Der Autor

Jonas Ems, geboren 1996, ist ein Multitalent. Auf seinem YouTube-Kanal begeistert er mehr als 2,7 Millionen Abonnenten und gehört damit zu den größten deutschen YouTubern. Seine Bücher »Peinlich für die Welt« und »Die andere Verbindung« erklommen beide die SPIEGEL-Bestsellerliste. Ems ist zudem Schauspieler, schreibt Drehbücher für Filme und Serien und hat im September 2018 im Kinofilm »Das schönste Mädchen der Welt« mitgespielt.

Das Buch

Vielitzsee ist ein beschauliches Dorf mit 2000 Einwohnern und einem eigenen Gymnasium. Doch die vermeintlich heile Welt bricht in sich zusammen, als der 17-jährige Linus stirbt und ­wenige Monate später alle Schüler eine E-Mail mit einem Link zu einer Internetseite namens Schattenseite erhalten. Dort werden intime Geheimnisse veröffentlicht – aber nur, wenn genügend Schüler die Seite anklicken. Und so beginnen die Tage der Wahrheit, die alle – selbst den Direktor der Schule – in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ein mitreißender Roman für Schüler, Lehrer und Eltern über Mobbing, Hacking und die ­Frage, ob geheime Daten im Netz überhaupt sicher sein können.

Jonas Ems

Schattenseite

Tage der Wahrheit

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Plötz & Betzholz Verlag
1. Auflage Dezember 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelfoto: Nils Andrieske, gatzke.media
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ISBN 978-3-8437-2211-7

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Motto

Cyberkriminalität ist lukrativer als der gesamte illegale ­Drogenhandel weltweit. Während die illegale Drogen­industrie jährlich rund 400 Milliarden US-Dollar verdient, machen Cyberkriminelle Beute in Höhe
von 600 Milliarden US-Dollar.

Cybersecurity Ventures

18. Oktober 2019

Prolog | Corvin

Ihr Büro

Zitternd hielt er ihn in seiner Hand. Den Abschiedsbrief seines besten Freundes. Es konnte keine Stunde her sein, als er noch quicklebendig im Raum gestanden hatte. Doch jetzt lag sein lebloser, blutiger Körper grässlich entstellt vorm Haus, unter dem Balkon, von dem er zehn Meter in die Tiefe g­efallen war.

Corvin konnte es noch immer nicht fassen. Nie wieder würde er seinen alten Freund sprechen. Nie wieder würde er seinen alten Freund so sehen, wie er ihn kannte. Nie wieder würde er überhaupt einen Freund wie Linus haben.

Jetzt blieb ihm nur noch ein hektisch gekrakelter Abschieds­brief, verfasst mit einem Kugelschreiber, der einst ein billiges Werbegeschenk gewesen sein musste, denn andere Stifte hatten sie hier oben nicht.

Hier, im dritten Stock eines maroden Altbaus in länd­lichem Baustil. Gestern war das noch ihr gemeinsames »Büro.« Oder Versammlungsraum. Oder Kreativschmiede.

Offiziell war es aber die alte Wohnung von Corvins Großeltern, die längst ins Altersheim verfrachtet worden sind, weil sie zum Pflegefall wurden. Da die Wohnung folglich keinen Nutzen mehr hatte und nach Vielitzsee, ein Dorf mit 2000 Einwohnern, sowieso niemand ziehen würde, ergab sich für Corvin die einmalige Chance, bereits mit siebzehn viel Zeit ­außerhalb seines Elternhauses zu verbringen – gemeinsam mit seinem vor einer Stunde verstorbenen Kumpel Linus.

Kumpel trifft es nicht einmal, dachte sich Corvin. Linus war mein bester Freund. Ein echter Weggefährte fürs Leben.

Eine Träne kullerte Corvin die Wange herunter. Seine Hand zitterte, als würde sie unter Starkstrom stehen. Er spürte ein Pochen an seiner linken Augenbraue. Dunkelheit erfüllte den Raum. In der Ferne waren die gleichmäßigen Sirenen eines Polizeiautos zu hören, das Corvin bereits vor fünf Minuten herbestellt hatte.

