Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu, sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloß lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten.
Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit
Schule ist wie Fußball: Alle wissen Bescheid. Ich schreibe also über ein prominentes Thema. Das ist schwierig, denn die Meinungen sind gemacht. Während jedoch beim Fußball die Exegeten sich noch auf die letzte Live-Übertragung beziehen, infolgedessen klarstellen, warum eine Niederlage unnötig, ein Sieg verdient gewesen sei, ist die Referenzgrundlage bei der Schule die eigene, nicht selten diffuse Erinnerung – und das, was man sich in der Zeit danach in dieser Sache zusammengereimt hat, aus der Not oder für den Bedarfsfall. Einigen bleibt nur die Wehmut, die beste Zeit ihres Lebens schon hinter sich zu haben. Wiederum andere sahen sich von Anfang an benachteiligt, finden in der Schulkarriere die Ursachen für ihr Versagen, und ja, mit dem richtigen Lehrer zur rechten Zeit wären sie durchgestartet. Selbstredend greife auch ich immer wieder auf meine Erfahrungen als Schüler zurück.
Ich glaube, dass die Aufgabe des Lehrers heilig ist; sich dieser Aufgabe zu stellen, verlangt nach unerschütterlicher Zuversicht. Sie ist kein Beruf, sie bedingt ein Ethos. Sie ist also auch zeitlos, in vielen Belangen gänzlich unabhängig von Moden und Trends, von einer gegenwärtigen Politik oder gar Ideologie. Diejenige, die zeigend, darlegend Horizonte eröffnet, derjenige, der mit Empathie Widerstand leistet, mitgeht und sich zuweilen auch geschlagen gibt, das ist die Lehrerin, das ist der Lehrer. Der Heroismus erschöpft sich im Antihelden. Christoph Türcke schreibt in Lehrerdämmerung (2016) zum Profil des Lehrers: «Er muss die Rolle der Identifikationsfigur annehmen, zulassen, dass die Kinder sich im wörtlichen wie übertragenen Sinn an ihn anlehnen – und zugleich auf ihre Selbständigkeit hinarbeiten. Er ist dann ein guter Lehrer, wenn er sie mit vollem Einsatz seiner Person dahin bringt, dass sie ihn nicht mehr brauchen.»
Wenn ich nun doch ausführlicher werde, dann zum einen, weil es vielleicht nötig ist, zu wiederholen und also darzulegen, was eine Lehrperson ist; zum andern geht es mir darum, die Diskrepanzen aufzuzeigen, die meiner Erfahrung nach zwischen dem Anspruch an die Aufgabe und den Möglichkeiten ihrer Erfüllung bestehen. Viele der scheinbaren Hindernisse, so meine ich, lassen sich überwinden oder dann umgehen.
Rahmenbedingungen, Schülerperspektive und Haltung der Lehrperson lassen sich nie zur Gänze isoliert behandeln. Weil Lehren, Prüfen und Bestehen an einer Schule nun einmal zusammengehören, lassen sich diese Bereiche nur bedingt isoliert voneinander betrachten. Dennoch scheint mir die Dreiteilung angebracht, weil auf diese Weise einzelne Aspekte gezielt in den Fokus genommen werden können. Vielleicht entspricht dieser Aufbau letztlich der Situation des Unterrichtens ganz gut: Denn es gilt, das Ganze nie aus dem Blick zu verlieren. Selbstverständlich schreibe ich hier auch als Leser; manches von dem, was ich zu Wort bringe, hat so oder so ähnlich schon jemand vor mir geäußert und entsprechend schriftlich dargelegt. Insbesondere, wenn es um die Berufung zur Lehre geht, dieser eigentümlichen Mischung von Intimität und Distanz, dürfte das auf der Hand liegen, denn diese Aufgabe ist in ihren Grundzügen schon in der Antike dieselbe gewesen.
Auskunft geben möchte ich als einer, der selbst viele Jahre als Lehrer tätig ist, insgesamt dürften es über zehntausend Lektionen sein, die ich bislang unterrichtet habe. Ich bilde mir also ein, zumindest in Teilen zu wissen, wovon ich rede.
Ich erachte die Schule als eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte bislang. Ihr Erfolg lässt sich allein dadurch belegen, dass sie schnell alternativlos wurde – sowohl als Aufenthaltsort für Kinder, Jugendliche und Adoleszente als auch als Bildungsanstalt, als die sie – ursprünglich – von Staates wegen institutionalisiert worden ist. Hätte sich Schule als Institution nicht über die Jahrhunderte hinweg bewährt, ich bin überzeugt, es gäbe längst andere Optionen.
