Dieses Buch ist für Chris Anderson und Lisa Pickering,
denen ich sehr dankbar bin.
Sie haben die Welt geplündert und das Land nackt entblößt in ihrem Hunger … sie sind getrieben von Gier, wenn ihre Feinde reich, und von Ehrgeiz, wenn sie arm … Sie verwüsten, sie metzeln, sie erobern unter falschen Vorwänden, und all dies bejubeln sie als die Erschaffung eines Imperiums. Und wenn in ihrer Spur nichts mehr ist als Wüste, dann nennen sie dies Frieden.
Tacitus, Agricola, Kapitel 30
Januar 1957
Es klingt wie die schlimmste je erzählte Geschichte, hätte sie sich nicht in ihrer Gänze, in jedem einzelnen Detail, genau so zugetragen, wie ich sie aufgeschrieben habe.
So ist das mit dem wirklichen Leben: Alles kommt einem unwahrscheinlich vor – bis genau zu dem Augenblick, in dem es passiert. Meine Erfahrungen als Kriminalbeamter und die Ereignisse in meinem persönlichen Leben bestätigen diese These, und ich habe das starke Gefühl, dass dies für jeden anderen gleichermaßen gilt. Die Sammlung von Geschichten, die uns alle zu dem macht, was wir sind, sieht nur so lange übertrieben und erfunden aus, bis wir uns selbst auf ihren fleckigen und eselsohrigen Seiten wiederfinden. Selbstredend haben die Griechen ein Wort dafür: Mythologie. Die Mythologie erklärt alles, angefangen von natürlichen Phänomenen bis zu dem Punkt, an dem man stirbt und nach unten wandert oder – unklugerweise – Zeus eine Schachtel Streichhölzer klaut. Rein zufällig haben die Griechen eine Menge zu tun mit ebendieser Geschichte. Vielleicht mit jeder Geschichte, wenn man genau darüber nachdenkt. Immerhin war es ein Grieche namens Homer, der das moderne Geschichtenerzählen erfand, irgendwann das Augenlicht verlor und wahrscheinlich überhaupt nicht existierte.
Wie viele Geschichten liest sich auch diese vermutlich besser, wenn man vorher einen Drink genommen hat oder zwei. Also nur zu, trinken Sie auf mich. Ich trinke auch gerne mal einen, aber ich bin kein hoffnungsloser Fall. Absolut nicht. Ich hoffe nur aufrichtig, dass ich eines Abends in die Kneipe gehe und am nächsten Tag mit Gedächtnisverlust auf einem Dampfer aufwache, mit Kurs auf eine Gegend, von der ich noch nie gehört habe.
Ich schätze, das ist der Romantiker in mir. Ich bin schon immer gerne gereist, auch wenn ich zu Hause ganz zufrieden war. Man könnte sagen, dass ich einfach wegwollte. Weg von den Obrigkeiten, den Machthabern vor allem. Immer noch wegwill, um ehrlich zu sein, was selten genug der Fall ist. Zumindest in Deutschland und was mich persönlich betrifft – oder eine ganze Menge anderer Leute wie mich. Für uns ist die Vergangenheit wie die Außenmauern eines Gefängnishofes: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir sie niemals überwinden. Und natürlich darf man uns nicht erlauben, dass wir sie überwinden, angesichts dessen, wer wir waren und was wir getan haben.
Doch wie soll man jemals erklären, was passiert ist? Das war die Frage, die ich regelmäßig in den Augen einiger der amerikanischen Gäste im Grand Hotel Cap Ferrat sehen konnte (wo ich bis vor kurzem als Concierge gearbeitet habe), wenn sie merkten, dass ich Deutscher war. Wie ist es möglich, dass ein Volk so viele Menschen ermordet? Nun, es ist so: Wenn man über einen großen Fischmarkt läuft, begreift man, wie vielfältig und fremdartig das Leben sein kann – schwer vorstellbar, dass zahlreiche der phantastischen, unheimlichen und glitschig aussehenden Kreaturen in den Auslagen überhaupt jemals existiert haben. Manchmal, wenn ich meinen Nebenmann betrachte, überkommt mich das gleiche Gefühl.
Ich selbst bin ein wenig wie eine Auster. Vor vielen Jahren – im Januar 1933, um genau zu sein – geriet ein Stück Dreck in meine Schale und fing an, in die falsche Richtung zu rutschen. Wenn es eine Perle in mir gibt, dann ist es vermutlich eine schwarze. Offen gestanden, ich habe während des Krieges ein paar Dinge getan, auf die ich alles andere als stolz bin. Das ist nichts Ungewöhnliches. Es gehört zum Wesen des Krieges. Er gibt allen, die daran teilnehmen, das Gefühl, ein Verbrecher zu sein und etwas Böses getan zu haben. Abgesehen von den wirklich Kriminellen natürlich – bis heute wurde nichts erfunden, das in ihnen ein schlechtes Gefühl hervorrufen könnte. Mit einer Ausnahme vielleicht: dem Henker von Landsberg. Wenn man ihm nur die Gelegenheit gibt, kann er in fast jedem eine Gewissenskrise auslösen.