Wäre er heute doch einfach zu Hause geblieben …

Der Brief! Er musste ihn der Polizei unter allen Umständen zeigen. Hierin war festgehalten, was mit Linus geschehen war. Warum sich Linus das Leben genommen hatte. Und wer schuld an Linus Tod war!

Der Brief war ein wichtiges Detail …

Lieber Corvin,
ich bin mir sicher, dass Du diesen Brief als Erster finden wirst. Nach meiner Berechnung – und Deinem Verlass auf Pünktlichkeit – solltest Du in exakt sieben Minuten hier eintreffen. So lange bleibt mir noch, um Dir zu schreiben, warum ich mich dafür entschieden habe, heute meinem ­Leben ein Ende zu bereiten. Und glaube mir, wenn ich Dir sage, dass diese Entscheidung nicht leicht war.


Wie viele Jahre sind wir bereits befreundet? Wie viel haben wir schon durchgemacht? Ich hätte mir keinen besseren Freund vorstellen können. Und trotzdem habe ich das erstickende Gefühl, auf dieser Welt keinen Platz zu finden. Zu viel ist passiert … Zu wenig lässt sich wieder ­rückgängig machen. Ich möchte keine Namen nennen und die Schuld auf Einzelne schieben. Ich selbst bin es doch, der unzufrieden ist – nicht die anderen. Ich selbst habe doch die Probleme – nicht die anderen. Ich selbst bin offensichtlich sonderbar – nicht die anderen.
Also warum sollten andere die Schuld für etwas tragen, das dem Anschein nach ich selbst verantworte?


Du warst mein Freund, die einzige Person, die immer hinter mir stand. Mit dir habe ich meine Gedanken und Gefühle geteilt – und immer gewusst, dass sie gut aufgehoben waren. Vielen Dank!


Vergiss nicht, wer ich bin.
~ Linus

SONNTAG, 08. März 2020

FÜNF MONATE SPÄTER

Kapitel 1 | Seymon

Zimmer 302 im Schlosshotel

Sanft berührten seine Lippen die glatte Haut ihres Nackens. Kaum hörbar, aber spürbar stieß er seinen warmen Atem aus und erzeugte Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper. Vorsichtig, aber bestimmt wanderte seine Hand von ihren Schultern über ihren Rücken bis runter zu der Jeanshose, die sie für seinen Geschmack schon viel zu lange trug. Mit Fingerspitzengefühl öffnete er die Gürtelschnalle und ließ Zeige- und Mittelfinger entschlossen ins Innere der Hose gleiten.

»Nicht, Seymon«, fuhr sie ihn an.

Verwundert hielt er in seiner Bewegung inne.

»Du weißt doch, es fehlt noch was.«

Seymon dachte kurz nach, bis ihm die Abmachung, die er mit seiner Freundin getroffen hatte, wieder ins Gedächtnis kam. Schmunzelnd gab er ihr einen letzten Kuss auf den Hals und einen verspielten Klaps auf den Po, schlich dann lautlos ins daneben liegende Badezimmer des Hotelzimmers, das er bereits vor zwei Wochen für ihre Turteleien reserviert hatte.

Sonst würde Vater wieder reinplatzen …


Amüsiert betrachtete er die durchsichtige Verpackung des Arztkostüms, das ihn an diesem Abend in »Dr. Seymon Huth« verwandeln würde, der seine heißen Patienten immer ein bisschen übergründlich untersuchte. Vielleicht würde Dr. Seymon Huth sogar eine Verspannung feststellen, die nur durch akute, noch vor Ort angewandte Medizintechniken gelöst werden könnte.

So ein weißer Kittel ist wirklich nicht ohne, dachte sich Seymon, während er sein T-Shirt auszog. Fehlt nur noch das Stethoskop und das Fieberthermometer.


Es dauerte nicht lang und Seymon hatte sich von einem durchtrainierten Teenager in einen Medizinstudenten verwandelt, der frisch aus einem Stripclub entlaufen sein könnte.

»Hrrrr …«, schnurrte Patricia, die einen vorsichtigen Blick durch die Badezimmertür geworfen hatte. »Du gefällst mir noch besser, als ich erwartet habe.«

»Danke.« Seymon überlegte, ob er den weißen Kittel mit den dafür vorgesehenen Manschettenknöpfen schließen ­sollte, entschied sich dann aber, sein Sixpack weiterhin zur Geltung kommen zu lassen.

