Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «When Einstein Walked With Gödel» bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«When Einstein Walked With Gödel: Excursions to the Edge of Thought» Copyright © 2018 by Jim Holt

Published by arrangement with Farrar, Straus and Giroux, New York

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Leonard McCombe/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00250-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00250-0

Die Essays in diesem Buch wurden im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte verfasst. Ich habe sie unter drei Gesichtspunkten ausgewählt.

Erstens aufgrund von Tiefe, Kraft und Schönheit der Ideen, die sie vermitteln. Einsteins Relativitätstheorie (die spezielle wie die allgemeine), Quantenmechanik, Gruppentheorie, Unendlichkeit und das Infinitesimale, Turings Berechenbarkeitstheorie und das «Entscheidungsproblem», Gödels Unvollständigkeitssätze, Primzahlen und die Riemann’sche Vermutung, Kategorientheorie, Topologie, höhere Dimensionen, Fraktale, statistische Regression und die «Glockenkurve», die Wahrheitstheorie – sie alle gehören zu den aufregendsten (und Demut lehrenden) intellektuellen Leistungen, auf die ich im Lauf meines Lebens gestoßen bin. Und sie alle werden in diesen Essays erläutert. Als Ideal schwebt mir eine Cocktailparty-Unterhaltung vor: einem interessierten Freund eine tiefgründige Idee in amüsanter und anregender Weise verständlich zu machen, indem man sie auf das Wesentliche reduziert (vielleicht mit ein paar raschen Bleistiftstrichen auf einer Serviette). Ziel ist es, den Neuling aufzuklären und dem Ganzen gleichzeitig eine neuartige Wendung zu geben, die auch dem Experten Spaß macht. Und niemals zu langweilen.

Mein zweiter Gesichtspunkt ist der menschliche Faktor. All diese Ideen stammen von Menschen aus Fleisch und Blut, die ein höchst dramatisches Leben führten. Oft enthielt dieses Leben ein absurdes Element. Der Schöpfer der modernen Statistik (und Urheber

Mein dritter Gesichtspunkt bei der Zusammenstellung dieser Essays ist philosophischer Natur. Die Ideen, die sie darlegen, beruhen ganz entscheidend auf unserem allgemeingültigsten Konzept

Beginnen wir mit der Metaphysik. Die Vorstellung des unendlich Kleinen – des Infinitesimalen – wirft die Frage auf, ob die Wirklichkeit eher einem Fass mit Sirup (kontinuierlich) oder einem Haufen Sand (diskret) ähnelt. Einsteins Relativitätstheorie stellt entweder eine Herausforderung für unsere Vorstellung von Zeit dar oder zerstört sie – falls wir Gödels genialer Begründung folgen – vollständig. Quantenverschränkung hinterfragt die Realität des Raumes und eröffnet die Möglichkeit, dass wir in einem «holistischen» Universum leben. Turings Berechenbarkeitstheorie zwingt uns, neu darüber nachzudenken, wie Geist und Bewusstsein aus Materie erwachsen.

Und dann ist da die Erkenntnistheorie (Epistemologie). Die meisten großen Mathematiker nehmen für sich Einblicke in ein ewiges Reich abstrakter Formen in Anspruch, die über die gewöhnliche Welt, in der wir leben, hinausgehen. Wie interagieren sie mit dieser angenommenen «platonischen» Welt, um mathematische Erkenntnis zu gewinnen? Oder könnte es sein, dass sie sich radikal irren – dass die Mathematik, trotz all ihrer Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit, letztlich auf eine bloße Tautologie hinausläuft, wie die Aussage «Eine braune Kuh ist eine Kuh»? Um dieses Thema anschaulich zu machen, nähere ich mich ihm auf neuartige Weise, indem ich überlege, was allgemein als das größte ungelöste Rätsel in der Mathematik gilt, die Riemann’sche Vermutung.

Auch Physiker machen sich romantische Vorstellungen darüber, wie sie zur Erkenntnis gelangen. Wenn sie nicht über harte experimentelle/empirische Belege verfügen, auf die sie bauen können, stützen sie sich auf ihre ästhetische Intuition – auf das, was der Nobelpreisträger Steven Weinberg, ganz ohne rot zu werden, ihr «Schönheitsgefühl» nennt. Diese «Schönheit = Wahrheit»-Gleichung hat Physikern über einen großen Teil des vorigen Jahrhunderts gute Dienste geleistet.