Offiziell liegt das alles inzwischen hinter uns. Unsere Nationalsozialistische Revolution ist vorbei, genau wie der verheerende Krieg, den sie über die Welt brachte; und der Frieden, den wir seither genießen, ist wenigstens dank der Amerikaner alles andere als ein Karthagischer. Wir haben vor langer Zeit aufgehört, Leute zu hängen, und bis auf vier wurden inzwischen sämtliche der vielen hundert Kriegsverbrecher wieder freigelassen, die lebenslänglich in Landsberg eingesperrt worden waren.
Ich glaube, dass diese neue Bundesrepublik Deutschland ein wunderbarer Staat werden kann, wenn wir mit dem Wiederaufbau fertig sind. Ganz Westdeutschland riecht nach frischer Farbe, und sämtliche öffentlichen Gebäude befinden sich in einem Zustand des Neuaufbaus. Die Adler und Hakenkreuze sind längst verschwunden, und inzwischen werden selbst die letzten Spuren ausradiert wie Leo Trotzki auf einer alten Fotografie der Kommunistischen Partei. Im berühmt-berüchtigten Münchner Hofbräuhaus – vielleicht dort am allermeisten – haben sie sich die größte Mühe gegeben, die Hakenkreuze von der altweißen Gewölbedecke zu kratzen, obwohl man noch ganz genau erkennen kann, wo sie einst waren. Wären nicht diese wenigen Überbleibsel – die Fingerabdrücke des Faschismus –, man wäre versucht zu glauben, die Nazis hätten niemals existiert und dreizehn Jahre Leben unter Adolf Hitler seien nichts weiter als ein schauerlicher Albtraum gewesen.
Wenn doch nur die Narben und Male des Nationalsozialismus auf der vergifteten, muschelartigen Seele von Bernie Gunther mit solcher Leichtigkeit hätten ausradiert werden können. Aus diesen und anderen komplizierten Gründen (auf die ich hier nicht eingehe) bin ich dieser Tage nur dann wirklich ich selbst, wenn ich mit mir allein bin. Die restliche Zeit bin ich gezwungen, jemand anderes zu sein.
Nun denn. Guten Tag. Grüß Gott, wie wir hier in Bayern sagen. Mein Name ist Christof Ganz.
Ein mörderischer Wind fegte durch die Straßen von München, als ich an jenem Abend zur Arbeit ging. Es war einer dieser trockenen, kalten bayrischen Winde, die mit der Schärfe einer neuen Rasierklinge von den Alpen herunterwehen und einen wünschen lassen, man würde an einem wärmeren Ort leben oder wenigstens einen besseren Mantel besitzen oder eine Arbeitsstelle haben, bei der man nicht Punkt sechs Uhr abends die Stechuhr drücken muss. Ich hatte genügend Spätschichten geschoben in meiner Zeit als Ermittler bei der Berliner Mordkommission, also hätte ich eigentlich an blau gefrorene Finger und eisig kalte Füße gewöhnt sein müssen, ganz zu schweigen von Schlafmangel und beschissener Bezahlung. In solchen Nächten ist ein geschäftiges Stadtkrankenhaus kein schöner Ort für einen Mann, der als Pförtner dazu verdammt ist, bis zum Morgen durchzuarbeiten. Stattdessen sollte er in einem gemütlichen Braukeller am Feuer sitzen, eine Maß Bier mit weißem Schaum vor sich, während seine Frau zu Hause wartet, ein Bild ehelicher Treue, einen Schleier häkelt und überlegt, ob sie seinen Kaffee mit etwas Tödlicherem versüßen soll als einem Extralöffel Zucker.
Wenn ich schreibe, ich sei Nachtpförtner gewesen, dann wäre die genauere Bezeichnung eigentlich «Leichenhauswärter». Aber «Nachtpförtner» klingt besser, wenn man sich gerade so nett unterhält. «Leichenwärter» erweckt bei vielen Leuten Unbehagen. Hauptsächlich bei den Lebenden. Andererseits – wenn man so viele Leichen gesehen hat wie ich, dann neigt man dazu, in Gegenwart des Todes mit keiner Wimper zu zucken. Nach vier Jahren im Schlachthaus von Flandern kann man jede nur vorstellbare Menge Tod ertragen. Abgesehen davon war es eine Arbeit, ein rares Gut dieser Tage, und einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul, nicht einmal der alten Mähre draußen vor der Tür, die mir die alten Kameraden – unbesehen – vor den Toren der Leimfabrik in Paderborn gekauft hatten; sie hatten mir eine neue Identität und den Job im Krankenhaus besorgt und mir fünfzig Deutsche Mark in die Hand gedrückt. Also steckte ich hier fest, bis ich etwas Besseres fand, und meine Kundschaft mit mir. Wenigstens beschwerte sich keiner von ihnen über meine Umgangsformen.
Man sollte meinen, die Toten könnten sich um sich selbst kümmern, doch im Krankenhaus starben ständig irgendwelche Leute, und wenn es so weit war, benötigten sie üblicherweise ein wenig Hilfe, um sich zu orientieren. Die Tage, als man Patienten noch einer Defenestration unterzog, waren anscheinend vorüber.
Meine Aufgabe bestand darin, die Toten von den Stationen abzuholen, sie nach unten ins Totenhaus zu schaffen und zu waschen, bevor sie von den Bestattern eingesammelt wurden. Im Winter mussten wir uns nicht darum kümmern, die Leichen zu kühlen oder die Räume mit Insektenmittel einzunebeln – das war nicht nötig, weil es in der Leichenhalle nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt hatte.
