DAS GEFÄHRLICHSTE TIER DER WELT UND
DIE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT
Aus dem Amerikanischen von
Henning Dedekind und Heike Schlatterer
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
The Mosquito: A Human History of Our Deadliest Predator bei Dutton, USA.
1. Auflage
© 2020 Terra Mater Books bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Fairfield LT Std
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Benevento Publishing, nach einem Entwurf von Dutton, USA.
Redaktion: Jonas Wegerer
ISBN: 978-3-99055-022-9
eISBN: 978-3-99055-514-9
Für meine Eltern, Charles und Marian,
die meine prägenden Jahre mit Wissen, Reisen,
Neugier und Liebe erfüllten.
Einleitung
1. KAPITEL
Böse Zwillinge: Die Krankheiten der Stechmücke
2. KAPITEL
»Survival of the Fittest«: Fieberdämonen, Football und Sichelzellen
3. KAPITEL
General Anopheles: Von Athen zu Alexander dem Großen
4. KAPITEL
Legionen von Mücken: Aufstieg und Untergang des Römischen Reiches
5. KAPITEL
Mücken ohne Gnade: Glaubenskrisen und Kreuzzüge
6. KAPITEL
Horden von Mücken: Das Reich des Dschingis Khan
7. KAPITEL
Kolumbus’ blinde Passagiere: Die Mücke und das globale Dorf
8. KAPITEL
Zufällige Eroberer: Sklaverei und die Annexion Amerikas durch die Mücke
9. KAPITEL
»The Seasoning«: Landschaften von Mücken, Mythologie und die Saat Amerikas
10. KAPITEL
»Rogues in a Nation«: Die Stechmücke und die Entstehung des Königreichs Großbritannien
11. KAPITEL
Die Feuerprobe der Seuche: Kolonialkriege und eine neue Weltordnung
12. KAPITEL
Das unveräußerliche Recht zu stechen: Die Amerikanische Revolution
13. KAPITEL
Die Mücke als Geburtshelferin: Befreiungskriege und Staatenentwicklung in Nord- und Südamerika
14. KAPITEL
Stichhaltige Bestimmung: Baumwolle, Sklaverei und Manifest Destiny
15. KAPITEL
Billy Yank, Johnny Reb und die Mücke: Der Amerikanische Bürgerkrieg
16. KAPITEL
Der Stechmücke auf den Fersen: Krankheit und Imperialismus
17. KAPITEL
»Das ist Ann … sie trinkt gern Blut!«: Der Zweite Weltkrieg, Dr. Seuss und DDT
18. KAPITEL
Stummer Frühling und Superkeime: Die Renaissance der Stechmücken
19. KAPITEL
Die Mücke und ihre Krankheiten heute: An der Schwelle zur Ausrottung?
Schlussbemerkung
Dank
Weiterführende Literatur
Anmerkungen
Wir befinden uns im Krieg mit der Mücke. Eine schwärmende und blutrünstige Armee von 110 Billionen feindlicher Stechmücken patrouilliert über jeden Quadratzentimeter des Globus, mit Ausnahme der Antarktis, Island, der Seychellen und einer Handvoll französisch-polynesischer Mikroinseln. Die stechwütigen Kriegerinnen dieser summenden Insektenpopulation verfügen über mindestens 15 tödliche und schwächende biologische Waffen gegen die 7,7 Milliarden Menschen, deren Verteidigungsstrategien bestenfalls fragwürdig sind und nicht selten zum eigenen Nachteil wirken. Tatsächlich beläuft sich unser Budget für persönlichen Schutz, Sprays und andere Abwehrmaßnahmen gegen ihre unablässigen Attacken auf elf Milliarden US-Dollar jährlich, mit rasch steigender Tendenz. Und doch setzt die Mücke ihre tödlichen Offensiven und Verbrechen gegen die Menschheit rücksichtslos und in großem Maßstab fort. Unsere Gegenangriffe mögen zwar die Zahl ihrer Opfer pro Jahr senken, doch bleibt sie der ärgste Feind menschlicher Wesen auf diesem Planeten. Im Jahr 2018 gingen nur 830 000 Menschenleben auf ihr Konto. Der ach so vernunftbegabte und kluge Homo sapiens belegte mit 580 000 Todesopfern innerhalb der eigenen Spezies Platz 2 dieser unrühmlichen Rangliste.
Im Jahresbericht der Gates Foundation, die seit ihrer Gründung im Jahr 2000 mehr als vier Milliarden US-Dollar in die Stechmückenforschung investiert hat, werden die Tiere als höchst gefährlich für den Menschen bezeichnet. Und der Wettkampf ist alles andere als fair. Seit 2000 lag die mittlere Zahl der durch die Stechmücke verursachten Todesfälle bei etwa zwei Millionen. Auf Platz 2 und weit abgeschlagen der Mensch mit 475 000 Opfern, gefolgt von Schlangen (50 000), Hunden und Sandfliegen (jeweils 25 000), der Tsetsefliege und der Raubwanze (jeweils 10 000). Die grausamen Killer aus Erzählungen und Hollywoodfilmen tauchen erst deutlich weiter unten auf der Liste auf. Das Krokodil belegt mit 1000 Todesopfern jährlich den zehnten Platz. Es folgen die Nilpferde mit 500 sowie Elefanten und Löwen mit jeweils 100 Opfern. Die viel gescholtenen Wölfe und Haie teilen sich mit durchschnittlich jeweils zehn Menschen pro Jahr Rang 15.1
Die Mücke hat mehr Menschen auf dem Gewissen als jede andere Todesursache in der Menschheitsgeschichte. Statistischen Hochrechnungen zufolge ist ihr beinahe die Hälfte aller Menschen, die je gelebt haben, zum Opfer gefallen. In Zahlen ausgedrückt, hat die Stechmücke während unserer relativ kurzen, 200 000-jährigen Existenz geschätzte 52 Milliarden von insgesamt 108 Milliarden Menschen ins Jenseits befördert.2
Freilich fügt die Stechmücke niemandem direkt Schaden zu. Es sind die schädlichen und hoch entwickelten Krankheitserreger, die sie überträgt, welche allerorten Tod und Verzweiflung verbreiten. Ohne die Mücke jedoch könnten diese bösartigen Pathogene nicht auf den Menschen übertragen werden und sich somit auch nicht weiter verbreiten. Vielmehr gäbe es diese Krankheiten ohne sie gar nicht. Ohne die Krankheiten wiederum würde man kaum über die Stechmücke sprechen. Das ruchlose Tier, das in Größe und Gewicht etwa einem Traubenkern entspricht, wäre so unschuldig wie eine gewöhnliche Ameise oder Stubenfliege, und Sie würden dieses Buch vielleicht nicht lesen; ohne ihre historische Todesherrschaft hätte ich keine aufregenden und interessanten Geschichten zu erzählen. Stellen Sie sich einmal einen Augenblick lang eine Welt ohne tödliche Stechmücken vor. Wir würden unsere Geschichte und die Welt, wie wir sie kennen oder zu kennen glauben, nicht mehr wiedererkennen. Es wäre, als lebten wir auf einem fremden Planeten in einer weit, weit entfernten Galaxie.