Und schließlich Ethik. Diese Essays berühren in vielerlei Weise die Lebensführung. Die Eugenikprogramme in Europa und in den Vereinigten Staaten, befördert von Sir Francis Galtons theoretischen Spekulationen, illustrieren auf grausige Weise, wie die Naturwissenschaft die Ethik pervertieren kann. Die fortlaufende Veränderung unserer Lebensgewohnheiten durch die Computerisierung sollte uns veranlassen, gründlich über das Wesen des Glücklichseins und der kreativen Erfüllung nachzudenken (wie ich es hier in «Klüger, glücklicher, produktiver» tue). Und die Allgegenwart des Leidens in unserer Welt wirft die Frage auf, wo – falls überhaupt – die Grenzen der Forderungen liegen, die diese Moralität uns auferlegt (wie ich es in «Über moralische Heiligkeit» tue).

Der letzte Essay in diesem Band, «Egal was man sagt», beginnt mit einer Analyse von Harry Frankfurts berühmter Charakterisierung des Dummschwätzers als jemandem, der der Wahrheit nicht feindselig gegenübersteht, sondern dem sie einfach gleichgültig ist. Dann erweitert er das Bild, indem er betrachtet, wie Philosophen – irrigerweise? – über Wahrheit als «Korrespondenz» zwischen Sprache und der Welt gesprochen haben. In leicht spielerischer Weise schlägt dieser Artikel eine Brücke zwischen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik und verleiht dem Buch eine Geschlossenheit, die, so hoffe ich, nicht gänzlich trügerisch ist.

Und damit ich nicht der Inkonsequenz bezichtigt werde, lassen Sie mich (vermessen selbstbewusst?) der Überzeugung Ausdruck geben, dass das «Kopernikanische Prinzip», «Gödels Unvollständigkeitssatz», «Heisenbergs Unschärferelation», «Newcombs Problem» und das «Monty-Hall-Problem» allesamt Ausnahmen von Stiglers Gesetz der Deonyme darstellen (siehe Seite 399ff.).

Jim Holt

New York City, 2017

Das sich wandelnde Bild der Ewigkeit

Als Einstein mit Gödel spazieren ging

Im Jahr 1933, als seine großen Entdeckungen schon eine ganze Weile hinter ihm lagen, kam Albert Einstein nach Amerika. Die letzten 22 Jahre seines Lebens verbrachte er in Princeton, New Jersey, wo er der Star des Institute for Advanced Study war. Einstein fühlte sich in seinem neuen Umfeld einigermaßen wohl und ging mit dessen Ansprüchen locker um. «Princeton ist ein wundervolles Stückchen Erde und dabei ein ungemein drolliges zeremonielles Krähwinkel winziger stelzbeiniger Halbgötter», meinte er einmal in einem Brief an Königin Elisabeth von Belgien. Sein Tag begann üblicherweise mit einem gemächlichen Spaziergang von seinem Haus in 112 Mercer Street zu seinem Arbeitszimmer im Institut. Er war damals einer der berühmtesten und dank seines charakteristischen Äußeren – dem zerzausten Haar und den ausgebeulten, von Hosenträgern gehaltenen Hosen – auch wohl bekanntesten Menschen der Welt.

Zehn Jahre nach seiner Ankunft in Princeton gewann Einstein auf seinen Spaziergängen einen Begleiter, einen viel jüngeren Mann, der in seinem weißen Leinenanzug und passendem weichen Filzhut neben dem nachlässig gekleideten Einstein eine elegante Figur machte. Die beiden unterhielten sich beim morgendlichen Schlendern zum Institut und später am Tag auf ihrem Weg zurück nach Hause angeregt auf Deutsch. Der Mann im Anzug wäre von vielen Bewohnern der Kleinstadt wohl nicht erkannt worden, doch Einstein sah in ihm einen Ebenbürtigen, jemanden, der wie er im Alleingang eine konzeptuelle Revolution in die Wege geleitet hatte. Wenn