Die meiste Zeit arbeitete ich allein, und nach einem Monat im Schwabinger Krankenhaus hatte ich mich fast daran gewöhnt, schätze ich – an die Kälte, an den Gestank und an das Gefühl, allein zu sein und doch nicht wirklich allein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ein- oder zweimal bewegte sich eine Leiche von ganz allein – das tun sie gelegentlich, Gase in der Regel, was mir, wie ich einräumen muss, an die Substanz ging. Andererseits ist das vielleicht auch nicht überraschend. Ich war so lange allein gewesen, dass ich angefangen hatte, mit dem Radio zu reden. Zumindest nahm ich an, dass es das Radio war, aus dem die Stimmen kamen. In einem Land, das Luther, Nietzsche und Adolf Hitler hervorgebracht hat, kann man sich bei derlei Dingen nie absolut sicher sein.
In besagter Nacht musste ich nach oben in die Notaufnahme und eine Leiche abholen, die selbst Dante hätte stocken lassen. Ein Blindgänger – man schätzt, dass in München noch Zehntausende davon vergraben liegen, was Bauarbeiten zu einer recht gefährlichen Angelegenheit macht – war im nahegelegenen Moosach hochgegangen und hatte in einer Bierhalle, die den größten Teil der Explosion abbekommen hatte, mindestens einen Mann getötet und mehrere andere schwer verletzt. Ich hatte die Detonation gehört, unmittelbar vor Antritt meiner Schicht – es hatte geklungen wie donnernder Applaus in Asgard. Wären die Scheiben der Leichenhalle nicht bereits wegen der Zugluft mit Tesafilm verklebt worden, sie wären vermutlich zersprungen. So jedoch war kein wirklicher Schaden entstanden – was war nach all den Jahren schon ein Deutscher mehr, getötet durch die Bombe einer amerikanischen Fliegenden Festung?
Der Leichnam sah aus, als hätte er in einem besonderen Kreis der Hölle in der ersten Reihe gesessen, um von einem sehr wütenden Minotaurus zerkaut und dann in Stücke gerissen zu werden. Hatte er je Freude beim Tanzen gefunden, war es damit jedenfalls vorbei, angesichts der Tatsache, dass seine Unterschenkel nur noch lose an den Knien baumelten; außerdem war er schlimm verbrannt und roch nach gegrilltem Fleisch, was ziemlich grausig war, weil es zugleich auf eine vage und unerklärliche Art den Appetit anregte. Allein die Schuhe waren unversehrt geblieben, alles andere – Kleidung, Haut, Haare – bot einen schlimmen Anblick.
Ich wusch den Toten sorgfältig – sein ganzer Rumpf war eine Piñata aus Glas- und Metallsplittern – und gab mir die größte Mühe, ihn ein wenig herzurichten. Ich steckte seine immer noch glänzenden Salamander in einen Schuhkarton, für den Fall, dass jemand aus der Familie des Verstorbenen vorbeikam, um den armen Teufel zu identifizieren. Man kann an einem Paar Schuhe eine Menge erkennen, aber dies hier hätte keine hoffnungslosere Aufgabe sein können, wenn er die letzten vierzehn Tage hinter einem Streitwagen durch den Staub gezogen worden wäre. Sein Gesicht erinnerte an ein halbes Kilo frisch durch den Wolf gedrehtes Hundefutter, und der schnelle Tod hatte dem armen Kerl vermutlich einen Gefallen getan, auch wenn ich das niemals laut gesagt hätte. Sterbehilfe ist immer noch ein sensibles Thema auf einer langen Liste von sensiblen Themen im modernen Deutschland.
Kein Wunder, dass es so viele Geister in dieser Stadt gibt. Manche Leute leben ein ganzes Leben, ohne je einen zu sehen; ich für meinen Teil sah sie ständig. Auch Geister, die ich schon kannte. Der Krieg war zwölf Jahre her, und ich fühlte mich, als lebte ich auf Schloss Frankenstein. Jedes Mal, wenn ich mich umsah und in ernste, nachdenkliche Gesichter blickte, glaubte ich mich an jemanden von früher zu erinnern. Oft sahen sie aus wie alte Kameraden, aber gelegentlich erinnerte mich auch eines an meine arme Mutter. Ich vermisse sie sehr. Manchmal verwechselten die Geister mich selbst mit einem Geist, was eigentlich nicht weiter überraschend ist, schließlich habe ich – leider – nur meinen Namen geändert, nicht mein Gesicht. Abgesehen davon machte mein Herz Ärger wie ein bockiges Kind, nur dass es nicht so jung war. Immer wieder sprang es wild in meiner Brust umher, als wollte es mir zeigen, dass es das konnte und was passieren würde, sollte es je beschließen, keine Lust mehr auf einen leidigen alten Kerl wie mich zu haben.
