Das Märchen meines Lebens

Über Heinrich Heine

Foto: Gavril Blank/privat

 

Der Herausgeber

Christian Liedtke, geboren 1964 in Hamburg, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Bei Hoffmann und Campe erschien von ihm zuletzt Heinrich Heine. Ein ABC (2015); zusammen mit Gerhard Höhn schrieb er Auf der Spitze der Welt. Mit Heine durch Paris (2012). Herausgegeben hat er zuletzt: Heinrich Heine, Katechismus (2017), Heinrich Heine, Reise nach Italien (2011) und Heinrich Heine, Französische Zustände. Artikel IX vom 25. Juni 1832, Urfassung. Faksimileedition der Handschrift. Mit einem Essay von Martin Walser (2010).

 

Heinrich Heine, geboren am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf, gestorben am 17. Februar 1856 in Paris, hat ein Werk von weltliterarischer Bedeutung geschaffen. Zu Heinrich Heines wichtigsten Publikationen, die alle zuerst bei Hoffmann und Campe erschienen, gehören: Buch der Lieder (1827), Reisebilder (4 Bde., 1826-1831), Der Salon (4 Bde. 1833-1840), Ludwig Börne. Eine Denkschrift (840), Neue Gedichte, Deutsch-land. Ein Wintermärchen (1844), Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1847), Romanzero (1851), Vermischte Schriften (3 Bde. 1854), Memoiren (postum 1884).

[…] das Licht der Welt erblickte ich an den Ufern jenes schönen Stromes, wo auf grünen Bergen die Torheit wächst und im Herbste gepflückt, gekeltert, in Fässer gegossen und ins Ausland geschickt wird – Wahrhaftig, gestern bei Tische hörte ich jemanden eine Torheit sprechen, die anno 1811 in einer Weintraube gesessen, welche ich damals selbst auf dem Johannisberge wachsen sah. – Viel Torheit wird aber auch im Lande selbst konsumiert, und die Menschen dort sind wie überall: Sie werden geboren, essen, trinken, schlafen, lachen, weinen, verleumden, sind ängstlich besorgt um die Fortpflanzung ihrer Gattung, suchen zu scheinen, was sie nicht sind, und zu tun, was sie nicht können, lassen sich nicht eher rasieren, als bis sie einen Bart haben, und haben oft einen Bart, ehe sie verständig sind, und wenn sie verständig sind, berauschen sie sich wieder mit weißer und roter Torheit.

Mon dieu! Wenn ich doch so viel Glauben in mir hätte, dass ich Berge versetzen könnte – der Johannisberg wäre just derjenige Berg, den ich mir überall nachkommen ließe. Aber da mein Glaube nicht so stark ist, muss mir die Phantasie helfen, und sie versetzt mich selbst nach dem schönen Rhein.

O, da ist ein schönes Land, voll Lieblichkeit und Sonnenschein. Im blauen Strome spiegeln sich die Bergesufer mit ihren Burgruinen und Waldungen und altertümlichen Städten – dort vor der Haustür sitzen die Bürgersleute des Sommerabends und trinken aus großen Kannen und schwatzen vertraulich: Wie der Wein, Gottlob!, gedeiht, und wie die

Ich habe mich nie um dergleichen Gespräche bekümmert und saß lieber bei den Mädchen am gewölbten Fenster und lachte über ihr Lachen und ließ mich mit Blumen ins Gesicht schlagen und stellte mich böse, bis sie mir ihre Geheimnisse oder irgendeine andere wichtige Geschichte erzählten. Die schöne Gertrud war bis zum Tollwerden vergnügt, wenn ich mich zu ihr setzte; es war ein Mädchen wie eine flammende Rose, und als sie mir einst um den Hals fiel, glaubte ich, sie würde verbrennen und verduften in meinen Armen. Die schöne Katharine zerfloss in klingender Sanftheit, wenn sie mit mir sprach, und ihre Augen waren von einem so reinen innigen Blau, wie ich es noch nie bei Menschen und Tieren und nur selten bei Blumen gefunden; man sah gern hinein und konnte sich so recht viel Süßes dabei denken. Aber die schöne Hedwig liebte mich; denn wenn ich zu ihr trat, beugte sie das Haupt zur Erde, so dass die schwarzen Locken über das errötende Gesicht herabfielen und die glänzenden Augen wie Sterne aus dunkelem Himmel hervorleuchteten. Ihre verschämten Lippen sprachen kein Wort, und auch ich konnte ihr nichts sagen. Ich hustete, und sie zitterte. Sie ließ mich manchmal durch ihre Schwester bitten, nicht so rasch die Felsen zu besteigen und nicht im Rheine zu baden, wenn ich mich heiß gelaufen oder getrunken. Ich behorchte mal ihr andächtiges Gebet vor dem Marienbildchen, das mit Goldflittern geziert und von einem brennenden Lämpchen umflimmert, in einer Nische der Hausflur stand; ich hörte deutlich, wie sie die Muttergottes bat: ihm

