Wie lebten sie wirklich, die inzwischen so berühmten Künstlerinnen und Künstler? Desmond Morris gehörte zu ihrem Kreis und kennt ihre Vorlieben, Freundschaften und dramatischen Zerwürfnisse. Er porträtiert einsame Wölfe, rebellische Vorkämpferinnen, brillante Exzentriker. Seine zweiunddreißig Lebensbilder der Surrealisten sind selbst Geschichte.
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Desmond Morris (*1928) ist surrealistischer Künstler, Verhaltensforscher, Autor, Filmemacher und Publizist. Er hat zahlreiche Weltbestseller zum Verhalten von Mensch und Tier veröffentlicht. Sein erfolgreichstes Buch, Der nackte Affe (1967), wurde weltweit über zwölf Millionen Mal verkauft.
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Willi Winkler (*1957) ist Journalist, Übersetzer, Autor und Literaturkritiker. Er war Redakteur der Zeit, Kulturchef beim Spiegel und ist Autor zahlreicher Bücher. Er übersetzte u. a. Werke von John Updike und Julian Barnes ins Deutsche. Seine journalistische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.
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Das Leben der Surrealisten
Aus dem Englischen von Willi Winkler
Mit zahlreichen Abbildungen
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2018 bei Thames & Hudson Ltd., London.
Das Kapitel über Joan Miró erschien erstmals 2011 in der Zeitschrift Tate Etc., Ausgabe 22.
Lektorat: Patricia Reimann
Originaltitel: The Lives of the Surrealistes
© by Desmond Morris, 2018
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit Thames & Hudson Ltd., London
© by Thames & Hudson Ltd., London 2018
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Desmond Morris
Umschlaggestaltung: Sven Schrape unter Verwendung des Originalumschlags, gestaltet von Mark Bracey
ISBN 978-3-293-31082-7
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Version vom 21.11.2020, 17:00h
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DIESES BUCH BIETET einen individuellen Blick auf die Surrealisten und widmet sich weniger ihrem Werk als ihrem Leben. Ich habe mich auf bildende Künstler und Künstlerinnen beschränkt und zweiunddreißig ausgewählt, die für mich am interessantesten sind. Alle werden einzeln vorgestellt mit einer knappen Biografie, einer gerafften Lebensgeschichte und einer Betrachtung der Persönlichkeit.
Die surrealistische Bewegung entstand im Paris der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts und entwickelte sich überaus lebhaft bis in die Dreißiger. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden die surrealistischen Künstler zerstreut, und viele von ihnen landeten als Flüchtlinge in New York. Dort setzten sie ihre Arbeit fort, aber die Bewegung wiederzubeleben, als sie nach Kriegsende 1945 nach Paris zurückkehrten, erwies sich als schwierig: Als organisierte Gruppe ging es bald bergab mit ihnen. Die Mehrheit der wichtigen Künstler verließ die Stadt und arbeitete außerhalb von Paris weiter. So entstand zwar weiterhin surrealistische Kunst, doch war sie jetzt das Werk einzelner, unabhängiger Künstler.
Aus Gründen der Anschaulichkeit habe ich jeden der zweiunddreißig Surrealisten mit einem Porträtfoto und einem für sein Gesamtwerk charakteristischen Bild illustriert. Die Fotos habe ich so gewählt, dass man diese Surrealisten in der Blütezeit der Bewegung sieht, auf die bekannteren Porträts der reifen Künstler habe ich, soweit möglich, bewusst verzichtet. Auch bei der Auswahl der Bilder habe ich Wert darauf gelegt, möglichst solche zu zeigen, die noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurden – wiederum also Gemälde und Skulpturen, die in der Blütezeit der Bewegung entstanden.
Viele Autoren haben surrealistische Kunstwerke in zwei Hauptkategorien unterteilt, die je nachdem als figurativ und abstrakt, illusionistisch und automatistisch, als oneiristisch und »freie Form« oder als veristisch und absolut bezeichnet werden. Mir sind diese Gegensatzpaare zu ungenau. Ich halte mich deshalb an fünf Grundformen des Surrealismus:
1. PARADOXALER SURREALISMUS. Der Künstler zeigt Kompositionen, deren einzelne Bestandteile realistisch dargestellt werden, aber irrational miteinander verknüpft werden. Beispiel: René Magritte(1)
2. ATMOSPHÄRISCHER SURREALISMUS. Der Künstler zeigt eine realistische Komposition, doch mit einer so seltsamen Intensität, dass die dargestellten Szenen in einen Traum hinüberzugleiten scheinen. Beispiel: Paul Delvaux(1)
3. METAPHORISCHER SURREALISMUS. Die Bilder des Künstlers zeigen Sujets, deren Details, Formen und Farben entstellt und verdreht sind. Dargestellte Figuren sind zwar als solche noch zu erkennen, aber sie verwandeln sich. In ihrer extremsten Ausbildung werden sie auf surrealistische Hieroglyphen verkleinert. Beispiel: Joan Miró(1)
4. BIOMORPHISCHER SURREALISMUS. Der Künstler erfindet Figuren, die sich nicht mehr auf bestimmte, originale Quellen zurückführen lassen, die jedoch über eine eigene organische Authentizität verfügen. Beispiel: Yves Tanguy(1)
5. ABSTRAKTER SURREALISMUS(1). Der Künstler verwendet organische abstrakte Formen, die allerdings in der Ausgestaltung so unterschieden sind, dass sie zusammengenommen mehr als ein visuelles Muster ergeben. Beispiel: Arshile Gorky(1)
Zwei Dinge sind wichtig in Verbindung mit diesen fünf Kategorien. Zum einen bedienten sich viele Surrealisten im Laufe ihrer Schaffensjahre mehr als nur einer Methode. Max Ernst(1) war wahrscheinlich der vielseitigste; er hat irgendwann jede dieser fünf Formen angewandt, ganz anders Magritte(2), der einer einzigen Kategorie treu blieb. Zum anderen bedeutet die Tatsache, dass jemand sich einer dieser Kategorien bedient, noch keineswegs, dass dabei ein überzeugendes Kunstwerk entsteht. Viele haben sich im Surrealismus versucht und haben doch nichts Interessantes zustande gebracht. Das große Geheimnis im Surrealismus besteht natürlich wie in der gesamten Kunst in der Frage, was ein bestimmtes Werk eines bestimmten Genres über die anderen hinaushebt.