Als ich von der Schicht nach Hause kam, achtete ich besonders sorgfältig darauf, das Gas an meinem kleinen zweiflammigen Kocher richtig abzudrehen, nachdem ich das Wasser für den Kaffee gekocht hatte, den ich üblicherweise zusammen mit meinem Morgenschnaps trank. Gas ist genauso explosiv wie TNT, selbst das dünne Zeugs, das fauchend aus den deutschen Leitungen kam. Draußen vor meinem trüben, vergilbten Fenster lag ein fünfundzwanzig Meter hoher überwucherter Schutthaufen – ein weiteres Überbleibsel der Bombardierungen während des Krieges. Siebzig Prozent der Gebäude in Schwabing waren zerstört worden, was mir nur recht sein konnte – die Zimmer in den noch stehenden Häusern waren billig zu mieten. Meines lag in einem Mietshaus, das für den Abriss freigegeben war – es hatte einen Riss in der Seitenmauer, so breit, dass man eine antike Wüstenstadt darin hätte verstecken können. Aber ich mochte den Schutthaufen. Er erinnerte mich immer wieder daran, woraus mein Leben bis vor kurzem bestanden hatte. Ich mochte sogar die Tatsache, dass es einen Einheimischen gab, der seine Fremdenführung durch München damit bewarb, dass er Besucher auf die Spitze des Haufens führte. Oben auf dem Haufen stand ein Gedächtniskreuz, und man hatte eine hübsche Aussicht auf die Stadt. Man musste den Burschen wegen seines Einfallsreichtums bewundern.
Als Junge pflegte ich auf die Berliner Kathedrale zu steigen – alle 264 Stufen – und entlang der Brüstung zu spazieren, mit nichts als den Tauben zur Gesellschaft, doch mir war nie der Gedanke gekommen, daraus ein Geschäft zu machen.
Ich hatte München nie sonderlich gemocht mit seinen Trachtenkleidern und den Blaskapellen, dem strengen Katholizismus und den Nazis. Berlin gefiel mir besser, und das nicht nur, weil es meine Heimatstadt war. München war schon immer eine besser regierbare, willfährigere und konservativere Stadt gewesen als die alte preußische Hauptstadt. Ich hatte es am besten in den frühen Jahren nach dem Krieg gekannt, als meine zweite Frau Kirsten und ich versucht hatten, ein Hotel in einer unmöglichen Lage in einem Vorort von München namens Dachau zu führen, heutzutage berüchtigt wegen des Konzentrationslagers, das dort von den Nazis errichtet worden war. Ich hatte die Stadt schon damals nicht gemocht. Kirsten starb, was die Sache nicht besser machte, und kurze Zeit später ging ich fort im Glauben, nie wieder hierher zurückzukehren – und was soll ich sagen? Da bin ich, ohne Pläne für die Zukunft, wenigstens keine, über die ich jemals reden würde, für den Fall, dass Gott gerade lauscht. Ich finde ihn nicht annähernd so barmherzig, wie viele Bayern behaupten. Insbesondere Sonntagabends. Und erst recht nicht nach Dachau. Doch hier war ich und versuchte, optimistisch zu sein, obwohl Optimismus absolut fehl am Platz war – zumal in meinem beengten kleinen Zimmer –, und mein Bestes zu geben, die freundlichen Seiten des Lebens zu betrachten, auch wenn es sich anfühlte, als lägen diese ausnahmslos hinter einem sehr hohen Stacheldrahtzaun.
Trotz alledem empfand ich eine gewisse Befriedigung in dem, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Scheiße wegzuräumen und Leichen zu waschen erschien mir als eine angemessene Buße für meine frühere Tätigkeit: Ich war ein Polizeibeamter gewesen. Kein richtiger Polizeibeamter, sondern ein nützlicher Handlanger beim Sicherheitsdienst, ein Fußabtreter für Typen wie Heydrich, Nebe und Goebbels. Es war zwar keine richtige Buße wie die des alten deutschen Königs Heinrich, der auf den Knien nach Canossa gerutscht war, um die Vergebung des Papstes zu erlangen, aber vielleicht reichte es auch so. Immerhin sind meine Knie, genau wie mein Herz, nicht mehr das, was sie mal waren. Schritt für Schritt bemühte ich mich, wie ganz Deutschland auch, meine moralische Ehrbarkeit zurückzuerlangen. Niemand wird abstreiten, dass man selbst mit winzigen Schritten ganz schön weit kommen kann, selbst auf Knien.
Tatsächlich machte Deutschland damit weitaus bessere Fortschritte als ich selbst, und alles dank dem Alten. So nannten wir Konrad Adenauer, weil er schon dreiundsiebzig war, als er der erste Kanzler von Nachkriegsdeutschland wurde. Mit einundachtzig war er immer noch im Amt und führte außerdem die Partei der Christdemokraten – und wenn man nicht gerade einer der radikalen jüdischen Gruppierungen wie Etzel angehört hatte, die bei mehr als einer Gelegenheit versucht hatten, den Alten zu ermorden, musste man zugeben, dass er verdammt gute Arbeit geleistet hatte. Die Leute redeten bereits vom «Wirtschaftswunder». Dank einer Kombination aus Marshallplan, niedriger Inflation und schnellem industriellem Wachstum gepaart mit harter Arbeit ging es Deutschland wirtschaftlich inzwischen besser als England. Was mich nicht sonderlich überraschte – die Briten waren schon immer hochnäsiger gewesen, als ihnen guttat. Nachdem sie zwei Weltkriege gewonnen hatten, begingen sie den Fehler anzunehmen, dass die Welt ihnen ihren Lebensunterhalt schuldete.