Die schöne Johanna war die Base der drei Schwestern, und ich setzte mich gern zu ihr. Sie wusste die schönsten Sagen, und wenn sie mit der weißen Hand zum Fenster hinauszeigte, nach den Bergen, wo das alles passiert war, was sie erzählte, so wurde mir ordentlich verzaubert zu Mute, die alten Ritter stiegen sichtbar aus den Burgruinen und zerhackten sich die eisernen Kleider, die Lore-Ley stand wieder auf der Bergesspitze und sang hinab ihr süß verderbliches Lied, und der Rhein rauschte so vernünftig, beruhigend und doch zugleich neckend schauerlich – und die schöne Johanna sah mich an so seltsam, so heimlich, so rätselhaft traulich, als gehörte sie selbst zu den Märchen, wovon sie eben erzählte. […]

Jetzt […] will mir auch die früheste Kindheit wieder im Gedächtnisse hervorblühen, und ich bin wieder ein Kind und spiele mit anderen Kindern auf dem Schlossplatze zu Düsseldorf am Rhein.

Ja, Madame, dort bin ich geboren, und ich bemerke dieses ausdrücklich für den Fall, dass etwa, nach meinem Tode, sieben Städte – Schilda, Krähwinkel, Polkwitz, Bockum, Dülken, Göttingen und Schöppenstädt – sich um die Ehre streiten, meine Vaterstadt zu sein. Düsseldorf ist eine Stadt am Rhein, es leben da 16000 Menschen, und viele hunderttausend Menschen liegen noch außerdem da begraben. Und darunter sind manche, von denen meine Mutter sagt, es wäre besser, sie lebten noch, z.B. mein Großvater und mein Oheim, der alte

Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Mute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage nach Hause gehn, so meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin. Dieses Haus wird einst sehr merkwürdig sein, und der alten Frau, die es besitzt, habe ich sagen lassen, dass sie beileibe das Haus nicht verkaufen solle. Für das ganze Haus bekäme sie jetzt doch kaum so viel, wie schon allein das Trinkgeld betragen wird, das einst die grünverschleierten, vornehmen Engländerinnen dem

Aber mein Ruhm schläft jetzt noch in den Marmorbrüchen von Carrara, der Makulatur-Lorbeer, womit man meine Stirne geschmückt, hat seinen Duft noch nicht durch die ganze Welt verbreitet, und wenn jetzt die grünverschleierten, vornehmen Engländerinnen nach Düsseldorf kommen, so lassen sie das berühmte Haus noch unbesichtigt und gehen direkt nach dem Marktplatz und betrachten die dort in der Mitte stehende schwarze, kolossale Reiterstatue. Diese soll den Kurfürsten Jan Wilhelm vorstellen. Er trägt einen schwarzen Harnisch, eine tief herabhängende Allongeperücke – Als Knabe hörte ich die Sage, der Künstler, der diese Statue gegossen, habe während des Gießens mit Schrecken bemerkt, dass sein Metall nicht dazu ausreiche, und da wären die Bürger der Stadt herbeigelaufen und hätten ihm ihre silbernen Löffel gebracht, um den Guss zu vollenden – und nun stand ich stundenlang vor dem Reiterbilde und zerbrach mir den Kopf: Wie viel silberne Löffel wohl darin stecken mögen, und wie viel Apfeltörtchen man wohl für all das Silber bekommen könnte? Apfeltörtchen waren nämlich damals meine Passion – jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe –, und eben unweit des Kurfürstenbildes, an der Theaterecke, stand gewöhnlich der wunderlich gebackene, säbelbeinige Kerl mit der weißen Schürze und dem umgehängten Korbe voll lieblich dampfender Apfeltörtchen, die er mit einer

