»Flammen. Rauch.
Die hintere Wand der Scheune – sie brannte. Ich weiß nicht, warum ich nicht losgerannt bin oder geschrien habe, und Mary auch nicht. Ich wollte. Aber ich konnte nur langsam gehen, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzen, den Blick starr auf die Flammen in Orange und Rot gerichtet.
Dann der Knall. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel hin. Aber meine Tochter ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Jeden Abend, wenn ich das Licht ausmache und die Augen schließe, sehe ich sie in diesem Augenblick. Wie eine Stoffpuppe fliegt ihr Körper in hohem Bogen durch die Luft. Anmutig. Zart. Kurz bevor sie dumpf auf dem Boden aufschlägt, sehe ich, wie ihr Pferdeschwanz wippt. So wie früher, als sie klein war, beim Seilspringen.«
ANGIE KIM
MIRACLE CREEK
Roman
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Carl Hanser Verlag
Für Jim, auf ewig
und
für Um-ma und Ap-bah,
für eure vielen Opfer und
all eure Liebe
HYPERBARE OXYGENIERUNG: Therapieform, bei der unter einem erhöhten Umgebungsdruck (der Luftdruck ist höher als der normale Atmosphärendruck) reiner Sauerstoff verabreicht wird. … Die Behandlung findet in speziellen Druckkammern statt, in denen unter dreifachem Atmosphärendruck 100%iger, medizinisch reiner Sauerstoff eingeatmet wird … Ein Risiko bei der hyperbaren Oxygenierung ist die Brand- und Explosionsgefahr … Auch hyperbare Sauerstofftherapie, HBO, HBO-Therapie.
Mosby’s Medical Dictionary, 9. Auflage (2013)
DER VORFALL
Miracle Creek, Virginia, USA
Dienstag, 26. August 2008
Mein Mann bat mich zu lügen. Keine große Lüge. Für ihn war es wahrscheinlich noch nicht einmal eine richtige Lüge, und für mich am Anfang auch nicht. Er bat mich nur um einen kleinen Gefallen. Die Polizei hatte gerade die Demonstrantinnen auf freien Fuß gesetzt, und er wollte, dass ich seinen Platz einnahm, während er hinausging und dafür sorgte, dass sie nicht wiederkamen. Ich sollte für ihn einspringen, so, wie Kollegen das eben tun, so, wie wir es im Lebensmittelladen auch immer getan hatten, während ich aß oder er rauchte. Doch als ich mich auf seinen Stuhl setzte, stieß ich gegen den Schreibtisch, und das Diplom darüber an der Wand verrutschte und hing plötzlich schief, fast als wollte es mich darauf hinweisen, dass das nicht normal war und es einen triftigen Grund dafür geben musste, dass mein Mann mir an diesem Abend zum ersten Mal die alleinige Verantwortung überlassen wollte.
Pak streckte den Arm über mich hinweg aus und rückte den Rahmen gerade, den Blick auf den englischen Diplomtext gerichtet: Pak Yoo, Miracle Submarine LLC, Zertifizierter Techniker für Überdruckbehandlung. Er wandte den Blick nicht von dem Zertifikat ab, als würde er mit ihm sprechen, nicht mit mir, als er sagte: »Läuft alles. Die Patienten sind drin, die Kammer ist dicht, der Sauerstoff an. Du musst einfach nur hier sitzen.« Er sah mich an. »Das ist alles.«
Mein Blick wanderte zur Schalttafel, zu den mir fremden Knöpfen und Schaltern für die Kammer, die wir hellblau angestrichen und erst letzten Monat in dieser Scheune aufgestellt hatten. »Was, wenn die Patienten auf den Rufknopf drücken?«, sagte ich. »Dann sage ich, du kommst gleich wieder, aber – «
»Nein, sie dürfen nicht wissen, dass ich weg bin. Wenn irgendjemand fragt: Ich bin hier. Die ganze Zeit gewesen.«
»Aber wenn was schiefläuft und – «
»Was sollte denn schieflaufen?« Paks Kommandoton. »Ich bin gleich wieder da, und keiner wird den Rufknopf drücken. Es wird nichts passieren.« Er ging Richtung Ausgang, als sei das Thema damit erledigt. An der Tür sah er sich noch einmal nach mir um. »Es wird nichts passieren«, wiederholte er etwas sanfter. Es klang wie eine Bitte.
Kaum fiel die Scheunentür zu, wollte ich schreien, dass er verrückt war, zu glauben, dass an diesem Tag nichts schieflaufen würde, ausgerechnet an diesem Tag, an dem schon so viel schiefgelaufen war – die Demonstrantinnen, ihr Sabotageplan, der Stromausfall deswegen, die Polizei. Glaubte er, es sei schon genug passiert heute, und dass darum nicht noch mehr passieren konnte? Aber so läuft das Leben nicht. Eine Tragödie macht einen nicht immun gegen weitere Tragödien, und Schicksalsschläge werden nicht gerecht hier und da verteilt – mit Unglück wird klumpenweise, gebündelt nach einem geworfen, unkontrollierbar und chaotisch. Wie konnte er das nicht wissen, nach allem, was wir durchgemacht hatten?
