nie merken. So viele Castings, so viele beinahe ergatterte Rollen.

»Eine kleine Produktion, aber trotzdem anspruchsvoll. Die Regisseurin ist gut. Die Polin?«

»Ach ja!« Hannah erinnert sich. »Tschechow?«

»Ja. Onkel Vanja. Die Elena.«

»Und, wie war’s?«

Lissa zuckt mit den Schultern. »Ganz gut. Teilweise.« Sie nippt an ihrem Wein. »Wer weiß. Wir haben am Monolog gearbeitet.« Sie imitiert die polnische Regisseurin, samt Akzent und Gestik.

»Mach das bitte noch mal. Es muss authentisch sein. Ich will kein … wie nennt man das … kein Mikrowellengefühl. Zwei Minuten voll aufgedreht, und dann: Ping! Fertig! Schmeckt beschissen

»O Gott«, lacht Hannah. Sie staunt immer wieder darüber, was Lissa sich alles gefallen lässt. »Falls du die Rolle nicht kriegst, kannst du immer noch ein Soloprogramm starten: Regisseure, die mich gesehen und abgelehnt haben

»Ja, das könnte lustig sein, wenn es nicht so wahr wäre. Stimmt schon … es ist lustig. Trotzdem …« Stirnrunzelnd wirft Lissa ihre Zigarettenkippe in den Rinnstein. »Sag es nicht noch mal.«

»Nicht übel«, befindet Lissa, als sie aus dem Kino auf die dunkle Straße treten. »Hat mich fast ein bisschen an Tschechow erinnert.« Sie hakt sich bei Hannah unter. »Erst passiert gar nichts, und dann kommt der große Gefühlshammer. Meine polnische Regisseurin hätte den Film wahrscheinlich geliebt. Aber er war lang«, fährt sie fort, während sie den Weg zum Markt einschlagen, »und es gab keine vernünftigen Frauenrollen.«

»Nicht?« Es war Hannah gar nicht aufgefallen, aber wenn sie jetzt darüber nachdenkt, muss sie Lissa zustimmen.

»Den Bechdel-Test hätte er jedenfalls nicht bestanden.«

»Den Bechdel-Test?«

»Meine Güte, Han, und du willst eine Feministin sein?« Lissa zieht sie zur Kreuzung. »Du weißt schon: Gibt es mindestens zwei Frauen? Haben sie einen Namen? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Eine amerikanische Autorin hat den Test erfunden, und die meisten Filme fallen durch. Eigentlich fast alle.«

Hannah überlegt. »Sie haben sich unterhalten«, sagt sie. »Etwa in der Mitte des Films, es ging um einen Fisch.«

Die Freundinnen grunzen vor Lachen und überqueren Arm in Arm die Straße.

»Apropos Fisch«, sagt Lissa, »hast du Hunger? Wir könnten ein paar Nudeln essen gehen.«

Hannah zieht ihr Handy aus der Tasche. »Ich muss nach Hause. Morgen ist ein Bericht fällig.«

»Dann lass uns über den Markt gehen?«

»Klar.« Es ist ihr liebster Heimweg, vorbei an verrammelten afrikanischen Friseursalons, umgestürzten Kartonstapeln und Holzkisten mit überreifen Mangos und summenden Fliegenschwärmen. Die Metzgereistände stinken nach Blut und Metall.

Die Bar in der Mitte der Straße hat geöffnet, davor stehen junge Menschen und trinken bunte Cocktails mit Retroschirmchen. Alle wirken ausgelassen und befreit, manche tragen trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille. Lissa verlangsamt ihre Schritte und zieht Hannah am Ärmel. »Komm schon — ein ganz kleiner Drink.«

Aber Hannah ist plötzlich müde. Genervt von den Leuten, die an einem ganz normalen Wochentag spätabends auf der Straße stehen und lachen, und von Lissas Erwartungshaltung. Welchen Grund hätte sie, morgen früh aufzustehen? Und warum vergisst sie beharrlich, dass Hannah gerade nichts trinken darf?

»Geh du ruhig. Ich muss früh raus und noch den Bericht für morgen schreiben. Ich nehme den Bus.«

»Oh. Okay«, sagt Lissa und dreht sich zur Bar um. »Ich glaube, ich gehe zu Fuß. Der Abend ist so schön. Hey« — sie legt Hannah beide Hände an die Wangen — »viel Glück.«

Cate

Jemand ruft nach ihr. Sie versucht, sich zu orientieren, doch die Stimme windet sich, hallt aus allen Richtungen wider und will sich nicht fassen lassen. Sie kämpft sich in die Höhe, durchbricht die Oberfläche und begreift — ihr Sohn liegt neben ihr im Bett und weint. Sie legt ihn an und tastet nach dem Handy. 3.13 Uhr. Seit dem letzten Stillen ist keine Stunde vergangen.