Vielleicht bestand das eigentliche Wunder ja darin, dass die restliche Welt Deutschland vergeben zu haben schien, einen Krieg angefangen zu haben, in dessen Verlauf vierzig Millionen Menschen ums Leben gekommen waren. Und das, obwohl der Alte den gesamten Entnazifizierungsprozess aufgekündigt und ein Amnestiegesetz für unsere Kriegsverbrecher durchgebracht hatte, was sicherlich der Grund für den unterschwelligen und allgemeinen Verdacht war, viele alte Nazis seien zurück in der Regierung. Der Alte hatte auch dafür eine gewiefte Erklärung parat: Er sagte, man müsse sicher sein, genügend frisches Wasser zu haben, bevor man das schmutzige Wasser aus dem Fenster kippte.
Als jemand, der seine Brötchen damit verdiente, tote Deutsche zu waschen, konnte ich ihm nur zustimmen.
Aber natürlich hatte ich auch mehr dreckiges Wasser in meinem Eimer als die meisten, und so schätzte ich die Versenkung, in der ich neuerdings lebte, mehr als alles andere. Wie die Garbo in Grand Hotel wollte ich nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden, und die Vorstellung, anonym zu sein, gefiel mir sehr viel besser als der kurze Bart, den ich mir hatte wachsen lassen, damit das auch funktionierte. Der Bart war gelblich-grau und ein wenig metallisch und ließ mich klüger aussehen, als ich war. Unser Leben ist das Resultat der Entscheidungen, die wir treffen, umso mehr, wenn diese Entscheidungen falsch waren. Doch die Vorstellung, dass die Bullen mich vergessen hatten, ganz zu schweigen von sämtlichen größeren Geheim- und Sicherheitsdiensten dieser Welt, war gelinde gesagt sehr angenehm. Auf dem Papier sah mein Leben gut aus; tatsächlich war Papier das Einzige, auf dem es wie ein gut gelebtes erschien, was in den Augen von jemandem, der wie ich viele Jahre selbst als Polizist gearbeitet hat, schon wieder verdächtig war.
Aus diesem Grund, und um mein Leben als Christof Ganz glaubhaft zu vermitteln, ging ich in meiner Freizeit oft die nackten Tatsachen von Christofs Leben durch und ersann einige Dinge, die er getan und erreicht hatte. Orte, an denen er gewesen war, Tätigkeiten, die er ausgeübt hatte, und – am wichtigsten von allen – den Kriegsdienst für das Dritte Reich. Mehr oder weniger genauso, wie es jeder andere im neuen Deutschland getan hatte. Ja, wir alle waren sehr kreativ geworden mit unseren Lebensläufen. Einschließlich, wie es schien, mancher Mitglieder der Christdemokraten.
Ich nahm einen weiteren Drink zum Frühstück, natürlich nur als Einschlafhilfe, und ging zu Bett, wo ich von glücklicheren Zeiten träumte oder vielleicht auch nur ein Gebet an den Gott der großen schwarzen Wolke sandte, die über mir am Himmel trieb. Und weil Gebete niemals beantwortet werden, ist es nicht leicht, den Unterschied zu erkennen.
Als ich am folgenden Abend zur Arbeit ging, war das Opfer der Moosacher Bombenexplosion immer noch da, ausgestreckt auf einem Tisch wie das liegengelassene Bankett eines Geiers. Jemand hatte ein Namensschild an seinen Zeh gebunden, was mir angesichts der Tatsache, dass das Bein nicht länger richtig mit dem Körper verbunden war, zumindest unbedacht vorkam. Der Name des Toten war Johann Bernbach, und der Mann war erst fünfundzwanzig Jahre alt gewesen.
Inzwischen wusste ich aus der Süddeutschen Zeitung ein wenig mehr über die Bombe. Es war eine Zweihundertfünfzig-Kilo-Bombe gewesen, die auf der Baustelle gleich neben einer Bierhalle in der Dachauer Straße hochgegangen war, keine fünfzig Meter entfernt von den städtischen Gaswerken. Im Gasometer lagerten mehr als zweihunderttausend Kubikmeter Gas, und so war der allgemeine Tenor in der Zeitung, dass die Stadt großes Glück gehabt habe mit lediglich zwei Toten und sechs Verletzten, und das sagte ich auch zu Bernbach, als ich ihn sah.
«Ich hoffe, du hattest wenigstens ein paar Bier intus, als du deine Fahrkarte gelocht hast, mein Freund. Genug, um den Schrapnellen die Schärfe zu nehmen. Hör zu, ich weiß, dass es für dich keine Bedeutung mehr hat, aber dein unerwarteter Tod wird nicht mit dem gebührenden Respekt behandelt. Um ganz offen zu sprechen, Johann, es scheint, als wären alle froh, dass es nur dich erwischt hat. Es gibt nämlich ein Gasometer in der Nachbarschaft, wo der Riesenkürbis hochgegangen ist. Und es war voll bis an den Rand. Mehr als genug, um meine kleine Abteilung hier im Krankenhaus für Wochen mit Arbeit zu versorgen. Irgendwie passend, dass du hier gelandet bist, nachdem dich eine Ami-Bombe erledigt hat. Bis vor einem Jahr war das hier nämlich ein amerikanisches Hospital. Wie dem auch sei, ich hab mein Bestes für dich getan. Den größten Teil der Glassplitter hab ich aus dir rausgezogen und deine Beine ein bisschen festgebunden. Jetzt ist der Bestatter an der Reihe.»
«Reden Sie immer so mit Ihren Kunden?»