Von 20:02 Uhr bis 20:14 Uhr saß ich da, sagte nichts und tat nichts, wie er mich gebeten hatte. Mein Gesicht feucht von Schweiß, dachte ich an die sechs Patienten, die wegen des Stromausfalls ohne Klimaanlage in der Druckkammer saßen (das Notstromaggregat versorgte nur das Überdrucksystem, die Sauerstoffzufuhr und die Gegensprechanlage), und dankte Gott für den tragbaren DVD-Player, der die Kinder da drin bei Laune hielt. Ich ermahnte mich, meinem Mann zu vertrauen, und wartete. Ich sah auf die Uhr, zur Tür, wieder auf die Uhr und betete, er möge wiederkommen (er musste einfach!), bevor Barney vorbei war und die Patienten nach einer neuen DVD verlangten. Just, als das Schlusslied erklang, klingelte mein Telefon. Pak.
»Sie sind hier«, flüsterte er. »Ich muss bleiben und aufpassen, dass sie nicht wieder was anstellen. Du musst den Sauerstoff abdrehen, wenn die Zeit um ist. Siehst du den Drehregler für das Ventil?«
»Ja, aber – «
»Den musst du gegen den Uhrzeigersinn drehen, immer weiter, bis zum Anschlag. Stell dir den Wecker, damit du es nicht vergisst. Für 20:20 Uhr auf der Wanduhr.« Er legte auf.
Ich berührte den Regler aus verblasstem Messing, auf dem Sauerstoff stand, er hatte genau dieselbe Farbe wie der quietschende Wasserhahn in unserer alten Wohnung in Seoul. Ich war überrascht, wie kühl er sich anfühlte. Ich synchronisierte meine Armbanduhr mit der Wanduhr, stellte die Weckzeit auf 20:20 Uhr und legte die Fingerspitze auf den winzigen Knopf, um den Alarm zu aktivieren. Gerade, als ich draufdrücken wollte, gaben die Batterien im DVD-Player den Geist auf, und ich ließ erschrocken die Hände sinken.
Über diese Sekunden denke ich sehr viel nach. Die Toten, die Lähmung, der Prozess – hätte all das vermieden werden können, wenn ich den kleinen Knopf noch gedrückt hätte? Ich weiß, es ist merkwürdig, in Gedanken immer wieder zu diesem kleinen Moment zurückzukehren, nachdem ich mir doch am selben Abend viel größere, viel unverzeihlichere Fehler geleistet hatte. Vielleicht ist es gerade die Winzigkeit, die scheinbare Belanglosigkeit, die diesem Lapsus Macht verleiht und die Spekulationen befeuert: Was, wenn ich mich nicht von dem DVD-Player hätte ablenken lassen? Was, wenn ich eine Mikrosekunde schneller gewesen wäre und den Alarm aktiviert hätte, bevor die DVD mitten im Schlusslied erstarb? I love you, you love me, we’re a hap-py fam-i –
Totale Leere, totale Stille, dicht und drückend – erdrückend, von allen Seiten. Als endlich wieder ein Geräusch erklang – jemand klopfte von innen gegen das Bullauge der Druckkammer –, war ich fast erleichtert. Doch das Klopfen verstärkte sich, es wurde zu einem Hämmern, immer dreimal hintereinander, als würde es Lass mich raus! rufen, bis es schließlich ein einziges Dröhnen war und mir klar wurde: Das musste TJs Kopf sein, der gegen die Wand schlug. TJ, der autistische Junge, der den lila Dinosaurier Barney über alles liebte, der bei unserer ersten Begegnung auf mich zugerannt kam und mich fest in den Arm nahm. Seine Mutter war verblüfft gewesen, sie sagte, sonst nimmt er nie jemanden in den Arm (er hasst Körperkontakt), aber vielleicht lag es ja an meinem T-Shirt, das war nämlich genauso lila wie Barney. Seitdem habe ich das T-Shirt jeden Tag getragen. Jeden Abend wasche ich es mit der Hand und ziehe es für seine Behandlung an, und er nimmt mich jeden Tag in den Arm. Alle finden das wahnsinnig nett von mir, aber in Wirklichkeit tue ich das für mich, weil ich mich so danach sehne, wie er die Arme um mich schlingt und mich an sich drückt – genau wie meine Tochter früher, bevor sie meine Umarmungen nicht mehr erwiderte und sich schnell herauswand. Ich küsse ihn so gerne auf den Kopf, seine roten Haare kitzeln meine Lippen. Und jetzt schlägt der Junge, dessen Umarmungen ich so liebe, seinen Kopf gegen eine Stahlwand.