Sie hatte wieder denselben Albtraum: überall Trümmer und zerstörte Straßen, sie hielt Tom im Arm, irrte ziellos herum und suchte in den ausgebrannten Ruinen nach etwas oder jemandem, doch sie erkannte weder die Straßen noch die Stadt wieder und wusste nicht, wo sie sich befand; sie wusste nur, alles war vorbei und zerstört.

Tom trinkt. Nach einer Weile wird sein Kiefer schlaff, und sie lauscht auf eine Veränderung seiner Atmung, die den Schlaf ankündigt. Dann zieht sie ihm mit einer knappen Bewegung die Brustwarze aus dem Mund, hebt den Arm, rollt sich auf die Seite und zieht sich die Decke übers Ohr. Sie fällt, versinkt abermals im Schlaf, und der Schlaf ist wie Wasser — aber da weint Tom schon wieder, er steigert sich regelrecht hinein und ist anscheinend sehr empört darüber, dass sie einfach so von ihm abgefallen ist. Cate zwingt sich, wieder aufzuwachen.

Ihr winziger Sohn windet sich im trüben Licht. Sie nimmt ihn hoch und streicht ihm über den Rücken. Er rülpst leise, sie legt ihn an und schließt die Augen, während er erst saugt und dann zubeißt. Sie schreit auf und schiebt ihn von sich.

»Was? Was willst du?« Sie drückt sich beide Handballen in die Augenhöhlen, während ihr Kind heult, strampelt, mit den Armen rudert und die leeren Fäuste ballt. »Hör auf, Tom! Bitte, bitte.«

Hinter der dünnen Wand knarrt ein Bettgestell, gedämpfte Stimmen sind zu hören. Cate muss zur Toilette. Sie schiebt das weinende Kind in die Mitte der Matratze, verlässt den Raum und bleibt unschlüssig am Geländer stehen. Im Zimmer zu ihrer Rechten liegt Sam, der anscheinend durch nichts zu wecken ist, unten erstreckt sich der schmale Flur. Er ist vollgestellt mit Krempel und Kistenstapeln, für die sie seit dem Umzug keine Zeit hatte.

Sie könnte einfach verschwinden. Sie könnte Jeans und Stiefel anziehen, das Haus verlassen und vor der heulenden Kreatur weglaufen, die sich offenbar durch nichts zufriedenstellen lässt, und vor ihrem Ehemann, der sich in das interstellare Nichts des Schlafs zurückgezogen hat. Sie könnte vor sich selbst weglaufen; sie wäre nicht die Erste. Die Schreie des Kindes im Schlafzimmer werden immer lauter, es klingt jetzt wie ein kleines, verängstigtes Tier.

Cate geht ins Bad, pinkelt, so schnell sie kann, und stolpert dann ins Schlafzimmer zurück. Sie legt sich neben den heulenden Tom und gibt ihm abermals die Brust. Selbstverständlich wird sie nicht weglaufen, es wäre das Letzte, das Allerletzte, was ihr in den Sinn käme, aber ihr Herzschlag fühlt sich plötzlich fremd an, und ihre Atmung kommt stoßweise. Vielleicht ist das ihr Schicksal, vielleicht muss sie sterben, wie schon ihre Mutter, und dann wird ihr Sohn bei Verwandten seines Vaters aufwachsen, in einem sterilen Haus im letzten Winkel von Kent.

Endlich geht ein Zucken durch Toms Körper, er lässt los und schläft ein. Bloß, dass sie jetzt hellwach ist. Sie setzt sich auf und zieht die Vorhänge zurück. Ihr Blick wandert zum Parkplatz, wo die Autos in geraden Reihen gehorsam nebeneinanderstehen, und dann weiter zur dunklen Linie des Flusses, hinter der die orangegelben Lichter der Ringstraße glühen. Der Verkehr verdichtet sich jetzt schon. Lastwagen, die an die Küste rollen oder von den Häfen am Ärmelkanal zurückkehren, Pendler auf dem Weg nach London; wie eine einzige große, gut geölte Maschine rumpeln sie dem Licht entgegen. Cate kann ihren eigenen Herzschlag spüren und wie das Adrenalin ihre Adern flutet. Der Mond kommt hinter den Wolken hervor und scheint ins Zimmer, auf zerknitterte Laken und das winzige Kind an ihrer Seite, das im Schlaf die Arme von sich reckt. Sie möchte es beschützen. Wie soll sie es vor all dem beschützen, was ihm auf den nackten Kopf fallen könnte? Sie streckt die Hand aus und berührt sein Haar, und da fällt ihr Blick auf die Tätowierung an ihrem Handgelenk. Sie zieht die Hand zurück und fährt das Motiv mit der Fingerspitze ab, eine filigrane Spinne in einem filigranen Netz, das im Mondlicht silbrig schimmert. Ein Relikt aus einem anderen Leben.