Gödel, der oft als größter Logiker seit Aristoteles bezeichnet worden ist, war ein seltsamer und letztlich tragischer Mensch. Während Einstein gesellig war und gern lachte, war Gödel ernst, einzelgängerisch und pessimistisch. Einstein, ein passionierter Geigenspieler, liebte Beethoven und Mozart. Gödels Geschmack bewegte sich in ganz anderen Bahnen: Sein Lieblingsfilm war Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge, und als seine Frau einen rosafarbenen Flamingo im Vorgarten aufstellte, fand er den Vogel «furchtbar herzig». Einstein liebte herzhaftes deutsches Essen und griff tüchtig zu; der Hypochonder Gödel ernährte sich ausschließlich von Butter, Babynahrung und Abführmitteln. Und auch wenn Einsteins Privatleben nicht unkompliziert war, gab er sich nach außen heiter und weltoffen. Gödel zeigte hingegen eine Tendenz zur Paranoia. Er glaubte an Geister und hatte eine morbide Furcht davor, von aus dem Kühlschrank ausströmenden Gasen vergiftet zu werden; er weigerte sich, das Haus zu verlassen, wenn gewisse renommierte Mathematiker in der Stadt waren, offenbar aus Angst, sie könnten versuchen, ihn zu töten. «Chaos ist nur ein falscher Eindruck», behauptete er – der wichtigste Glaubenssatz eines Paranoikers.

Auch wenn andere Mitglieder des Instituts den pessimistischen Logiker rätselhaft und unnahbar fanden, erzählte Einstein den Leuten, er komme nur deshalb ins Institut, «um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen». Das lag wohl zum Teil daran, dass sich Gödel von Einsteins Reputation nicht schrecken ließ und nicht zögerte, dessen Ideen in Frage zu stellen. Wie ein anderes Mitglied des Instituts, der Physiker Freeman Dyson, einmal meinte: «Gödel war … der Einzige von uns, der sich mit Einstein auf gleicher Augenhöhe bewegte.» Aber auch wenn Einstein und Gödel anscheinend auf einer höheren Ebene als der Rest der Menschheit

Und die Leute fragten sich, worüber sie wohl sprachen. Vermutlich war Politik eines ihrer Themen. (Einstein, der Adlai Stevenson unterstützte, war aufgebracht, als Gödel sich entschied, 1952 für Dwight D. Eisenhower zu stimmen.) Physik war zweifellos ein weiteres Thema. Gödel kannte sich auf diesem Gebiet gut aus; er teilte Einsteins Misstrauen gegenüber der Quantentheorie, doch auch dem Ehrgeiz des älteren Physikers, sie durch eine «vereinheitlichte Feldtheorie» zu ersetzen, die alle bekannten Kräfte in einem deterministischen Rahmen zusammenführen würde, stand er skeptisch gegenüber. Beide fühlten sich zu Problemen hingezogen, die nach Einsteins Worten «von wirklicher Bedeutung» waren, Probleme, die die grundlegendsten Elemente der Realität betrafen. Gödel interessierte sich besonders für das Wesen der Zeit, denn, so vertraute er einem Freund an, das sei die philosophische Frage. Was war «jenes rätselhafte und scheinbar in sich widerspruchsvolle Etwas, das doch die Existenz der Welt und unserer selbst bildet», fragte er sich. Das war ein Thema, auf dem Einstein eine gewisse Expertise vorzuweisen hatte.

Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1905, hatte Einstein gezeigt, dass Zeit, wie sie von Wissenschaftlern wie auch Laien bis dato verstanden

Jedes dieser Probleme besaß das Potenzial, das zu enthüllen, was Einstein für die grundlegende Einfachheit der Natur ansah. Auf sich gestellt, ohne Anschluss an die wissenschaftliche Gemeinschaft, gelang es dem kleinen Patentamt-Angestellten rasch, alle drei Probleme zu lösen. Seine Ergebnisse präsentierte er in vier wissenschaftlichen Artikeln, die er im März, April, Mai und Juni 1905 veröffentlichte. In seinem März-Artikel über den photoelektrischen Effekt legte er dar, dass Licht aus diskreten Teilchen besteht, die später den Namen «Photonen» erhielten. In seinen Artikeln von April und Mai bewies er ein für alle Male die Existenz von Atomen, lieferte eine theoretische Abschätzung ihrer Größe und legte dar, wie ihr Aneinanderstoßen die Brown’sche Bewegung hervorrief. In seinem Juni-Artikel über das Äther-Problem stellte er seine Theorie der