Er war nicht verrückt. Seine Mutter hatte erklärt, TJ leide aufgrund einer Darmentzündung unter chronischen Schmerzen, aber er kann nicht sprechen, und wenn es ihm zu viel wird, tut er das Einzige, das ihm irgendeine Erleichterung verschafft: Er schlägt den Kopf gegen die Wand, er verursacht sich selbst neuen, größeren Schmerz, um den alten zu vertreiben. Das ist, wie wenn einen etwas fürchterlich juckt und man so heftig kratzt, dass es anfängt zu bluten, wie gut sich dieser Schmerz anfühlt, nur mal hundert. Einmal, erzählte sie mir, hat TJ mit dem Gesicht eine Fensterscheibe durchschlagen. Die Vorstellung, dass dieser Achtjährige so große Schmerzen hatte, dass er seinen Kopf gegen Stahl schlagen musste, quälte mich.
Und dann dieses für den Schmerz stehende Geräusch – das Schlagen, das Dröhnen, immer wieder. Beharrlich. Zäh. Drängend. Jeder Schlag löste Vibrationen aus, die hin und her schwangen und körperlich wurden, Form und Masse annahmen. Es durchdrang mich. Ich spürte es auf meiner Haut scheuern, in meinem Innern rütteln, ich spürte, wie es von meinem Herzen verlangte, sich seinem Rhythmus anzupassen, schneller, immer schneller.
Ich musste dafür sorgen, dass es aufhörte. Das ist meine Entschuldigung. Dafür, dass ich aus der Scheune rannte und sechs Menschen zurückließ, gefangen in einer luftdichten Kammer. Ich wollte den Druck in der Kammer reduzieren, wollte sie öffnen, TJ da rausholen, aber ich wusste nicht, wie. Und über die Gegensprechanlange hatte TJs Mutter mich (beziehungsweise Pak) gebeten, die Sitzung nicht abzubrechen, sie würde ihn schon wieder beruhigen, aber bitte, um Himmels willen, bitte legen Sie neue Batterien ein, damit die Barney-DVD weiterläuft, jetzt gleich! Irgendwo im Haus, keine zwanzig Sekunden im Laufschritt entfernt, hatten wir Batterien, und ich sollte den Sauerstoff erst in fünf Minuten abdrehen. Also ging ich. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, senkte die Stimme und sprach mit einem Akzent, der dem von Pak ähneln sollte: »Wir holen Batterien. Sie warten.« Dann lief ich hinaus.
Unsere Haustür stand einen Spalt offen, und ich schöpfte kurz Hoffnung, dass Mary vielleicht da war und aufräumte, wie ich es ihr aufgetragen hatte, und dass heute doch noch etwas gut gehen würde. Doch als ich reinkam, war niemand zu Hause. Ich war allein, hatte keine Ahnung, wo die Batterien aufbewahrt wurden, und niemanden, der mir half. Damit hatte ich ja die ganze Zeit gerechnet, aber die eine Sekunde der Hoffnung hatte meine Erwartungen in die Höhe schießen lassen – und jetzt stürzten sie ab und zerschellten. Ruhig bleiben, sagte ich mir, und fing an, in dem grauen Stahlschrank zu suchen, in dem wir alles Mögliche aufbewahrten. Mäntel. Betriebsanleitungen. Verlängerungskabel. Keine Batterien. Als ich die Tür zuschlug, wackelte der Schrank, das dünne Metall wobbelte und dröhnte wie ein Echo von TJs Schlägen. Ich sah seinen Kopf vor mir, wie er immer wieder gegen Stahl schlug und aufplatzte wie eine reife Wassermelone.
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. »Meh-hee-yah.« Ich rief Marys koreanischen Namen, den sie nicht leiden konnte. Keine Antwort. Ich hatte nichts anderes erwartet, trotzdem machte es mich wütend. Ich rief noch einmal »Meh-hee-yah«, lauter, zog die Silben in die Länge, ließ sie in meiner Kehle knirschen, denn ich brauchte den Schmerz, um das in meinen Ohren klingende Phantomecho von TJs Schlägen loszuwerden.
Ich suchte weiter, im ganzen Haus, Kiste für Kiste. Mit jeder Sekunde, in der ich keine Batterien fand, wurde ich frustrierter, und ich dachte an unseren Streit an dem Morgen, als ich Mary sagte, sie solle mehr im Haushalt helfen – sie war siebzehn! –, und sie wortlos das Haus verließ. Ich dachte an Pak, der sie, wie immer, in Schutz nahm. (»Wir haben doch nicht alles in Korea aufgegeben und sind nach Amerika gekommen, damit sie hier kocht und sauber macht«, sagte er immer. »Nein, dafür haben wir ja mich«, will ich jedes Mal sagen. Aber ich tu’s nie.) Ich dachte daran, wie Mary die Augen verdrehte, Kopfhörer auf den Ohren, und tat, als würde sie mich nicht hören. Ich dachte an alles, was meinen Ärger weiter nähren konnte, was mich im Kopf beschäftigt halten und das Dröhnen der Schläge ausblenden konnte. Mein Zorn auf meine Tochter war etwas Vertrautes, Behagliches, wie eine alte Wolldecke. Er dämpfte meine Panik, bis sie nur noch eine diffuse Angst war.