Über die Frage, wer denn ein echter Surrealist gewesen sei und wer nicht, wurde unendlich viel gestritten. Puristen werden nur die Angehörigen von André Bretons(1) innerstem Kreis gelten lassen. Andere werden erklären, dass jedes Gemälde, das irgendwie seltsam ist, als »surrealistisch« bezeichnet werden kann. Ich lehne beide Extrempositionen ab. Mein Kompromiss lässt folgende Kategorien gelten:
1. OFFIZIELLE SURREALISTISCHE KÜNSTLER
Künstler, die nicht nur ausschließlich surrealistische Kunstwerke geschaffen haben, sondern auch an den surrealistischen Gruppentreffen teilgenommen und sich den Regeln unterworfen haben, die Breton(2) in den surrealistischen Manifesten(1) niedergelegt hat. Diese Künstler verstanden sich als Teil eines Kollektivs und arbeiteten daran, subversiv das Establishment und die überkommenen bürgerlichen Wertvorstellungen zu unterminieren. Jeder von ihnen konnte darüber abstimmen, ob jemand formell in die Gruppe aufgenommen oder von ihr ausgeschlossen wurde.
2. ZEITWEILIGE SURREALISTEN
Künstler, die sich mit anderen Genres beschäftigten, aber eine surrealistische Phase hatten, nachdem sie mit Surrealisten in Kontakt kamen.
3. UNABHÄNGIGE SURREALISTEN
Künstler, die mit den Surrealisten und ihren Theorien vertraut waren, aber als Individualisten kein Interesse an irgendeiner Form von Gruppenaktivität zeigten. Sie waren deshalb keineswegs Gegner dieser Gruppe oder der offiziellen Ziele der Bewegung, aber als Einzelgänger wollten sie damit schlicht nichts zu tun haben.
4. ANTAGONISTISCHE SURREALISTEN
Künstler, die surrealistische Werke schufen, aber Breton(3) und dessen Gefolgsleute sowie das, wofür sie standen, ablehnten. So meinte einer von ihnen, dass er die Kunst der Surrealisten »glühend bewundere«, aber mit ihren Theorien nichts zu schaffen haben wolle.
5. AUSGESTOSSENE SURREALISTEN
Künstler, die aus der offiziellen Gruppe ausgeschlossen worden waren, aber weiter surrealistische Werke schufen, obwohl sie nicht mehr zu den Surrealisten gerechnet wurden.
6. AUSGESCHIEDENE SURREALISTEN(1)
Künstler, die der offiziellen Gruppe angehört hatten, sich dann aber von ihr lösten und nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht werden wollten.
7. ABGELEHNTE SURREALISTEN
Künstler, die sich selbst als Surrealisten verstanden und zur offiziellen Gruppe gehören wollten, allerdings keine Aufnahme fanden, weil ihre Arbeiten als untauglich galten.
8. NATÜRLICHE SURREALISTEN
Künstler, die echte surrealistische Werke schufen, aber ganz für sich allein arbeiteten und wenig oder gar nichts von der Bewegung wussten.
Auf zwei Typen von Surrealisten verzichte ich in meinem Buch. Es handelt sich um:
OFFIZIELLE SURREALISTISCHE NICHTKÜNSTLER
Also Surrealisten, die sich nicht mit darstellender Kunst beschäftigten, sondern als Theoretiker, Autoren, Dichter, Aktivisten und Organisatoren zur Bewegung gehörten. Vor allem zu Beginn spielten sie eine wichtige Rolle, da sie die Ziele und Vorhaben der Gruppe formulierten. Ihre Bedeutung verlor sich jedoch relativ rasch in der Geschichte, wohingegen die Arbeit der darstellenden Künstler immer wichtiger wurde und schließlich weltweites Interesse fand.
SURREALISTISCHE FOTOGRAFEN UND REGISSEURE
Unter diesen sind viele in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzen. Leider musste ich mich aus Gründen des Umfangs dennoch entschließen, auf diese Kategorie zu verzichten.