Sie sehnt sich nach einer Begegnung, nach einer Unterhaltung mit einem Menschen aus vergangenen Zeiten. Nach jemandem, der ihr Sicherheit gab.

Sie sitzt auf ihrer Bank und betrachtet den Fluss. Vom Wasser steigen flache, breite Nebelschwaden auf, am Ufer wächst ein Gestrüpp aus Brennnesseln. Auf dem Treidelpfad tut sich etwas, eine lose Menschenkette zieht vorbei, da sind Jogger und gelegentlich auch Frühschichtler, die mit gesenktem Kopf in Richtung Innenstadt eilen. Tom hat sich endlich beruhigt, eine Bärenmütze rahmt sein Gesicht, und er liegt als warmes Gewicht auf ihrer Brust. Gegen fünf Uhr ist er aufgewacht und wollte sich nicht trösten lassen, deswegen sitzen sie jetzt hier draußen. Sie schaut auf ihr Handy und sieht, dass es fast schon sieben ist; bald wird der Supermarkt öffnen, dann haben sie endlich einen Ort, wo sie hingehen können und wo es warm ist. Cate steht auf und folgt dem kleinen Nebenfluss, überquert die bucklige Brücke, geht durch die Unterführung und über den Parkplatz. Vor dem Supermarkt hat sich eine kleine Gruppe versammelt. Als sie sich dazustellt, beginnt es zu nieseln.

Tom wird im Tragetuch langsam unleidlich, und Cate redet beruhigend auf ihn ein. Eine Frau in Uniform kommt heraus, wirft einen Blick gen Himmel und verschwindet wieder. Im nächsten Moment öffnen sich die Glastüren, die Menge strömt in den Supermarkt und durch den Trichter aus Backwarenregalen, wo in der aufgeheizten Luft ein Geruch nach Zucker, Hefe und Teig zirkuliert. Cate steuert die Kleinkindabteilung an und legt mehrere Packungen Babynahrung in den Korb. Anfangs hat sie immer nur eine oder zwei mitgenommen, denn da war sie noch der Überzeugung gewesen, die nächste Mahlzeit frisch kochen zu können, aber inzwischen kauft sie die Fertigprodukte massenhaft. Die Windeln ebenfalls. Eigentlich hatte sie geplant, Stoffwindeln zu verwenden, aber nach der traumatisierenden Entbindung hatten sie auf Einwegwindeln zurückgreifen müssen, und dann kam der Umzug, und jetzt steht sie hier und wuchtet eine Großpackung in den Korb, wahrscheinlich von jener Sorte, die sich frühestens nach einem halben Jahrtausend zersetzt.

Der Heimweg dauert zwei Minuten und führt an Bäumchen in Betonkübeln und Drahtkäfigen vorbei, an Müllcontainern mit Vorhängeschloss und Parkplätzen mit Schranke. An jeder zweiten Fassade weist ein Schild auf den Einbruchschutz hin. Cate schließt die Haustür auf, geht in die enge Küche, stellt die Einkäufe ab, hebt Tom aus dem Tragetuch und setzt ihn in den Hochstuhl. Sie sucht einen der Quetschbeutel heraus — Blaubeer-Banane —, und während Tom schon die Hände danach ausstreckt, knackt sie den Drehverschluss auf und schiebt ihm die Plastikzitze in den Mund. Wie ein kleiner Astronaut nuckelt er zufrieden an seiner Weltraumnahrung.

»Morgen.« Sam kommt herein. Seine Haare sind vom Schlaf zerzaust, und er sieht aus, als hätte er in den Kleidern vom Vortag geschlafen, einem verwaschenen Rockband-T-Shirt und Boxershorts. Ohne Cate anzusehen, geht er zum Wasserkocher, prüft die Temperatur, schaltet ihn ein. Er kippt den alten Kaffeesatz aus der Glaskanne in den Mülleimer, spült sie notdürftig aus und gibt frisches Pulver hinein. Der Luxus der morgendlichen Trance, kein Wort, bevor das erste Koffein in seiner Blutbahn ist.

»Morgen«, sagt sie.

Sam sieht sie an, als wäre er unter Wasser. »Hey.« Er hebt die Hand.