Aber es wurde plötzlich anders; als wir eines Morgens zu Düsseldorf erwachten und »guten Morgen, Vater!« sagen wollten, da war der Vater abgereist, und in der ganzen Stadt war nichts als stumpfe Beklemmung, es war überall eine Art Begräbnisstimmung, und die Leute schlichen schweigend

Ich aber ging nach Hause und weinte und klagte: »Der Kurfürst lässt sich bedanken«. Meine Mutter hatte ihre liebe Not, ich wusste, was ich wusste, ich ließ mir nichts ausreden, ich ging weinend zu Bette, und in der Nacht träumte mir: Die

Als ich erwachte, schien die Sonne wieder wie gewöhnlich durch das Fenster, auf der Straße ging die Trommel, und als ich in unsre Wohnstube trat und meinem Vater, der im weißen Pudermantel saß, einen guten Morgen bot, hörte ich, wie der leichtfüßige Friseur ihm während des Frisierens haarklein erzählte: dass heute auf dem Rathause dem neuen Großherzog Joachim gehuldigt werde und dass dieser von der besten Familie sei und die Schwester des Kaisers Napoleon zur Frau bekommen und auch wirklich viel Anstand besitze und sein schönes schwarzes Haar in Locken trage und nächstens seinen Einzug halten und sicher allen Frauenzimmern gefallen müsse. Unterdessen ging das Getrommel draußen auf der Straße immer fort, und ich trat vor die Haustür und besah die

Nachbars-Pitter und der lange Kurz hätten bei dieser Gelegenheit beinah’ den Hals gebrochen, und das wäre gut gewesen; denn der eine entlief nachher seinen Eltern, ging unter die Soldaten, desertierte und wurde in Mainz totgeschossen, der andere aber machte späterhin geographische Untersuchungen in fremden Taschen, wurde deshalb wirkendes Mitglied einer öffentlichen Spinnanstalt, zerriss die eisernen Bande, die ihn an diese und an das Vaterland fesselten, kam glücklich über das Wasser und starb in London durch

Der lange Kurz sagte uns, dass heute keine Schule sei wegen der Huldigung. Wir mussten lange warten, bis diese losgelassen wurde. Endlich füllte sich der Balkon des Rathauses mit bunten Herren, Fahnen und Trompeten, und der Herr Bürgermeister, in seinem berühmten roten Rock, hielt eine Rede, die sich etwas in die Länge zog, wie Gummi-Elasticum oder wie eine gestrickte Schlafmütze, in die man einen Stein geworfen – nur nicht den Stein der Weisen –, und manche Redensarten konnte ich ganz deutlich vernehmen, z.B. dass man uns glücklich machen wolle –, und beim letzten Worte wurden die Trompeten geblasen und die Fahnen geschwenkt und die Trommel gerührt und Vivat gerufen –, und während ich selber Vivat rief, hielt ich mich fest an den alten Kurfürsten. Und das tat Not, denn mir wurde ordentlich schwindlig, ich glaubte schon, die Leute ständen auf den Köpfen, weil sich die Welt herumgedreht, das Kurfürstenhaupt mit der Allongeperücke nickte und flüsterte: »Halt fest an mir!« –, und erst durch das Kanonieren, das jetzt auf dem Walle losging, ernüchterte ich mich und stieg vom Kurfürstenpferd langsam wieder herab.

Als ich nach Hause ging, sah ich wieder, wie der tolle Aloisius auf einem Beine tanzte, während er die Namen der französischen Generale schnarrte, und wie sich der krumme Gumpertz besoffen in der Gosse herumwälzte und ça ira, ça ira, brüllte –, und zu meiner Mutter sagte ich: Man will uns glücklich machen, und deshalb ist heute keine Schule.

