Die Vaterklausel

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Pappaklausulen» bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Pappaklausulen» Copyright © 2018 by Jonas Hassen Khemiri

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung nach der Originalausgabe von Albert Bonniers Förlag SE, Design by Lotta Kühlhorn,

nach der Originalausgabe von Albert Bonniers Förlag SE, Design by Lotta Kühlhorn

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ISBN 978-3-644-00200-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00200-5

Aimé Césaire, Und die Hunde schwiegen

 

 

Frag eine Mutter, die ein Kind verloren hat, wie viele Kinder sie hat. «Vier», wird sie sagen, «… drei.» Und Jahre später wird sie «drei» sagen, «… vier.»

Amy Hempel, Was uns treibt

MITTWOCH

Die Schlange bewegt sich voran. Der Großvater, der ein Vater ist, hat zwei Kinder. Nicht drei. Einen Sohn. Eine Tochter. Er liebt sie beide. Besonders die Tochter. Die Leute sagen, die Kinder seien ihrem Vater ähnlich, aber er kann kaum Gemeinsamkeiten feststellen. Sie haben die Größe ihrer Mutter, die Sturheit ihrer Mutter, die Nase ihrer Mutter. Eigentlich sind beide kleine oder große Kopien der Mutter. Vor allem der Sohn. Der Sohn ist seiner Mutter so ähnlich, dass der Vater, der ein Großvater ist, manchmal oder eigentlich

Die Schlange bewegt sich nicht. Niemand wird wütend. Niemand hebt die Stimme. Niemand drängelt. Die Leute verdrehen nur die Augen und seufzen. Der Großvater tut es ihnen gleich. Er erinnert sich daran, wie er ein Vater war. Kindergeburtstage und Sommerurlaube, Judostunden und Brechdurchfälle, Klavierstunden und Abifeiern. Er erinnert sich an den Topflappen, den seine Tochter oder vielleicht auch sein Sohn im Werkunterricht gebastelt hatte, bestickt mit dem Text: Der beste Papa der Welt. Er war ein fabelhafter Vater. Er ist ein fabelhafter Großvater. Wer etwas anderes behauptet, lügt.

Als der Vater, der ein Großvater ist, bei der Passkontrolle ankommt, dauert es nur wenige Sekunden, dann hat ihn die uniformierte Frau hinter der Glasscheibe angesehen, seinen Pass eingescannt und ihn durchgewunken.

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, fährt ins Büro, sobald die Kinder schlafen. Mit der einen Hand klaubt er die Post vom Boden hinter dem Briefschlitz auf, mit der anderen schließt er die Eingangstür. Er räumt die Lebensmittel ein und wirft seine Sportklamotten in einen Kleiderschrank. Bevor er den

Er wischt den Boden im Flur und in der Küche. Er scheuert die Badewanne, das Waschbecken und die Toilette. Als er fertig ist, lässt er den Schwamm und das Putzmittel im Bad liegen. Er bildet sich ein, wenn sein Vater die Sachen sieht, ist die Chance größer, dass er das Büro nicht im gleichen Zustand hinterlässt wie letztes Mal. Und vorletztes Mal.

Der Sohn füllt die Kapseln für die Espressomaschine in eine Plastiktüte, legt die Plastiktüte in einen Karton und schiebt ihn in die hinterste Ecke des Küchenschranks. Die Duftkerze, die ihm seine Schwester zum Geburtstag geschenkt hat, packt er in eine andere Plastiktüte und versteckt sie hinter dem Werkzeugkasten. Die Konserven mit dem teuren Thunfisch und die Gläser mit den Pinienkernen und den Kürbiskernen und den Walnüssen legt er in den leeren Tonerkarton auf dem Kühlschrank. Das Wechselgeld in der Schale auf der Kommode im Flur leert er in seine Hosentasche. Die Sonnenbrille steckt er in seinen Rucksack. Er macht einen Kontrollgang. Alles erledigt. Das Büro ist für die Ankunft seines Vaters bereit. Er sieht auf die Uhr. Der Vater müsste jetzt hier sein. Er kommt sicher jeden Moment.

Ein Vater, der ein Großvater ist, steht am Gepäckband. Alle Koffer sehen gleich aus. Sie glänzen wie Raumschiffe und haben Rollen wie Skateboards. Man sieht schon von weitem, dass sie von asiatischen Billigfirmen produziert wurden. Sein Koffer ist gediegen. Er wurde in Europa gefertigt. Er hat über dreißig Jahre gehalten und wird es noch mindestens weitere zwanzig tun. Er hat keine Rollen, die leicht kaputtgehen können. Er hat Aufkleber von Fluggesellschaften, die längst insolvent sind. Als er ihn vom Gepäckband hievt, fragt ein junges Mädchen mit Ringerarmen, ob er Hilfe bräuchte. Nein danke, antwortet der Großvater lächelnd. Er braucht keine Hilfe. Schon gar nicht von fremden Leuten, die einem nur helfen wollen, weil sie Geld dafür erwarten.