Ich nahm den Karton, der in Marys Schlafecke stand, riss die ineinander gesteckten Deckelklappen auf und kippte den kompletten Inhalt aus. Typischer Teenager-Kram: abgerissene Kinokarten für Filme, die ich nie gesehen hatte, Fotos von Freunden, die ich nicht kannte, ein Stapel Notizzettel, auf den obersten hatte jemand Ich hab auf dich gewartet. Vielleicht morgen? gekritzelt.
Ich wollte schreien. Wo waren die Batterien? (Und irgendwo in meinem Hinterkopf: Wer hatte das geschrieben? Ein Junge? Warum hatte er auf sie gewartet? Wofür?) Da klingelte mein Telefon – Pak schon wieder –, und ich sah, dass es 20:22 Uhr war, und da fiel es mir ein. Der Alarm. Der Sauerstoff.
Als ich abnahm, wollte ich ihm erklären, dass ich den Sauerstoff noch nicht abgedreht hatte, es aber jetzt gleich tun würde, das sei doch kein Problem, er hätte ja auch schon mal über eine Stunde Sauerstoff zugeführt, oder nicht? Aber meine Worte kamen irgendwie anders raus. Als würde ich sie erbrechen – in einem einzigen heftigen, unkontrollierbaren Strom. »Mary ist nicht da«, sagte ich. »Wir machen das hier alles für sie, und sie ist nie da, und ich brauche sie, sie muss mir helfen, Batterien für TJs DVD-Player zu suchen, bevor TJ sich den Kopf aufschlägt.«
»Du denkst immer so schlecht von ihr, dabei ist sie doch hier, bei mir, und hilft«, sagte er. »Und Batterien sind unter der Spüle in der Küche, aber lass bitte die Patienten nicht allein. Ich schicke Mary rüber, sie soll sie holen. Na, los, Mary, schnell. Bring mal ein paar von den großen D-Batterien in die Scheune. Ich bin auch gleich – «
Ich legte auf. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen.
Ich lief zur Küchenspüle. Die Batterien waren dort, genau, wie er gesagt hatte, in einer Tüte, in der ich Müll vermutet hatte, unter mit Erde und Ruß verdreckten Arbeitshandschuhen. Gestern waren sie doch noch sauber gewesen. Was hatte Pak damit gemacht?
Ich schüttelte den Kopf. Die Batterien. Ich musste so schnell wie möglich zurück zu TJ.
Als ich hinauslief, war die Luft schwanger von einem mir unbekannten Geruch – wie verkohltes nasses Holz –, der mir scharf in die Nase stieg. Es dämmerte, aber in einiger Entfernung erkannte ich Pak, der auf die Scheune zurannte.
Mary lief ihm voraus, sie spurtete. Ich rief: »Langsam, Mary, langsam. Ich hab die Batterien gefunden«, doch sie rannte weiter, nicht auf das Haus zu, sondern zur Scheune. »Bleib stehen, Mary«, sagte ich, aber sie blieb nicht stehen. Sie lief an der Scheunentür vorbei zum hinteren Ende des Gebäudes. Ich wusste nicht, warum, aber es machte mir Angst, dass sie hier war, und ich rief sie noch einmal, dieses Mal mit ihrem koreanischen Namen und etwas sanfter. »Mie-hie-jah«, und ich lief zu ihr. Sie drehte sich um. Ich sah ihr Gesicht und blieb stehen. Es leuchtete so seltsam. Orangefarbenes Licht bedeckte ihre Haut und schimmerte, als stünde sie direkt vor einem Sonnenuntergang. Ich wollte ihr Gesicht berühren und ihr sagen, dass sie schön ist.
Ich hörte ein Geräusch aus ihrer Richtung. Es klang wie ein Prasseln, nur leiser und gedämpft, vielleicht wie ein Schwarm Gänse, wenn er abhebt, wenn Hunderte von Flügeln gleichzeitig himmelwärts schlagen. Ich meinte, die Vögel zu sehen, einen grauen Vorhang, der im Wind wehte und sich immer höher in den violetten Himmel erhob, doch als ich blinzelte, war der Himmel leer. Ich lief dem Geräusch entgegen, und da sah ich es, ich sah, was sie schon vor mir gesehen hatte, worauf sie zugerannt war.
Flammen.
Rauch.
Die hintere Wand der Scheune – sie brannte.
Ich weiß nicht, warum ich nicht losgerannt bin oder geschrien habe, und Mary auch nicht. Ich wollte. Aber ich konnte nur langsam gehen, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzen, den Blick starr auf die Flammen in Orange und Rot gerichtet, die flatterten, sprangen und die Plätze tauschten wie Tanzpartner beim Steppen.