»Wann bist du nach Hause gekommen?«

»Spät«, sagt er schulterzuckend. »Gegen zwei? Wir haben nach der Schicht noch ein paar Bier getrunken.«

»Hast du gut geschlafen?«

»Ach. Na ja.« Er seufzt, lässt den Nacken knacken. »Nicht gut, aber okay.«

Und wie viele Stunden am Stück? Selbst wenn er spät nach Hause kommt, bleiben ihm wie viele Stunden? Sechs, vielleicht sogar sieben, ganz ohne Unterbrechung. Allein die Vorstellung: sieben Stunden ungestörten Schlafs. Cate fragt sich, wie sich das anfühlen mag. Sam sieht trotzdem müde aus, er hat dunkle Schatten unter den Augen und den fahlen Teint des Berufskochs. Er schläft jetzt regelmäßig im Gästezimmer, das anscheinend nicht mehr nur den Gästen vorbehalten ist; es ist seins, und das Elternschlafzimmer gehört Cate. Ihr und ihrem Sohn. Toms Kinderbett wird höchstens noch als Zwischenablage für Wäsche benutzt, denn er schläft bei seiner Mutter. Es ist einfacher so, weil er nachts häufig wach wird. Sehr häufig.

Sam dreht sich zur Kaffeekanne um, drückt den Filter hinunter und schenkt sich einen Becher ein. »Möchtest du auch?«

»Gern.«

Er öffnet den Kühlschrank und sucht die Milch. »Ich muss heute früher los«, sagt er. »Mittagsschicht.«

Sam ist in einem Restaurant im Stadtzentrum als Souschef angestellt. Die hinken hier zehn Jahre hinter London hinterher, hat er neulich am Telefon zu einem seiner alten Freunde aus Hackney gesagt, aber eigentlich ist es ganz okay. Ich kann mich einbringen.

Er hatte geplant, in Hackney Wick etwas Eigenes zu eröffnen, aber das war, bevor die Mieten durch die Decke gingen. Bevor Cate schwanger wurde. Vor dem Umzug.

Er reicht ihr einen Kaffeebecher, trinkt einen Schluck aus seinem. »Hast du die Kochwäsche gemacht?«

Cate sieht sich um und entdeckt den drei Tage alten Haufen in der Ecke. »Nein. Sorry.«

»Im Ernst? Ich habe sie dir extra in den Weg gelegt, damit du sie nicht vergisst.« Sam bückt sich, hält den am wenigsten befleckten Overall ins Licht, stellt sich an die Spüle und fängt an, ihn wütend mit dem Topfschwamm zu bearbeiten. Aus dem Niesel draußen wird Regen.

»Was habt ihr zwei heute vor?«, fragt er.

»Keine Ahnung. Wäsche waschen. Kartons auspacken.«

»Was ist mit der Spielgruppe? Die, von der meine Mutter erzählt hat?« Er nickt zu einem bunten Flyer an der Kühlschranktür hinüber. Alice hat ihn mitgebracht. Alice, Sams Mutter mit dem teilnahmsvollen Gesichtsausdruck und diesem Zug um den Mund, etwas zwischen Lächeln und Grimasse. Das ist eine wirklich nette Gruppe, vielleicht lernt ihr da neue Freunde kennen. Alice, die treibende Kraft hinter dem Plan, ein eigenes kleines Haus nur für euch drei zu kaufen. In Canterbury. Alice, die Retterin in der Not. Alice, die einen eigenen Schlüssel besitzt und ständig unangemeldet vorbeischaut.

»Ja«, sagt Cate. »Vielleicht.«

»Und heute Abend sind wir zum Essen eingeladen«, sagt Sam, wirft den Schwamm in die Spüle und hängt den Overall über eine Stuhllehne, »vergiss das nicht. Bei Mark und Tamsin.«

»Ich habe es nicht vergessen.«

»Ich hole dich ab, okay?«

»Okay.«

»Cate?«

»Ja?«

»Versuch heute mal, aus dem Haus zu gehen, okay? Mit Tom.«

»Wir waren draußen, als du noch geschlafen hast. Ich habe Windeln und Essen eingekauft.«

»Ich meinte, so richtig

»Definiere richtig«, murmelt Cate.

Sam sieht sich in der Küche um. »Weißt du«, sagt er, nimmt ein Geschirrtuch und fängt an, die Arbeitsplatte abzuwischen, »am Abend kurz die Küche aufzuräumen ist gar nicht schwer. Du machst es einfach wie wir im Restaurant, und danach wirfst du die benutzten Lappen in die Waschmaschine. Zusammen mit meiner Kochwäsche.« Er hält das nasse, schmutzige Tuch in die Höhe. »Wo ist eigentlich unser Wäschekorb?«

Sie sieht ihn an. »Keine Ahnung.«

»Du brauchst einfach nur ein System«, sagt er kopfschüttelnd. »Ein System.« Er legt das Tuch beiseite, hebt Tom aus dem Hochstuhl und stemmt ihn in die Höhe. Der Kleine quiekt und strampelt vor Vergnügen, aber der Moment ist schnell vorbei. Sam übergibt Cate das Kind und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich bin hinüber«, sagt er zu niemand Bestimmtem.