Er hebt den Koffer auf einen Trolley und schiebt ihn Richtung Ausgang. Angeblich hatte das Flugzeug technische Probleme. Die Passagiere mussten einsteigen, wieder aussteigen und noch mal einsteigen. Seine Kinder haben die Verspätung sicher im Internet gesehen, und der Sohn hat die Schwester mit seinem Auto abgeholt. Sie fahren auf der Autobahn Richtung Norden. Der Sohn parkt auf dem völlig überteuerten Kurzzeitparkplatz, und die Tochter holt den schicken Mantel des Vaters aus dem Kofferraum. In diesem Moment erwarten sie ihn auf der anderen Seite. Die Tochter mit ihrem strahlenden Lächeln. Der Sohn mit seinen Kopfhörern. Ein Begrüßungsgeschenk ist nicht nötig. Es reicht, dass sie da sind.

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, kann genauso gut noch etwas erledigen, während er auf die Ankunft des Vaters wartet.

Früher hat sich der Sohn immer mit seiner Schwester am Cityterminal getroffen, wenn der Vater im Anflug war. Sie saßen hinter der Glasscheibe auf den Bänken gegenüber vom Busbahnhof, Rücken an Rücken oder Kopf an Schulter oder Kopf an Bein. Immer wieder blickte er zur Bahnhofsuhr und wunderte sich, wo der Vater blieb, die Schwester ging zum Kiosk und kam mit einem Himbeersmoothie, einem Sandwich und einen Latte to go wieder. Er nahm seine Kopfhörer ab und spielte seiner Schwester die neuen Songs von Royce da 5′9″, Chino XL und Jadakiss vor. Sie nahm die Kopfhörer ab, gähnte und wendete sich wieder den Rentnern zu, die auf den Nachtbus in die Provinz warteten, um mit ihnen über Intimpflege zu plaudern. Der Sohn, der noch kein Vater war, stand von der Bank auf und ging zum Fenster. Die Schwester, die noch keine Mutter war, benutzte ihre Handtasche als Kopfkissen, streckte sich auf der Bank aus und schlief ein. Alle Viertelstunde ein neuer Flughafenbus. Immer

Sie saßen schweigend nebeneinander. Ein Bus kam. Dann noch einer. Als er von der Haltestelle losrollte, stand ihr Vater auf dem Bürgersteig. In den immer gleichen Klamotten. Dasselbe abgewetzte Jackett. Dieselben durchgelaufenen Schuhe. Derselbe Koffer und dasselbe Lächeln und immer dieselbe erste Frage: Habt ihr meinen Mantel dabei? Die Tochter und der Sohn gingen durch die Glastür. Sie legten ihm den Mantel um und halfen ihm mit dem Koffer. Sie sagten Willkommen zu Hause und fragten sich jedes Mal, ob zu Hause wirklich die richtige Bezeichnung war.

***

Ein Vater, der ein Großvater ist, betritt die Ankunftshalle. Er begegnet den Blicken der Wartenden. Alle haben verschwommene Gesichter wie Verbrecher auf Überwachungsfilmen. Junge Frauen trinken Take-Away-Tee. Bärtige

Er sieht eine afrikanische Großfamilie, der Mann ist sicher ein Dealer. Er sieht einen pakistanischen Typen mit einem Muttermal unter dem einen Auge, der ständig zwinkert, als wäre er nervös oder gerade erst aufgewacht. Wahrscheinlich ist er schwul. Das erkennt man an dem engen Hemd und dem flauschigen Schal. Der Großvater geht weiter, vorbei am Café, das nachts geöffnet hat, an den Taxifahrern, auf deren Schildern schwedische Nachnamen oder englische Firmennamen stehen. Vorbei am Wechselschalter, der nachts geschlossen hat, und der runden Säule mit den großen grünen Aufklebern, die verkünden, dass es genau hier einen Defibrillator gibt. Was zur Hölle ist ein Defibrillator? Und wenn es so wichtig ist, einen zu haben, warum gibt es ihn dann nicht auf allen Flughäfen? Nein. Nur hier, in diesem seltsamen Land, in dem die Politiker beschlossen haben, dass eine Ankunftshalle ohne einen Defibrillator nicht sicher ist.

Er späht zu der digitalen Anzeige hinüber. 14 Minuten bis zum nächsten Bus. Der letzte muss gerade gefahren sein. 14 verdammte Höllenminuten. Seine Frau schaut hinter einer Ecke hervor. 14 Minuten!, ruft sie glücklich. Was für ein Riesenglück, dass es nicht 114 sind! Es ist schweinekalt, brummelt er. Schön frisch, sagt sie. Niemand ist gekommen, um mich abzuholen, sagt er. Ich bin hier, sagt sie. Ich bin krank, sagt er. Aber was für ein Glück im Unglück, dass es Diabetes ist und keine andere chronische Krankheit, erwidert sie, denn Diabetes kann man ja gut in den Griff bekommen, ich habe sogar von Diabetikern gehört, die mit dem Insulin aufhören konnten, nachdem sie ihre Ernährung umgestellt haben, und findest du es nicht sogar ganz spannend, dir Spritzen zu geben und den Blutzucker zu messen? Ich werde allmählich blind, sagt er. Aber mich siehst du?, fragt sie. Ja, antwortet er. Was ein Glück. Sie lächelt. Der Winde zerrt an ihren kurzem Haar. Ihr kurzes Haar weht im Wind. Glück im Unglück. Das war ihr Mantra. Was auch passierte. Ein Klassenkamerad der Tochter brach sich den Arm, und sie fragte als Erstes: Den rechten oder linken? Den linken, antwortete die