All diese Artikel hatten etwas Magisches an sich und zerstörten einige in der Gemeinschaft der Physiker tief verwurzelte Überzeugungen. Was Reichweite und Kühnheit anging, stach Einsteins Juni-Artikel jedoch heraus. Auf 30 Seiten schrieb er die Gesetze der Physik knapp und bündig vollständig um. Er begann mit zwei einfachen Prinzipien. Erstens sind die Gesetze der Physik absolut: Für alle Beobachter müssen dieselben Gesetze gelten. Zweitens ist die Lichtgeschwindigkeit absolut; sie ist ebenfalls für alle Beobachter identisch. Das zweite Prinzip ist zwar weniger offensichtlich, folgt aber der gleichen Art von Logik. Da Licht eine elektromagnetische Welle ist (was seit dem 19. Jahrhundert bekannt war), ist seine Geschwindigkeit durch die Gesetze des Elektromagnetismus festgelegt; diese Gesetze sollten für alle Beobachter identisch sein, und daher sollte jedermann sehen, dass sich das Licht mit derselben Geschwindigkeit bewegt, ganz unabhängig vom Bezugssystem. Dennoch war es kühn von Einstein, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu postulieren, denn dies führte zu scheinbar absurden Konsequenzen.

Stellen wir uns vor – um die Sache einfacher zu machen –, dass die Lichtgeschwindigkeit 100 Meilen pro Stunde beträgt. Nun stehe ich am Straßenrand und sehe einen Lichtstrahl mit dieser Geschwindigkeit vorbeisausen. Und dann sehe ich, wie Sie mit Ihrem Wagen diesem Lichtstrahl mit 60 Meilen pro Stunde hinterherjagen. Für mich sieht es so aus, als sei der Lichtstrahl 40 Meilen pro Stunde schneller als Sie. Aber für Sie im Inneren Ihres Wagens eilt der Lichtstrahl Ihnen noch immer mit einer Geschwindigkeit von 100 Meilen davon, genauso, wie es der Fall wäre, wenn Sie stillstehen würden: Das fordert das Prinzip der konstanten Lichtgeschwindigkeit. Was ist aber, wenn Sie kräftig Gas geben und auf 99 Meilen pro Stunde beschleunigen? Nun sehe ich, dass der Lichtstrahl nur noch 1 Meile pro Stunde schneller ist als Sie. Doch für Sie im Wageninneren saust

Das Überraschendste war dabei der Verzicht auf die absolute Zeit. Newton hielt die Zeit für objektiv, universell und allen natürlichen Phänomenen übergeordnet: «Der Fluss der absoluten Zeit kann sich nicht ändern», erklärte er zu Beginn seiner Principia. Einstein erkannte jedoch, dass unsere Vorstellung von Zeit eine Abstraktion ist, die wir aus unserer Erfahrung mit rhythmischen Phänomenen ableiten: Herzschlag, Planetenumdrehungen und -umläufen, dem Ticken von Uhren. Zeitliche Beurteilungen lassen sich stets auf Beurteilungen von Gleichzeitigkeit zurückführen: «Wenn ich zum Beispiel sage: ‹Jener Zug kommt hier um 7 Uhr an›, so heißt dies in etwa: ‹Das Zeigen des kleinen Zeigers meiner Uhr auf 7 und das Ankommen des Zuges sind gleichzeitige Ereignisse›», schrieb Einstein in seinem Juni-Artikel. Wenn sich die fraglichen Ereignisse in einiger Entfernung voneinander abspielen, lässt sich die Gleichzeitigkeit nur durch Aussenden von Lichtsignalen hin und zurück beurteilen. Auf diesen beiden grundlegenden Prinzipien aufbauend, bewies Einstein, dass es vom Bewegungszustand des Beobachters abhängt, ob er zwei Ereignisse als «gleichzeitig» ansieht oder nicht. Mit anderen Worten gibt es kein universelles Jetzt. Bei unterschiedlichen Beobachtern, die die Zeitlandschaft (time scape) auf unterschiedliche Weise in «Vergangenheit», «Gegenwart» und «Zukunft»