»Ja«, sagt sie, »ich auch.«

Lissa

Das Casting findet im Green Room in der Wardour Street statt. Unzählige Male hat sie hier schon vorgesprochen. Die junge, perfekt geschminkte Empfangsdame blickt kaum auf, als Lissa ihren Namen nennt.

»Lissa Dane. Tut mir leid, ich bin ein wenig …«

»Schon gut. Wir sind eh hinter der Zeit.« Die Frau hakt Lissas Namen auf einer Liste ab und reicht ihr ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber. »Nehmen Sie Platz und füllen Sie den Bogen aus.«

Lissa nickt, sie kennt das. Sie schaut sich flüchtig um: vier Männer und zwei Frauen Mitte dreißig, eine ist brünett und die andere rothaarig. Die Rothaarige flüstert angestrengt in ihr Handy: »Nein, nein, ich weiß, dass ich halb gesagt habe, aber hier verzögert sich alles. Keine Ahnung. Eine halbe Stunde vielleicht. Oder noch länger. Würde es dir was ausmachen? Ich komme dann später zu euch und hole ihn ab. O Gott, vielen Dank, ich bin dir was schuldig, danke, vielen Dank.« Sie steckt das Handy ein und bemerkt Lissas Blick. »Scheiße noch mal, vierzig Minuten!«, zischelt sie wütend.

Lissa setzt ein mitfühlendes Gesicht auf. Die Verzögerung ist nicht schön, aber kein Beinbruch. Sie hat schon viel Schlimmeres erlebt, einmal hat sie fast zwei Stunden gewartet, bis sie endlich vorsprechen durfte. Andererseits hat sie keine kleinen Kinder von der Schule abzuholen. Sie überfliegt die Regieanweisung im Skript.

Elternsprechtag. Ein Lehrer und ein um seinen Sohn besorgtes Elternpaar.

Ganz oben auf der ersten Seite steht der Name eines bekannten Schokoladenkeksherstellers. Der Mann, der Lissa gegenübersitzt, markiert eifrig seine Zeilen und kritzelt Anmerkungen an den Rand. Sie blättert um und füllt das Formular aus.

Größe. 170 cm.

Gewicht. Sie hält inne; sie weiß nicht mehr, wann sie zuletzt auf einer Waage stand. Sechzig Kilo? Normalerweise gibt sie immer sechzig an. Sie schreibt es hin.

Taille. 76 cm.

Hüfte. 96 cm.

Inzwischen versucht sie, ehrlich zu sein, denn es hat keinen Sinn, sich hier Freiheiten zu nehmen. Früher hat sie irgendwelche Angaben gemacht; sie hat nicht direkt gelogen, doch sie hat es mit den Zahlen nicht so genau genommen. Und dann war sie bei einem Fotoshooting in Berlin aufgeflogen. Sie erinnert sich an die Altbauwohnung mit Hunderten von japanischen Papierlaternen, und an die Assistentin, die ihr ein Outfit nach dem anderen brachte, und keins davon passte, obwohl Lissa doch einen Monat zuvor beim Casting in London die gewünschten Maße angegeben hatte. Der kleine Designer, wie er missbilligend mit der Zunge schnalzte und an ihr herumzupfte.

Du siehst so fett aus. So fett in meinen Kleidern.

Letztendlich hatte sie sich die Hose der Assistentin leihen müssen. Und war aus der Kampagne herausgeschnitten worden.

Während sie das Formular ausfüllt, hat sie Hannahs Kommentar von gestern Abend im Ohr. Soloprogramm: Regisseure, die mich gesehen und abgelehnt haben. Ja, es war lustig, aber es hat trotzdem wehgetan. Niemals würde sie so etwas zu Hannah sagen.

Hey, Han! Was ist mit Damals, als es mit der künstlichen Befruchtung wieder nicht geklappt hat. Was ist damit? Wäre das nicht zum Totlachen?

Aber der Vergleich ließe sich natürlich nicht halten. Denn nichts schlägt Hannahs Schmerz.

Der Mann von der Castingagentur kommt herein, und augenblicklich steigen Stimmung und Konzentration. »Also gut, Leute. Wir sind spät dran.«

Er ist braungebrannt und fleischig, wenn nicht gar dick. Sein Gesicht erinnert an ein selbstzufriedenes Baby. Aber er vermittelt Lissa regelmäßig Termine wie diesen, deswegen lächelt sie, überwindet sich, kichert und flirtet ein bisschen.

Die Rothaarige ist als Erste dran. Lissa kann sehen, wie sie ihre Wut hinunterschluckt und ein Lächeln aufsetzt.