Den andern Tag war die Welt wieder ganz in Ordnung, und es war wieder Schule, nach wie vor, und es wurde wieder

Was aber das Lateinische betrifft, so haben Sie gar keine Idee davon, Madame, wie das verwickelt ist. Den Römern würde gewiss nicht Zeit genug übrig geblieben sein, die Welt zu erobern, wenn sie das Latein erst hätten lernen sollen. Diese glücklichen Leute wussten schon in der Wiege, welche Nomina den Akkusativ auf im haben. Ich hingegen musste sie im Schweiße meines Angesichts auswendig lernen; aber es ist doch immer gut, dass ich sie weiß. Denn hätte ich z.B. den 20sten Juli 1825, als ich öffentlich in der Aula zu Göttingen lateinisch disputierte – Madame, es war der Mühe wert, zuzuhören –, hätte ich da sinapem statt sinapim gesagt, so würden es vielleicht die anwesenden Füchse gemerkt haben, und das wäre für mich eine ewige Schande gewesen. Vis, buris, sitis, tussis, cucumis, amussis, cannabis, sinapis – Diese Wörter, die so viel Aufsehen in der Welt gemacht haben, bewirkten dieses, indem sie sich zu einer bestimmten Klasse schlugen und dennoch eine Ausnahme blieben; deshalb achte ich sie sehr, und dass ich sie bei der Hand habe, wenn ich sie etwa plötzlich brauchen sollte, das gibt mir, in manchen trüben Stunden des Lebens, viel innere Beruhigung und Trost. Aber, Madame, die verba irregularia – sie unterscheiden sich von den verbis regularibus dadurch, dass man bei ihnen noch mehr Prügel bekömmt –, sie sind gar entsetzlich schwer. In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen

Vom Griechischen will ich gar nicht sprechen; ich ärgere mich sonst zu viel. Die Mönche im Mittelalter hatten so ganz Unrecht nicht, wenn sie behaupteten, dass das Griechische eine Erfindung des Teufels sei. Gott kennt die Leiden, die ich dabei ausgestanden. Mit dem Hebräischen ging es besser, denn ich hatte immer eine große Vorliebe für die Juden, obgleich sie, bis auf diese Stunde, meinen guten Namen kreuzigen; aber ich konnte es doch im Hebräischen nicht so weit bringen wie meine Taschenuhr, die viel intimen Umgang mit Pfänderverleihern hatte und dadurch manche jüdische Sitte annahm – z.B. des Sonnabends ging sie nicht – und die heilige Sprache lernte und sie auch späterhin grammatisch trieb; wie ich denn oft, in schlaflosen Nächten, mit Erstaunen hörte, dass sie beständig vor sich hin pickerte: katal, katalta, katalti – kittel, kittalta, kittalti – – pokat, pokadeti – pikat – pik – pik – –

Indessen, von der deutschen Sprache begriff ich viel mehr, und die ist doch nicht so gar kinderleicht. Denn wir armen Deutschen, die wir schon mit Einquartierungen, Militärpflichten, Kopfsteuern und tausenderlei Abgaben genug geplagt sind, wir haben uns noch obendrein den Adelung aufgesackt und quälen uns einander mit dem Akkusativ und Dativ. Viel deutsche Sprache lernte ich vom alten Rektor Schallmayer, einem braven geistlichen Herrn, der sich meiner von kindauf annahm. Aber ich lernte auch etwas der Art von dem Professor Schramm, einem Manne, der ein Buch über den

