Intrigen in der Provence
In einem Kölner Park wird ein Toter gefunden, erschossen aus nächster Nähe. Schnell stellt sich heraus, dass der Mann Franzose war und für ein provenzalisches Kosmetikunternehmen bei Vaison-la-Romaine gearbeitet hat. Kommissarin Hannah Richter, die sich dank eines früheren Austauschprogramms in Vaison bereits auskennt, macht sich sofort auf den Weg, um vor Ort zu ermitteln. Zum Glück ist auf dem Weingut ihrer Freundin Penelope immer ein Zimmer für sie frei. Gemeinsam mit den Kollegen aus der Region nimmt Hannah den Familienbetrieb für Naturkosmetik unter die Lupe, für den das Opfer tätig war. Dabei kommt sie bald dahinter, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Als eine weitere Leiche auftaucht, gerät die örtliche Polizei unter Druck …
Von Sandra Åslund sind bei Midnight by Ullstein erschienen:
Mord in der Provence (Hannah Richter 1)
Tödliche Provence (Hannah Richter 2)
Verhängnisvolle Provence (Hannah Richter 3)
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
November 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Sascha Nau
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ISBN 978-3-95819-285-0
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Oh! Cette pierre est lourde
Elle est plus lourde que moi
Elle est plus lourde que tout le monde.
Elle est plus lourde que tout le monde.
Oh! Ist der Stein hier schwer
Er ist noch schwerer als ich
Er ist noch schwerer als alle Menschen.
Er ist noch schwerer als die Welt.
Pelléas et Mélisande (Maurice Maeterlinck/Claude Debussy)
Seidiges Haar, das mich an Feenzauber denken lässt. Sie sieht mich an, ohne eine Miene zu verziehen. Die Sekunden tröpfeln dahin, keine Reaktion. Hat sie mich nicht verstanden? Habe ich zu leise gesprochen? Oder zu undeutlich? Das wird mir ständig vorgehalten. Das Blut schießt mir in den Kopf. Wie ich das hasse! Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich es kontrollieren könnte. So was von peinlich!
Seit Tagen habe ich darauf gelauert, sie allein anzutreffen. Andauernd ist sie mit ihren Freundinnen zusammen. Bis auf freitags, die letzten beiden Stunden. Da hat sie Informatik. Ohne die Freundinnen. Ich habe den Kurs nur wegen ihr belegt. Nach der Pause habe ich sie abgepasst.
Und nun stehe ich hier wie ein Idiot. Alles fühlt sich falsch an.
Endlich bewegt sie ihre Lippen. »Ob ich mit dir zum Frühlingsfest gehe?« Ihre Augen ruhen auf meinen flammenden Wangen, auf die ich am liebsten meine Hände pressen würde.
Ich schlucke. Nicke. Die Zunge klebt am Gaumen. Meine Kehle ist trocken wie die Sahara.
Statt einer Antwort hebt sie eine Augenbraue. Ich spüre die Ablehnung der ganzen Welt, gesammelt in dieser einen, minimalen Bewegung. Sie dreht sich um und läuft leichtfüßig den Flur entlang in Richtung Unterrichtsraum. Lässt mich einfach stehen! Kaum ist sie ein paar Schritte gegangen, da höre ich es.
Wie eine schallende Ohrfeige klatscht mir ihr Lachen ins Gesicht. Ich verharre wie einbetoniert, mitten auf dem Gang, und schaue ihr hinterher. Seidiges Haar, Feenzauber – trotzdem.
Ehe sie den Raum betritt, schaut sie noch einmal zu mir, lacht weiter. Dann ist sie verschwunden.
Ich kann mich nicht rühren. Meine Muskeln wollen mir nicht gehorchen.
Jemand rempelt mich von hinten an. »Na, haste ̕ne Abfuhr kassiert?« Ausgerechnet ER, der coolste Typ der Schule. Zwei Klassen über mir. Er stößt mit seiner Faust gegen meine linke Schulter. »Ganz schön mutig, dich an die Prinzessin ranzutrauen.« Er deutet mit dem Daumen in Richtung Tür. Dann noch ein Stoß gegen die Schulter. »Ganz schön dämlich.« Er grinst mich an aus seinem gutaussehenden Gesicht. In das ich jetzt am liebsten reinschlagen möchte. Wäre ich nicht so ein Feigling. So ein Schwächling.