Dann der Knall. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel hin. Aber meine Tochter ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Jeden Abend, wenn ich das Licht ausmache und die Augen schließe, sehe ich sie, meine Meh-hee, in diesem Augenblick. Wie eine Stoffpuppe fliegt ihr Körper in hohem Bogen durch die Luft. Anmutig. Zart. Kurz bevor sie dumpf auf dem Boden aufschlägt, sehe ich, wie ihr Pferdeschwanz wippt. So wie früher, als sie klein war, beim Seilspringen.
EIN JAHR SPÄTER
DER PROZESS: TAG EINS
Montag, 17. August 2009
YOUNG YOO
Sie kam sich vor wie eine Braut, als sie den Gerichtssaal betrat. Ihre Hochzeit war das letzte – und bisher einzige – Mal gewesen, dass ein ganzer Raum voller Menschen verstummt war und sich nach ihr umgedreht hatte, als sie hereinkam. Wenn hier nicht so viele unterschiedliche Haarfarben versammelt und die geflüsterten Kommentare, während sie den Mittelgang hinunterschritt, nicht auf Englisch gewesen wären – »Sieh mal, die Besitzer«, »Die Tochter lag monatelang im Koma, die Ärmste«, »Er ist gelähmt, wie schrecklich« –, hätte sie glatt meinen können, noch in Korea zu sein.
Der kleine Gerichtssaal sah sogar aus wie eine alte Kirche, mit knarzenden Holzbänken beiderseits des Mittelgangs. Sie ging mit gesenktem Kopf, wie bei ihrer Hochzeit vor zwanzig Jahren. Normalerweise stand sie nie im Mittelpunkt des Interesses, es fühlte sich falsch an. Bescheidenheit, Anpassungsbereitschaft, Unsichtbarkeit: Diese Eigenschaften machten eine gute Ehefrau aus, nicht Auffälligkeit und Allbekanntheit. Trugen Bräute nicht genau deshalb Schleier? Um sie vor aufdringlichen Blicken zu schützen, um die Röte ihrer Wangen zu dämpfen? Sie sah zu beiden Seiten. Rechts, hinter der Staatsanwaltschaft, entdeckte sie ein paar bekannte Gesichter, es waren die Angehörigen ihrer Patienten.
Nur ein einziges Mal waren die Patienten zuvor alle zusammengekommen: letztes Jahr im Juli, als sie vor der Scheune eine Einführung erhielten. Youngs Mann hatte die Türen geöffnet, um ihnen die frisch blau gestrichene Druckkammer zu zeigen. »Das«, sagte Pak und sah dabei sehr stolz aus, »ist unser Miracle Submarine – das U-Boot der Wunder. Reiner Sauerstoff. Überdruck. Heilung. Gemeinsam.« Alles klatschte. Mütter weinten. Und jetzt saßen dieselben Leute hier, mit düsteren Mienen, in denen keine Hoffnung auf Wunder mehr stand, sondern die Neugier von Menschen, die an der Supermarktkasse nach den Boulevardblättern griffen. Und Mitleid – ob mit ihr oder mit sich selbst, wusste sie nicht. Sie hatte Wut erwartet, aber die Patienten lächelten, als Young vorbeiging, und sie musste sich in Erinnerung rufen, dass sie eins der Opfer war. Sie war nicht die Angeklagte, ihr wurde nicht zur Last gelegt, für die Explosion verantwortlich zu sein, bei der zwei Patienten ums Leben kamen. Sie sagte sich das, was Pak ihr jeden Tag sagte: Dass sie beide an jenem Abend nicht in der Scheune gewesen waren, war nicht der Grund für das Feuer, und er hätte die Explosion auch nicht verhindern können, wenn er bei den Patienten geblieben wäre. Young versuchte, das Lächeln dieser Menschen zu erwidern. Ihre Unterstützung tat gut. Und war wichtig, das wusste Young. Aber diese Unterstützung fühlte sich unverdient an, falsch, wie ein Preis, den sie durch Mogeln gewonnen hatte, und darum gab sie Young keinen Auftrieb, sondern belastete sie zusätzlich, weil sie befürchtete, Gott würde die Ungerechtigkeit sehen und korrigieren, sie in irgendeiner Weise für ihre Lügen bezahlen lassen.
Als Young das Holzgeländer erreichte, kämpfte sie gegen den Impuls an, drüber zu springen und am Tisch der Verteidigung Platz zu nehmen. Sie setzte sich zu ihrer Familie hinter der Staatsanwaltschaft, neben Matt und Teresa, zwei der sechs Personen, die an jenem Abend im Miracle Submarine feststeckten. Sie hatte die beiden lange nicht gesehen, seit dem Krankenhaus nicht. Aber keiner grüßte. Alle sahen zu Boden. Sie waren die Opfer.