Einsteins Schlussfolgerungen waren das Ergebnis eines reinen Gedankenexperiments, das von einem Minimum an Voraussetzungen über die Natur ausgeht. Seitdem ist mehr als ein Jahrhundert vergangen, und in diesem Zeitraum sind seine Schlussfolgerungen durch zahllose Experimente präzise bestätigt worden. Als Einstein seinen Juni-Artikel über Relativität als Doktorarbeit einreichte, wurde der Antrag jedoch abgelehnt. (Daraufhin reichte er seinen April-Artikel über die Größe des Atoms ein, der die Prüfer seiner Ansicht nach wohl weniger erschrecken würde, und dieser wurde tatsächlich akzeptiert, jedoch erst, als Einstein einen Satz hinzugefügt hatte, um die vorgeschriebene Mindestlänge zu erreichen.) Als Einstein 1921 den Nobelpreis für Physik erhielt, geschah dies für seine Erklärung des Photoeffekts. Die Schwedische Akademie untersagte ihm zugleich jede Erwähnung der Relativität in seiner Dankesrede. Wie es der Zufall wollte, konnte Einstein an der Verleihungszeremonie in Stockholm nicht teilnehmen. Er hielt seine Nobel-Vorlesung ihn Göteborg, und König Gustav V. saß in der ersten Reihe. Der König wollte etwas über Relativität erfahren, und Einstein ließ sich nicht lange bitten.

*

1906, ein Jahr nach Einsteins annus mirabilis, wurde Kurt Gödel in Brünn (heute Tschechien) geboren. Kurt war ein ebenso neugieriges – sein älterer Bruder gab ihm den Spitznamen Herr Warum – wie nervöses Kind. Im Alter von fünf Jahren erlitt er anscheinend eine leichte Angstneurose. Mit acht Jahren hatte er einen schweren rheumatischen Fieberanfall, der bei ihm zur lebenslangen Überzeugung führte, sein Herz sei irreparabel geschädigt.

1924 schrieb sich Gödel an der Universität Wien ein. Er beabsichtigte Physik zu studieren, ließ sich aber bald von der Schönheit der

Gödel wurde von einem seiner Professoren in den Wiener Kreis eingeführt, doch er schwieg über seine platonischen Ansichten. Da er sehr gründlich war und gleichzeitig Kontroversen scheute, hatte er eine Abneigung dagegen, seine Überzeugungen zu diskutieren, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie eindeutig zu beweisen. Aber wie ließ sich zeigen, dass sich Mathematik nicht auf die Kunstgriffe der Logik reduzieren ließ? Gödels Strategie – die von außerordentlicher Klugheit und «atemberaubender Schönheit» war, so die Philosophin Rebecca Goldstein – bestand darin, Logik als Waffe gegen sich selbst einzusetzen. Ausgehend von einem logischen System für die Mathematik, das angeblich widerspruchsfrei war, entwickelte er ein einfallsreiches Schema, das den darin enthaltenen Formeln eine Art Doppelzüngigkeit erlaubte. Eine Formel, die etwas über Zahlen aussagte, konnte in diesem Schema auch so interpretiert werden, als sage sie etwas über andere Formeln und ihre logische

Wittgenstein behauptete einst, in der Logik könne es keine Überraschungen geben. Aber Gödels Unvollständigkeitssätze waren eine Überraschung. Als der junge Logiker sie 1930 auf einer Konferenz in der Stadt Königsberg vorstellte, konnte sich tatsächlich fast niemand der Anwesenden einen Reim darauf machen. Was konnte es bedeuten zu erklären, dass eine mathematische Aussage wahr ist, wenn es keine Möglichkeit gab, dies zu beweisen? Schon die reine Vorstellung erschien absurd. Selbst der große Logiker Bertrand Russell reagierte

Gödel sah sein Ergebnis hingegen ganz anders. Er meinte bewiesen zu haben, dass die Mathematik eine robuste Realität besitzt, die jedes logische System überschreitet. Aber Logik, davon war er überzeugt, ist nicht der einzige Weg, um die Wirklichkeit zu erkennen; wir verfügen auch über so etwas wie eine extrasensorische Wahrnehmung der Realität, die er als «mathematische Intuition» bezeichnete. Diese intuitive Fähigkeit erlaubt uns beispielsweise zu sehen, dass die Formel, die besagt «Ich bin nicht beweisbar», wahr sein muss, selbst wenn sie innerhalb des Systems, in dem sie existiert, nicht bewiesen werden kann. Einige Denker (wie der Physiker Roger Penrose) haben dieses Thema weitergesponnen und behauptet, Gödels Unvollständigkeitssätze hätten tiefgreifende Implikationen für das Wesen des menschlichen Geistes. Unsere geistigen Kräfte, so die Argumentation, müssen die eines jeden Computers übertreffen, denn ein Computer ist lediglich ein logisches System, das auf einer Hardware läuft, während unser Geist Wahrheiten erkennen kann, die jenseits des Verständnisses eines logischen Systems liegen.