Max Ernst(2), Plakat für die International Surrealist Exhibition(1), New Burlington Galleries, London, 1936
Surrealisten in Paris (von links nach rechts: Tristan Tzara(1), Paul Éluard(1), André Breton(4), Jean Arp(1), Salvador Dalí(1), Yves Tanguy(2), Max Ernst(3), René Crevel(1), Man Ray(1)), 1933. Foto: Anna Riwkin
IN DER GESAMTEN GESCHICHTE gibt es keine Kunstrichtung, der zwei dermaßen unterschiedliche Künstler wie Magritte(3) und Miró(2) angehören. Das hat damit zu tun, dass der Surrealismus zunächst gar keine Kunstbewegung, sondern ein philosophisches Konzept war. Es ging um eine Lebensform – eine Rebellion gegen das Establishment, das der Welt das entsetzliche Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs beschert hatte. Wenn die menschliche Gesellschaft auf etwas so Widerwärtiges zulaufen konnte, dann musste sie selbst widerwärtig sein. Die Dadaisten verfielen darauf, dieser Gesellschaft einfach ins Gesicht zu lachen. Ihre obszönen Spötteleien waren so unerhört, dass André Breton(5), der, in einem Pariser Straßencafé sitzend, über seine Zukunft nachdachte, auf den Gedanken kam, es brauche etwas Ernsthafteres, um die traditionelle bürgerliche Gesellschaft zu bekämpfen. Im Jahr 1924 präsentierte er seine Vorstellungen in Form eines Manifests,(2) das die neue Bewegung, die Surrealismus heißen sollte, erstmals beschrieb. Er wartete sogar mit einer Definition in lexikalischer Form(1) auf:
SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.
Sofort flammten Debatten um diese neue Philosophie auf, und Breton(6) benannte neunzehn Menschen, die durch echte surrealistische Handlungen hervorgetreten waren: Dichter, Denker, Schriftsteller und Essayisten, deren Namen heute so gut wie vergessen sind. Allenfalls Spezialisten würden mit Namen wie Boiffard, Carrive, Delteil, Noll oder Vitrac noch etwas anfangen können. Jenseits der Fachgelehrtenwelt sind ihre Schriften spurlos verschwunden. Und vermutlich wäre es auch für die Surrealisten nicht anders gekommen, wenn es nach einem von ihnen gegangen wäre. Pierre Naville(1) schrieb nämlich: »Meister, Meistergauner, schmiert eure Leinwand voll. Jeder weiß doch, dass es kein surrealistisches Gemälde gibt.« Für Naville hatten die darstellenden Künste in der surrealistischen Welt nichts verloren. Hätte sich seine Ansicht durchgesetzt, der Surrealismus wäre vielleicht ein paar Jahre als esoterische, philosophierende Literatengruppe durch Paris gegeistert und dann bald wieder verschwunden.
Zu Bretons(7) Glück hatte Naville(2) eins übersehen. Zur Dada-Bewegung(1), aus der der Surrealismus hervorgegangen war, gehörten mehrere visuell Hochbegabte wie zum Beispiel Max Ernst(4), Marcel Duchamp(1), Francis Picabia(1), Man Ray(2) und Jean Arp(2). Sie fühlten sich angezogen von der vielversprechenden neuen Bewegung des Surrealismus, und sie brachten Bildideen mit, die sich nicht ignorieren ließen. Naville flog raus, und Breton übernahm das alleinige Kommando. 1928 stellte er die Sache klar, indem er ein Buch mit dem Titel Le Surréalisme et la Peinture (Der Surrealismus und die Malerei) veröffentlichte. Die Künstler gehörten dazu.
Die Künstler verschafften Breton(8) zwei entscheidende Vorteile. Sie konnten große Ausstellungen inszenieren, die sich in große surrealistische Ereignisse verwandeln ließen, und sie waren in jeder Sprache zu verstehen. Die bildenden Künste im Surrealismus waren spektakulär und gleichzeitig international. Je mehr Zeit verging, desto mehr begann der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. In der allgemeinen Wahrnehmung wurde aus dem Surrealismus eine ausschließlich künstlerische Bewegung, während seine literarischen Anfänge so gut wie vergessen waren. Seine größten Schausteller wurden auf der ganzen Welt berühmt.
Das erklärt auch, warum man so unterschiedliche Künstler wie Magritte(4) und Miró(3) unter der Rubrik Surrealismus zusammenfassen kann. Sie folgten, anders als die Impressionisten oder die Kubisten(1), keiner festgelegten visuellen Sprache. Vielmehr gehorchten sie der wichtigsten Regel der surrealistischen Philosophie – arbeite mit dem Unbewussten, analysiere nicht, plane nichts, lass den Verstand draußen, kümmere dich nicht um Schönheit und Ausgewogenheit. Lass deine dunkelsten, irrationalsten Gedanken aus deinem Unbewussten aufsteigen und sich auf deiner Leinwand ausbreiten. Deine Bilder malen sich von selbst, und du kannst dabei zuschauen. Schon deshalb, so der Anspruch, seien die surrealistischen Arbeiten wertvoller als die anderer überlieferter Kunstformen, wo Bilder entweder sklavisch von der äußeren Welt abgepinselt oder als logisch angeordnete, fiktionale Szenen sorgfältig hergestellt würden. Indem surrealistische Werke tiefere Bewusstseinsschichten erschlossen, konnten sie den Betrachter unmittelbar und mit einer deutlich stärkeren Stimme ansprechen, handelt es sich doch um jene tieferen Schichten, in denen wir alle die gleiche Hoffnung, die gleiche Angst, den gleichen Hass, die Liebe und die Sehnsucht spüren.