»Du denkst jetzt aber nicht an meinen Bruder, oder?«

»Was? Nein!«, Patricia schüttelte den Kopf. »Wenn, dann denke ich an deinen Dad!« Sie lachte über ihren eigenen Witz.

Süß, dachte sich Seymon.

Dabei war sein Vater längst kein richtiger Arzt mehr. Seit mehreren Jahren ging er nur noch auf Kongresse für Wichtigtuer und erzählte von seiner ach so aufregenden Zeit als Chefarzt einer unbedeutenden Heilklinik in Berlin. Doch diese Tage waren vorbei. Geld verdiente er mit seinen Vorträgen zwar genug, vollkommen erfüllen würde es ihn jedoch niemals, da war sich Seymon sicher. Aber vermutlich würde Seymon es nicht anders machen … in der Situation, in der sein Vater seit mehr als einem Jahr steckte.

»Ich liebe dich.«

Seine Freundin riss ihn aus seinen Gedanken. Wie an dem Tag, als sie sich das erste Mal geküsst haben, stand sie ihm erwartungsvoll gegenüber und strahlte übers ganze Gesicht, sodass ihre kleine Nase und die zahlreichen, frech gesprenkelten Sommersprossen ihr niedliches Auftreten zusätzlich verstärkten.

Und trotzdem durchbohrte ein tiefer Schmerz Seymons Brust. Es war ein unangenehmes Gefühl. Eines jener Gefühle, die man in Momenten verspürte, in denen man sich sicher war, etwas falsch zu machen.

Er ließ es sich nicht anmerken, doch Seymon empfand Reue und Scham – beides gleichermaßen.


»Jetzt darfst du weitermachen«, befahl sie ihm.

»Sie

»Wie bitte?« Verwundert schaute sie ihn an.

»Sie dürfen weitermachen. Ich bin Ihr Arzt und Sie haben mir am Telefon mitgeteilt, dass Sie starke Schmerzen haben. Ist das korrekt?«

Patricia grinste hämisch.

»Oh ja, Herr Doktor. Unglaubliche Schmerzen. Genau hier!« Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf ihren Busen. »Können Sie mich da vielleicht mal abtasten?«

Dr. Seymon Huth grinste.

Das musste er sich nicht zweimal sagen lassen. Mit all seiner ärztlichen, vor allem aber körperlichen Erfahrung begann er mit einer ausführlichen Untersuchung.

Kapitel 2 | Nola

Waldpark

Noch einen Treffer und er war tot. Nur noch Luft anhalten und konzentrieren. Pfeil ausrichten. Bogen spannen. ­Abfeuern. Dann wäre er endgültig tot, für immer weg.

Schuss. Volltreffer.

Er war erledigt.

Zufrieden stapfte Nola durch die hohen Gräser des Waldparks Vielitzsee, der für März erstaunlich wild vor sich hin ­wucherte. Warum kümmert sich die Gemeinde nicht darum? Vermutlich weil hier eh niemand freiwillig spazieren geht.

Doch Nola mochte diesen Ort. Schon seit ihrem Umzug in diese trostlose Einöde Brandenburgs im letzten Sommer verbrachte sie die meiste Zeit im Park.

Zum Rumsitzen, Musikhören, um den Vögeln zu lauschen und natürlich um ab und zu entspannt einen durchzuziehen. Am liebsten übte sie hier jedoch das Schießen mit Pfeil und Bogen. Sie hatte nicht vor, zum Militär zu gehen. Und erst recht nicht zur Polizei, so wie ihre Mutter. Doch Castingshows verfolgen oder Stunden am Schminktisch verbringen – das konnten andere Mädchen machen. Nicht Nola.


Stolz betrachtete sie den Baum vor sich, auf den sie mit Kreide eine Zielscheibe gemalt hatte, in der jeder Pfeil genau in der Mitte feststeckte.

Nicht schlecht, dachte sie sich, während sie nicht wenig Mühe hatte, die Messingspitzen wieder aus der harten Baumrinde zu ziehen.

»Tut mir leid, lieber Baum«, flüsterte sie, »ich verspreche dir, beim nächsten Mal schieße ich auf unseren Nachbarn.« Sie grinste.