Während ich in einem Zuge fort schrieb und allerlei dabei dachte, habe ich mich unversehens in die alten Schulgeschichten hineingeschwatzt, und ich ergreife diese Gelegenheit, um Ihnen zu zeigen, Madame, wie es nicht meine Schuld war, wenn ich von der Geographie so wenig lernte, dass ich mich späterhin nicht in der Welt zurecht zu finden wusste. Damals hatten nämlich die Franzosen alle Grenzen verrückt, alle Tage wurden die Länder neu illuminiert, die sonst blau gewesen, wurden jetzt plötzlich grün, manche wurden sogar blutrot, die bestimmten Lehrbuchseelen wurden so sehr vertauscht und vermischt, dass kein Teufel sie mehr erkennen konnte, die Landesprodukte änderten sich ebenfalls, Zichorien und Runkelrüben wuchsen jetzt, wo sonst nur Hasen und hinterherlaufende Landjunker zu sehen waren, auch die Charaktere der Völker änderten sich, die Deutschen wurden gelenkig, die Franzosen machten keine Komplimente mehr, die Engländer warfen das Geld nicht mehr zum Fenster hinaus, und die Venezianer waren nicht schlau genug, unter den Fürsten gab es viel Avancement, die alten Könige bekamen neue Uniformen, neue Königtümer wurden gebacken und hatten Absatz wie frische Semmeln, manche Potentaten hingegen wurden von Haus und Hof gejagt und mussten auf andere Art ihr Brot zu verdienen suchen, und einige legten sich daher früh auf ein Handwerk und machten z.B. Siegellack oder – Madame, diese Periode hat endlich ein Ende, der Atem wollte mir ausgehen – kurz und gut, in solchen Zeiten kann man es in der Geographie nicht weit bringen.

Da hat man es doch besser in der Naturgeschichte, da können nicht so viele Veränderungen vorgehen, und da gibt es

Auch in der Mythologie ging es gut. Ich hatte meine liebe Freude an dem Göttergesindel, das so lustig nackt die Welt regierte. Ich glaube nicht, dass jemals ein Schulknabe im alten Rom die Hauptartikel seines Katechismus, z.B. die Liebschaften der Venus, besser auswendig gelernt hat als ich. Aufrichtig gestanden, da wir doch einmal die alten Götter auswendig lernen mussten, so hätten wir sie auch behalten sollen, und wir haben vielleicht nicht viel Vorteil bei unserer neurömischen Dreigötterei oder gar bei unserem jüdischen Eingötzentum. Vielleicht war jene Mythologie im Grunde nicht so unmoralisch, wie man sie verschrien hat; es ist z.B. ein sehr anständiger Gedanke des Homers, dass er jener vielbeliebten Venus einen Gemahl zur Seite gab.

Am allerbesten aber erging es mir in der französischen Klasse des Abbé Daulnoi, eines emigrierten Franzosen, der eine Menge Grammatiken geschrieben und eine rote Perücke trug und gar pfiffig umhersprang, wenn er seine Art poétique und seine Histoire allemande vortrug – Er war im ganzen Gymnasium der einzige, welcher deutsche Geschichte lehrte. Indessen auch das Französische hat seine Schwierigkeiten, und zur Erlernung desselben gehört viel Einquartierung, viel Getrommel, viel apprendre par cœur, und vor allem darf man keine Bête allemande sein. Da gab es manches saure Wort. Ich erinnere mich noch so gut, als wäre es erst gestern geschehen, dass ich durch la religion viel Unannehmlichkeiten erfahren. Wohl sechsmal erging an mich die Frage: Henry, wie heißt der Glaube auf Französisch? Und sechsmal, und immer

Parbleu Madame! Ich habe es im Französischen weit gebracht! Ich verstehe nicht nur Patois, sondern sogar adliges Bonnenfranzösisch. Noch unlängst, in einer noblen Gesellschaft, verstand ich fast die Hälfte von dem Diskurs zweier deutschen Comtessen, wovon jede über vier und sechzig Jahr’ und ebenso viele Ahnen zählte. Ja, im Café Royal zu Berlin hörte ich einmal den Monsieur Hans Michel Martens Französisch parlieren und verstand jedes Wort, obschon kein Verstand darin war. Man muss den Geist der Sprache kennen, und diesen lernt man am besten durch Trommeln. Parbleu! Wie viel verdanke ich nicht dem französischen Tambour, der so lange bei uns in Quartier lag und wie ein Teufel aussah und doch von Herzen so engelgut war und so ganz vorzüglich trommelte.