Die Künstler unterschieden sich erheblich darin, wie sie von dieser Methode Gebrauch machten, weshalb wir es auch mit weit auseinanderstrebenden visuellen Stilrichtungen zu tun haben. Magritte(5) hatte eine wilde, irrationale Idee, entschloss sich dann aber, diese Idee auf der Leinwand in einer möglichst traditionellen Form wiederzugeben. Seine Ideen waren reinster Surrealismus, doch die Technik, in der er sie sichtbar machte, war bewusst – und fast schon langweilig – konventionell. Seine Gemälde bleiben genau wegen dieses Gegensatzes zwischen dem fantasievollen Irrsinn seiner Bilder und dem geradezu biedersinnigen Farbauftrag im Gedächtnis haften. Andere Surrealisten beschränkten den Augenblick fantasievoller Irrationalität nicht wie Magritte auf die Zeit vor Beginn der Arbeit, sondern verlängerten ihn, wie Miró(4), in den eigentlichen Schaffensvorgang hinein. Die visuelle Irrationalität Magrittes lässt sich ohne Weiteres mit wenigen Worten beschreiben (ein Geschäftsmann trägt statt seines Kopfes einen grünen Apfel; eine Meerjungfrau hat den Kopf eines Fisches und die Beine einer Frau), doch ist es unmöglich, das Wesen eines Miró-Gemäldes wiederzugeben, ohne es tatsächlich vor Augen zu haben.
Auch in der Art, wie sie ihr Leben lebten, unterschieden sich die Künstler. Die einen waren in allem, was sie taten, hundertprozentige Surrealisten – in ihrem persönlichen Verhalten genauso wie in ihrer Arbeit. Andere führten ein relativ bürgerliches Leben und verwandelten sich erst vor der Staffelei und wenn sie den Pinsel in die Hand nahmen, in einen Surrealisten. Wieder andere lehnten die ganze surrealistische Philosophie ab und wollten auf keinen Fall damit in Verbindung gebracht werden, schufen aber, sobald sie zu malen anfingen, unweigerlich surrealistische Bilder.
Eine Eigentümlichkeit dieses Buches besteht darin, dass es gar nicht erst versucht, die Bilder und Skulpturen der Surrealisten zu analysieren oder im Detail zu diskutieren. Diese Aufgabe überlasse ich gern den Kritikern und Kunsthistorikern. Seit ich 1948 meine erste eigene Ausstellung mit surrealistischen Gemälden hatte, muss ich immer wieder die Frage abwehren, was meine Bilder denn zu bedeuten hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass kein einziger Surrealist sich über diese Frage gefreut hat. Die einen haben grob zurückgeblafft, andere haben sich ins Schwafeln gerettet und wieder andere sind auf Antworten verfallen, von denen sie glaubten, sie würden die Frager zufriedenstellen. Dabei ist doch offensichtlich, dass ein Künstler, der Bilder malt, die er direkt aus dem Unbewussten zutage fördert, gar nicht wissen kann, was in rationaler, interpretatorischer oder analytischer Hinsicht überhaupt vor sich geht. Wenn er es doch kann, handelt es sich nicht um surrealistische Arbeiten – es ist dann Fantasiekunst, die eine exotische, aber im Vorhinein entworfene Geschichte erzählt. Oberflächlich betrachtet mögen die Arbeiten mancher Fantasiekünstler dem Werk echter Surrealisten ähneln, doch tatsächlich haben sie mit Surrealismus ungefähr so viel zu tun wie Disney mit Hieronymus Bosch(1).
Ich konzentriere mich in diesem Buch auf die Surrealisten als Menschen, als herausragende Individuen. Wie war ihre Persönlichkeit, was waren ihre Vorlieben, ihre Charakterstärken, was ihre Schwächen? Haben sie sich ins Gesellschaftsleben gestürzt oder waren sie einsam? Waren sie kühne Exzentriker oder ängstliche Eremiten? Waren sie sexuell normal oder erotisch pervers? Waren sie Autodidakten oder besaßen sie eine akademische Ausbildung?
Als André Breton(9) versuchte, seine kleine Rebellentruppe zu organisieren, stand er bald vor dem Problem, dass sie seiner Aufforderung zu gemeinsamen Aktionen nicht folgen mochten, schließlich gehören Exzentrik und ausgeprägter Individualismus zur Natur von Rebellen. Als Künstler liegt ihnen nicht daran, dass ihre Bilder denen anderer Gruppenmitglieder gleichen, schließlich wollen sie nicht als Nachahmer gelten. Eine unlösbare Aufgabe für den armen Breton, und es ist kein Wunder, dass ihn die meisten bedeutenden surrealistischen Künstler ablehnten – und ihrerseits von ihm ausgeschlossen wurden. Einige haben sich deshalb darauf verständigt, dass Breton ein dümmlicher Westentaschendiktator war, der einen Haufen Sonderlinge zu kontrollieren versuchte. Doch das hieße seine Bedeutung massiv zu unterschätzen: Breton war die treibende Kraft der Bewegung und unverzichtbar für ihre Gestalt und ihr Bild in der Geschichte.
In gewisser Weise ist der Surrealismus gescheitert. Er hat die Welt nicht verändert. Andererseits hatte er Erfolg weit über die höchstgespannten Erwartungen hinaus: Seine Arbeiten können von Millionen auf der ganzen Welt gesehen werden. Neben jenen, die die Werke erklärt und analysiert haben wollen, gibt es die viel größere Zahl derer, die einfach davorstehen und bereit sind, die Bilder direkt vom Unbewussten der Künstler in ihr eigenes Bewusstsein eindringen und wirken zu lassen. Indem sie diesen intuitiven, diesen instinktiven Vorgang zulassen, erweisen die Betrachter den Werken und den Überzeugungen, die ihnen zugrunde liegen, ihre Reverenz.