»Zumindest, wenn der nachts noch mal seinen Deutschrap-Abfuck hört.«

Endlich hatte sie alle Pfeile aus dem festen Holz des Baums befreit. Sie zeichnete ihren Zielkreis noch einmal nach und marschierte anschließend exakt zwanzig Schritte von der ­Eiche weg. Fünf Schritte mehr als zuvor. Für sie würde es dennoch ein Kinderspiel sein. Erst recht mit ihrem neuen Edelholzbogen, den sie vor einer Woche geschenkt bekommen hatte. Geschenkt von einem … Freund.


Gerade als sie die Mitte der Zielscheibe bereits fest im Visier hatte, vernahm sie Stimmen.

Oh nein, dachte sie, während sie den Bogen wieder entspannte. Wer kommt hier bitte her?

Diese Frage sollte sich im nächsten Moment von alleine beantworten. Ihre Fahrräder neben sich herschiebend, schlugen sich Flavio Anderson und Nathan Messner den Weg durchs Gebüsch frei. Zwei ihrer Mitschüler, denen sie definitiv nicht in der Freizeit begegnen wollte.

Flavio war muskulös und groß, wog mindestens neunzig Kilo und hatte ein markantes, beinahe eckiges Gesicht. Bartwuchs hatte er zwar noch keinen, dafür waren seine Augenbrauen umso buschiger. Seine Haare schienen ein unkon­trollierbares Eigenleben zu führe, was Nola allerdings als attraktiv empfand. Das war aber auch das einzige, was an Flavio positiv auffallen könnte. Vor allem in Bezug auf seinen Charakter.

Nathan dagegen war kleiner, hatte kurzes, schwarzes Haar und ein niedliches Gesicht. Seine Arme waren nicht so kräftig wie die seines Kumpels, trotzdem sah man ihm an, dass er regelmäßig Sport trieb.

Eigentlich ziemlich süß. Vielleicht sogar heiß. Wäre er nicht einen Kopf kleiner als ich.


»Hey Katniss Everdeen!«

Nola rollte mit den Augen. Jetzt wurde ihr wieder klar, ­warum sie die beiden hier nicht treffen wollte. Generell nirgends treffen wollte.

»Hey Pettersson und Findus!« Ihre neuen Spitznamen für die beiden. Sie mochte sie.

»Wer soll das sein?«, krächzte Flavio, der scheinbar keine Kindheit gehabt hatte.

Nola schüttelte nur den Kopf. Am besten gar kein Gespräch mit den beiden anfangen. Sie gehen dann schon weiter.

Sie gingen nicht. Genau genommen kamen die beiden auf sie zu.

»Du, wir bräuchten da was, das du uns schon vor einer ­Woche versprochen hast.« Nathan gestikulierte undeutlich vor sich hin. Nola war klar, was die beiden wollten.

»Seh ich aus wie euer scheiß Dealer?«

»Sehen wir aus wie scheiß Junkies?«

Noch nicht, dachte sie, aber wenn ihr weiterhin so viel Weed konsumiert, dann sicher bald.

»Ich habe nichts hier. Und meinen Kumpel treffe ich erst morgen wieder.« Eigentlich wollte sie Marco gar nicht darum bitten, ihr schon wieder Marihuana aus Berlin mitzubringen. Die Zeiten waren vorbei. Sie war längst nicht mehr auf das Kleingeld angewiesen. Außerdem brachte sie Marco damit in eine gefährliche Situation. Immer öfter wurden Autos von der Autobahn herunter gewunken und auf Drogen gefilzt. Zudem hatte Marco bereits eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer.


»Und was sollen wir dann jetzt machen?«, nörgelte Nathan, »Ins Gym gehen?«

»Ne.« Flavio schüttelte demotiviert den Kopf. »Wo steckt denn Seymon?«

Unwissend zuckte Nathan mit den Schultern.

»Könnt ihr vielleicht euer romantisches Wochenende woanders planen?« Nola machte eine deutlich ausladende Armbewegung. Doch Nathan und Flavio waren wie Zecken.