Als Hauptprotagonistin unserer Vernichtung stand die Stechmücke als Gevatter Tod, Sensenmann ganzer Bevölkerungen und entscheidende Kraft historischen Wandels stets an vorderster Front der Geschichte. Sie spielte eine größere Rolle für uns als jedes andere Tier, mit dem wir unser globales Dorf teilen. Auf den folgenden blutigen und verseuchten Seiten werden wir zu einer chronologischen, stechwütigen Reise durch die miteinander verwobene gemeinsame Geschichte von Mensch und Mücke aufbrechen. Schon 1852 stellte Karl Marx fest: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Es war die hartnäckige und unersättliche Stechmücke, die unser Schicksal entscheidend lenkte und bestimmte. »Die Vorstellung, dass niedere Stechmücken und hirnlose Viren unsere internationalen Angelegenheiten beeinflussen, ist vielleicht ein harter Schlag für das Selbstwertgefühl unserer Spezies«, schreibt der gefeierte Geschichtsprofessor J. R. McNeill von der University of Georgetown. »Aber das können sie.« Wir vergessen gern, dass Geschichte nichts Zwangsläufiges ist.
Ein roter Faden dieser Geschichte ist das Wechselspiel von Krieg, Politik, Reisen, Handel und der sich verändernden Muster von natürlichem Klima und menschlicher Landnutzung. Die Mücke existiert nicht in einem Vakuum und ihr weltweiter Aufstieg ist die Folge miteinander korrespondierender historischer Ereignisse sowohl biologischer als auch gesellschaftlicher Natur. Unsere relativ kurze Reise von den ersten menschlichen Schritten in und aus Afrika bis zu unserer Herrschaft über den gesamten Planeten ist das Ergebnis einer koevolutionären Verbindung von Gesellschaft und Natur. Die Menschen haben durch Völkerwanderungen (freiwillige und unfreiwillige), Bevölkerungsdichten und Ballungsräume eine große Rolle bei der Verbreitung der von Stechmücken übertragenen Krankheiten gespielt. Historisch betrachtet, waren die Domestizierung von Pflanzen und Tieren (die Krankheitsherde sind), unsere Fortschritte in der Landwirtschaft, Abholzung, Klimawandel (natürlicher und von Menschen gemachter), Weltkriege, globaler Handel und Reisen wichtige Faktoren bei der Schaffung idealer Bedingungen für die Verbreitung jener Krankheiten.
Historiker, Journalisten und das kollektive Gedächtnis finden Pestilenz und Seuchen, verglichen mit Krieg, Eroberung und nationalen Heldenfiguren, die oft aus dem Militär kommen, jedoch eher langweilig. Die Literatur ist durchzogen von der Annahme, dass die Schicksale von Imperien und Nationen, entscheidende Kriegserfolge und die Beeinflussung historischer Ereignisse einzelnen Herrschern und Generälen zuzuschreiben oder mit menschlichem Tun auf breiterer Ebene wie Politik, Religion und Wirtschaft in Zusammenhang zu setzen sind. Die Mücke indes wurde im fortwährenden Prozess der Zivilisation bestenfalls als Zuschauer und weniger als aktiver Teilnehmerin betrachtet. Durch diesen verleumderischen Ausschluss sprach man ihr jeglichen Einfluss auf den Lauf der Geschichte ab. Stechmücken und die von ihnen übertragenen Krankheiten, die Händler, Reisende, Soldaten und Siedler auf der ganzen Welt begleitet haben, waren jedoch weitaus todbringender als sämtliche von Menschen ersonnenen Waffen und Erfindungen. Die Mücke hat die Menschheit seit grauer Vorzeit mit ungemildertem Zorn angegriffen und der modernen Weltordnung unauslöschlich ihren Stempel aufgedrückt.
Dabei rekrutierten die Stechmücken ganze Armeen von Krankheiten und zogen so über die Schlachtfelder dieser Erde, wobei sie nicht selten den Ausgang entscheidender Kriege bestimmten. Regelmäßig besiegte und vernichtete die Stechmücke die mächtigsten Armeen ihrer Zeit. Mit dem gefeierten Autor Jared Diamond gesprochen, verzerren die endlosen Regale militärhistorischer Bücher und das ganze Hollywoodtrara mit ihrer Verherrlichung berühmter Kriegshelden eine wenig schmeichelhafte Wahrheit: Die von Stechmücken übertragenen Krankheiten erwiesen sich als weitaus tödlicher als Muskelkraft, Material oder die Strategien der klügsten Generäle. Wenn wir die Schützengräben durchstreifen und historische Kriegsschauplätze aufsuchen, sollten wir nicht vergessen, dass ein kranker Soldat der Militärmaschine schwerer auf der Tasche liegt als ein toter. Er muss nicht nur ersetzt werden, er verbraucht auch weiterhin wertvolle Ressourcen. In unserer vom Krieg durchzogenen Geschichte bringen von Stechmücken übertragene Krankheiten seit jeher Last und Leid auf die Schlachtfelder.
Unser Immunsystem ist fein auf unser lokales Umfeld abgestimmt. Durch unseren Wissensdurst, unsere Gier, unsere Arroganz und offene Aggression brachten wir allerlei Keime in den globalen Wirbelwind historischer Ereignisse ein. Stechmücken erkennen internationale Grenzen nicht an – ob mit oder ohne Mauern. Marschierende Armeen, Kolonisten und ihre afrikanischen Sklaven brachten neue Krankheiten in entlegene Länder, wurden andererseits aber auch von den Mikroorganismen jener Länder in die Knie gezwungen, welche sie zu erobern gedachten. Die Mücke veränderte die Landschaften der Zivilisation, und die Menschen reagierten auf ihre weltweite Machtdemonstration, ohne sich dessen im Kern bewusst zu sein. Die unangenehme Wahrheit ist, dass die Stechmücke, unser ärgster natürlicher Feind, mehr als jeder andere externe Faktor zum Motor der Menschheitsgeschichte wurde und damit die Welt, wie wir sie heute kennen, entscheidend prägte.