Einer der frühen Surrealisten, der spanische Regisseur Luis Buñuel(1), drückte es in seinen Memoiren, wo er über seine Zeit bei den Pariser Surrealisten schreibt, ungemein treffend aus: »Aber was waren wir schon! Eine kleine Gruppe ungebärdiger Intellektueller, die in einem Café palaverte und eine Zeitschrift herausgab. Eine Handvoll Idealisten, die sich schnell uneins war, wenn es darum ging, direkt in Aktion zu treten und auch Gewalt anzuwenden. Und doch haben meine drei Jahre in den begeisterten und bestimmt auch chaotischen Rängen der Bewegung mein Leben verändert.« Bei jedem, der je mit dieser Bewegung in Berührung gekommen ist, hat sie, ganz gleich, wie lang oder kurz dieser Kontakt war, ihre Spuren hinterlassen. Das gilt natürlich auch für mich, obwohl ich in den Vierzigerjahren nur mehr das Schwanzende zu fassen bekam. Trotz all der wichtigtuerischen Regeln und Vorschriften, die so extrem waren, dass sich nicht einmal diejenigen, die sie formuliert hatten, daran halten konnten, hatte die surrealistische Philosophie bei allen von uns, die in ihren Bann geraten waren, dauerhaft eine enorme Wirkung. Geblieben ist mir vor allem der freie Zugang zu den Tiefen des menschlichen Wesens, der uns wichtig war und den wir ersehnten, dieser Ruf nach dem Nicht-Rationalen, nach dem Dunklen, nach den Impulsen, die aus den Tiefen unseres Ichs kommen.«
Titelseite der ersten Nummer von La Révolution Surréaliste(1) (Die surrealistische Revolution), 1. Dezember 1924, mit drei Fotografien von Man Ray(3)
Titelseite der vierten Ausgabe des International Surrealist Bulletin(1), September 1936. Es zeigt das Surrealist Phantom (Das surrealistische Phantom), Sheila(1) Legge bei ihrer Performance auf dem Trafalgar Square in London
Titelblatt von A Dozen Surrealist Postcards (Ein Dutzend surrealistischer Postkarten), 1940
Werbeplakat für die Ausstellung von Joan Miró(5), Desmond Morris(1) und Cyril Hamersma(1) in der Galerie von E. L. T. Mesens(1) in London, Februar 1950
Max Ernst(5), Au Rendez-vous des Amis(1) (Das Rendezvous der Freunde), 1922–1923
Engländerin • schloss sich 1933 der surrealistischen Gruppe an
Geboren: 1. Dezember 1899 in Buenos Aires als Eileen Forrester Agar
Eltern: Vater schottischer Geschäftsmann (Windmühlen); Mutter amerikanisch-englischer Herkunft
Orte: Buenos Aires 1899; London 1911; Paris 1927; London 1930
Liebesbeziehungen: verheiratet mit dem Kommilitonen ROBIN BARTLETT(1) 1925–1929 • der ungarische Schriftsteller JOSEPH BARD(1) 1926 • PAUL NASH(1) 1935–1944 • PAUL ÉLUARD(2) 1937 • Ehe mit JOSEPH BARD 1940–1975
Gestorben: 17. November 1991 in London
Eileen Agar im Hotel Vaste Horizon in Mougins, September 1937. Fotograf unbekannt
Eileen Agar, The Reaper (Der Schnitter)(1), 1938. Gouache und Blatt auf Papier
ICH LERNTE EILEEN AGAR erst kennen, als sie bereits neunzig Jahre alt war. Und noch immer besaß sie Schönheit und Charme, womit sie in ihren jungen Jahren die Surrealisten verzaubert haben muss. Sie war schlank geblieben, saß kerzengerade da und lächelte spitzbübisch. Eine Aura fantasievoller Verspieltheit umgab sie, wie sie in so hohem Alter kaum mehr anzutreffen ist. Vermutlich hätte sie das mit der Tatsache begründet, dass sie nie Kinder bekommen hatte und auch nie welche wollte. Als Teenager hatte sie gelesen, dass mit einer Bevölkerungsexplosion zu rechnen sei, und sie erinnerte sich an das Gefühl ungeheurer Erleichterung, weil sie eine Rechtfertigung für ihr fehlendes Fortpflanzungsbedürfnis gefunden hatte.
Obwohl erotische Motive in ihren Gemälden keine besondere Rolle spielen, scheint sie im wirklichen Leben sexuell weit abenteuerlustiger als die meisten Frauen ihrer Generation gewesen zu sein. Ihr Mann behauptete, dass sie immer »darauf aus war, etwas genau so zu machen, wie es nicht ging, zum Beispiel Sex im Stehen in einer Hängematte«. Offenbar fand sie auch nichts dabei, drei Liebhaber gleichzeitig zu haben. Sie war eine Hedonistin, auf eine fröhlich kindliche Art. Vergnügt erzählte sie, dass sie in Picassos(1) Bett geschlafen habe, aber ohne ihn – präsentierte also eine verruchte Vorstellung, nur um sie gleich wieder zu zerstören. Verruchte Unschuld ist ein Widerspruch in sich, und doch passt er zu Agars anziehender Persönlichkeit ebenso wie zu ihrer Arbeit als Künstlerin.