Tatsächlich nimmt die Wichtigkeit der Schule in jüngster Zeit rasant und auf eine Art und Weise zu, die ich für problematisch halte. In seinem quellenreichen Text Für die Schule lernen wir (2013) zeigt Roland Reichenbach auf, wie sehr sich allein der Zeitaufwand für die Schule im vergangenen Jahrhundert und bis heute gesteigert hat. Für einige Länder Europas lässt sich von einer allgemeinen Hochschulpflicht sprechen (das trifft dann zu, wenn über 75 Prozent einer Generation eine Hochschule absolvieren). Das heißt nichts anderes, als dass in gewissen Ländern immer mehr junge Menschen bereits zwanzig und mehr Jahre an Schulen verbringen – und die Tendenz ist ungebrochen. Die Entwicklung als solche erscheint mir besorgniserregend, doch ist sie nicht Hauptgegenstand dieses Buches. Woran es aber festzuhalten gilt: Auch für die kommenden jungen Generationen dürfte Schule weiterhin unverzichtbar sein und der wichtigste Ort bleiben.
Wenn es im Folgenden darum geht, die Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern im heutigen Umfeld zu beschreiben, dann sind jene Pädagoginnen und Pädagogen gemeint, die an einer Schule Kinder, Jugendliche oder Adoleszente unterrichten, und also nicht Gelegenheits-, Nachhilfe- oder Hauslehrer und auch nicht Abendschullehrerinnen. Ich nehme diese Einschränkung vor, weil die Schwierigkeiten, die ich darlegen möchte, zur Hauptsache mit der Aufgabe zusammenhängt, die an öffentlichen Schulen zu meistern ist.
Wie stellt sich das Erfolgsmodell Schule dar? – Die meisten Räume sind Unterrichtszimmer, das bedeutet, in ihnen unterrichtet jemand, das ist die Lehrerin. Man sollte mit Synonymen sparsam sein, in gewissem Sinn ist sie die Vorsteherin des Zimmers – in jedem Fall aber ist sie die Chefin. Denn sie vertritt die Lehre, die in ihrem Zimmer unterrichtet wird, sie steht für diese Lehre ein, entsprechend ist ihr Fach in der Stundentafel vermerkt. Die Lehrperson verfügt über einen Vorsprung an Wissen, aber auch an Methoden, die mit der Vermittlung der Lehre einhergehen. Ohne ihr Wohlwollen geht genau genommen nichts, und das meint nur am Rand die Zensuren, die sie verteilt. Alle Versuche, ältere und neuere, an der Asymmetrie zwischen Lehrern und Lernenden zu rütteln, verkennen den Kern der gegebenen Situation (und das gilt selbstredend auch für Phasen, in denen sich die Lehrperson vermeintlich auf Augenhöhe mit den Schülerinnen und Schülern stellt).
Das Unterrichtszimmer ist nicht die Welt, sondern ein spezifischer Teil davon, nicht die Wirklichkeit draußen, ansonsten wäre es kein eigener Ort und nicht durch eine Tür von anderen Räumen getrennt. Es ist diese Abgeschlossenheit auf Zeit, die Unterricht erst möglich macht. Ohne diese Gegebenheit wird die Idee der Propädeutik zu einem flüchtigen Inhalt ohne Gefäß. In Konrad Paul Liessmanns Streitschrift Geisterstunde (2014) wird diese Einsicht in einen aktuellen Kontext gestellt: «In einer sich – angeblich – rasch verändernden Gesellschaft benötigen Bildungssysteme Entschleunigung, nicht Hektik, Besonnenheit, nicht Tempo, Stabilität, nicht permanenten Wandel, Sicherheit, nicht medialen und politischen Dauerbeschuss.»
Schulzimmer weisen unter sich – zumindest in der westlichen Welt – eine erstaunliche Ähnlichkeit auf: Sie bieten Platz für 25 bis 35 Schülerinnen und Schüler. In solchen Räumen werden also Klassen (Abteilungen, Kurse) unterrichtet. Je höher die Schule, desto homogener die Klassen, denn Schulen unterliegen dem Leistungsprinzip. Schülerinnen und Schüler werden aufgrund erbrachter Leistungen promoviert, es findet eine Selektion statt.