Gödel war 24 Jahre alt, als er seine Unvollständigkeitssätze bewies (etwas jünger als Einstein, als dieser die Relativitätstheorie schuf). Damals umwarb er sehr zum Missfallen seiner Eltern eine ältere geschiedene Katholikin namens Adele, die, um alldem die

Auch wenn Gödel in der Öffentlichkeit noch immer kaum bekannt war, hatte er unter Experten einen geradezu göttergleichen Status. «Dort stand es, unfassbar, K. Goedel, aufgeführt wie jeder andere Name in dem leuchtend orangefarbenen Telefonbuch der Gemeinde Princeton», schreibt Rebecca Goldstein Anfang der 1970er Jahre als Studentin der Philosophie in ihrer geistesgeschichtlichen Biographie Incompleteness: The Proof and Paradox of Kurt Gödel (2005) (Kurt Gödel: Jahrhundertmathematiker und großer Entdecker). «Es war, als öffne man das örtliche Telefonbuch und finde dort Namen wie B. Spinoza oder I. Newton.» Später beschreibt sie, wie sie «den Philosophen Richard Rory einmal wie in Trance in Davidson’s Lebensmittelmarkt antraf. Er erzählte mir mit Flüsterstimme, er habe gerade Gödel im Gang für Tiefkühlkost gesehen.»

Etwa um dieselbe Zeit, als Gödel die amerikanische Verfassung studierte, schaute er sich auch Einsteins Relativitätstheorie genauer an. Das Schlüsselprinzip der Relativität ist, dass die Gesetze der Physik für alle Beobachter identisch sein sollten. Als Einstein dieses Prinzip in seiner revolutionären Arbeit 1905 erstmals formulierte, beschränkte er «alle Beobachter» auf solche, die sich relativ zueinander gleichförmig bewegten – das heißt auf gerader Linie und mit konstanter Geschwindigkeit. Bald erkannte er jedoch, dass diese Einschränkung willkürlich war. Wenn die Gesetze der Physik eine wirklich objektive Beschreibung der Natur liefern sollten, mussten sie auch für Beobachter gelten, die sich in beliebiger Weise relativ zueinander bewegten – sich drehend, sich beschleunigend, sich schraubenförmig bewegend. Daher machte Einstein den Schritt von seiner «speziellen» Relativitätstheorie von 1905 zu seiner «allgemeinen» Relativitätstheorie, deren Gleichungen er im Lauf des nächsten Jahrzehnts ausarbeitete und 1916 veröffentlichte. Was diese Gleichungen so leistungsfähig machte, war die Tatsache, dass sie die Gravitation erklärten, also die Kraft, die die Gestalt des Kosmos bestimmt.

Jahrzehnte später hatte Gödel auf seinen Spaziergängen mit Einstein das Privileg, dass ihm die Feinheiten der Relativitätstheorie

Gödel war auf die Möglichkeit einer bis dato unvorstellbaren Art von Universum gestoßen. Die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich auf unterschiedliche Weise lösen. Tatsächlich repräsentiert jede Lösung ein Modell, wie das Universum aussehen könnte. Einstein, der aus philosophischen Gründen daran festhielt, dass das Universum ewig und unveränderlich war, hatte an seinen Gleichungen herumgebastelt, bis sie ein solches Modell ergaben – ein Schachzug, den er später als «meinen größten Fehler» bezeichnete. Ein anderer Physiker (zufällig ein jesuitischer Priester) fand eine Lösung, die mit einem sich ausdehnenden Universum korrespondierte, das zu einem bestimmten Augenblick in der endlichen Vergangenheit geboren worden war. Da diese Lösung, die später als Urknall-Modell (Big-Bang-Theorie) bekannt werden sollte, mit den Beobachtungen der Astronomen übereinstimmte, schien es dasjenige zu sein, das den aktuellen Kosmos beschrieb.

Doch Gödel fand eine dritte Art von Lösung für Einsteins Gleichungen, eine, in der das Universum nicht expandierte, sondern rotierte. (Die Zentrifugalkraft, die aus dieser Rotation erwuchs, verhinderte, dass alles unter dem Einfluss der Schwerkraft kollabierte.)