»So schon mal gar nicht, junges Fräulein.« Nathan schmiss sein Fahrrad auf den Boden und ging auf sie zu. »Lass mich mal.«

Nola seufzte. Ihr war klar, dass sie das nicht machen musste. Aber je mehr Widerstand sie leistete, desto länger musste sie damit rechnen, dass Pettersson und Findus ihr auf die Nerven gingen.

»Bogen in die linke Hand, mit der rechten Hand den Pfeil einspannen.«

»Ich weiß schon. Ich war früher mit meinem Vater öfter …« Der Pfeil rutschte Nathan aus der Hand und fiel plump auf den Boden.

»Das muss ich in meine Story packen«, sagte Flavio ­lachend und stieg nun ebenfalls von seinem Fahrrad ab. Nola war kurz vor einem mentalen Zusammenbruch. Jedenfalls hatte sie das Gefühl.

»Okay, du schießt jetzt kurz«, sie deutete auf Nathan, »und du darfst einen niedlichen Hundefilter drüber packen«, Flavio hielt sein Handy schon bereit, »und dann wäre es super, wenn ihr euch verpisst.«

Flavio befeuchtete seine Lippen. »Ne, passt schon. Habe heute Abend eh noch Damenbesuch.« Cool nickte er mit dem Kopf, doch Nola ignorierte sein Machogehabe.

Ekelhafter Typ.

Währenddessen hatte es Nathan geschafft, einen Pfeil abzufeuern, der allerdings meterweit am Baum vorbeiflog.

»Kein Bock, den zu holen.« Er drückte ihr den Bogen in die Hand und ging zurück zu seinem Fahrrad, Flavio folgte ihm.

»Danke!«, rief Nola ihnen hinterher und zeigte den Mittelfinger, wobei sie tatsächlich dankbar darüber war, dass sie endlich in Ruhe gelassen wurde.

Ermüdet suchte sie das Gras nach dem verschossenen Pfeil ab, während Nathan und Flavio mit aufgedrehter Radiomusik aus einer Bluetooth-Box davonfuhren.

Scheiß Deutschrap.


Gerade als sie fündig wurde, vibrierte ihr Handy in einem individuell eingestellten Rhythmus. Er.

Aufgeregt entsperrte sie ihr Handy und öffnete eine App, über die man sich verschlüsselt Nachrichten hin und her senden konnte.

Und, gefällt dir der Bogen?

Und wie er ihr gefallen hatte. Beinahe hätte sie damit heute zwei nervige Schulkameraden erlegt. Sie tippte eine Antwort in ihr Smartphone. Wenige Sekunden später vibrierte es ­erneut.

Super! Hat immerhin 500 Euro ­gekostet. Beim nächsten Mal wird’s dann hoffentlich nicht ganz so teuer. Was meinst du?

Nola dachte nach. Sie wusste es nicht. Sie wusste generell nicht, was sie wollte. Warum sie das überhaupt machte.

Ermüdet steckte sie ihr Handy zurück in die Tasche, griff nach Pfeil und Bogen, zielte auf den Baum und stellte sich diesmal vor, dass er es war, dessen Halsschlagader in wenigen Sekunden von einem bleistiftspitzen Pfeil durchbohrt werden würde.

Kapitel 3 | Corvin

Bei den Nachbarn

Er ging durch die Straßen von Los Santos, einer Metropole Südkaliforniens, und schoss wie wild auf irgendwelche Passanten. Eigentlich sollte er nur den Drogendealer aufhalten. Aber seine Munition war noch nicht aufgebraucht, also ­warum sollte er sich diesen Spaß entgehen lassen? Die Polizei musste bereits alarmiert sein, in der Ferne waren Sirenen und ein ­Helikopter zu hören.

»Wie werde ich die Cops los?«, fragte er.

»Habe ich dir doch gesagt«, antwortete ein zweiter.

»Ich hab’s vergessen, tut mir leid«, entgegnete er wieder.

»Okay, dann zeig ich’s dir ein letztes Mal.« Der andere fackelte nicht lang, und wenige Sekunden später waren die Straßen ruhig – die Passanten beruhigten sich wieder, die Sirenen waren stumm und der Helikopter schien wieder abgezogen zu sein. Also konnte er seine Mission beenden.