Breitschultrig und muskulös steht er mir gegenüber. Siegertyp. Ich will nur weg. Senke den Blick. Starre auf seine Chucks. Auf meine ausgetretenen namenlosen Turnschuhe. Murmle irgendwas von wegen nicht zu spät kommen. Ziehe mich zurück. Schnecke, Schnecke, ab in dein Haus.
Gleich fängt die Stunde an. Nächste Woche ist die Prüfung. Aber ich kann einfach nicht zum Klassenraum gehen. Ihr Lachen hallt in meinem Kopf nach, hämmert von innen gegen meine Stirn. Stattdessen laufe ich zur Treppe und hinunter ins Erdgeschoss. Ich verlasse das Schulgebäude. Zum ersten Mal in meinem Leben schwänze ich.
Den ganzen langen Weg nach Hause höre ich dieses Lachen. Sehe ihr regungsloses Gesicht vor mir. Die hochgezogene Augenbraue – eine Abfuhr ohne Worte. Wie es sich gehört für eine Prinzessin. Natürlich bin ich nicht gut genug für sie. Was habe ich mir bloß dabei gedacht?
Stück für Stück fällt das lähmende Entsetzen von mir ab. Mit jedem Schritt, den ich unserem Haus näher komme, werde ich wütender. Wütend auf mich selbst, dass ich mich so blamiert, mich zum Affen gemacht habe. Meine Gefühle auf dem Silbertablett serviert, zum ersten Mal, in den Staub getreten, zermalmt, zerquetscht. Wütend auf diese Hexe mit dem anmutigen Gesicht und dem perfekten Körper. Wütend auf den Supercoolen mit seinem breiten Grinsen, null Verstand, aber an jedem Finger drei Mädchen. Wütend auf meine Eltern, die mir nicht erlauben, so zu sein wie die anderen – »wir haben nicht so viel Geld«, »das können wir uns nicht leisten«, »ja, weißt du, die anderen haben halt …« Ich habe sie so satt, diese monotonen Standardsprüche, so satt, dass ich kotzen könnte! Bin wütend auf die Welt, die einfach scheiße ist!
Ich hole aus und trete gegen den nächstbesten Baum. Einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Stelle mir vor, es sei der Supercoole. Bis mein Fuß so wehtut, dass ich aufhören muss. Kann kaum mehr auftreten. Die Wut ist trotzdem noch da. Im Garten steht der Plastiklastwagen meines kleinen Bruders, das letzte Weihnachtsgeschenk. Ich greife danach und schlage mit dem Spielzeug so lange gegen die Hauswand, bis es in Stücken um mich herum verteilt liegt. Aber die Wut löst sich nicht auf. Sie ballt sich zu einem Knoten in meinem Magen zusammen, dunkelgrün und giftig. Mein Blick fällt auf den Kaninchenstall. Minouche, das weiße Kaninchen meiner großen Schwester, sieht mich aus sanftmütigen Augen an. Am liebsten würde ich dem Tier den Hals umdrehen, doch das wage ich nicht. Der Wutknoten wächst und wächst. Er schnürt mir die Luft ab.
Ich presse die Wut tief in mich hinein, so tief, wie es überhaupt möglich ist. Da sitzt er nun fest, der zusammengequetschte Wutknoten. Zwischen all den anderen, die ich schon weggedrückt habe. Wie ich es gelernt habe. Wenigstens kann ich nun wieder atmen.
Was heute passiert ist, werde ich nie vergessen. Irgendwann werde ich es ihr heimzahlen. Dann wird sie bereuen, was sie mir angetan hat. Irgendwann wird meine Stunde kommen. Dann werde ich es sein, der lacht.
Der Tote lag bäuchlings mitten auf dem Weg. Ein Rinnsal Blut war aus seiner Stirn gesickert. Am Hinterkopf klaffte inmitten von dichtem schwarzem Haar eine sternförmige Wunde.