Lissa wirft einen schnellen Blick auf ihr Handy. Immer noch keine Nachricht wegen des Vorsprechens. Wegen Tschechow. Was nichts zu bedeuten hat; manchmal wartet man wochenlang und erlebt dann eine freudige Überraschung. Doch Lissa spürt jetzt schon, wie die Hoffnung sich einer langen Ebbe gleich zurückzieht. Wenn sie bis morgen nichts gehört hat, wird sie unruhig werden, zum Wochenende hin empfindlich und emotional, spätestens am Montag dann mürrisch und verschlossen. Im Laufe der Jahre ist ihr Fell dünner geworden, nicht dicker.

Sie ignoriert die Fragen nach Hut- und Handschuhgröße — man könnte meinen, diese Formulare sind seit den 1950ern nicht überarbeitet worden —, schreibt ihre Schuhgröße hin, steht auf und gibt der jungen Frau hinter dem Tresen das Klemmbrett zurück.

Die junge Frau erhebt sich. Sie ist groß und dünn und trägt Schwarz. Sie nimmt eine Polaroidkamera in die Hand und deutet gelangweilt zur leeren Wand hinüber.

Lissa stellt sich vor die unverputzten Backsteine und bemerkt, wie die anderen Frauen den Kopf heben und ihre Figur und ihre Kleidung abschätzen. Immer auf der Suche nach Augenringen, Fältchen, grauen Haaren.

Lissa ordnet ihr Gesicht.

Früher ist sie nie zu solchen Castings gegangen.

Nach der Schauspielschule war ihre Agentin, die bei ihrem ersten Treffen auf einem Yogablock gesessen und eine beeindruckende Klientenliste heruntergerasselt hatte, der Meinung gewesen, sie dürfe keine Werbespots drehen. Es sei denn, sie wolle unbedingt.

Und in dem Fall, hatte sie gesagt, sollten es nur Spots für den europäischen Markt sein. Schließlich wollen wir nicht, dass du hier gesehen wirst.

Sie hatten beide gelacht. Hahaha. Damals sprach Lissa jede Woche für drei Kinofilme vor, und die Castingdirektoren achteten peinlich genau darauf, dass die Schauspielerinnen, die sich für dieselbe Rolle bewarben, einander nicht begegneten. Wenn sie damals mit dem Skript in der Hand im stillen Vorzimmer saß und wartete, fühlte sie sich wie ein teures Rennpferd. Wenn sie hineinging, sprang der Regisseur auf (immer ein Mann, Frauen führten kaum je Regie) und streckte ihr die Hände entgegen: Danke, vielen Dank, dass Sie hergekommen sind!

Die Polaroidkamera klickt und surrt.

»Danke«, sagt die junge Frau und wedelt mit dem Foto. »Sie können sich wieder hinsetzen.«

Lissa setzt sich nicht wieder hin. Stattdessen geht sie an den anderen vorbei in den kleinen Waschraum, um ihr Gesicht im Spiegel zu überprüfen. Ihre Wimperntusche ist verschmiert, unter den Augen haben sich schwarze Klümpchen abgesetzt. Mist. Sie reibt mit dem Daumen darüber. Egal, wie gut sie sich fühlt, egal, wie sorgsam sie ihr Outfit zusammengestellt und sich geschminkt hat — irgendetwas läuft bei ihr immer schief.

Du musst das Spiel schon mitspielen, Lissa, hatte die Assistentin ihrer ersten Agentin am Telefon geseufzt, nachdem Lissa sich geweigert hatte, zum Casting einen Wonderbra zu tragen. Du wusstest doch, dass sie eine Frau mit großen Brüsten suchen. Der Wonderbra war später noch einmal zur Sprache gekommen, bei einem zweiten Telefonat, als die Agentin ihr den Laufpass gab.

Sie geht zurück in den Wartebereich, schlängelt sich an den ausgestreckten Beinen der anderen vorbei, nimmt Platz und schließt die Augen.

Sie hat es versucht.

Während die Zeit verstrich und Lissa erst Mitte zwanzig war und dann Mitte dreißig und immer noch keine nennenswerten Erfolge vorweisen konnte, hat sie wirklich versucht, das Spiel mitzuspielen. Sie hat drei Agentinnen verschlissen, und jede stand ein bisschen tiefer in der Nahrungskette als ihre Vorgängerin. Früher ist Lissa nie zu Werbecastings gegangen, heute macht sie nichts anderes mehr. Früher war sie gegen den Gestank der Verzweiflung immun, heute ist sie überzeugt, ihn unentwegt und aus allen Poren abzusondern — bei Castings, Partys, auf der Straße.

Bitte geben Sie mir einen Job, irgendeinen. Bitte, bitte, bitte!