Ich glaube, man kann mit Gewissheit sagen, dass alle, die dieses Buch lesen, eines gemein haben: Sie hassen Stechmücken. Mücken zu klatschen, ist ein weltweiter Zeitvertreib und das schon seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Durch die Zeitalter, von unseren ersten menschenähnlichen Vorfahren in Afrika bis zum heutigen Tag, befinden wir uns im Kampf um unser Leben gegen die Stechmücke, die alles andere als ein leichter Gegner ist. In diesem ungleichen Kampf und bei einem derart ungleichen Kräfteverhältnis hatten wir von Anfang an kaum eine Chance. Durch evolutionäre Anpassung ist es unserem hartnäckigen und tödlichen Erzfeind wiederholt gelungen, all unsere Anstrengungen zu seiner Ausrottung zu umschiffen und seine blutdürstige Schreckensherrschaft ungehindert fortzusetzen. Die Stechmücke bleibt eine Weltvernichterin und der weltweit gefährlichste und tödlichste Feind des Menschen.
Unser Krieg gegen die Mücke ist der Krieg unserer Welt.
Seit 190 Millionen Jahren ist es eines der bekanntesten und lästigsten Geräusche, die es auf dieser Welt gibt: das Summen der Stechmücke. Nach einem langen Wandertag beim Camping mit Freunden oder Verwandten geht man rasch unter die Dusche, lässt sich in seinen Campingstuhl fallen, schnappt sich ein eiskaltes Bier und stößt einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Doch noch bevor man seinen ersten Schluck genießen kann, hört man dieses allzu bekannte Geräusch, welches einem das Herannahen der gierigen Plagegeister signalisiert.
Es dämmert bereits, und für die Stechmücke ist nun Abendessenszeit. Obwohl man hört, wie sich ihr Summen nähert, landet sie unbemerkt auf dem Fußknöchel, da sie für gewöhnlich in Bodennähe beißt. Es ist übrigens immer ein Weibchen. Vorsichtig führt sie eine etwa zehnsekündige Erkundung durch, bei der sie ein primäres Blutgefäß sucht. Den Hinterleib in die Höhe gereckt, nimmt sie ihr Zielgebiet ins Visier und sticht mit sechs hochkomplexen Nadeln zu. Dann führt sie ein Paar gezackter Kiefer ein (diese erinnern an ein elektrisches Küchenmesser, bei dem sich die Klingen gegeneinander bewegen) und sägt sich in die Haut, während zwei Haken eine Öffnung für den Saugrüssel schaffen, eine subkutane Injektionsnadel, die nun aus ihrer schützenden Umhüllung hervordringt. Mit diesem Strohhalm beginnt die Stechmücke 3 bis 5 Milligramm Blut zu saugen, dessen Wasseranteil sie sofort absondert und den etwa 20-prozentigen Proteingehalt kondensiert. Die ganze Zeit pumpt eine sechste Nadel Speichel in die Wunde, der ein Antikoagulans enthält und somit verhindert, dass das Blut an der Einstichstelle gerinnt.3 Dadurch verkürzt sich die Saugdauer, was wiederum die Wahrscheinlichkeit senkt, dass man den Stich bemerkt und die Mücke auf seinem Knöchel platt haut.4 Das Antikoagulans ruft eine allergische Reaktion hervor, die Stechmücke hinterlässt eine juckende Quaddel als Abschiedsgeschenk. Der Mückenstich ist ein interessantes und innovatives Ernährungsritual, das für die Fortpflanzung unerlässlich ist. Die Stechmücke braucht unser Blut, um ihre Eier wachsen und reifen zu lassen.5
Bitte fühlen Sie sich nicht übergangen oder als etwas Besonderes und halten Sie sich schon gar nicht für einen Auserwählten. Die Mücke sticht alle. Das liegt in ihrer Natur. Es ist nichts, aber auch gar nichts Wahres daran, dass Stechmücken lieber weibliche als männliche Opfer stechen, dass sie Blonde und Rothaarige gegenüber Dunkelhaarigen bevorzugen, oder, dass man mit möglichst brauner und gegerbter Haut vor ihren Stichen sicherer ist. Was jedoch stimmt, ist, dass die Stechmücke gewisse Vorlieben hat und daher manche Menschen lieber anzapft als andere.
Blutgruppe Null scheint im Gegensatz zu Blutgruppe A oder B oder einer Mischung aus beiden die erste Wahl zu sein. Menschen mit Blutgruppe Null werden doppelt so häufig gestochen wie Menschen mit Blutgruppe A, die Blutgruppe B liegt irgendwo dazwischen. Bei Disney-Pixar hat man offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht, als man die beschwipste Mücke in dem Streifen Das große Krabbeln von 1998 eine »Bloody Mary, Blutgruppe Null« bestellen ließ. Wer einen höheren natürlichen Anteil bestimmter Chemikalien auf der Haut hat, insbesondere Milchsäure, scheint ebenfalls attraktiver zu sein. Mithilfe solcher Stoffe kann die Mücke feststellen, welche Blutgruppe man hat. Es sind dieselben Stoffe, die das Vorkommen von Hautbakterien und den persönlichen Körpergeruch bestimmen. Auch wenn es die eigene und die Nasen anderer beleidigt, ist es in diesem Falle von Vorteil, ungewaschen zu sein, denn dadurch erhöht sich die Bakteriendichte auf der Haut, was den Betreffenden für Stechmücken weniger anziehend macht. Reinlichkeit ist hier also nicht höchstes Gebot. Eine Ausnahme bilden stinkende Füße, welche ein Bakterium verströmen (dasselbe, das bestimmte Käsesorten reifen und eine Rinde bilden lässt), das als Aphrodisiakum auf die Mücken wirkt. Stechmücken sind auch ganz wild auf Deodorants, Parfüms, Seife und andere aufgetragene Düfte.
Vielen mag das ungerecht erscheinen, doch auch für Biertrinker hat sie eine Schwäche. Der Grund dafür bleibt ein Geheimnis. Helle Farben zu tragen, ist ebenfalls keine kluge Wahl, da die Mücke sowohl nach Sicht als auch nach Geruch jagt. Hauptsächlich ist es die Menge an Kohlendioxid, die das potenzielle Opfer ausatmet. Das ganze Herumfuchteln und Fluchen und Keuchen zieht die Stechmücken also nur magnetisch an und erhöht das Risiko, gestochen zu werden. Sie riechen Kohlendioxid aus einer Entfernung von über 60 Metern. Wenn man zum Beispiel Sport treibt, hat man durch Atemfrequenz und -volumen einen höheren Kohlendioxidausstoß. Obendrein schwitzt man und setzt dadurch appetitliche Chemikalien frei (in erster Linie Milchsäure), welche die Aufmerksamkeit der Stechmücke wecken. Schließlich steigt die Körpertemperatur, was für die kleinen Quälgeister eine leicht erkennbare Wärmesignatur darstellt. Im Durchschnitt werden schwangere Frauen etwa doppelt so häufig gestochen, da sie 20 Prozent mehr Kohlendioxid ausatmen und eine marginal erhöhte Körpertemperatur besitzen. Wie wir sehen werden, kann dies für Mutter und Fötus gefährlich werden, wenn es um Infektionen mit dem Zikavirus oder Malaria geht.