Sie wurde in Argentinien geboren, wo ihr aus Schottland stammender Vater Windmühlen an die Einheimischen verkaufte; die Mutter war amerikanisch-englischer Herkunft. Die Familie war wohlhabend und gesellig, was heißt, dass die Kinder ihre Eltern nur ein Mal am Tag kurz sahen, nämlich zum Gute-Nacht-Sagen. Die übrige Zeit hatten sie mit ergebenen Bediensteten zu verbringen. Als Eileen neun Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, eine neunmonatige Weltreise zu unternehmen, die Kinder ließen sie zu Hause. Sie gab zu, dass sie jähzornig war und gern gegen Vorschriften verstieß. Einmal wurde sie deshalb von ihrer Mutter mit einer Haarbürste geschlagen – eine Strafe, die sie noch immer zornig machte und an die sie sich noch nach achtzig Jahren lebhaft erinnerte. So wuchs eine junge Rebellin heran. Am glücklichsten war sie, wenn sie im Freien spielen durfte. Dabei nahm sie die Farben und Formen der argentinischen Landschaft in sich auf. Noch als alte Dame konnte sie vor ihrem inneren Auge Einzelheiten wie die glitzernden Zügel der schwarzen Pferde heraufbeschwören, die ihre grüne Kutsche zogen.
Als sie zehn war, kehrte die Familie Argentinien den Rücken, und ihr Vater setzte sich in England zur Ruhe. Die Überfahrt unternahmen sie in Gesellschaft einer Kuh und eines Orchesters, womit sowohl für frische Milch als auch für Musik gesorgt war. In London lebten sie in einem großzügigen Anwesen am Belgrave Square, zu dem ein ganzer Ballsaal gehörte; heute residiert dort ein Botschafter. Ihre Mutter wurde eine illustre Gastgeberin und gab verschwenderische Partys, beschäftigte einen Butler, Hausmädchen und Lakaien und nannte einen Rolls-Royce samt Chauffeur ihr Eigen. Den Herbst verbrachte die Familie auf einem Landsitz in Schottland.
Die zwanglose Extravaganz, die Agars Kindheit umgab, fand ihr Ende mit einem plötzlichen schrillen Ereignis, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Rolls-Royce wurde dem Roten Kreuz übergeben, und dem Internat, in dem das Mädchen eine Leidenschaft fürs Zeichnen entwickelt hatte, wurde durch Eileens exzentrische Mutter per Telegramm untersagt, die Tochter weiter in Deutsch zu unterrichten. Nach dem Krieg nahm die Familie ihren prunkvollen Lebensstil in einem neuen Haus in Mayfair wieder auf. Eileen spielte dort, wie sie sich erinnerte, mit dem ehemaligen Premierminister Herbert Asquith(1) »Reise nach Jerusalem«, wobei sie die Anweisung hatte, ihn gewinnen zu lassen. Als die Londoner Modemagazine auf sie aufmerksam wurden und ein Bild von ihr bringen wollten, verbot ihre Mutter das mit der Begründung, die Dienstboten könnten die Fotos als Pin-ups benutzen. Eileens häusliches Leben war streng geregelt, und auch wenn keine Gäste erwartet wurden, durfte sie zum Dinner nie anders als im Abendkleid erscheinen.
Das nächste Problem bestand darin, für Eileen, die gut verheiratet werden und Kinder aufziehen sollte, einen geeigneten Bräutigam zu finden. Sie rebellierte und erklärte, dass sie keine Lust habe, Nachwuchs großzuziehen, der ohnehin im nächsten Krieg hingeschlachtet würde, doch von ihren Heiratsplänen für die Tochter ließ sich die Mutter deshalb nicht abbringen. Unter den Freiern war ein englischer Lord, ein anderer war der russische Prinz, der Rasputin hingerichtet hatte. Ein weiterer Prinz kam aus Belgien, doch lehnte Eileen ihn mit der Begründung ab, sie möge keinen Brüsseler Kohl. Dann war da noch ein schneidiger Offizier, der sie in seinem Flugzeug mitnahm und ihr in der Luft das Steuer überließ, damit sie den Looping selbst vollführen konnte. Sie lehnte jedoch alle potenziellen, ihr angebotenen Ehemänner ab. Mittlerweile war die Kunst immer wichtiger für sie geworden, und sie sah darin ihren künftigen Lebensinhalt. Für ihre Mutter war das nichts weiter als eine elegante Form, sich die Zeit zu vertreiben, weshalb sie einen Freund Auguste Rodins (1840–1917) engagierte, damit er Eileen in Aquarelltechnik unterrichte. Als ein Bekannter von Pierre-Auguste Renoir(1) (1841–1919) erklärte, Eileen solle sich ernsthafter mit Kunst befassen und eine Akademie besuchen, war ihre Mutter entrüstet, musste aber am Ende nachgeben; 1920 begann Eileen Unterricht in London zu nehmen. Aber schon im Herbst dieses Jahres gelang es der Mutter, Eileens Pläne zu durchkreuzen, indem sie die ganze Familie zurück nach Argentinien verpflanzte, wo sie in Buenos Aires zur Feier von Eileens einundzwanzigstem Geburtstag einen prächtigen Ball für sechshundert Menschen veranstaltete, der die ganze Nacht andauerte. Als die Familie schließlich nach London zurückkehrte, wurde Eileen endlich gestattet, die Slade School of Fine Arts zu besuchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie den Weg dorthin jeden Tag mit dem Rolls-Royce der Familie zurücklegte. Um sich diesen peinlichen Auftritt zu ersparen, ließ sie sich vom Fahrer ein paar Blocks entfernt absetzen, wo er sie am Nachmittag auch wieder abholte.