Michael Kleinschmidt, Kommissar bei der Kölner Kripo, schaute sich aufmerksam um. In diesem Teil des sogenannten Inneren Grüngürtels wanden sich schmale Pfade zwischen wild wachsenden Büschen und ausladenden Bäumen hindurch. Wenig erinnerte an den sonstigen Park, der sich übersichtlich und geordnet über rund sieben Kilometer halbkreisförmig zwischen der inneren Kanalstraße und den Bahnschienen entlangzog. Von Köln-Riehl im Norden bis hinunter zur Südstadt.
In den frühen Morgenstunden hatte ein junges Pärchen den Fund des Toten bei der Polizei gemeldet. Die beiden waren auf dem Heimweg von einer Studentenparty hier entlanggekommen. Völlig verstört waren sie gewesen, als die Polizeibeamten am Tatort eintrafen. Zunächst hatten sie gedacht, der Mann sei gestürzt, vielleicht in betrunkenem Zustand. In der Dunkelheit hatten sie die Schussverletzung erst bemerkt, als sie sich zu ihm hinuntergebeugt hatten.
Inzwischen war es hell geworden. Graue Wolken bedeckten den Himmel, doch wenigstens regnete es nicht. Die Kollegen hatten den Tatort abgesperrt, ein Arzt und die Fachleute von der Spurensicherung würden gewiss bald eintreffen.
Michael richtete seinen Blick wieder auf den Leichnam. Der Tote war circa eins achtzig groß und schlank. Er trug edle Jeans, ein schwarzes Sakko, dazu rahmengenähte Lederschuhe, die ziemlich neu aussahen. Die linke Gesichtshälfte konnte Michael sehen. Höchstens Mitte dreißig schätzte er das Opfer. Der Kommissar zog ein Paar Einweghandschuhe aus der Innentasche seiner Jacke und streifte sie über. Er hockte sich hin und betrachtete das Einschussloch am Hinterkopf genauer.
Ohne jeden Zweifel war der Schuss mit aufgesetzter Waffe abgegeben worden. Eine charakteristische Platzwunde um den Einschuss, dazu deutlich erkennbar der Abstreifring der Waffe. Außerdem entdeckte Michael die ebenfalls typische Schmauchhöhle, um die herum sich das Gewebe hellrot verfärbt hatte.
Er wandte sich dem Gesicht zu, beugte sich tief hinunter und begutachtete es aus nächster Nähe. An der Stelle, an der das Blut ausgetreten war, musste sich die Austrittsstelle des Projektils befinden. Auf der Haut hatten sich Totenflecken gebildet, die sich noch wegdrücken ließen. Demnach war der Mord erst vor wenigen Stunden geschehen. Was hatte den Mann mitten in der Nacht in diesen abgelegenen Teil des Parks getrieben? Oder besser: Wer?
Dass seine Kollegin Hannah ausgerechnet jetzt Urlaub hatte. Normalerweise besichtigten sie Tatorte gemeinsam und waren ein eingespieltes Team, wenn es darum ging, erste Eindrücke und sich aufdrängende Fragen zu sammeln. Wie Pingpongbälle spielten sie sich diese für gewöhnlich zu.
Diesmal musste Michael ohne seine Partnerin auskommen. Vorsichtig tastete er die Sakkotaschen des Toten ab. Auf der rechten Seite wurde er fündig. Ein schmales Lederportemonnaie kam zum Vorschein. Das Handy hatte der Täter wohl an sich genommen, so der junge Mann eines bei sich gehabt hatte.