*
Das Gericht befand sich in Pineburg, der Nachbarstadt von Miracle Creek. Die Namen beider Städte waren kurios – genau das Gegenteil dessen, was man erwartet hätte. Miracle Creek sah nicht aus wie ein Ort, an dem sich je Wunder zutrugen, außer vielleicht jenes, dass Menschen hier jahrelang lebten, ohne vor Langeweile durchzudrehen. Aber das Wunder im Namen und die damit verbundenen Marketingmöglichkeiten (sowie billiges Land) hatten Pak und sie überzeugt, sich dort niederzulassen, obwohl sonst keine Asiaten – wahrscheinlich überhaupt keine Einwanderer – dort lebten. Es war nur eine Autostunde von Washington entfernt, von dicht konzentrierter Modernität wie dem Dulles Airport, fühlte sich aber so isoliert an wie ein Dorf weitab jeglicher Zivilisation, wie eine ganz eigene Welt. Unbefestigte Straßen statt betonierter Gehsteige. Kühe statt Autos. Heruntergekommene Holzscheunen statt Hochhäuser aus Stahl und Glas. Es war, als würde man in einen alten Schwarz-Weiß-Film stolpern. Miracle Creek wirkte wie einmal benutzt und weggeworfen; als Young es zum ersten Mal sah, hatte sie Lust, jedes Fitzelchen Abfall aus ihren Taschen zu kramen und so weit zu schmeißen, wie sie nur konnte.
Pineburg dagegen nahm sich seinem schlichten Namen und seiner Nähe zu Miracle Creek zum Trotz sehr reizvoll aus, die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen wurden von Läden in bunt gestrichenen Holzhäusern gesäumt. Der Anblick der Geschäfte auf der Main Street erinnerte Young an ihren Lieblingsmarkt in Seoul und seine legendären Auslagen – spinatgrün, paprikarot, beterot, persimoneorange. Das hörte sich ziemlich grell an, doch das Gegenteil war der Fall – als würde das Nebeneinander der Knallfarben ihren jeweiligen Effekt dämpfen und so eine elegante, angenehme Wirkung entstehen.
Das Gerichtsgebäude lag am Fuß einer Anhöhe, zu beiden Seiten flankiert von Weinstöcken, die in geraden Linien den Hügel hinauf gepflanzt waren. Diese geometrische Präzision strahlte eine gewisse Ruhe aus, und es wirkte angemessen, dass ein Gebäude, in dem Recht gesprochen wurde, inmitten ordentlicher Reihen von Wein stand.
Als Young an diesem Morgen das Gerichtsgebäude mit den hohen weißen Säulen betrachtete, war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie dem Amerika, das sie sich früher vorgestellt hatte, noch nie so nah gewesen war. Als Pak seinerzeit in Korea beschlossen hatte, dass sie zusammen mit Mary nach Baltimore ziehen sollte, war Young in verschiedene Buchhandlungen gegangen und hatte sich Bilder von Amerika angesehen – das Kapitol, die Wolkenkratzer von Manhattan, der Inner Harbor. Seit fünf Jahren war sie nun schon in den USA, und sie hatte keinen dieser Orte mit eigenen Augen gesehen. Die ersten vier Jahre hatte sie in einem Lebensmittelgeschäft zwei Meilen vom Inner Harbor entfernt gearbeitet, in einem Viertel, das die Leute »Ghetto« nannten, mit verrammelten Häusern und Glasscherben überall auf der Straße. Eine winzige Höhle aus Panzerglas: Das war ihr Amerika gewesen.
Schon seltsam, wie dringend sie dieser schäbigen Welt entkommen wollte – und wie sehr sie ihr jetzt fehlte. Miracle Creek war eine Insel, die Einwohner lebten schon sehr lange dort (seit Generationen, hieß es). Young dachte, sie bräuchten bloß etwas länger, um aufzutauen, und konzentrierte sich darauf, mit einer besonders nett wirkenden Nachbarsfamilie Freundschaft zu schließen. Im Laufe der Zeit begriff Young aber, dass die Familie nicht nett war, sondern auf höfliche Weise unfreundlich. Young kannte die Sorte. Ihre eigene Mutter hatte zu dieser Art Mensch gehört, die ihre Unfreundlichkeit mit guten Manieren kaschierte, wie manche Leute mit Parfum versuchten, ihren Körpergeruch zu überdecken – je schlimmer der war, desto mehr künstlichen Duft benutzten sie. Ihre steife, übertriebene Höflichkeit – die permanent zu einem Lächeln zusammengekniffenen Lippen der Frau, das zuvorkommende Ma’am am Anfang oder am Ende jedes Satzes des Mannes – sorgte für Distanz und unterstrich Youngs Position als Zugereiste. Ihre Stammkunden in Baltimore waren streitsüchtig gewesen, hatten geflucht und sich immer über irgendetwas beschwert – mal über die viel zu hohen Preise, mal über die zu warmen Getränke, mal über die zu dünnen Aufschnittscheiben –, aber ihre Ruppigkeit hatte etwas sehr Ehrliches an sich gehabt, ihr Gezeter eine angenehme Vertrautheit. So wie sich zankende Geschwister. Geradeheraus. Unverstellt.