Bitte treten Sie jetzt aber in keinen Dusch-, Deo- oder Sportstreik. Auch brauchen Sie das geliebte Bier nicht im Keller stehen zu lassen und Sie dürfen weiterhin helle T-Shirts tragen. Denn leider sind 85 Prozent davon, was uns für Stechmücken attraktiv macht, im genetischen Schaltplan festgelegt, sei es die Blutgruppe, natürliche Duftstoffe, Bakterien, Kohlendioxidwerte, der Stoffwechsel oder Mief und Gestank. Und am Ende findet die Stechmücke immer jemanden, dem sie etwas Blut abzapfen kann.
Im Gegensatz zu ihren weiblichen Gegenstücken stechen männliche Stechmücken nicht. Ihre gesamte Welt dreht sich um zwei Dinge: Nektar und Sex. Wie andere geflügelte Insekten versammeln sich auch die männlichen Mücken zur Paarungszeit über einem aufragenden Gebilde. Das kann ein Kamin oder eine Antenne sein, aber auch ein Baum oder ein Mensch. Viele Leute schimpfen und fuchteln, wenn uns diese verdammte Wolke summender Insekten wie ein Schatten über dem Kopf verfolgt und sich einfach nicht auflösen will. Nein, Sie sind nicht paranoid, Sie bilden sich dieses Phänomen nicht ein. Betrachten Sie es als Kompliment. Männliche Stechmücken haben ihnen eine große Ehre zuteilwerden lassen und Sie als »Schwarmmacher« auserkoren. Es gibt Fotos von Mückenschwärmen, die mehrere Hundert Meter in die Luft reichen und einer Windhose ähneln. Wenn sich die Mücken erst einmal über Ihrem Kopf versammelt haben, fliegen Weibchen in den rein männlichen Schwarm, um einen Partner zu finden. Männchen paaren sich im Laufe ihres Lebens regelmäßig, dem Weibchen hingegen genügt eine einzige Dosis Sperma, um zahllose Schübe von Nachkommen zu produzieren. Es speichert das Sperma und gibt bei jedem Eierlegen etwas davon ab. Der kurze Augenblick der Leidenschaft hat also eine der beiden Komponenten erbracht, die für die Fortpflanzung notwendig sind. Alles, was jetzt noch fehlt, ist Blut.
Kehren wir noch einmal zu unserem Campingszenario zurück. Sie haben gerade eine anstrengende Wanderung hinter sich und gehen unter die Dusche, wo Sie sich mit reichlich Seife und Shampoo erfrischen. Nach dem Abtrocknen tragen Sie großzügig Körperlotion und Deospray auf, bevor Sie die leuchtend rot-blaue Strandkleidung anziehen. Es dämmert bereits ein wenig, Abendessenszeit für die Anophelesmücke, und Sie lassen sich in den Campingstuhl fallen, um bei einem wohlverdienten Bierchen zu entspannen. Dann haben Sie alles in Ihrer Macht Stehende getan, um eine ausgehungerte weibliche Anophelesmücke anzulocken (übrigens habe ich mich gerade auf den Stuhl gesetzt, der am weitesten von Ihnen entfernt ist). Das Weibchen, das sich eben in einem berauschten Schwarm eifriger männlicher Verehrer gepaart hat, schnappt nach dem Köder und macht sich mit einigen Tropfen Ihres Blutes davon.
Die Blutmahlzeit entspricht dem Dreifachen des eigenen Körpergewichts, also sucht das Weibchen so rasch wie möglich die nächste vertikale Fläche auf, wo es mithilfe der Gravitationskraft fortfährt, dem Blut das Wasser zu entziehen. Mit diesem Blutkonzentrat bildet es in den nächsten paar Tagen seine Eier. Dann legt es etwa 200 schwimmende Eier auf der Wasseroberfläche einer winzigen Pfütze ab, die sich auf einer zerdrückten Bierdose gebildet hat, die Sie beim Aufräumen vergessen haben. Das Weibchen legt seine Eier stets im Wasser ab, braucht allerdings nicht viel davon. Ein Teich und ein Bach sind gut, doch eine winzige Ansammlung am Boden eines alten Behälters, eines weggeworfenen Reifens oder eines Sandkastenspielzeugs tut es ebenso. Manche Stechmückenarten bevorzugen bestimmte Arten von Wasser – frisch, salzig oder brackig. Andere wiederum kommen mit jedem Wasser aus.
Während ihrer kurzen Lebensspanne von einer bis drei Wochen (in seltenen Fällen bis zu maximal fünf Monaten) sticht unsere Stechmücke munter weiter und legt auch weiterhin Eier. Sie kann zwar mehr als drei Kilometer hoch fliegen, doch wie die meisten Insekten entfernt sie sich kaum weiter als 400 Meter vom Ort ihrer Geburt. Bei kaltem Wetter dauert es etwas länger, doch bei angenehmen Temperaturen verwandeln sich die Eier innerhalb von zwei, drei Tagen in zuckende Wasserlarven (Kinder). Auf der Suche nach Nahrung durchstreifen diese das Wasser und werden rasch zu auf dem Kopf stehenden, kommaförmigen Puppen (Teenager), die durch zwei »Trompeten« atmen, welche aus ihrem Hinterteil über die Wasseroberfläche ragen. Ein paar Tage später reißt die Puppenhaut, und gesunde erwachsene Stechmücken erheben sich in die Lüfte, darunter auch eine neue Generation gieriger Weibchen, die es kaum erwarten können, den Menschen Blut abzuzapfen. Dieser beeindruckende Reifeprozess bis zur ausgewachsenen Mücke dauert etwa eine Woche.