Michael richtete sich wieder auf und untersuchte den Inhalt des Portemonnaies. Etwas Bargeld, Kreditkarte, einige Visitenkarten, Führerschein und ein Firmenausweis. Yannick Ramon hieß der Tote. Als der Kommissar Namen und Adresse der Firma las, entfuhr ihm ein überraschtes: »Sieh mal an!«
Eine Taube landete auf dem Rand des Brunnens und spazierte gemächlich hin und her. Hannah Richter lehnte sich auf ihrer Bank zurück und betrachtete das grau gefiederte Tier. Welch niederes Dasein es mit seinen Artgenossen im Stadtalltag heutzutage fristete. Wie anders war das in vergangenen Zeiten gewesen. Hannahs Gedanken wanderten in die römische Antike, seit ihrer Kindheit ihre große Leidenschaft. Die alten Römer hatten einst die Taubenhaltung in Mitteleuropa und Nordafrika verbreitet. Vor allem als Brieftauben im militärischen Bereich hatten sie sie eingesetzt. So arbeiteten im vierten Jahrhundert zeitweise bis zu fünftausend Tauben für die Staatspost des römischen Imperiums. Sie stellten einen wichtigen Teil der Vernetzung dar. Darüber hinaus galten die Tiere zu jener Zeit als Sinnbild für Sanftmut und Unschuld. Damals war man davon ausgegangen, Tauben besäßen keine Galle und seien deswegen frei von jeglichem Bösen und Bitteren. Wie radikal sich über die Jahrhunderte die Meinung geändert hatte. Als Überträger von Krankheiten wurden sie heutzutage angefeindet, vertrieben, im schlimmsten Fall vergiftet oder erschossen. Dabei hatte Homo sapiens einst durch Züchtungen dafür gesorgt, dass die Tiere nun statt zweimal pro Jahr bis zu sechsmal Nachwuchs zeugten.
Als spürte er, dass sie ihn beobachtete, drehte der Vogel seinen Kopf in Hannahs Richtung. Mit halblautem Gurren erhob er sich in die Luft und segelte zum Nachbarbrunnen hinüber.
Die Place des Vosges war einer von Hannahs Lieblingsplätzen in Paris. Wann immer sie in der Stadt war und das Wetter es erlaubte, verbrachte sie einige Zeit dort und ließ die Atmosphäre des in vollkommener Symmetrie angelegten Platzes auf sich wirken. Vier identische Brunnen verteilten sich auf dem quadratischen Areal, das zu allen Seiten hin von imposanten Häusern aus rotem Backstein mit Arkaden im Erdgeschoss umgeben war. In den mit dunkelblaugrauem Schiefer gedeckten Gebäuden hatten seit ihrer Errichtung im siebzehnten Jahrhundert allzeit namhafte Persönlichkeiten gelebt, von Madame de Sévigné über Kardinal Richelieu bis zu Alphonse Daudet und Victor Hugo. In der heutigen Zeit waren es leider auch Skandalträger wie Dominique Strauss-Kahn, die die Franzosen mit diesem herrlichen Platz verbanden. Doch wenn man der Klatschpresse Glauben schenken durfte, hatte Anne Sinclair ihren untreuen Gatten inzwischen nach mehr als zwanzigjähriger Ehe verlassen und ihn aus der Wohnung an der Place des Vosges rausgeworfen.
Vor zwei Tagen war Hannah nach Paris gekommen. Sie freute sich auf eine ganze Woche mit ihrem Liebsten. Seit nunmehr knapp drei Jahren führten Serge und sie eine Fernbeziehung zwischen Paris und Köln. Kennengelernt hatten sie sich während Hannahs ersten Besuchs in dem provenzalischen Touristenstädtchen Vaison-la-Romaine. Gerade frisch getrennt, war ihr damals das Angebot, im Rahmen eines EU-Auslandsaustauschs drei Monate in der Provence zu arbeiten, als willkommene Ablenkung erschienen. An eine baldige neue Beziehung hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Serge seinerseits war wenige Monate zuvor Witwer geworden.
Doch das Schicksal hatte es anders gewollt, und dank Schnellzügen wie dem TGV und dem Thalys sowie Serges größtenteils flexibler Arbeitszeiten gelang es ihnen, sich im Schnitt alle zwei Wochen für einige Tage zu sehen.
Praktischerweise lag die Wohnung ihres Lebensgefährten nur wenige Gehminuten von der Place des Vosges entfernt. Dass der Musikwissenschaftler Serge Laurent sich eine Vierzimmer-Altbauwohnung in dieser Umgebung leisten konnte, hatte er seiner verstorbenen Frau Yvette zu verdanken.