Als Pak dann letztes Jahr auch nach Amerika kam, wollten sie gerne nach Annandale ziehen, die »Koreatown« im Großraum Washington, von Miracle Creek aus mit dem Auto gut zu erreichen. Das Feuer hatte alle diese Pläne durchkreuzt, sie befanden sich immer noch in ihrer »vorübergehenden« Bleibe. Eine heruntergekommene Hütte in einer heruntergekommenen Kleinstadt, die so gar nichts mit den Bildern in den Büchern zu tun hatte. Bis heute war das schickste Gebäude, das Young auf amerikanischem Boden betreten hatte, das Krankenhaus gewesen, in dem Pak und Mary nach der Explosion mehrere Monate verbrachten.
*
Im Gerichtssaal war es laut. Nicht die Menschen – die Opfer, die Anwälte, die Journalisten und so viele andere –, sondern die beiden altmodischen, in die Fenster hinter dem Richtertisch montierten Klimaanlagen lärmten. Sie knatterten wie Rasenmäher, wenn sie sich ein- und ausschalteten, was sie natürlich, da sie nicht aufeinander abgestimmt waren, immer zu unterschiedlichen Zeitpunkten taten – erst die eine, dann die andere, dann wieder die eine, wie die Balzrufe seltsamer mechanischer Tiere. Wenn beide Apparate liefen, ratterten und brummten sie auf verschiedenen Frequenzen, und Young juckten die Trommelfelle. Am liebsten hätte sie den kleinen Finger tief ins Ohr gesteckt, bis zum Gehirn, und hätte sich gekratzt.
Auf der Tafel in der Eingangshalle stand, dass das Gerichtsgebäude zweihundertfünfzig Jahre alt und von großer historischer Bedeutung war, und dass Spenden an den »Verein zur Erhaltung des Gerichtsgebäudes in Pineburg« willkommen waren. Young hatte beim Gedanken an diesen Verein den Kopf geschüttelt – eine Gruppe von Menschen, die sich nur darum kümmerten, die Modernisierung dieses Gebäudes zu verhindern. Die Amerikaner waren so wahnsinnig stolz auf alles, was ein paar Hundert Jahre alt war, als hätten Dinge einen besonderen Wert, nur weil sie eben alt waren. (Diese Philosophie bezog sich allerdings nicht auf Menschen.) Ihnen schien nicht bewusst zu sein, dass die Welt Amerika gerade deshalb wertschätzte, weil es nicht alt war, sondern modern und neu. Koreaner waren da ganz anders. In Seoul hätte man einen Verein zur Modernisierung gegründet, dessen Ziel es gewesen wäre, die »antiken« Holzfußböden und Kiefernholztische im Gerichtsgebäude durch Marmor und kalten Stahl zu ersetzen.
»Bitte erheben Sie sich. Das Strafgericht von Skyline County eröffnet seine Sitzung, der vorsitzende Richter ist der ehrenwerte Frederick Carleton III«, verkündete der Gerichtsdiener, und alle standen auf. Außer Pak. Seine Hände umklammerten die Armlehnen des Rollstuhls, die Adern an seinen Händen schimmerten grün und traten hervor, als wollten sie seine Arme dazu bringen, den Körper aus dem Sitz zu stemmen. Young wollte ihm gerade helfen, hielt sich dann aber zurück, als ihr einfiel, dass Pak es viel schlimmer fände, bei etwas so Grundlegendem wie Aufstehen Hilfe zu benötigen, als gar nicht aufzustehen. Pak legte enorm großen Wert auf Äußerlichkeiten, Regelkonformität und Erwartungserfüllung – diese typisch koreanischen Dinge, für die Young sich seltsamerweise nie interessiert hatte (weil ihre Familie so wohlhabend war, dass sie sich diesen Luxus leisten konnte, hätte Pak jetzt gesagt). Aber sie verstand seinen Frust darüber, der einzige Sitzende inmitten einer ihn hoch überragenden Menschenmenge zu sein. Er wirkte verletzlich, wie ein Kind, und sie musste den Impuls unterdrücken, die Arme wie einen Mantel um ihn zu legen und seine Scham zu verhüllen.
»Die Verhandlung ist hiermit eröffnet. Strafsache Nummer 49.621, Bundesstaat Virginia gegen Elizabeth Ward«, sagte der Richter und schlug den Hammer auf den Tisch. Als sei es so beabsichtigt gewesen, schwiegen beide Klimaanlagen gerade, und das Geräusch von Holz, das auf Holz klackte, hallte von der schrägen Decke wider und erfüllte die Stille.