Seit dem ersten Auftreten moderner Stechmücken auf dem Planeten Erde hat sich dieser Lebenszyklus ununterbrochen fortgesetzt. Die Wissenschaft nimmt an, dass es bereits vor 190 Millionen Jahren Stechmücken gab, die mit den heutigen Tieren identisch waren. Bernstein, im Grunde nichts als versteinertes Baumharz, stellt das Kronjuwel bei der Erforschung fossiler Insekten dar, weil darin winzige Details wie Gewebe, Eier und das vollständige Innenleben der Mücken erhalten sind. Die ältesten bekannten, in Bernstein eingeschlossenen Stechmücken stammen aus Kanada und Myanmar und sind etwa 80 bis 105 Millionen Jahre alt. Die Welt dieser frühen Blutsauger würden wir vermutlich nicht wiedererkennen, doch die Mücke ist dieselbe.
Die Erde unterschied sich damals drastisch von unserem heutigen Planeten. Dasselbe gilt für die meisten Tiere, die auf ihm lebten. Wenn wir die Evolution des Lebens zurückverfolgen, wird die verheerende Partnerschaft von Insekten und Seuchen verblüffend klar. Einzellige Bakterien waren die erste Lebensform, die nicht lange nach der Entstehung unseres Planeten vor etwa 4,5 Milliarden Jahren auftrat. In einem Kessel von Gas und urzeitlichem Meeresschlamm verbreiteten sie sich rasch und bildeten eine Biomasse, die 25 Mal größer war als die sämtlicher anderer Pflanzen und Tiere zusammen – und die Grundlage für Erdöl und andere fossile Brennstoffe bildete. An einem einzigen Tag kann ein einziges Bakterium eine Kultur von mehr als vier Trilliarden (21 Nullen) hervorbringen, mehr als jede andere Lebensform auf der Erde. Diese Bakterien sind die Grundlage allen Lebens auf dem Planeten. Mit fortschreitender Spezifikation passten sich asexuelle, zellteilende Bakterien an und fanden auf oder in anderen Kreaturen eine sicherere und angenehmere neue Heimat. Der menschliche Körper etwa enthält mehr als hundert Mal so viele Bakterienzellen wie menschliche Zellen. In den meisten Fällen sind solche symbiotischen Beziehungen für den Wirt ebenso vorteilhaft wie für die bakteriellen Kostgänger.
Es ist die Handvoll negativer Paarungen, welche Probleme verursacht. Derzeit sind mehr als eine Million Mikroben identifiziert, doch besitzen lediglich 1400 das Potenzial, dem Menschen Schaden zuzufügen.6 Die Menge einer Getränkedose jenes Toxins, welches von dem Bakterium produziert wird, das die Lebensmittelvergiftung Botulismus hervorruft, würde beispielsweise genügen, um die gesamte Menschheit dahinzuraffen. Den Bakterien folgten Viren, dann bald Parasiten, die sich die häuslichen Gegebenheiten ihrer bakteriellen Vorreiter zunutze machten und die für Krankheit und Tod verantwortlichen Kombinationen bildeten. Die einzige elterliche Verantwortung dieser Mikroben ist es, sich zu vermehren, zu vermehren und zu vermehren.7 Bakterien, Viren und Parasiten haben, neben Würmern und Pilzen, unsägliches Elend hervorgerufen und den Verlauf der menschlichen Geschichte bestimmt. Warum aber haben diese Pathogene irgendwann damit begonnen, ihre Wirte zu vernichten?
Wenn wir unsere Voreingenommenheit einen Moment lang ablegen, dann sehen wir, dass diese Mikroben, ebenso wie wir, einen Prozess der natürlichen Auslese durchlaufen haben. Deshalb machen sie uns immer noch krank und sind so schwer auszurotten. Dennoch: Auf den ersten Blick erscheint es nachteilig, den eigenen Wirt zu töten. Eine Krankheit bringt uns um, ja, aber durch deren Symptome machen die Mikroben uns zu Helfern bei ihrer Verbreitung und Vermehrung. Das ist verblüffend clever, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt. In der Regel sorgen die Keime dafür, dass sie übertragen werden und sich vermehren, bevor sie ihre Wirte töten.
Manche, etwa Salmonellen und verschiedene Wurmarten, gelangen mit der Nahrung in den Wirt; das heißt, wenn ein Tier ein anderes frisst. Auch im Wasser gibt es eine breite Palette an Krankheitsüberträgern, darunter Giardia, Cholera, Typhus, Ruhr und Hepatitis. Andere, etwa die gewöhnliche Erkältung, die Magen-Darm-Grippe und die Influenza, werden durch Husten oder Niesen übertragen. Wieder andere, zum Beispiel die Pocken, werden direkt oder indirekt durch Schürfungen, offene Wunden, kontaminierte Gegenstände oder Husten übertragen. Meine persönlichen Favoriten – natürlich aus strikt evolutionsgeschichtlicher Sicht – sind diejenigen, die heimlich ihre Vermehrung sichern, wenn wir für unsere eigene sorgen! Darunter fallen sämtliche Mikroben, die Sexualkrankheiten auslösen. Viele bösartige Pathogene werden zudem bereits von der Mutter auf den Fötus übertragen.
Erreger von Typhus, der Beulenpest, der Chagaskrankheit, der Trypanosomiasis (der afrikanischen Schlafkrankheit) und des ganzen Katalogs von Seuchen, mit denen sich dieses Buch befasst, nehmen den Weg über einen sogenannten Überträger (einen Organismus, der Krankheiten überträgt) – also Flöhe, Milben, Fliegen, Zecken und unsere liebe Stechmücke. Um ihre Überlebenschancen zu maximieren, bedienen sich viele Keime einer Kombination mehrerer Methoden. Die vielen verschiedenen Symptome, also die von den Mikroorganismen herausgebildeten Übertragungsarten, sind evolutionär hoch entwickelte Methoden, um die Existenz und Fortpflanzung der eigenen Spezies zu gewährleisten. Diese Keime kämpfen um ihr Überleben ebenso wie wir, bleiben uns in der Evolution jedoch stets eine Nasenlänge voraus, indem sie sich laufend anpassen und ihre Gestalt ändern, um sämtliche Versuche ihrer Ausrottung zu umgehen.
Die Dinosaurier, deren Zeit vor etwa 230 Millionen Jahren begann und bis vor etwa 65 Millionen Jahren andauerte, beherrschten die Erde erstaunliche 165 Millionen Jahre lang. Doch sie waren nicht allein auf dem Planeten. Insekten und ihre Krankheiten waren schon vor, während und nach dem Zeitalter der Dinosaurier präsent. Nach ihrem ersten Auftreten vor rund 350 Millionen Jahren wurden Insekten bald für eine ganze Armee gefährlicher Krankheiten attraktiv. Und gemeinsam sollten sie eine nie da gewesene, tödliche Allianz schmieden. Bald schon waren jurassische Stechmücken und Sandfliegen mit diesen biologischen Massenvernichtungswaffen ausgestattet. Als sich Bakterien, Viren und Parasiten ungehindert weiter vermehrten, erweiterten sie ihren Lebensraum und ihr Immobilienportfolio um eine zoologische Arche Noah konspirativer Tierwohnungen. In einer klassischen darwinschen Auslese erhöhten sich durch mehr Wirte auch die Chancen auf Überleben und Fortpflanzung.