Ein Vibrieren in der Jackentasche riss Hannah aus ihren Gedanken. Sie zog ihr Handy hervor und sah auf das Display. Monsieur Schnauz leuchtete es ihr entgegen. So nannte Hannah ihren Vorgesetzten. Was nichts mit seinem Hundegesicht zu tun hatte. Vielmehr hatte sich Günther Hanke, wie der Hauptkommissar tatsächlich hieß, über die Jahrzehnte in seiner Wahlheimat Köln unbeirrt seine Berliner Schnauze bewahrt. Dass er Hannah in ihrem Urlaub anrief, ließ nichts Gutes ahnen.
»Hallo, Günther.«
»Tach, Hannah, wohlverdiente freie Tage, ick weeß.« Ihr Chef räusperte sich.
»Schieß los. Wo brennt’s denn?«
»Wir ham hier een Toten. Is jestern Nacht erschossen worden. Se ham ihn im Inneren Grüngürtel jefunden, inner Nähe vom Mediapark. Schuss direkt innen Hinterkopf. Sieht recht professionell aus. Dein Kolleje Michael is an dem Fall dran.«
»Und nun willst du mir mitteilen, dass ihr auf meine werte Anwesenheit nicht verzichten könnt und ich mich unverzüglich zum Bahnhof begeben soll.« Ohne über Los zu gehen, viertausend Euro einzuziehen oder ein köstliches Abendessen meines Liebsten zu genießen, ergänzte sie im Stillen.
»Also, um jenau zu sein …«
Hannah seufzte. »In Ordnung. Ich schaue gleich nach, wann der nächste Zug nach Köln geht.«
»Dit is dufte. Aba nich Köln. Südfrankreich. Und morjen reichtet ooch noch.«
»Und dann hat er mir erklärt, dass der Tote aus dem Park Franzose sei. Sein Name ist Yannick Ramon.« Hannah saß auf der breiten Fensterbank in Serges Küche, ein Glas mit weißem Dubonnet in der Hand. »Er war vierunddreißig und hat in einem Kosmetikunternehmen in der Nähe von – jetzt halt dich fest – Vaison-la-Romaine gearbeitet.«
»Ô ciel!« Serge stand am mittig platzierten Kochblock, dem Herzstück des Raumes, und war in rhythmisches Zwiebelhacken vertieft. Nun hielt er jäh in der Bewegung inne und sah Hannah an. »Diese Stadt lässt dich einfach nicht los, n’est-ce pas?«
»Ich konnte es auch kaum glauben. Also, genauer gesagt, liegt der Betrieb auf dem Weg zwischen Vaison und Séguret. Und dort soll ich mich nun umsehen. Mit den Kollegen des Ermordeten sprechen, sein Umfeld sondieren und so.« Hannah ließ die Eiswürfel in ihrem Glas klirren. »Das bedeutet leider das Aus für unsere gemeinsame Woche.« Sie schaute sich in der geräumigen Küche um. Im Backofen brutzelten ihre Lieblingscannelés mit getrockneten Tomaten und Ziegenkäse, der Salat lag im Abtropfsieb in der Spüle, und auf dem überdimensionalen Küchenbuffet, einem Erbstück seiner Urgroßmutter, hatte Serge eine Zitronencreme als Dessert vorbereitet.
Hannah liebte diesen Raum, in dem Serge mit sicherem Gespür alte Möbelstücke und moderne Kochtechnik zu einem harmonischen Ganzen vereint hatte. Sie liebte es, hier mit ihm zusammen zu kochen. Konkret bedeutete es, dass Serge das Regiment am Herd übernahm und sie ihn beobachtete und ihm zuarbeitete. Hannah war nie eine gute Köchin gewesen. Bei ihrer Mutter hatte es schnell gehen und praktisch sein müssen, und für viele Jahre hatte Hannah diese Haltung übernommen. Erst jetzt begriff sie, dass wahres Kochen Wissenschaft, Kunst und Leidenschaft zugleich war. Durch Serge hatte sie angefangen, in die geheimen Kenntnisse um Herd und Backofen, Rezepte und Zubereitungsarten der unterschiedlichsten Lebensmittel Einblick zu nehmen. Eine spannende neue Welt tat sich für sie auf, doch nach wie vor überließ sie gern dem maître de cuisine die Führung. So wie jetzt. Sie hatte überhaupt keine Lust, morgen abzureisen.