Jetzt war es offiziell: Elizabeth war die Angeklagte. Young spürte ein Kribbeln in der Brust, als sei eine schlafende Zelle der Hoffnung und Erleichterung geplatzt und würde elektrische Funken durch ihren Körper schicken und die Angst tilgen, die ihr Leben bestimmt hatte. Obwohl fast ein ganzes Jahr vergangen war, seit Pak von Schuldvorwürfen befreit und Elizabeth festgenommen wurde, hatte Young es bis heute nicht recht glauben können; ständig hatte sie sich gefragt, ob das bloß ein Trick war und ob man heute, bei der Eröffnung des Verfahrens, plötzlich sie und Pak als die Angeklagten aufrufen würde. Doch jetzt hatte das Warten ein Ende, und nach einigen Tagen der Zeugenvernehmung – mit »erdrückender Beweislage«, wie der Staatsanwalt sagte – würde Elizabeth für schuldig befunden werden, und sie würden das Geld von der Versicherung bekommen und ein neues Leben anfangen können. Der Stillstand würde ein Ende haben.
Die Geschworenen betraten den Saal. Young sah sie an, diese Menschen – insgesamt zwölf, sieben Männer und fünf Frauen –, die an die Todesstrafe glaubten und schworen, dass sie bereit waren, für den Tod durch die Spritze zu stimmen. Das hatte Young vergangene Woche erfahren. Der Staatsanwalt war ausgesprochen gut gelaunt gewesen, und als sie ihn fragte, warum, hatte er erklärt, diejenigen potenziellen Geschworenen, die am ehesten mit Elizabeth sympathisiert hätten, seien entlassen worden, weil sie gegen die Todesstrafe waren.
»Todesstrafe? Durch Hängen?«, hatte sie gefragt.
Ihr Entsetzen und ihre Abscheu mussten sehr offenkundig gewesen sein, denn Abes Lächeln war erstorben. »Nein, durch eine Spritze. Gift, das intravenös gegeben wird. Schmerzfrei.«
Er hatte ihr erklärt, dass Elizabeth nicht unbedingt ein Todesurteil bekommen würde, dass das nur eine von mehreren Möglichkeiten sei, und doch hatte Young sich davor gefürchtet, Elizabeth hier zu sehen, die panische Angst in ihrem Gesicht den Menschen gegenüber, in deren Macht es stand, ihr Leben zu beenden.
Young zwang sich, den Blick auf Elizabeth am Tisch der Verteidigung zu richten. Sie sah aus, als wäre sie selbst Anwältin – das blonde Haar zu einem Dutt gedreht, dunkelgrünes Kostüm, Perlen, Pumps. Young hätte sie fast nicht erkannt, sie sah überhaupt nicht mehr so aus wie früher – zotteliger Pferdeschwanz, zerknitterte Jogginghose, zwei unterschiedliche Socken.
Es war schon grotesk – von allen Eltern ihrer Patienten war Elizabeth die ungepflegteste Erscheinung gewesen, obwohl sie das bei Weitem pflegeleichteste Kind hatte. Henry, ihr einziges Kind, war ein wohlerzogener Junge gewesen, der im Gegensatz zu vielen anderen Patienten laufen und sprechen konnte, der sauber war und keine Wutanfälle bekam. Während der Einführung, als die Mutter der Zwillinge mit Autismus und Epilepsie Elizabeth fragte: »Entschuldigung, aber was macht Henry hier? Er scheint doch ganz normal zu sein.«, hatte sie die Stirn gerunzelt, als sei sie gekränkt. Sie leierte eine ganze Liste von Diagnosen herunter – Zwangsstörungen, ADHS, sensorische sowie Autismus-Spektrum-Störung, Angst – und erklärte dann, wie kräftezehrend es sei, ständig auf der Suche nach experimentellen Therapien zu sein. Ihr war offenbar überhaupt nicht bewusst, wie sich ihr Jammern ausnahm, während sie von Kindern umgeben war, die in Rollstühlen saßen und künstlich ernährt wurden.
Richter Carleton bat Elizabeth, sich zu erheben. Young dachte, Elizabeth würde anfangen zu weinen, wenn die Anklageschrift verlesen wurde, oder zumindest erröten und den Blick senken. Doch Elizabeth sah die Geschworenen erhobenen Hauptes an, sie errötete und blinzelte nicht. Young betrachtete Elizabeths Gesicht, in dem sich keine Gefühlsregung abzeichnete, und fragte sich, ob sie vielleicht unter Schock stand. Doch Elizabeths Blick war nicht leer, er war gelassen. Fast glücklich. Vielleicht war Young einfach so sehr an Elizabeths Sorgenfalten auf der Stirn gewöhnt, dass schon deren Abwesenheit sie zufrieden aussehen ließ.
Oder aber die Zeitungen hatten recht. Vielleicht hatte Elizabeth ihren Sohn wirklich unbedingt loswerden wollen, und jetzt, wo er tot war, hatte sie endlich Ruhe. Vielleicht war sie die ganze Zeit ein Ungeheuer gewesen.