»Tommy!« Seine Mutter hatte lautlos die Tür seines Kinderzimmers geöffnet. Wer weiß, wie lange sie die beiden schon beobachtete.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du das nicht mehr spielen sollst!«

Tommy wollte antworten, während er parallel mit einer Tastenkombination das PC-Spiel beendete, doch seine Mutter ließ ihm keine Zeit.

»Und Corvin – ich bezahle dir doch nicht zehn Euro die Stunde, damit du Tommy beim Zocken zusiehst!«

Corvin gab nur undeutliches Stottern von sich. Er hasste solche Situationen. Wie vermutlich jeder Mensch.

»Mama, er hat mir mega die krassen Cheats gezeigt. Jetzt komme ich endlich bei der Mission weiter und …«

»Du sollst das aber doch gar nicht mehr spielen, dieses, dieses …«, Frau Albers suchte die richtigen Worte, »dieses gewaltverherrlichende Zeugs. Corvin, entweder du hilfst Tommy wie abgesprochen bei Mathe oder du gehst wieder ­rüber.«

Corvin bereute es, Tommy von seiner Leidenschaft für ­PC-Games erzählt zu haben. Klar, Tommy war fünf Jahre jünger als er, aber in seinem Alter hatte er auch schon solche Spiele gespielt. Zusammen mit Linus. Das waren Zeiten …


Eigentlich war Corvin gerade bei Tommy, um ihm den Dreisatz näherzubringen, an dem sich Tommy schon seit über ­einem Schuljahr schwertat und der ihm Fünfen auf dem Zeugnis einbrachte.

Corvin dagegen war ein echtes Genie in naturwissenschaftlichen Fächern – vor allem in Mathematik. Für ihn gab es nichts Selbstverständlicheres als die Logik und Regelmäßigkeiten der Zahlen. Und da Corvin der direkte Nachbar von Tommy war und gleichzeitig ein Klassenkamerad von ­Tommys großer Schwester Sophia, lag für Frau Albers, Tommys Mutter, nichts näher, als Corvin für Nachhilfe zu engagieren.

Jetzt schien sie es zu bereuen.

»Jungs, haben wir uns verstanden?« Tommy und Corvin nickten brav. Wie zwei Freunde aus dem Kindergarten, die aufhören sollen, Bauklotzkrieg zu führen.

»Dann gehe ich mal wieder runter. Und wehe, ich höre ­irgendwelche Pistolen knallen.« Damit verließ sie den Raum und stapfte hörbar die Treppen hinunter.

»Ich benutze ’ne SMG oder Heavy Sniper, aber doch keine Pistole«, witzelte Tommy, der ansonsten nicht gerade den Anschein erweckte, sich auf die Nachhilfestunde zu freuen.

»Wir bekommen das schon hin. Hast du deiner Lehrerin wie besprochen deine Hausaufgaben mitgegeben?«

Tommy zuckte nur mit den Schultern. »Na ja, was soll das bringen. Ich check es eh nicht.«

»Deswegen bin ich ja hier.«

In diesem Moment klopfte es erneut an der Tür.

»Wir lernen Mathe, Mama!« Tommy schrie in einer Lautstärke, dass es das ganze Haus hatte hören müssen. Inklusive der Nachbarn … Das hatte Corvin schon frustrierend oft feststellen müssen. Sein Zimmer lag direkt neben Tommys Zimmer, getrennt durch eine offenbar nicht ausreichend dicke Hauswand.

Entgegen Tommys Erwartung betrat jedoch nicht seine Mutter den Raum, sondern Sophia.

»Hey Corvin, alles gut?«

Sophia war eine der wenigen Menschen an Corvins Schule, die ihn nicht vollkommen ignorierten. Allerdings war sich Corvin nicht sicher, ob das nicht eine dieser unausgesprochenen Regeln war … den Nachbarsjungen gut zu behandeln. Wobei Corvin damit gar kein großes Problem hätte. Ihm war es lieber, von den meisten ignoriert zu werden, als im Mittelpunkt zu stehen. Denn bisher war das für ihn nie glücklich gelaufen.

Als sein bester Freund Linus im letzten Herbst verstorben war, stand Corvin für einige Tage im Mittelpunkt. Er wurde gefragt, wie es ihm jetzt ging. Ob er damit klarkäme, wenn er »keinen Kollegen zum Zocken«, »keinen Boyfriend«, »keinen Nerd-Zwilling für Schwanzpartys« mehr hätte. Danach wurde er wieder herumgeschubst, und es wurden Posts über ihn verfasst.