Ich drehte mich um und erblickte Herrn Schumacher, einen der Krankenhausdirektoren. Er stand in der Tür und sah mich fragend an. Schumacher stammte aus Österreich, aus Braunau am Inn, einer kleinen Stadt an der deutschen Grenze, und obwohl er kein Arzt war, trug er einen weißen Kittel, vermutlich, um wichtiger auszusehen.
«Warum nicht? Sie geben selten Widerreden. Abgesehen davon muss ich gelegentlich mit jemand anderem reden als mir selbst, sonst werde ich verrückt.»
«Meine Güte … Du lieber Gott, ich hatte keine Ahnung, dass er so übel aussieht.»
«Sagen Sie das nicht, das verletzt seine Gefühle.»
«Es ist nur, oben auf Station 10 wartet ein Patient, der bereit ist, den armen Teufel offiziell zu identifizieren, bevor er heute Abend selbst aus dem Krankenhaus entlassen wird. Einer der anderen Verletzten von gestern. Er sitzt im Rollstuhl, aber mit seinen Augen ist alles in Ordnung. Ich hatte gehofft, Sie könnten ihn hierherrollen und die Sache wäre erledigt, aber jetzt, wo ich die Leiche gesehen habe, bin ich nicht mehr sicher, ob er nicht vielleicht ohnmächtig wird. Himmel, ich wäre selbst beinahe umgekippt.»
«Wenn er im Rollstuhl sitzt, macht das wohl nicht so viel aus. Ich kann ihn ja hinterher an die frische Luft schieben, bis er sich erholt hat. Oder in ein anderes Krankenhaus.» Ich steckte mir eine Zigarette an und ließ den Rauch durch meine dankbaren Nüstern entweichen. «Oder wenigstens irgendwohin, wo es saubere Wäsche gibt.»
«Sie wissen schon, dass Sie hier drin nicht rauchen dürfen?»
«Das weiß ich. Und ich habe auch schon Beschwerden deswegen gehört. Aber Fakt ist, ich rauche aus medizinischen Gründen.»
«Die da wären?»
«Der Gestank.»
«Oh. Der. Ja, ich verstehe, was Sie meinen.» Schumacher nahm eine aus der Packung, die ich ihm hinhielt, und ließ sich von mir Feuer geben. «Decken Sie die Toten nicht normalerweise mit irgendwas zu? Einem Laken oder so?»
«Wir hatten keinen Besuch erwartet. Aber während die Jungs von der Wäscherei streiken, sind die sauberen Laken für die Lebenden reserviert. Jedenfalls hat man mir das so gesagt.»
«Ja, gut. Aber können Sie vielleicht etwas mit seinem Gesicht machen?»
«Was würden Sie vorschlagen? Eine eiserne Maske vielleicht? Allerdings hilft die bei der formellen Identifizierung nicht wirklich weiter. Ich bezweifle, dass seine eigene Mutter ihn erkennen würde. Hoffen wir, dass sie es nicht versuchen muss. Aber angesichts seiner offenkundigen Ähnlichkeit mit nichts, was man in den Mund nehmen könnte, ohne den Namen des Herrn zu bemühen, wie Sie es eben getan haben, denke ich, wir sollten uns vielleicht auf andere unveränderliche Merkmale beschränken, meinen Sie nicht?»
«Hat er welche?»
«Genau eins. Eine Tätowierung auf dem Unterarm.»
«Nun, das sollte helfen.»
«Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es ist eine Nummer.»
«Wer lässt sich denn eine Nummer tätowieren?»
«Juden beispielsweise. In Konzentrationslagern. Zur Identifikation.»
«Das haben die gemacht?»
«Nein, eigentlich waren wir das. Wir Deutschen. Die Landsleute von Beethoven und Goethe. Es war wie ein Lotterieschein, aber keiner, der einen Gewinn bedeutete. Dieser Kamerad hier muss als Kind in Auschwitz gewesen sein.»
«Wo ist das denn?»
Schumacher gehörte zu der Sorte von dummen Österreichern, die immer noch glaubten, ihr Land wäre die erste freie Nation gewesen, die die Nazis sich einverleibt hatten, und sei deswegen nicht verantwortlich für die darauffolgenden Geschehnisse. Was doppelt schwierig war, wenn man aus Braunau am Inn stammte, der Geburtsstadt von Adolf Hitler. Gut möglich, dass Schumacher deswegen von dort weggegangen war, was ich ihm nicht verübeln konnte. Aber ich verspürte ohnehin nicht den Drang, mit ihm über irgendetwas zu diskutieren, was er glaubte. Er war schließlich mein Chef.
«Polen, glaube ich. Aber das spielt keine Rolle. Nicht mehr.»
«Hören Sie, Herr Ganz, sehen Sie zu, was Sie mit seinem Gesicht machen können, ja? Und dann holen Sie den Zeugen her.»
Als Schumacher gegangen war, suchte ich den Raum nach einem sauberen Handtuch ab und fand schließlich in einem Schrank eins, das die Amis zurückgelassen haben mussten. Es war ein «Mickey Mouse Club»-Handtuch, nicht gerade ideal für meine Zwecke, doch es sah viel besser aus als der Mann auf dem Tisch. Also legte ich es über sein Gesicht und ging nach oben, um den Patienten zu holen.