Einstein war nicht wirklich begeistert von der Nachricht, dass seine Gleichungen etwas Alice-im-Wunderland-Ähnliches erlaubten – räumliche Wege, die sich rückwärts in der Zeit krümmten; tatsächlich gestand er, dass Gödels Universum ihn verstöre. Andere Physiker staunten, dass Zeitreisen, die zuvor nur als Stoff für Science-Fiction gegolten hatten, offenbar mit den Gesetzen der Physik vereinbar waren. (Dann begannen sie, sich darüber Sorgen zu machen, was passieren würde, wenn man sich in die Zeit vor seiner Geburt zurückbegäbe und den eigenen Großvater tötete …) Gödel selbst zog einen anderen Schluss. Wenn Zeitreisen möglich sind, argumentierte er, dann ist Zeit selbst eine Unmöglichkeit. Eine Vergangenheit, die man erneut aufsuchen kann, ist nicht wirklich vergangen. Und die Tatsache, dass das aktuelle Universum expandiert, statt zu rotieren, ist dabei irrelevant. Wie Gott ist die Zeit entweder notwendig oder sie ist nichts; wenn sie in einem möglichen Universum verschwindet, ist sie in jedem möglichen Universum obsolet, einschließlich unserem eigenen.

Einstein nahm Gödels seltsames kosmologisches Geschenk zu einem trüben Zeitpunkt in seinem Leben entgegen. Seine Gralssuche nach einer vereinheitlichten Theorie der Physik erwies sich als fruchtlos, und seine Ablehnung der Quantentheorie entfremdete ihn dem Mainstream der Physik. Und die Familie bot wenig Trost. Seine beiden Ehen waren gescheitert; eine uneheliche Tochter hinterließ in der Geschichte offenbar keine Spuren, von seinen beiden

Nach Einsteins Tod vereinsamte Gödel noch stärker. Er führte Unterhaltungen fast nur noch übers Telefon, selbst wenn sein Gesprächspartner nicht mehr als ein paar Schritte entfernt war. Wenn es ihm besonders wichtig war, jemandem aus dem Weg zu gehen, verabredete er sich mit ihm zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und sorgte dafür, dass er irgendwo ganz weit weg war. Die Ehrungen, mit denen die Welt ihn auszeichnen wollte, nahm er zurückhaltend entgegen. Er war 1953 in Harvard erschienen, um die Ehrendoktorwürde für seine Unvollständigkeitssätze in Empfang zu nehmen, die als wichtigste mathematische Entdeckung der vorangegangenen 100 Jahre gepriesen wurden, doch später beschwerte er sich, er sei «ganz unverdientermaßen in die höchst kriegerische Gesellschaft gezwungen» worden; gemeint war John Foster Dulles, der gleichzeitig geehrt wurde. Als er 1974 mit der National Medal of Science ausgezeichnet wurde, weigerte er sich, nach Washington zu reisen und Gerald Ford im Weißen Haus zu treffen, obgleich man ihm einen Chauffeur für ihn und seine Frau anbot. Er hatte halluzinatorische Episoden und sprach dunkel von gewissen Kräften, die in der Welt am Werk seien und «die das Gute direkt unterdrücken». Da er eine Verschwörung fürchtete, ihn zu vergiften, weigerte er sich hartnäckig zu essen. Schließlich, als er «wie ein lebender Leichnam» (so ein Freund) aussah, wurde er ins Princeton Hospital eingeliefert. Dort starb er zwei Wochen später, am

Die letzten Jahre von Gödel wie auch Einstein waren durch eine gewisse Aussichtslosigkeit gekennzeichnet. Am aussichtslosesten war jedoch vielleicht ihr eigensinniger Glaube an die Nichtexistenz der Zeit. Die Versuchung war verständlich. Wenn die Zeit nur in unseren Köpfen existiert, können wir vielleicht hoffen, ihr in eine zeitlose Ewigkeit zu entkommen. Dann könnten wir wie William Blake sagen: «Ich sehe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die vor mir bestanden haben.» In Gödels Fall war es möglicherweise die Angst vor einem schwergeschädigten Herzen, die ihn seit seiner Kindheit verfolgte und ihn mit der Vorstellung von einem zeitlosen Universum liebäugeln ließ. Gegen Ende seines Lebens erzählte er einem Vertrauten, er habe lange auf eine Erleuchtung gehofft, die ihn die Welt in einem neuen Licht sehen lasse, die aber nie gekommen war.