Von den Dinosauriern unbeeindruckt, nahmen angriffslustige Horden von Stechmücken die mächtigen Tiere als Opfer ins Visier. »Die Kombination von durch Insekten übertragenen Krankheiten und den bereits lange verbreiteten Parasiten wurde für die Immunsysteme der Dinosaurier zu viel«, so die Theorie der Paläobiologen George und Roberta Poinar in ihrem Buch What Bugged the Dinosaurs? »Mit ihren tödlichen Waffen waren die Stechinsekten die mächtigsten Raubtiere in der Nahrungskette und konnten das Schicksal der Dinosaurier ebenso lenken wie sie unsere heutige Welt formen. « Schon vor Millionen von Jahren fanden unersättliche Mücken eine Methode, an ihre Blutmahlzeit zu gelangen – und das hat sich bis heute nicht verändert.
Dünnhäutige Dinosaurier, vergleichbar mit unseren heutigen Chamäleons und Gila-Krustenechsen (beide Träger zahlreicher von Stechmücken übertragener Krankheiten), waren für winzige, unscheinbare Mücken fette Beute. Selbst die dick gepanzerten Kolosse müssen angreifbar gewesen sein, da die von den dicken Hornplatten (wie unsere Fingernägel) bedeckte Haut gepanzerter Dinosaurier ein leichtes Ziel darstellte, ebenso wie die Haut gefiederter Flugsaurier. Kurz gesagt, sie waren allesamt leichte Beute, ebenso, wie es Vögel, Säugetiere, Reptilien und Amphibien heute sind.
Denken Sie nur einmal an unsere Stechmückenzeit oder an Ihre eigenen, oft langwierigen Scharmützel mit diesen hartnäckigen Feinden. Wir bedecken unsere Haut, tragen literweise Abwehrspray auf, entzünden Zitronellölkerzen und Rauchspiralen, kauern uns um ein Feuer, wir fuchteln und dreschen und befestigen unsere Standorte mit Netzen, Fliegengittern und Zelten. Doch wie sehr wir uns auch bemühen – die Stechmücke findet stets die Schwachstelle in unserer Rüstung und packt uns an der Achillesferse. Sie lässt sich ihr natürliches, unveräußerliches Recht nicht absprechen, sich mithilfe unseres Blutes zu vermehren. Sie nimmt den einen, ungeschützten Bereich aufs Korn, durchdringt unsere Kleidung und umschifft erfolgreich all unsere Bemühungen, ihren unablässigen Angriffen ein Ende zu setzen. Bei den Dinosauriern war es keinen Deut anders, nur, dass diese über keinerlei Abwehrmaßnahmen verfügten.8
Angesichts der tropischen, feuchten Bedingungen im Zeitalter der Dinosaurier kann man annehmen, dass die Mücken ganzjährig aktiv waren und sich fortpflanzten, sodass ihre Zahl und damit ihre Macht rasch zunahmen. Experten vergleichen dies mit den Stechmückenschwärmen in der kanadischen Arktis. »In der Arktis gibt es für sie nicht viele Beutetiere«, sagt Lauren Culler, Entomologin am Institute of Arctic Studies in Dartmouth. »Wenn sie also eines finden, werden sie wild. Sie sind erbarmungslos. Sie hören nicht auf. Es kann vorkommen, dass man innerhalb weniger Sekunden vollständig bedeckt ist.« Je mehr Zeit Rentiere und Karibus darauf verwenden, dem Ansturm der Stechmücken zu entfliehen, desto weniger Zeit bleibt ihnen für Fressen, Wandern oder Sozialverhalten, was zu einem drastischen Rückgang der Populationen führt. Mit bis zu 9000 Stichen pro Minute saugen räuberische Stechmückenschwärme junge Karibus regelrecht aus. Zum Vergleich: In nur zwei Stunden können sie einem erwachsenen Menschen die Hälfte seines Blutes entziehen!
In Bernstein eingeschlossene Exemplare enthalten das Blut von Dinosauriern, infiziert mit zahlreichen von Stechmücken übertragenen Krankheiten, darunter Malaria, ein Vorläufer des Gelbfiebers und mit Würmern, die jenen ähneln, die heute für den Hundeherzwurm und die Elefantiasis beim Menschen verantwortlich sind. In Michael Crichtons Roman Jurassic Park wurde das Dinoblut (und damit die DNS) aus den Gedärmen in Bernstein eingeschlossener Mücken entnommen. Mit einer CRISPR-artigen Technologie wurden künstlich neue, lebendige Dinosaurier geschaffen, um eine lukrative, prähistorische Variante der afrikanischen Löwensafari anbieten zu können. Im Drehbuch zu Steven Spielbergs gleichnamigem Blockbuster aus dem Jahr 1993 steckt nur ein winziger, aber wichtiger Fehler: Die im Film gezeigte Stechmücke ist eine der wenigen Spezies, die zur Fortpflanzung kein Blut benötigt!
Viele der von Stechmücken übertragenen Krankheiten, die Mensch und Tier heute plagen, gab es schon zu Zeiten der Dinosaurier, wo sie mit tödlicher Präzision ganze Populationen dezimierten. Das Blutgefäß eines Tyrannosaurus Rex wies unverkennbare Anzeichen sowohl für Malaria als auch für andere parasitäre Würmer auf, ebenso der Koprolith (versteinerter Dinosaurier-Dung) zahlreicher Spezies. Stechmücken übertragen derzeit 29 verschiedene Formen von Malaria auf Reptilien, wenngleich die Symptome ausbleiben oder erträglich sind, da die Reptilien inzwischen eine Immunität gegen diese uralte Seuche entwickelt haben.
Die Dinosaurier hingegen besaßen einen solchen Schutz nicht, weil die Malaria, als sie sich vor etwa 130 Millionen Jahren dem Team von Stechmücken übertragener Krankheiten anschloss, neu dabei war. »Als die durch Gliederfüßler übertragene Malaria noch eine relativ neue Krankheit war, wirkte sich dies auf die Dinosaurier möglicherweise verheerend aus, bis sich ein gewisser Grad an Immunität einstellte«, spekulieren die Poinars. Als man vor Kurzem einige dieser Krankheiten Chamäleons injizierte, starben sämtliche Versuchstiere. Zwar sind viele solcher Krankheiten nicht generell tödlich, doch wären sie selbst in ihrer heutigen Ausprägung kräftezehrend gewesen. Möglicherweise waren die Dinosaurier krank, langsam oder lethargisch und damit angreifbar und leichte Beute für Fleischfresser.