Es war eine kleine, bewegliche Figur mit einem fürchterlichen, schwarzen Schnurrbarte, worunter sich die roten Lippen trotzig hervorbäumten, während die feurigen Augen hin und her schossen. Ich kleiner Junge hing an ihm wie eine

Auf ähnliche Weise lehrte er mich auch die neuere Geschichte. Ich verstand zwar nicht die Worte, die er sprach, aber da er während des Sprechens beständig trommelte, so wusste ich doch, was er sagen wollte. Im Grunde ist das die beste Lehrmethode. Die Geschichte von der Bestürmung der Bastille, der Tuilerien u.s.w. begreift man erst recht, wenn man weiß, wie bei solchen Gelegenheiten getrommelt wurde. In unseren Schulkompendien liest man bloß: »Ihre Exc. die Baronen und Grafen und hochdero Gemahlinnen wurden geköpft – Ihre Altessen die Herzöge und Prinzen und höchstdero Gemahlinnen wurden geköpft – Ihre Majestät der König

»Und was geschah?« Madame, diese Leute lassen sich im Essen nicht stören und wissen nicht, dass andere Leute, wenn sie nichts zu essen haben, plötzlich anfangen zu trommeln, und zwar gar kuriose Märsche, die man längst vergessen glaubte.

Ist nun das Trommeln ein angeborenes Talent, oder hab’ ich es frühzeitig ausgebildet, genug, es liegt mir in den Gliedern, in Händen und Füßen, und äußert sich oft

Verdammte, unbesonnene Füße! Sie spielten mir einen ähnlichen Streich, als ich einmal in Göttingen bei Professor Saalfeld hospitierte und dieser mit seiner steifen Beweglichkeit auf dem Katheder hin und her sprang und sich echauffierte, um auf den Kaiser Napoleon recht ordentlich schimpfen zu können – nein, arme Füße, ich kann es euch nicht verdenken,

Denke ich an den großen Kaiser, so wird es in meinem Gedächtnisse wieder recht sommergrün und goldig, eine lange Lindenallee taucht blühend empor, auf den laubigen Zweigen sitzen singende Nachtigallen, der Wasserfall rauscht, auf runden Beeten stehen Blumen und bewegen traumhaft ihre schönen Häupter – ich stand mit ihnen im wunderlichen Verkehr, die geschminkten Tulpen grüßten mich bettelstolz herablassend, die nervenkranken Lilien nickten wehmütig zärtlich, die trunkenroten Rosen lachten mir schon von weitem entgegen, die Nachtviolen seufzten – mit den Myrten und Lorbeeren hatte ich damals noch keine Bekanntschaft, denn sie lockten nicht durch schimmernde Blüte, aber mit den Reseden, womit ich jetzt so schlecht stehe, war ich ganz besonders intim – Ich spreche vom Hofgarten zu Düsseldorf, wo ich oft auf dem Rasen lag und andächtig zuhörte, wenn mir Monsieur Le Grand von den Kriegstaten des großen Kaisers erzählte und dabei die Märsche schlug, die während jener Taten getrommelt wurden, so dass ich alles lebendig sah und hörte. Ich sah den Zug über den Simplon – der Kaiser voran und hinterdrein klimmend die braven Grenadiere, während aufgescheuchtes Gevögel sein Krächzen erhebt und die Gletscher in der Ferne donnern – ich sah den Kaiser, die Fahne im Arm, auf der Brücke von Lodi – ich sah den Kaiser im grauen Mantel bei Marengo – ich sah den Kaiser zu Ross in der Schlacht bei den Pyramiden – nichts als Pulverdampf und Mamelucken – ich sah den Kaiser in der Schlacht bei Austerlitz – hui! wie pfiffen

Aber, wie ward mir erst, als ich ihn selber sah, mit hochbegnadigten, eignen Augen, ihn selber, Hosianna! den Kaiser.