Während sie an der Slade studierte, machte sie ihrer Jungfräulichkeit im Laub einer Lichtung auf der Isle of Wight bewusst ein Ende. Kurz danach kam es zu einem Familienstreit, ihre Mutter schlug sie, und die einundzwanzigjährige Eileen packte ihre Sachen und verließ ihr Elternhaus für immer. In Chelsea fand sie ein kleines Atelier und widmete sich fortan ganz der Malerei. 1925 heiratete sie ihren jungen Liebhaber Robin Bartlett(2) und zog mit ihm in ein Bauernhaus mit Lehmfußboden im ländlichen Frankreich. Bald jedoch wurde sie seiner überdrüssig und verließ ihn wegen eines Mannes, der die Liebe ihres Lebens werden sollte, der gut aussehende ungarische Schriftsteller Joseph Bard(2). Mit ihm zog sie erst nach Italien und dann nach Paris, wo sie Ende der Zwanzigerjahre die avantgardistischen Künstler und Dichter kennenlernte und ihre rebellische Freiheit auskostete. Sie besuchte Constantin Brancusi(1) (1876–1957) in seinem Atelier und begegnete auf dem Höhepunkt der surrealistischen Revolution André Breton(10). Ihr Vater war gestorben und hatte ihre eine großzügige Apanage hinterlassen, sodass sie nie gezwungen sein würde, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das bedeutete, dass sie jeder intellektuellen Marotte nachgeben konnte und sich mit vielen seinerzeit bedeutenden Männern herumtreiben konnte, zu denen Evelyn Waugh, Ezra Pound, Cecil Beaton, Aldous Huxley(1), W. B. Yeats, Osbert Sitwell, Ernest Hemingway(1) und F. Scott Fitzgerald gehörten.
Als sie nach London zurückkehrte, ermutigte Henry Moore(1) sie in ihren künstlerischen Ambitionen. Sie wurden enge Freunde, obwohl er ihr nie verzieh, dass sie ihn beim Tennis besiegt hatte. Er machte sie mit Jacob Epstein(1) (1880–1959) und dem Amerikaner Alexander Calder(1) bekannt. Jetzt, in den frühen Dreißigern, erschienen auch die Dichter Dylan Thomas(1) und David Gascoyne(1) auf der Bühne. Als sie 1935 die Sommermonate an der englischen Südküste verbrachte, lernte Eileen den Künstler Paul Nash(2) (1889–1946) und dessen Frau Margaret Odeh(1) kennen. Nash stimulierte sie und brachte sie auf den Gedanken, am Strand und auch sonst nach ungewöhnlichen Dingen zu suchen, die sich so bearbeiten ließen, dass sie zu surrealistischen Objekten wurden. Eileen und Nash verliebten sich und schliefen bald miteinander, womit sie ihren jeweiligen Partnern großen Kummer bereiteten. Schließlich beendete Eileen das Verhältnis, doch weder ihr noch Nash fiel es leicht, auf die Leidenschaft zu verzichten, die sie füreinander empfanden, und so beschlossen sie, sich künftig im Geheimen zu treffen, um niemandem noch mehr Schmerz zuzufügen. Zwei Liebhaber gleichzeitig zu haben, war unwiderstehlich für Eileen, obwohl sie zugab, dass sie damit für viel Leid sorgte.
Anfang 1936 beschlossen Roland Penrose und David Gascoyne(2), in London eine große Ausstellung zu veranstalten, um den Surrealismus dem britischen Publikum vorzustellen. Paul Nash(3) gehörte zusammen mit Henry Moore(2) und mehreren anderen zum Organisationskomitee. Beide wussten von den ungewöhnlich kraftvollen Bildern, die Agar seit ihrer Zeit in Paris geschaffen hatte. Penrose(1) und Herbert Read(1) besuchten sie in ihrem Atelier und wählten für die Ausstellung drei ihrer Ölgemälde und fünf surrealistische Objekte aus. Zunächst war sie verblüfft, dass sie jetzt ein offizielles Mitglied der surrealistischen Bewegung sein sollte. Ihr Leben lang hatte sie dafür gekämpft, als freier Geist für sich allein arbeiten zu können, und plötzlich fand sie sich in eine Gruppe eiferglühender Rebellen aufgenommen. Die Aufregung bei der Vernissage war ungeheuer, und Eileen bemerkte: »Ich war stolz darauf, zu ihnen zu gehören.« Jeden Tag strömten ungefähr tausend Besucher in die Ausstellung, und Agars Arbeiten fanden mehr Beachtung als je zuvor. Ihre neuen surrealistischen Freunde faszinierten sie. Max Ernst(6) erinnerte sie an einen Vogel, Paul Éluard(3) hatte dieses romantische gute Aussehen, André Breton(11) war löwenhaft, Yves Tanguy(3) bizarr, nervös und leicht erregbar, Salvador Dalí(2) eine herausragende Erscheinung und jederzeit bereit zu explodieren, Joan Miró(6) kindlich und poetisch. Sie machte die interessante Beobachtung, dass die Frauen der Surrealisten alle elegant und zurückhaltend gekleidet waren, während die Künstlerinnen dieser Bohème im Gegensatz dazu bewusst in abgerissenen, farbbespritzten Kleidern auftraten.