***

Eine Schwester, die eine Tochter ist, aber keine Mutter mehr, kommt aus dem Restaurant, hält ein Taxi an und nennt eine Adresse. Netten Abend gehabt?, fragt der Taxifahrer. Ganz okay, antwortet die Schwester. Wir haben den Geburtstag einer Freundin gefeiert. Sie ist achtunddreißig geworden. Achtunddreißig verdammte Jahre. Die Schwester seufzt. Wie die Zeit vergeht, sagt der Taxifahrer. Aber echt, sagt sie. Haben Sie Kinder?, fragt der Taxifahrer. Achtunddreißig, sagt sie. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter fünfunddreißig wurde. Sie hatte ihre Dokumente in Ordnern abgeheftet. Sie hatte sich selbständig gemacht. Sie war so unglaublich erwachsen und zielstrebig. Meine Freunde vögeln in der Gegend rum und haben Zeitverträge. Aber vielleicht hat meine Mutter ja genauso über ihre Freunde gedacht, wenn sie sie mit ihren Eltern verglich, meinen Sie nicht? Gut möglich, sagt der Taxifahrer. Dann schweigen sie. Das Essen war allerdings gut,

Da sind die Handtuchhaken ohne sein Handtuch. Da ist der Zahnputzbecher ohne seine Zahnbürste. Da ist der Duschvorhang mit dem lila Papagei, den sie nur aufgehängt hat, weil er das Badezimmer beim Duschen immer in einen tropischen Regenwald verwandelt hatte und die Klopapierrolle danach ausgetauscht werden musste. Wie konnte sie sich so über ein paar Pfützen aufregen? Da ist der Badezimmerschrank, in dem er das unterste Fach hatte, weil es das einzige war, das er erreichen konnte, ohne auf den weißen Hocker zu steigen. In dieses Fach stellte er sein Deo und die Einwegrasierer, die er nicht brauchte, und die Sammlung mit den Bodylotions, die sie von ihren Geschäftsreisen aus verschiedenen Hotels mitbrachte. Jetzt ist das unterste Fach leer, und wenn er, der sich für ihren Freund hält, sein Haarschneidegerät dalässt, ohne sie vorher zu fragen, wirft sie es in den Müll.

Als sie aus dem Bad kommt, sitzt er, der nicht ihr Freund ist, auf dem Sofa und beschäftigt sich mit seinem Telefon. Zu viel getrunken?, fragt er und lacht. Absolut nicht, antwortet sie. Ich habe den ganzen Abend nur Wasser getrunken. Mir war nicht nach Wein. Er legt das Telefon beiseite. Was ist?, fragt sie. Warum siehst du so beunruhigt aus?

***

Ein Sohn, der ein Vater ist, blickt auf die Uhr. Bald Mitternacht. Seine Schwester ruft nicht zurück. Seine Freundin hatte ihm vor einer Stunde eine Nachricht geschrieben. Er hatte geantwortet, der Flug sei verspätet und er auf dem Weg nach Hause. Er hatte sich zum Aufbruch bereit gemacht, war aber

Der Sohn geht mit seiner Teetasse in die Küche. Als er das Licht einschaltet, hört er das Rascheln von Kakerlaken, die hinter dem Backofen verschwinden. Im Augenwinkel sieht er die Schatten von zweien, die unter den Kühlschrank flitzen. Auf der Arbeitsfläche in der Küche sitzt eine rot glänzende Kakerlake wie versteinert und versucht sich unsichtbar zu machen, ihre Fühler wiegen sich in der Luft. Der Sohn stellt die Tasse auf dem Herd ab und streckt sich langsam nach der Küchenrolle. Er befeuchtet sie, tötet die Kakerlake, wischt über die Stelle und wirft das Küchenpapier direkt in den Müll, damit sich die Eier nicht verteilen. Die blauen Klebefallen aus Pappe von Anticimex stehen schon seit Wochen hier herum. Der Typ mit der Giftspritze war erst letzten Donnerstag da, um neue Stränge zahnpastaähnlicher Todescreme zwischen den Herd und die Spüle und den Kühl- und den

Der Sohn schaltet das Licht aus und geht ins Treppenhaus. Er schließt die Innentür, die Außentür und das Sicherheitsschloss ab. Dann überprüft er vorsichtshalber noch einmal, ob er das Sicherheitsschloss auch wirklich abgeschlossen hat.

II. DONNERSTAG