Wie in dieser Fernsehserie, die ihre Mutter in den Achtzigerjahren immer geschaut hat. Geben Sie mir einen Job.

»Lissa. Rod. Daniel.«

Sie klappt die Augenlider hoch. Der Castingdirektor ist zurück, offenbar ist sie an der Reihe. Sie erhebt sich und betritt einen winzigen, abgedunkelten Raum. Zwei Männer sitzen auf einem Sofa und wischen gelangweilt auf dem Smartphone herum. Die Luft ist verbraucht, der Tisch voller Kaffeebecher, Sushi-Reste und E-Zigaretten. Keiner der beiden hebt den Kopf.

Lissa stellt sich auf das Klebeband-X am Boden. Die Kamera fährt ihren Körper ab. Sie nennt ihren Namen und den ihrer Agentur. Dreht sich nach rechts und links. Zeigt die Hände vor.

Die beiden Mitbewerber tun dasselbe. Als sie fertig sind, klatscht der Castingdirektor in die Hände.

»Okay, also, Lissa, du bist die Mutter, Rod spielt den Vater. Dan, du bist der Lehrer.«

Dan nickt begeistert. Lissa kann sehen, dass er das Skript schon gestern Abend gelesen hat, denn er trägt die passende Kleidung, ein Jackett mit Ellenbogen-Patches und eine Krawatte.

»Lissa, Rod, ihr sitzt hier.« Der Castingdirektor deutet auf zwei Stühle an einem Tisch. »Dan, du sitzt auf der anderen Seite. Die Kekse sind hier.«

Lissa sieht einen Teller mit Keksen, der auf einem Stuhl steht. Das Gebäck wirkt in der verbrauchten Luft seltsam bleich.

»Tja, also, warum improvisiert ihr nicht ein bisschen?«

Einer der Männer auf dem Sofa blickt flüchtig in den Monitor und dann wieder auf sein Handy. Dan beugt sich vor, er möchte anfangen.

»Nun, ähm, Mrs … Lacey. Mr … Lacey, ich mache mir Sorgen um … Josh.« Er lehnt sich zurück und ist offenkundig sehr zufrieden mit seinem Einfall.

»Wirklich?« Der Schauspieler neben Lissa beugt sich vor. Er ist auf eine nichtssagende Weise attraktiv. Sie kann sehen, wie er unter dem Hemd die Muskeln anspannt. »Das ist sehr … beunruhigend.«

»Hier sind wir!«

Lissa schreckt auf. Der Castingdirektor hat in einem dunklen Bariton vom Blatt abgelesen.

»Die Kekse«, sagt er und wedelt ihre irritierten Blicke weg, »ich spreche die Kekse. Sieh die Kekse an, nicht mich.«

»Oh«, sagt Lissa. »Ach so.«

»Hier sind wir«, wiederholt er.

Lissa sieht auf die Kekse hinunter.

»Wir wissen doch, dass du es auch willst. Ja, genau. Komm ein bisschen näher

Lissa beugt sich zögerlich über den Teller.

»Gut so.« Die Stimme fällt um eine weitere halbe Oktave. Soll das ein amerikanischer Akzent sein? Der Castingdirektor klingt wie Barry White.

Die Männer auf dem Sofa schauen jetzt zu. Lissa kann den Monitor sehen, ihr eigenes Gesicht in Nahaufnahme, die geröteten Wangen, den verwirrten Ausdruck.

»Ja«, murmelt der Castingdirektor. Auch er schaut jetzt in den Monitor. Er wartet.

Stille.

»Weiter«, sagt er mit seiner normalen Stimme.

»Wie bitte?« Lissa spürt den Schweiß auf ihrem Rücken. »Tut mir leid, wo sind wir?«

Dan lehnt sich beflissen vor. »Du sollst zugreifen«, sagt er. »So steht es im Skript. Du sollst sie dir in den Mund stopfen.« Er zeigt auf das Papier. »Da steht, dass du dich nicht auf den Lehrer konzentrieren kannst. Auf das, was er sagt. Wegen der Kekse. Du kannst einfach nicht anders.«

»Ach so. Verstehe.«

Alle Männer sehen sie an: die beiden Schauspieler, der Castingdirektor, der Kameramann, die Kunden auf dem Sofa. Einer der Sofamänner kritzelt etwas auf einen Zettel. Der andere liest es, nickt und schaut dann wieder auf sein Handy.

Der Castingdirektor seufzt. »Lissa, hast du das Skript gelesen?«

»Anscheinend nicht genau genug.«

»Nein.« Er wirft den Männern auf dem Sofa einen entschuldigenden Blick zu. »Sollen wir noch mal von vorn anfangen? Und Lissa, könntest du diesmal ein bisschen mehr mit den Keksen flirten?«

Auf der Oxford Street drängeln sich die Angestellten, die ihre Mittagspause zum Shoppen nutzen. Vor ihr tut sich der gähnende Abgrund der U-Bahn-Station auf, aber sie geht weiter. Sie will nicht da runter, sie will nicht nach Hause, noch nicht.