Dieses Setting ist über Jahrhunderte zu dem geworden, was es heute ist. Zwar werden einzelne Aspekte eines Schulsystems immer wieder hinterfragt, offen kritisiert, zuweilen entsprechend justiert oder modifiziert, doch fraglos ist die Institution Schule das stabilste System einer jeden Gesellschaft. Wirtschaftskrisen oder auch Kriege können der Schule in der Regel nicht viel anhaben. Bricht in einem Staat das Schulsystem zusammen, befindet sich dieser Staat unmittelbar vor der Auflösung. Andersherum: Schule ist der Stabilitätsfaktor einer Gesellschaft, in keinem anderen System findet sich heute auch nur eine ähnliche Kontinuität.
Die Gesellschaft ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts merklich in Bewegung. Hielt die Generation heutiger Großeltern noch den Wahlspruch «Trautes Heim, Glück allein» hoch, so ist insbesondere die Familie mittlerweile kein fixes Arrangement mehr. Die Zeiten, in denen der Vater ein Leben lang und nahe dem Wohnort derselben Arbeit nachging, währenddem die Mutter zu den Kindern schaute, den Haushalt besorgte, sind wohl endgültig vorbei. Im einen Haus kommt es zur Scheidung, im andern entsteht eine neue Patchwork-Familie. Die Karriere des Kindes beginnt im Kinderhort, oft, bevor es um sich selber weiß, führt über Kitas und Kindergärten in die Schule. Kommt das Kind nach Hause, trifft es nicht selten niemanden an. Infolgedessen ist die Schule für viele junge Menschen der vertrautere, mitunter der sicherere Ort.
Und dennoch: Weder die Verpflichtungen noch die Verantwortung von Menschen, die Kinder in die Welt setzen, sind im 21. Jahrhundert kleiner geworden. Die Schule kann (oder soll) das Zuhause nicht ersetzen, die lehrende Funktion der Eltern lässt sich nicht delegieren: «Der Beginn des wechselseitigen Zeigens ist die Menschwerdung im engeren Sinne. Der Mensch ist das zeigende Tier. Er macht seinen Nachkommen nicht nur vor, was die dann nachmachen. Sondern er hebt Sachverhalte hervor, die er dann mit ihnen teilt. Zeigendes Hervorheben ist Lehren. Das zeigende Tier ist auch das lehrende Tier, und die ersten Lehrer sind Mütter und ihre Trabanten» (Türcke).
Eine Lehrerin muss Vorbild sein – sowohl für das, was sie ist, als auch für das, was sie vertritt, wofür sie einsteht. Ohne diese Selbstverständlichkeit verdient sie keine Aufmerksamkeit. Wer nicht der Überzeugung ist, als Vorbild dienen zu können, taugt nicht als Lehrperson. Sie oder er stünde permanent neben den Schuhen, suchte das Heil in wechselnden Rollen im steten Versuch, den Anschein einer Lehrkraft zu wahren. Das ist nicht nur kräfteraubend, daraus entsteht auch kein fruchtbarer Unterricht. Im besten Fall schauen beachtliche Einzelvorstellungen heraus, nie aber ein organisches Ganzes.
Der Umkehrschluss, Lehrerinnen und Lehrer dürften keine Rollen spielen, ist freilich falsch. Tatsächlich verfügen Lehrkräfte über ein beeindruckendes Repertoire an Rollen; es gehört zum Rüstzeug einer jeden Pädagogik. «Lehren stellt eine spezifisch absichtsvolle Form der Ansprache in sozialer Kommunikation und Interaktion dar», schreibt Andreas Gruschka. Das Planerische hat freilich seine Tücken, denn schon junge Menschen entwickeln schnell ein Gespür dafür, wenn links und rechts Leitplanken aufgestellt werden, wenn der eingeschlagene Weg keine Abzweigungen mehr bietet. «Gelungene pädagogische Arrangements zeichnen sich durch ein Paradox aus: die Absichtslosigkeit», hält Reinhard Kahl fest, und er stellt die rhetorische Frage: «Ist vielleicht ein Übermaß an Absicht die Erbsünde der Pädagogen?»
Vorbild sein zu wollen, lässt sich nicht lernen. Es handelt sich um eine Voraussetzung, die jede Lehrperson mitbringen muss, ein Charakterzug, der freilich ambivalent ist, ohne den entsprechenden Willen jedoch sollte sich niemand freiwillig vor eine Klasse stellen. Es geht um Glaubwürdigkeit, ohne die nie ein Vertrauensverhältnis entstehen kann: Fühle ich mich als Lehrer in einem Unterrichtsraum nicht wohl, kann ich nicht unterrichten. Ich muss mich darstellen und der Situation aussetzen wollen, selbst wenn dies, mein Tun, nur immer dem Stand meiner jüngsten Irrtümer entspricht. Ohne ein hohes Sendungsbewusstsein keine Lehre.