»Ist das so einfach möglich? Ich meine, dass du als deutsche Ermittlerin hier eingesetzt wirst?«
»Ohne Bürokratie läuft es natürlich nicht.« Hannah verzog das Gesicht. »Dafür muss ein Rechtshilfeersuchen gestellt werden. Wenn es um Tötungsdelikte geht, wird ein solches Dokument allerdings für gewöhnlich innerhalb weniger Tage ausgestellt.«
»Dein Monsieur Schnauz schickt dich also schon mal los, und bis du vor Ort bist, ist der Antrag bewilligt worden?«
»So ungefähr.«
»Es muss nicht zwangsläufig das Aus für unsere Woche bedeuten.« Serge hatte wieder begonnen, die Zwiebeln mit seinem favorisierten Sabatier-Messer zu bearbeiten. »Was hältst du davon, wenn ich dich begleite? Meine Unterlagen für die nächste Sendung nehme ich mit – das Programm vorbereiten kann ich ebenso gut von dort.«
»Deine Spontaneität ist einer der Gründe, warum ich mich in dich verliebt habe.« Hannah sprang vom Fensterbrett, ging zu ihm hinüber und küsste seinen Nacken.
Serge legte das Messer beiseite, drehte sich um und zog sie an sich. »Und die anderen?«
»Die erzähle ich dir später.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Lippen, die warm und weich waren und nach Thymian und Honig schmeckten. »Ich frage gleich mal Penelope, ob wir wieder in ihrem Häuschen unterkommen können.« Hannah wand sich aus seinen Armen, lief in den Flur und kam mit ihrem Handy zurück.
Serge stellte eine gusseiserne Pfanne auf den Induktionsherd und gab einen ordentlichen Klecks Butter hinein. »Wie weit ist sie inzwischen eigentlich?«
»Hm, das letzte Mal, als ich mit ihr gesprochen habe, war sie Ende sechster Monat. Das ist aber auch schon wieder ein paar Wochen her. Ich glaube, der Geburtstermin liegt irgendwann Anfang Juni.«
Während ihres ersten Aufenthalts in Vaison hatte Hannah sich mit der quirligen Halbspanierin Penelope Oliva angefreundet. Bei ihrem zweiten Besuch in der Provence hatte sie in deren kleinem Natursteinhaus gewohnt. Penelope war in dieser Zeit probehalber auf das Weingut ihres neuen Lebensgefährten Anatole Gaillard gezogen. Dieser wiederum war Serges Freund aus Kindheitstagen. Damals hatte Hannah sich noch gewundert, dass sich die impulsive Penelope für den leicht verschrobenen Weinbauern entschieden hatte, dessen Hobby es war, in der Touristenzeit Plastiknippes auf dem Markt zu verkaufen. Doch offenbar wirkte bei den beiden der Faktor Ergänzung, und inzwischen führten sie gemeinsam seit mehr als einem Jahr Vaisons erstes Biorestaurant. Und bald würde ein Kind aus dem Paar eine kleine Familie machen.
Hannah konnte sich genau an jenes Telefonat erinnern, das sie Anfang Dezember geführt hatten. Schon bei der Begrüßung hatte sie gespürt, dass sich etwas verändert hatte. Penelope klang anders. Ihre Stimme war weicher. Und gleichzeitig reifer. Wenige Minuten später teilte die Freundin ihr mit, dass sie schwanger sei. Hannah hatte sich mit ihr gefreut. Als sie aufgelegt hatte, war da jedoch ein seltsames Gefühl von Leere und Verlust gewesen. Sie selbst hatte keine Kinder. Es hatte irgendwie nie gepasst. Justus, ihr ehemaliger langjähriger Lebensgefährte, ein ambitionierter Rechtsanwalt, hatte bereits zwei Kinder aus erster Ehe gehabt und keine weiteren gewollt. Für Hannah war dies lange Zeit kein Problem gewesen. Ihr Kommissarinnenalltag war hektisch und stressig, und sie konnte sich nicht vorstellen, wo da überhaupt Platz für ein Kind sein sollte. Bis zu ihrer Trennung. Bis Justus sie mit einer fünf Jahre jüngeren Frau betrogen und diese sogleich geschwängert hatte. Der Klassiker. Aber das war ihre Geschichte, und die konnte und wollte sie nicht mit ihrer Freundschaft zu der wundervollen Penelope vermischen.