Auch Einstein konnte sich nicht vollständig von dem Begriff der Zeit lösen. «Für diejenigen von uns, die an die Physik glauben», schrieb er an die Witwe eines Freundes, der kurz zuvor gestorben war, «ist diese Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Illusion, wenn auch eine besonders hartnäckige.» Als er einige Wochen später selbst im Sterben lag, sagte er: «Es ist Zeit zu gehen.»

Zeit – die große Illusion?

Isaac Newton hatte eine seltsame Vorstellung von Zeit. Er sah in ihr eine Art kosmischer Standuhr, die in heiterer Autonomie über dem Rest der Natur schwebt. Und er glaubte, dass die Zeit glatt und kontinuierlich von der Vergangenheit in die Zukunft fortschreitet. «Die absolute, wahre mathematische Zeit verfließt gleichförmig und ohne Beziehung zu einem Gegenstand», erklärte Newton zu Beginn seiner Principia. Denjenigen, die im zeitlichen Fluss des Alltags gefangen sind, klingt dies unsinnig. Zeit erscheint uns nicht als etwas Transzendentes und Mathematisches, sondern als intim und subjektiv. Und sie schreitet auch nicht würdevoll und gleichförmig fort. Wir wissen, dass Zeit unterschiedliche Geschwindigkeiten hat. Beim Countdown auf das neue Jahr fliegt die Zeit zum Beispiel förmlich. Dann, im Januar und Februar, verlangsamt sie sich zu einem elenden Kriechen. Zudem läuft die Zeit für einige von uns schneller ab als für andere. Alte Menschen werden in grausam raschem Tempo in die Zukunft gestoßen. Für einen Erwachsenen scheint es, als sei alle fünf Minuten Weihnachten, meinte Fran Lebowitz einmal. Für kleine Kinder vergeht die Zeit hingegen ziemlich langsam. Da für Kinder alles erst einmal neu und überraschend ist, kann ihnen ein einziger Sommer wie eine Ewigkeit erscheinen. Schätzungen zufolge hat man im Alter von acht Jahren subjektiv bereits zwei Drittel seines Lebens gelebt.

Wissenschaftler haben versucht, den subjektiven Fluss der Zeit zu messen und Menschen unterschiedlichen Alters gebeten zu schätzen, wann eine bestimmte Zeitspanne verstrichen ist. Menschen

Der Fluss der Zeit mag seine Stromschnellen und seine ruhigeren Abschnitte haben, aber eins scheint sicher: Er nimmt alle von uns wohl oder übel in seinen Fluten mit. Unwiderstehlich und unumkehrbar bewegen wir uns von unserer Geburt mit der Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde unserem Tod entgegen. Während die Vergangenheit hinter uns verschwindet, wird die Zukunft, einst unbekannt und geheimnisvoll, zur banalen Realität, wenn sie sich in das stets vorwärtseilende Jetzt verwandelt.

Dieses Gefühl des Fließens ist jedoch eine monströse Täuschung – so sagt jedenfalls die moderne Physik. Und Newton ist dieser Illusion ebenso zum Opfer gefallen wie wir Übrigen.

Albert Einstein war es, der die Revolution in unserem Verständnis der Zeit auslöste. Im Jahr 1905 zeigte Einstein, dass Zeit, wie sie bislang von Physikern und Laien gleichermaßen verstanden worden war, eine Fiktion ist. Denn Einstein bewies: Ob es einem Beobachter so erscheint, als passierten zwei Ereignisse an verschiedenen Orten «gleichzeitig», hängt von seinem Bewegungszustand ab. Nehmen wir zum Beispiel an, Jones bewegt sich auf der Fifth Avenue Richtung Außenbezirke, Smith hingegen Richtung Innenstadt. Ihre Relativbewegung führt zu einer Diskrepanz von mehreren Tagen, wenn sie beurteilen sollten, was «jetzt» – in dem Moment, in dem sie auf dem Bürgersteig aneinander vorbeigehen – in der Andromeda-Galaxie passiert. Für Smith ist die Raumflotte, die gestartet ist, um das Leben auf der Erde auszulöschen, bereits unterwegs; für Jones hat der