Er war bereits angezogen und erwartete mich, doch ich hatte nicht mit den beiden Bullen gerechnet, die neben ihm standen, obwohl ich mir das hätte denken können, weil er sich einverstanden erklärt hatte, beim Identifizieren eines Toten zu helfen, und so was tun Bullen eben, wenn sie nicht den Verkehr regeln oder Uhren klauen. Der kleinere der beiden trug Uniform, der andere war in Zivil. Das Schlimme war: Ich glaubte, den Typen in Zivil zu kennen, und ich schätze, er glaubte, auch mich zu kennen. Ungünstig, weil ich gehofft hatte, den Münchner Bullen aus dem Weg zu gehen, bis mein Bart ein wenig länger gewachsen war. Dafür war es nun zu spät. Also brummte ich ein mürrisches «Guten Abend» in die Runde, packte den Rollstuhl an den Griffen und schob den Patienten mit den beiden Bullen im Schlepptau in Richtung Aufzug. Ich machte mir keine Gedanken, sie könnten an meinem Benehmen Anstoß nehmen, schließlich war ich nur ein Nachtwächter, und sie mussten mich nicht mögen, sie mussten mir lediglich nach unten in die Leichenhalle folgen.
Es war kein guter Rollstuhl, weil er deutlich nach links zog, was angesichts der Masse des verwundeten Patienten allerdings nicht weiter überraschte. Viel überraschender war, dass der Stuhl überhaupt rollte. Der Patient war ein verfetteter Kerl Ende dreißig, und sein Bierbauch lag in seinem Schoß wie eine Tasche mit all seinen weltlichen Besitztümern. Ich wusste, dass es ein Bierbauch war, weil ich daran arbeitete, mir selbst einen zuzulegen, sobald ich nur erst eine Lohnerhöhung bekam. Abgesehen davon stanken seine Sachen nach Bier, als hätte er im Moment der Explosion einen steinernen Maßkrug Pschorr im Schoß gehalten.
«Wie gut kannten Sie den Verstorbenen, Herr Dorpmüller?», wollte der Bulle in Zivil wissen, als er uns durch den Korridor folgte.
«Ziemlich gut», antwortete der Mann im Rollstuhl. «Er war die letzten drei Jahre mein Klavierspieler im Apollo. Das ist das Kabarett, das ich im Hotel München betreibe, von der Bierhalle gleich die Straße hoch. Johann konnte alles spielen. Von Jazz bis Klassik. Meine Frau und ich waren mehr oder weniger alles, was er an Familie hatte, nach allem, was ihm zugestoßen war. Wirklich schlimm, dass es ausgerechnet Johann erwischt hat. Ich meine, nachdem er als Kind in den Lagern war und so und überlebt hat.»
«Erinnern Sie sich an die Explosion?»
«Nein, eigentlich nicht. Wir wollten gerade aufbrechen, um für den Abend zu öffnen, als es passiert ist. Wissen Sie eigentlich inzwischen, wie es dazu kommen konnte? Die Bombe, meine ich?»
«Es sieht danach aus, als hätte einer der Arbeiter auf der Baustelle neben der Bierhalle mit seiner Spitzhacke den Zünder getroffen. Wir haben noch nicht einmal Überreste von ihm gefunden, was die Befragung schwierig macht. Vermutlich bleibt es dabei. Ich nehme an, die Anwohner werden seine Atome noch für ein paar Tage inhalieren. Sie hatten großes Glück, wissen Sie das? Einen Meter näher an der Tür, und Sie wären ebenfalls tot gewesen.»
Ich musste dem Bullen insgeheim recht geben. Ich blickte hinab auf zwei versengte Ohren, die aussahen wie die Blütenblätter eines Weihnachtssterns, und eine lange Naht am Hals des Mannes erinnerte mich an die Schienen der Transsibirischen Eisenbahn. Sein Arm steckte im Gips, und überall hatte er winzige Schnittwunden auf der Haut. Offensichtlich war Herr Dorpmüller nur um Haaresbreite davongekommen.
Wir nahmen den Aufzug hinunter ins Kellergeschoss, wo ich mir vor der Tür zur Leichenhalle eine weitere Eckstein anzündete und wie Orson Welles ein paar mahnende Worte von mir gab, bevor ich die drei einließ. Wenn ich mir Gedanken um ihre Mägen machte, dann nur, weil ich derjenige war, der hinterher den Inhalt vom Boden aufwischen musste.
«Also schön, meine Herren. Wir sind da. Aber bevor wir hineingehen, möchte ich Sie warnen. Der Verstorbene bietet keinen sehr appetitlichen Anblick. Zum einen sind wir in diesem Krankenhaus zurzeit knapp an sauberer Wäsche. Demzufolge ist er nicht mit einem Laken zugedeckt. Zum anderen sind die Beine nicht mehr an seinem Leib, der sehr schlimm verbrannt ist. Ich habe getan, was ich konnte, um ihn ein wenig sauber zu machen, aber Fakt ist: Sie können den Mann dort drin nicht auf die übliche Weise identifizieren, womit ich sein Gesicht meine. Er hat nämlich keines mehr. Wie es aussieht, wurde es von umherfliegenden Glassplittern zerfetzt, und es besitzt nicht mehr Ähnlichkeit mit der Fotografie in seinem Pass als ein Teller Rotkohl. Weswegen ein Handtuch über seinem Kopf liegt.»