Im folgenden Jahr verkomplizierte sich Agars Liebesleben noch. Sie und ein paar andere Surrealisten hielten sich bei Roland Penrose(2) in Cornwall auf. Roland war, so ihre Worte, »immer bereit, die kleinste Begegnung in eine Orgie zu verwandeln«. Die Atmosphäre knisterte vor sexueller Spannung, und in kürzester Zeit erlag Eileen dem Charme des französischen surrealistischen Dichters Paul Éluard(4). Sie schilderte ihn als den leibhaftigen Eros, war bald in seinen Armen und in seinem Bett, ohne sich von seiner zweiten Frau Nusch(1), einer ehemaligen Zirkusartistin, dabei stören zu lassen. Joseph Bard(3) und Paul Nash(4), ihre anderen beiden Liebhaber, befanden sich ebenfalls in der Nähe. Nash wurde maßlos eifersüchtig auf Éluard, während sich Bard weniger darum kümmerte, da er gerade eine Affäre mit Éluards Frau Nusch hatte. Die Lage wurde nicht einfacher dadurch, dass Lee Miller(1), die inzwischen mit Roland Penrose verbandelt war, durch den Unheilstifter Edouard Mesens(2) erfuhr, dass Eileen es auf Roland abgesehen habe. Lee warf daraufhin ein Glas Wasser nach Eileen, ehe sie merkte, dass es sich nur um ein Gerücht handelte. Das gehörte zu den Komplikationen und Feinheiten in den Beziehungen innerhalb der surrealistischen Gruppe, der sich Agar jetzt angeschlossen hatte, doch war sie damit nicht zu schrecken. Sie nahm es vielmehr mit einem Augenzwinkern und dem überschäumenden Gefühl, endlich die formellen Beschränkungen ihres früheren Lebens losgeworden zu sein. Der Surrealismus verschaffte ihr ein reiches Gefühlsleben, das gleichzeitig intellektuelle Argumente und Debatten zu bieten hatte.
Die Hausparty in Cornwall war noch in vollem Gange, als einige der Teilnehmer nach Südfrankreich weiterzogen, wo sie auf Man Ray(4), Pablo Picasso(2) und Dora(1) Maar trafen. Gerüchteweise heißt es, dass Eileen und Picasso eine kurze Affäre gehabt hätten, doch sie hat es immer bestritten.
Bei all den gesellschaftlichen Vergnügungen war doch nicht zu verkennen, dass sich am Horizont der Krieg abzeichnete. Mit einer erstaunlich prophetischen Geste zog Picasso(3) eines Tages bei Tisch den Korken aus einer Flasche, reichte ihn Eileen und sagte ihr, bei einem Bombenangriff solle sie ihn sich zwischen die Zähne klemmen, damit sie nicht aufeinanderschlugen. Tatsächlich kamen die Bomben bald. Der Krieg war endgültig da, als Eileen und Joseph Bard(4), ihre größte Liebe, nach einer Nacht im Londoner Bombenhagel zu ihrer Überraschung feststellten, dass sie noch am Leben waren. Da entschied Eileen, dass sie unter diesen schrecklichen neuen Umständen heiraten sollten, was sie dann auch ohne weiteren Verzug taten. Henry Moore(3), mit dem sie nach wie vor befreundet war, befand sich unter den Gästen der Party, die 1940 anlässlich ihrer Hochzeit stattfand.
Agar fiel es unendlich schwer, sich auf die Malerei zu konzentrieren, solange um sie herum der Krieg tobte. Sie stürzte sich deshalb in kriegsbedingte Tätigkeiten. Erst nach dem Sieg über Deutschland kehrte sie zur Malerei zurück, und es war, »als würde ich den Glauben an das Leben wiederfinden«. Die folgenden dreißig Jahre war sie mit Joseph Bard(5) glücklich; die wilde Zeit lag hinter ihr. Sie arbeitete hart an Gemälden und ihren surrealistischen Konstruktionen, stellte häufig und mit Erfolg aus und ging mit dem Mann, den sie als »die Wärme meines Lebens« bezeichnete, auf Reisen. Als er 1975 starb, blieb sie die letzten sechzehn Jahre ihres Lebens mit ihren Erinnerungen allein, entschloss sich aber 1988, als sie bereits auf die neunzig zuging, sie in ihrer Autobiografie A Look At My Life (Mein Leben vor Augen) für die Nachwelt aufzuzeichnen. Gleichzeitig arbeitete sie regelmäßig und bis zuletzt in ihrem Atelier.
Eileen Agar verstand ihre Arbeit nicht als reinen Surrealismus, sondern als eine Mischung aus Abstraktion und Surrealismus, aber die Worte, mit denen sie ihr Leben zusammenfasste, legen nahe, dass sie dem Surrealismus näher war, als sie zugeben wollte: »Ich habe mein Leben in der Revolte gegen die Konvention verbracht und dabei versucht, in die alltägliche Existenz Farbe, Licht und ein Gefühl für das Geheimnisvolle zu bringen.«
Deutschfranzose • ein Pionier innerhalb der surrealistischen Bewegung
Geboren: 16. September 1886 in Straßburg
Eltern: Vater Deutscher; Mutter Französin
Orte: Straßburg 1886; Paris 1904; Weimar 1905; Paris 1908; Berlin 1913; Schweiz 1915; Köln 1919; Paris 1922; Grasse 1940; Zürich 1942; Paris 1946
Nationalität: wurde 1926 französischer Staatsbürger
Liebesbeziehungen: Baronin HILLA(1) VON REBAY • Ehe mit SOPHIE(1) TAEUBER-ARP 1922–1943 • Ehe mit MARGUERITE HAGENBACH(1) 1959–1966
Gestorben: 7. Juni 1966 in Basel
Hans Arp in der Aubette (Gebäudekomplex, für dessen Ausgestaltung er, zusammen mit anderen Künstlern, verantwortlich war), Straßburg, 1926
Hans Arp, Torse, Nombril, Moustache-Fleur (Torso, Nabel, Schnurrbartblume)(1), 1930. Öl auf Holzrelief