Und danach wurde er endlich wieder in Ruhe gelassen, endlich wieder komplett ignoriert, als wäre nichts gewesen.

Corvin wusste selber nicht, wie es dazu gekommen war.

Er hatte nie das Gefühl, zum Außenseiter zu werden. Bis er es dann eines Tages einfach war.

Ob es daran lag, dass er sich nicht für Sport begeistern konnte und nie mit den anderen Fußball spielte? Oder ob es an seinen wuscheligen, braunen Haaren lag, die nicht mit einem zwei Millimeter kurzen Undercut ausgestattet oder zur Seite gestylt waren?

Oder ob es vielleicht seine Liebe zum Programmieren und Zocken war, die andere störte? Oder seine Asthmaanfälle, ­seine unmodische Kleidung, seine Angst vor Kontrollverlust bei Alkoholkonsum, seine vielen Pickel oder doch das rote Gesicht, das er immer bekam, wenn er Vorträge vor der ganzen Klasse hielt?

Corvin konnte nicht genau benennen, woran es lag. Und trotzdem wusste er, dass die anderen ein gewaltiges Problem mit ihm hatten.


»Corvin?«

Erschrocken fuhr er hoch.

»Sorry, ich wollte eigentlich nur Hallo sagen.« Sie ging auf ihn zu, und er streckte ihr unsicher seine Hand entgegen.

»Ähm, guten Tag«, stotterte er.

»Sag mal, bist du in meine Schwester verknallt oder warum bist du so rot?«

Du kleiner Vollidiot, dachte sich Corvin, stotterte aber wieder nur rum.

»Er ist rot, weil er nicht fassen kann, wie schlecht du in Mathe bist.«

Jetzt war Tommy beleidigt.

»Warum gibst du ihm eigentlich keine Nachhilfe?« Endlich hatte Corvin etwas Sinnvolles gesagt. Beruhigt spürte er, wie das überflüssige Blut langsam wieder aus seinem Kopf sackte.

»Tja … Ich denke, ich habe einfach keinen Bock.« Sie zupfte ihren BH durch ihr T-Shirt zurecht. Corvin fand Sophia ziemlich attraktiv. Die meisten würden vermutlich über ihn denken, dass er jedes Mädchen attraktiv finden müsste. So wie er aussah. »Nerds wie er würden alles nehmen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.« So hatte sein Mitschüler Seymon ihn letzten Sommer ihrer neuen Mitschülerin vorgestellt. Corvin hatte in der Situation gelacht. Gelacht, weil er mitlachen wollte. Weil er deutlich machen wollte, dass er das auch ­witzig fand. Dass er dazugehörte. Es verkraften konnte. Aber dem war nicht so. Eigentlich hasste er es. Er hasste seine Mitschüler. Und er hasste die Art, wie sie mit ihm umgingen.

Corvin fand ganz und gar nicht jedes Mädchen attraktiv. Er würde auch nicht von einem Beuteschema reden. Aber es gab doch einen ganz bestimmten Typ Mädchen, den er anziehend fand.

Sophia zum Beispiel. Sie war etwa so groß wie er, hatte lange Beine und einen mächtigen Brustumfang. Auf ihren ­Armen und Händen waren immer bunte Muster skizziert, die, so wie es Corvin schon öfter beobachtet hatte, in langweiligen Unterrichtsstunden entstanden. Sie trug seit etwa einem Jahr eine Zahnspange, die sie ein gutes Stück jünger wirken ließ. Dazu ein freches Grinsen, niedliche Ohren, die zwischen ­ihren langen, braun gelockten Haaren hervorlugten, zwei kugel­runde Teddyaugen und kleine Grübchen auf den Wangen.

Manchmal trug sie Wimperntusche oder Lidschatten. Und Lippenstift, aber eher selten. Für ihn brauchte sie das aber alles nicht – ihr Gesicht war natürlich am schönsten.


»O-kay.«

Wieder wurde Corvin aus seinen Tagträumereien gerissen.

»Ich denke, ich gehe dann mal«, sagte sie. Ein Winken, dann war sie auch schon aus dem Raum verschwunden.