Die Geschichte verwahrt Ereignisse nicht in säuberlich etikettierten Kisten, da sie sich niemals isoliert zutragen. Vielmehr existieren sie innerhalb eines breiten Spektrums, und Ereignisse beeinflussen und formen sich gegenseitig. Geschichtliche Episoden haben daher in den seltensten Fällen nur eine einzige Grundlage. Die meisten sind Produkt eines wirren Netzes aus Einflüssen und stufenförmigen Ursache-und-Wirkungs-Beziehungen innerhalb eines weiteren historischen Narrativs. Bei der Mücke und ihren Krankheiten ist das nicht anders.
Nehmen wir unser Beispiel vom Niedergang der Dinosaurier. Zwar hat die Theorie eines Aussterbens durch Krankheiten in den letzten zehn Jahren immer mehr Befürworter gefunden, doch hat sie das weithin anerkannte und etablierte Modell des Asteroideneinschlags, der das Antlitz der Erde vollständig veränderte, weder ersetzt noch verdrängt. Auf mehreren wissenschaftlichen Gebieten wurden überzeugende Hinweise auf einen solchen Einschlag gewonnen, der sich vor 65,5 Millionen Jahren westlich von Cancun auf der heutigen Halbinsel Yucatán in Mexiko ereignete und einen Krater von der Größe des US-Bundesstaats Vermont hinterließ.
Der Niedergang der Dinosaurier war da jedoch bereits nicht mehr aufzuhalten. Man nimmt an, dass regional bis zu 70 Prozent der Spezies ausgestorben oder vom Aussterben bedroht waren. Der Asteroideneinschlag, der darauffolgende nukleare Winter und der verheerende Klimawandel waren lediglich der letzte Schlag, der ihr unvermeidliches Verschwinden beschleunigte. Meeresspiegel und Temperaturen fielen, die Lebensbedingungen auf der Erde verschlechterten sich gravierend. Bei den Poinars heißt es dazu weiter: »Ob man nun Katastrophist oder Gradualist ist, so kann man doch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Krankheiten, insbesondere jene, die von unbedeutenden [sic!] Insekten übertragen wurden, eine wichtige Rolle beim Aussterben der Dinosaurier spielten.« Lange vor dem Auftreten des modernen Homo sapiens richtete die Stechmücke Chaos und Verwüstung an und veränderte die Entwicklung des Lebens auf der Erde. Dank ihrer Hilfe bei der Ausrottung der alles beherrschenden Beutetiere konnten die Säugetiere, darunter auch unsere eigenen vormenschlichen Urahnen, entstehen und gedeihen.
Das relativ plötzliche Verschwinden der Dinosaurier gestattete den wenigen benommenen, aber entschlossenen Überlebenden, sich aus der Asche zu erheben und sich in einer finsteren, erbarmungslosen Einöde aus Flächenbränden, Erdbeben, Vulkanen und saurem Regen eine Existenz zu erkämpfen. Diese apokalyptischen Landschaften wurden auch von Legionen wärmesuchender Mücken überflogen. Nach dem Asteroidenaufprall gediehen vor allem kleinere, oft nachtsichtige Tiere. Diese benötigten weniger Nahrung, waren keine wählerischen Esser und mussten nicht länger um ihre Sicherheit fürchten. Zwei Gruppen, die aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit die besten Chancen besaßen zu überleben, sich zu verbreiten und schließlich eine Vielzahl neuer Spezies hervorzubringen, waren die Säugetiere und die Insekten. Eine andere waren die Vögel, die einzigen heute lebenden Tiere, die, so wird angenommen, direkte Nachfahren der Dinosaurier sind. Dank ihres langen und geraden Stammbaums übertrugen die Vögel zahlreiche von Stechmücken übertragene Krankheiten auf eine ganze Reihe anderer tierischer Spezies. Bis heute sind Vögel ein wichtiges Reservoir für zahlreiche von Mücken übertragene Viren, darunter für das West-Nil-Virus und eine Palette verschiedener Enzephalitiden. In diesem Malstrom aus Wiedergeburt, Regeneration und evolutionärer Verbreitung kam es zum bis heute andauernden Krieg zwischen Mensch und Mücke.
Die Dinosaurier starben zwar aus, doch die Insekten, die zu ihrem Niedergang beigetragen hatten, überlebten und brachten uns während unserer gesamten Geschichte Krankheit und Tod. Sie sind die ultimativen Überlebenskünstler. Nach wie vor bilden die Insekten die fruchtbarste und artenreichste Tierklasse auf unserem Planeten, die etwa 57 Prozent aller lebenden Organismen sowie verblüffende 76 Prozent allen tierischen Lebens ausmacht. Verglichen mit den Säugetieren, welche dürftige 35 Prozent aller Spezies stellen, unterstreichen diese Zahlen insgesamt die Bedeutung der Insekten. Rasch wurden sie zu optimalen Wirten für zahllose Bakterien, Viren und Parasiten. Ihre schiere Anzahl und Vielfalt bot diesen Mikroorganismen höhere Chancen einer fortdauernden Existenz.
Die natürliche Krankheitsübertragung von Tieren auf Menschen wird als Zoonose (vom altgriechischen »Tier« und »Krankheit«), allgemein auch als Spill-over bezeichnet. Derzeit ist die Zoonose für 75 Prozent aller menschlichen Krankheiten verantwortlich, Tendenz steigend. Die Gruppe, die in den vergangenen 50 Jahren den steilsten Anstieg verzeichnete, sind die Arboviren. Dabei handelt es sich um Viren, die von Arthropoden wie Zecken, Wanzen oder Stechmücken übertragen werden. Im Jahr 1930 waren nur sechs solcher Viren als Krankheitserreger beim Menschen bekannt, wovon das Gelbfiebervirus mit Abstand das tödlichste war. Heute sind es 505. Viele ältere Viren haben inzwischen eine formelle Bezeichnung erhalten, und neue, darunter das West-Nil-Virus und das Zikavirus, schafften den Sprung vom tierischen zum menschlichen Wirt mithilfe eines Insekts, in unserem Falle der Stechmücke.