Daran dachte sie auch jetzt, als sie Penelopes Nummer wählte.
»Allô?«
»Penelope, Hannah hier.«
»Hannah – quelle surprise! Ich hab heute Nachmittag erst an dich gedacht! Ça va, toi?«
»Danke, gut so weit. Die viel wichtigere Frage: Wie geht es dir und deinem Bauch?«
»Merci. Mir geht’s blendend. Ich sehe aus wie ein Medizinball auf Stelzen.« Penelopes Lachen perlte durch den Hörer.
»Pardon, ich hab’s nicht mehr genau parat … Wie lange hast du noch?« Hannah lief ins Wohnzimmer hinüber und ließ sich in das Sofa sinken.
»Fünfunddreißig Wochen von vierzig sind schon rum. Wahnsinn, wie schnell so eine Schwangerschaft an einem vorbeirast. Bald geht’s in den Endspurt. Wo bist du gerade? Köln oder Paris?«
»In Paris.« Hannah erzählte der Freundin vom Anruf ihres Chefs und der gescheiterten Urlaubswoche.
»Na klar könnt ihr herkommen! Tut mir leid um deinen Urlaub, Hannah. Aber ich find’s total schön, dass wir uns noch mal sehen, ehe das Baby da ist. Anatole wird sich riesig freuen. Das mit dem Häuschen klappt allerdings nicht, wir haben es für zwei Jahre untervermietet.«
»Was denn, du gibst deine Unabhängigkeit auf?«
»Ach, weißt du, mit Kind und so, da dachten wir, ein gemeinsamer Wohnsitz ist praktischer. Und wenn mir Anatole irgendwann auf die Nerven geht, schmeiß ich die Untermieter einfach raus und zieh wieder dort ein.« Penelope lachte erneut. »Ihr seid natürlich bei uns herzlich willkommen. Platz genug haben wir hier auf dem Weingut ja. Wir haben inzwischen zwei Gästezimmer hergerichtet, und ein eigenes Bad gibt’s auch.«
»Das klingt toll. Da wiegt der Arbeitsauftrag nur noch halb so schwer. Aber sag mal, wird dir das nicht zu viel, in deinem Zustand?«
»Ich bin doch nicht krank! Anatole behandelt mich schon die ganze Zeit wie ein rohes Ei. Wenn es nach ihm ginge, bräucht ich im Restaurant gar nicht mehr aufzutauchen. Also, ein paar liebe Freunde empfangen, das werd ich wohl noch schaffen.«
»Na, dann bin ich beruhigt.«
»Im Ernst, Hannah, ich freu mich total darauf, dich zu sehen.«
»Und ich erst.« Hannah sah zu Serge hinüber, lächelte ihn an und hob den Daumen. »Alles klar, wir werden gleich nach dem Frühstück losfahren.«
»Bon. Dann werdet ihr im Laufe des Nachmittags hier sein. Da können wir uns einen gemütlichen Abend machen.«
Hannah verabschiedete sich von Penelope und ging zurück in die Küche, wo Serge die Forellenfilets anbriet. Während sie Salatblätter in eine getöpferte Schüssel legte und mit Sonnenblumenkernen bestreute, dachte sie darüber nach, was das Zusammensein mit ihrer hochschwangeren Freundin in ihr auslösen würde. Hannah hasste es, über die biologische Uhr nachzudenken, aber sie musste sich eingestehen, dass ihr Körper in letzter Zeit deutlich signalisierte: Bald läuft deine Zeit ab!
Wie immer in solchen Situationen schob Hannah den Gedanken beiseite. Erst mal galt es nun, einen Fall zu lösen.