»Du bist doch sicher in sie verliebt, nicht wahr?« Tommy und sein freches Mundwerk.

»Kommen wir zum Dreisatz.«


Zwei bescheidene Stunden später hatte es Tommy gecheckt. Nicht so gecheckt, dass er damit Einsen schreiben würde, aber immerhin bekam er nun keine Schweißausbrüche mehr, wenn er berechnen musste, wie viele Kekse Max Mustermann in einer Stunde essen konnte, wenn er in einer Minute genau zwei Keks verzehrte.

Klar, Max würde um einen Krankenhausbesuch nicht ­he­rumkommen, aber Tommy könnte wenigstens sagen, wie ­viele Kekse nun aus Max’ Bauch herausoperiert werden ­müssten.


»Hat Spaß gemacht! Wenn’s mal wieder was gibt, sag Bescheid.« Corvin packte seinen Block und seinen ­Kugelschreiber wieder ein. Irgendein Werbegeschenk. Wie jeder Kugelschreiber.

»Du hast es doch nur wegen des Geldes gemacht!« Tommy war ganz schön undankbar.

»Vielleicht«, gestand Corvin. Er setzte sich seinen Rucksack auf und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er erkannte aber die Titelmusik von GTA und wusste, dass Tommy an diesem Abend noch Computerverbot bekommen und er ihn wieder durch die Wände schreien hören würde …


Corvin verabschiedete sich brav von Frau Albers, die ihm noch schnell 30 Euro in die Hand drückte.

Eine kalte Brise begrüßte ihn, als er die Haustür hinter sich zuzog. Dieser März war kalt. Kälter als gewöhnlich. Außerdem begann es zu dämmern. In der Ferne kläffte ein Hund. Corvin zog den Reißverschluss seiner dünnen Jacke zu und ging schnellen Schrittes auf das Haus seiner Familie zu.

Plötzlich vernahm er hinter sich einen lauten Knall. Mit voller Wucht hatte jemand eine Autotür zugeschlagen. Corvin drehte sich um und blickte Felix Polzer direkt in die Augen. Er hatte ein Päckchen in der Hand und grinste unheimlich.

Jeder in Vielitzsee kannte Felix Polzer. Corvin schätzte ihn erst auf Mitte 30, konnte sich aber dennoch nicht erinnern, dass es jemals einen anderen Paketlieferanten in dieser Gegend gegeben hat.

Felix Polzer blieb einem im Kopf, weil er ein auffällig gruseliges Auftreten hatte. Eine schlecht verheilte Narbe zog sich durch seine linke Gesichtshälfte. Angeblich ein Unfall beim Rasieren. Corvins Mitschüler behaupteten jedoch, dass er nicht nur normale Pakete ausliefern würde, sondern auch alles andere – falls genug Geld im Spiel war.

Dazu kamen ein knochiges Gesicht und eine tiefe, kratzige Stimme. Am schlimmsten war aber, dass Felix Polzer vermutlich einen ordentlichen Knacks in der Psyche hatte. Laut ­Erzählungen hatte er früher hohe Wettschulden und das nie richtig verarbeitet. Seitdem führte er regelmäßig Selbstgesprä­che und redete wirres Zeug. Für Corvin eine Person, der er nachts nicht im Wald begegnen wollte.


»Corvin!«

Corvin lief ein Schauer über den Rücken. Woher kannte der Paketbote seinen Namen?

»Ja?«

»Ein Päckchen für deine Familie. Kannst du es entgegennehmen?«

Corvin ertappte sich dabei, wie er angewidert auf die ­Narbe starrte.

»Ähhh – klar!« Er unterschrieb und nahm dann das Paket entgegen. »Danke.«

Gerade als er sich umdrehen und gehen wollte, packte ihn der Zusteller mit einem kräftigen Griff an der Schulter.

»Warte mal.«

»Ja?« Furcht war Corvins Stimme zu entnehmen.

»Ich weiß es!«

Corvin verstand nicht. »Wie … wie meinen Sie das?«

Die Augen von Felix Polzer funkelten. Er setzte ein breites Grinsen auf.

»Ich weiß es, Corvin. Ich weiß alles. Aber glaube mir, es wird niemand erfahren!«

MONTAG, 09. März 2020