Es war eben in der Allee des Hofgartens zu Düsseldorf. Als ich mich durch das gaffende Volk drängte, dachte ich an die Taten und Schlachten, die mir Monsieur Le Grand vorgetrommelt hatte, mein Herz schlug den Generalmarsch – und dennoch dachte ich zu gleicher Zeit an die Polizeiverordnung, dass man bei fünf Taler Strafe nicht mitten durch die Allee reiten dürfe. Und der Kaiser mit seinem Gefolge ritt mitten durch die Allee, die schauernden Bäume beugten sich vorwärts, wo er vorbeikam, die Sonnenstrahlen zitterten furchtsam neugierig durch das grüne Laub, und am blauen Himmel oben schwamm sichtbar ein goldner Stern. Der Kaiser trug seine scheinlose grüne Uniform und das kleine, welthistorische Hütchen. Er ritt ein weißes Rösslein, und das ging so ruhig stolz, so sicher, so ausgezeichnet – wär’ ich damals Kronprinz von Preußen gewesen, ich hätte dieses Rösslein beneidet. Nachlässig, fast hängend, saß der Kaiser, die eine Hand hielt hoch den Zaum, die andere klopfte gutmütig den Hals des Pferdchens – Es war eine sonnigmarmorne Hand, eine mächtige Hand, eine von den beiden Händen, die das vielköpfige Ungeheuer der Anarchie gebändigt und den Völkerzweikampf geordnet hatten – und sie klopfte gutmütig den Hals des Pferdes. Auch das Gesicht hatte jene Farbe, die wir bei marmornen Griechen- und Römerköpfen finden, die Züge desselben waren ebenfalls edelgemessen, wie die der

Der Kaiser ritt ruhig mitten durch die Allee, kein Polizeidiener widersetzte sich ihm, hinter ihm, stolz auf schnaubenden Rossen und belastet mit Gold und Geschmeide, ritt sein Gefolge, die Trommeln wirbelten, die Trompeten erklangen, neben mir drehte sich der tolle Aloisius und schnarrte die Namen seiner Generale, unferne brüllte der besoffene Gumpertz, und das Volk rief tausendstimmig: Es lebe der Kaiser! […]

Es war ein klarer, fröstelnder Herbsttag, als ein junger Mensch von studentischem Ansehen durch die Allee des Düsseldorfer Hofgartens langsam wanderte, manchmal, wie aus kindischer Lust, das raschelnde Laub, das den Boden bedeckte, mit den Füßen aufwarf, manchmal aber auch

»Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;

Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann

Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling:

So der Menschen Geschlecht, dies wächst, und jenes verschwindet.«

In früheren Tagen hatte der junge Mensch mit ganz andern Gedanken an eben dieselben Bäume hinaufgesehen, und er war damals ein Knabe und suchte Vogelnester oder Sommerkäfer, die ihn gar sehr ergötzten, wenn sie lustig dahinsummten und sich der hübschen Welt erfreuten und zufrieden waren mit einem saftiggrünen Blättchen, mit einem Tröpfchen Tau, mit einem warmen Sonnenstrahl und mit dem süßen Kräuterduft. Damals war des Knaben Herz ebenso vergnügt wie die flatternden Tierchen. Jetzt aber war sein Herz älter geworden, die kleinen Sonnenstrahlen waren darin erloschen, alle Blumen waren darin abgestorben, sogar der schöne Traum der Liebe war darin verblichen, im armen Herzen war nichts als Mut und Gram, und damit ich das Schmerzlichste sage – es war mein Herz.

Denselben Tag war ich zur alten Vaterstadt zurückgekehrt […]. Ich hatte die lieben Gräber besucht. Von allen lebenden Freunden und Verwandten hatte ich nur einen Ohm und eine Muhme wiedergefunden. Fand ich auch sonst noch bekannte Gestalten auf der Straße, so kannte mich doch niemand mehr,

»Er schlug die Trommel auf und nieder,

Sie sind vorm Nachtquartier schon wieder

Ins Gässlein hell hinaus,

Trallerie, Trallerei, Trallera,

Sie ziehn vor Schätzels Haus.

 

Da stehen Morgens die Gebeine

In Reih’ und Glied, wie Leichensteine,

Die Trommel geht voran,

Trallerie, Trallerei, Trallera,

Dass sie ihn sehen kann.«