Scheiß auf die Kekse.

Scheiß auf den fetten Castingdirektor mit seinen drei Urlaubsreisen pro Jahr, und auf die Regisseure, die vor dem Monitor gesessen haben wie zwei gelangweilte Teenager. Scheiß auf die Kamera, die einen weiblichen Körper immer ein bisschen länger begutachtet als einen männlichen. Scheiß auf die Drehbuchautoren, die sich diese bescheuerten Dialoge ausdenken. Du kannst einfach nicht anders. Scheiß auf die Männer, die das Programm machen.

Ohne zu überlegen, geht sie in nordöstlicher Richtung weiter. Sie biegt in die Goodge Street ein und erreicht die Tottenham Road. Sie nimmt die Chenies Street und geht an der roten Eingangstür ihrer alten Schauspielschule vorbei, und dann durch die Bloomsbury, die zum British Museum und zum Russell Square führt. Der Anblick des begrünten Platzes ist erleichternd, Lissa atmet durch. Sie geht weiter nach Norden, über den Gordon Square und bis zur lärmenden Euston Road, wo sie in den Hof der British Library abbiegt, dem Wachmann ihre geöffnete Handtasche vorzeigt und sich dann in einer Mischung aus Stille und Geschäftigkeit wiederfindet.

Wann war sie zuletzt in einer Bibliothek? Sie nimmt die Rolltreppe in den ersten Stock, wo die Leute in Lehnstühlen aufgereiht sitzen, als wären sie ein Teil der Einrichtung oder ein Ausstellungsstück. Aber dort — ah — da geht es zu den Lesesälen. Seltene Bücher. Geisteswissenschaften (I). Sie schiebt eine schwere Tür auf in der Hoffnung, eine Weile hier zwischen den seltenen Büchern sitzen zu können; die seltenen Bücher werden sie beruhigen, ihr helfen, zu sich selbst zurückzufinden.

»Darf ich Ihren Ausweis sehen, Madam?« Ein Wachmann mit freundlichem Gesicht hindert sie mit ausgestrecktem Arm am Weitergehen. »Ihren Leseausweis?«

»Ich … Tut mir leid, ich habe keinen.«

Der Mann hinter ihr seufzt demonstrativ laut und schiebt sich an ihr vorbei. Er hat seine Habseligkeiten in einer durchsichtigen Plastiktüte verstaut und reckt ungeduldig die geballte Faust vor, in der sein Leseausweis steckt.

»Für die Lesesäle brauchen Sie einen Leseausweis, Madam«, sagt der Wachmann und winkt den Besucher durch.

»Ach so.« Heute ist die ganze Welt voller Stacheln. Lissa macht kehrt, fährt wieder ins Erdgeschoss hinunter und lässt sich auf eine Bank sinken.

»Lissa? Liss?«

Sie erkennt ihn nicht auf Anhieb, nicht hier, nicht in dieser Umgebung, aber dann — natürlich: »Nath!« Lissa steht auf, und sie umarmen sich zur Begrüßung.

»Was machst du denn hier?«

»Ich …« Was macht sie hier? »Ich wollte etwas nachlesen«, sagt sie.

»Ach ja?«

»Ja, für … einen Kurs, den ich besuchen möchte. Aber sie lassen mich nicht rein.«

»Wirklich? Ja, manchmal stellen die sich hier ganz schön an.« Er lächelt, und sie ist froh, ihn getroffen zu haben. Sie hat ein vertrautes Gesicht gebraucht. »Also«, sagt er und deutet auf die überfüllte Cafeteria, »ich mache gerade Pause. Wie wäre es mit einem Kaffee?«

Während sie in der Schlange stehen, beobachtet Lissa die anderen Wartenden. Die Leute sind unterschiedlich alt, viele tragen einen Laptop unter dem Arm, manche tippen auf dem Handy herum, und alle haben die gleiche durchsichtige Tüte dabei. Sie bestellt einen Kaffee und Nathan einen Cappuccino mit doppeltem Espresso, und da muss sie plötzlich an Hannah denken — kein Koffein, keinen Alkohol, nicht für die nächsten Jahre. Früher hat sie die Weinflasche vor Hannahs Gesicht geschwenkt — Ach komm schon, ein kleiner Schluck kann nichts schaden —, aber das hat sie sich abgewöhnt. Seit wie vielen Jahren versuchen sie es schon? Seit vier? Fünf? Lissa weiß es nicht mehr.