Aufgrund unserer genetischen Ähnlichkeiten teilen wir uns 20 Prozent unserer Krankheiten mit unseren Vettern, den Menschenaffen, bei denen wir uns unter Mithilfe von Überträgern wie der Stechmücke auch anstecken können. Die Mücke und ihre Krankheiten haben uns während unserer gesamten Evolution mit geschickter darwinscher Präzision geplagt. Fossilfunde deuten darauf hin, dass eine frühe Form des Malariaparasiten, der erstmals vor etwa 130 Millionen Jahren bei Vögeln auftrat, vor 6 bis 8 Millionen Jahren auch schon unsere ersten menschlichen Urahnen plagte. Genau zu dieser Zeit hatten Frühmenschen und Schimpansen – mit 96 Prozent identischer DNS unsere engsten Verwandten – ihren letzten gemeinsamen Vorfahren. Ab diesem Punkt verlief die Entwicklung von Mensch und Menschenaffe getrennt.9
Unser gemeinsamer Malariaparasit jedoch überschattet bis heute beide evolutionäre Linien, die des Menschen und die der Menschenaffen. Es gibt Theorien, nach denen der Mensch deshalb nach und nach sein dickes Fell ablegte, weil es ihm in der afrikanischen Savanne zu heiß war und er gleichzeitig besser gegen Körperparasiten und Stechinsekten vorgehen konnte. »Malaria, die älteste und insgesamt tödlichste aller menschlichen Infektionskrankheiten, begleitet uns seit unserer Frühgeschichte«, betont der Historiker James Webb in seinem Buch Humanity’s Burden, worin er einen umfassenden Überblick über die Krankheit bietet. »Malaria ist eine uralte und eine moderne Geißel. Lange Zeit hinterließ sie kaum Spuren. Wir erkrankten an ihr in frühen Epochen, lange bevor wir in der Lage waren, unsere Erlebnisse festzuhalten. Selbst in jüngeren Jahrtausenden bleibt sie in vielen historischen Berichten unerwähnt, da sie als gewöhnliche Krankheit offenbar kaum Beachtung fand. Zu anderen Zeiten haben Malariaepidemien die Landschaften der Weltgeschichte gewaltsam überzogen und Tod und Leid hinterlassen.« W. D. Tiggert, ein früher Malariologe am Walter Reed Army Medical Center, beklagt: »Wie das Wetter scheint auch die Malaria stets ein Begleiter der menschlichen Rasse gewesen zu sein, und, wie es Mark Twain so schön über das Wetter sagt, hat man offenbar herzlich wenig dagegen getan.« Verglichen mit den Mücken und der Malaria ist der Homo sapiens ein Neuling der darwinschen Nachbarschaft. Es besteht allgemein Einigkeit darüber, dass unser rascher Aufstieg als »einsichtiger Mensch« erst vor etwa 200 000 Jahren begann.10 Auf jeden Fall sind wir eine relativ junge Spezies.
Um den wachsenden Einfluss der Stechmücke auf Geschichte und Menschheit zu begreifen, ist es notwendig, zunächst das Tier selbst und die von ihm verbreiteten Krankheiten näher zu betrachten. Ich bin weder Entomologe noch Malariologe oder Tropenmediziner. Noch bin ich einer jener zahllosen unbesungenen Helden, die in den Schützengräben des andauernden medizinischen und wissenschaftlichen Krieges gegen die Mücke kämpfen. Ich bin Historiker. Die komplizierten wissenschaftlichen Erklärungen der Stechmücke und ihrer Pathogene überlasse ich daher besser den Experten. Der Entomologe Andrew Spielman etwa gibt uns folgenden Rat: »Um den gesundheitlichen Bedrohungen zu begegnen, die in vielen Teilen der Welt zunehmen, müssen wir die Stechmücke und ihren Platz in der Natur genau kennen. Wichtiger noch ist, die vielen Facetten unserer langen Beziehung zu diesem winzigen, unscheinbaren Insekt zu verstehen und unser langes, historisches Ringen um eine Koexistenz auf diesem Planeten zu würdigen.« Um diese Geschichte angemessen würdigen zu können, müssen wir jedoch zuerst wissen, mit wem wir es überhaupt zu tun haben. Um aus Sunzis im 6. Jahrhundert v. Chr. verfassten zeitlosen Werk Die Kunst des Krieges zu zitieren: »Du musst deinen Feind kennen.«
Ein altbekanntes Zitat, welches irrtümlicherweise Charles Darwin zugeschrieben wird, lautet: »Nicht der Stärkste einer Spezies überlebt, auch nicht der Intelligenteste, sondern derjenige, der sich am besten an Veränderungen anpassen kann.« Ganz gleich, woher diese Passage auch stammt (in den Veröffentlichungen Darwins taucht sie jedenfalls nirgendwo auf), so sind die Stechmücke und ihre Krankheiten, allen voran die Malariaparasiten, das beste Beispiel dafür. Stechmücken sind in der Lage, sich innerhalb weniger Generationen auf veränderte Umweltbedingungen einzustellen. Während des deutschen »Blitzkriegs« von 1940 und 1941 etwa, als ein Bombenregen auf London niederging, waren isolierte Populationen von Culexmücken zusammen mit den tapferen Bürgern der Stadt in den Tunneln der U-Bahn eingesperrt, welche als Luftschutzkeller genutzt wurden. Diese gefangenen Stechmücken passten sich der neuen Lage rasch an und stachen – statt wie bisher Vögel – nun Mäuse, Ratten und Menschen. Heute bilden sie eine Spezies, die sich von ihren überirdischen Vorfahren klar unterscheidet. Was eigentlich Tausende Jahre der Evolution hätte dauern sollen, gelangte diesen im Untergrund wirkenden Pionieren in weniger als 100 Jahren. »Noch einmal hundert Jahre, dann gibt es in den Tunneln unter London vielleicht verschiedene Spezies der Circle Line, Metropolitan Line und Jubilee Line«, scherzt Richard Jones, der ehemalige Präsident der British Entomological and Natural History Society.
Die Mücke ist nicht nur eine erstaunlich anpassungsfähige, sondern auch eine äußerst narzisstische Kreatur. Im Gegensatz zu anderen Insekten bestäubt sie weder Pflanzen noch lockert sie den Boden oder ernährt sich von Abfällen. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung dient sie auch nicht anderen Tieren als unverzichtbare Nahrungsquelle. Ihr einziger Lebenszweck ist die Vermehrung der eigenen Spezies – und vielleicht das Töten von Menschen. Als ärgstem Feind in unserer gesamten Geschichte kommt ihr im Rahmen unserer Beziehung offenbar die Rolle einer Gegenmaßnahme zu, und zwar gegen ein unkontrolliertes menschliches Bevölkerungswachstum.
Im Jahr 1798 veröffentlichte der englische Kleriker und Gelehrte Thomas Malthus sein bahnbrechendes Werk An Essay on the Principle of Population