«Sagen Sie bloß», sagte der Bulle in Zivil.
Ich lächelte geduldig. «Es gibt andere Möglichkeiten, den Toten zu identifizieren, denke ich. Unveränderliche Merkmale. Alte Narben. Ich habe gehört, dass man inzwischen mit etwas operiert, das man Fingerabdrücke nennt.»
«Johann hatte eine Tätowierung am Handgelenk», sagte der Mann im Rollstuhl. «Eine sechsstellige Zahl aus dem Konzentrationslager, in dem er als Kind war. Birkenau, glaube ich. Er hat sie mir nur ein- oder zweimal gezeigt, aber ich glaube, die ersten drei Ziffern waren eins vier null. Und er hatte sich gerade erst neue Schuhe gekauft, von Salamander.»
Während Dorpmüller die Tätowierung inspizierte, ging ich die Schuhe holen und ließ sie ihn ebenfalls in Augenschein nehmen. Dann stellte ich mich neben den uniformierten Bullen und nickte, als er fragte, ob er ebenfalls rauchen dürfe.
«Es ist der Gestank, wissen Sie?», gestand er. «Formaldehyd, oder?»
Ich nickte erneut.
«Mir wird immer schlecht davon.»
«Also, ist er es?», fragte der Zivilbulle.
«Sieht so aus», antwortete Dorpmüller.
«Sind Sie sicher?»
«So sicher, wie ich sein kann, ohne sein Gesicht zu sehen, schätze ich.»
Der Kriminaler sah auf das Micky-Maus-Handtuch über dem Kopf des Toten und dann anklagend zu mir. «Wie schlimm ist es wirklich?», fragte er. «Sein Gesicht?»
«Schlimm», antwortete ich. «Daneben sieht der Wolfsmensch aus wie der nette Nachbar von nebenan.»
«Sie übertreiben.»
«Kein Stück. Aber Sie können meinen Ratschlag natürlich ignorieren, wenn Sie wollen. Niemand hört auf mich hier unten, warum sollten Sie eine Ausnahme machen?»
«Gottverdammt!», schnarrte er. «Wie soll ich einen Leichnam identifizieren, wenn er kein Gesicht mehr hat?»
«Das ist ein Problem, zugegeben», räumte ich ein. «Es geht nichts über ein Leichenschauhaus, um an die Vergänglichkeit menschlichen Fleisches zu erinnern.»
Aus irgendeinem Grund schien der Kriminaler mich für diese Unbequemlichkeit verantwortlich zu machen, als würde ich versuchen, seine Ermittlung zu behindern.
«Was zum Teufel ist überhaupt los mit euch Typen hier drin? Hätten Sie nicht was anderes nehmen können, um sein Gesicht zuzudecken? Ganz zu schweigen vom Rest der Leiche? Ich habe von der FKK-Kultur in diesem Land gehört, aber das ist absurd!»
Ich zuckte zur Antwort mit den Schultern, was ihn nicht zufriedenzustellen schien, was wiederum nicht mein Problem war. Ich hatte noch nie ein Problem damit, Bullen zu enttäuschen, nicht einmal, als ich selbst noch einer war.
«Dieses dämliche Handtuch ist respektlos!», beharrte der Beamte. «Und was noch schlimmer ist, Sie wissen das genau!»
«Das hier war früher ein amerikanisches Krankenhaus», sagte ich erklärend. «Und das Handtuch war alles, was es hier unten gab.»
«Micky Maus! Ich hätte gute Lust, Sie zu melden, Kollege!»
«Sie haben recht», räumte ich ein. «Es ist respektlos. Entschuldigung.»
Ich riss das Handtuch vom Kopf des Toten und warf es in den Wäscheeimer in der Hoffnung, den Kerl zum Schweigen zu bringen. Es gelang beinahe, nur dass alle drei Männer ächzten und schnauften. Der Bulle in Uniform drehte sich zur Wand, und sein Kollege in Zivil schlug sich eine große Hand über das noch größere Maul. Lediglich der verletzte Patient im Rollstuhl saß da und starrte in grausiger Faszination auf den Toten, wie ein Kaninchen vor der Schlange, die im Begriff steht, es zu fressen, und vielleicht begriff er zum ersten Mal wirklich, wie haarscharf er dem gleichen Schicksal entgangen war.
«Das machen Bomben mit einem», sagte ich. «Man kann so viele Monumente und Statuen errichten, wie man will, aber es sind Anblicke wie dieser hier, die sich wirklich ins Gedächtnis brennen und einem die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führen.»
«Ich rufe einen Bestatter», flüsterte der Mann im Rollstuhl, als hätte er bis zu diesem Moment nicht wirklich geglaubt, dass Johann Bernbach tot war. «Sobald ich zu Hause bin.» Um dann hinzuzufügen: «Kennen Sie vielleicht einen Bestatter?»
«Ich hatte gehofft, dass Sie mich danach fragen.» Ich reichte ihm eine Visitenkarte. «Wenn Sie Herrn Urban sagen, dass Christof Ganz Sie geschickt hat, erhalten Sie einen Rabatt von ihm.»
Es war kein großer Rabatt, aber Urban würde mir ein kleines Trinkgeld zahlen, wenn er den Auftrag bekam. Ich schätzte, wenn ich jemals aus dieser Leichenhalle herauswollte, musste ich mich selbst um meine Zukunft kümmern.