Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «When Einstein Walked With Gödel» bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«When Einstein Walked With Gödel: Excursions to the Edge of Thought» Copyright © 2018 by Jim Holt
Published by arrangement with Farrar, Straus and Giroux, New York
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Leonard McCombe/Getty Images
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00250-0
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00250-0
In Erinnerung an Bob Silvers
Die Essays in diesem Buch wurden im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte verfasst. Ich habe sie unter drei Gesichtspunkten ausgewählt.
Erstens aufgrund von Tiefe, Kraft und Schönheit der Ideen, die sie vermitteln. Einsteins Relativitätstheorie (die spezielle wie die allgemeine), Quantenmechanik, Gruppentheorie, Unendlichkeit und das Infinitesimale, Turings Berechenbarkeitstheorie und das «Entscheidungsproblem», Gödels Unvollständigkeitssätze, Primzahlen und die Riemann’sche Vermutung, Kategorientheorie, Topologie, höhere Dimensionen, Fraktale, statistische Regression und die «Glockenkurve», die Wahrheitstheorie – sie alle gehören zu den aufregendsten (und Demut lehrenden) intellektuellen Leistungen, auf die ich im Lauf meines Lebens gestoßen bin. Und sie alle werden in diesen Essays erläutert. Als Ideal schwebt mir eine Cocktailparty-Unterhaltung vor: einem interessierten Freund eine tiefgründige Idee in amüsanter und anregender Weise verständlich zu machen, indem man sie auf das Wesentliche reduziert (vielleicht mit ein paar raschen Bleistiftstrichen auf einer Serviette). Ziel ist es, den Neuling aufzuklären und dem Ganzen gleichzeitig eine neuartige Wendung zu geben, die auch dem Experten Spaß macht. Und niemals zu langweilen.
Mein zweiter Gesichtspunkt ist der menschliche Faktor. All diese Ideen stammen von Menschen aus Fleisch und Blut, die ein höchst dramatisches Leben führten. Oft enthielt dieses Leben ein absurdes Element. Der Schöpfer der modernen Statistik (und Urheber des Ausdrucks «nature versus nurture»), Sir Francis Galton, war ein viktorianischer Pedant, der im afrikanischen Busch komische Missgeschicke erlebte. Eine zentrale Figur in der Geschichte des «Vierfarbensatzes» war ein flamboyanter exzentrischer Mathematiker/Altphilologe namens Percy Heawood – von seinen Freunden wegen seines an Katzenvibrissen erinnernden Schnurrbarts auch «Pussy» Heawood genannt. Öfter noch nahm das Leben dieser Pioniere einen tragischen Verlauf. Der Mitbegründer der Gruppentheorie, Évariste Galois, starb noch vor seinem 21. Geburtstag bei einem Duell. Der revolutionärste Mathematiker des letzten halben Jahrhunderts, Alexander Grothendieck, beendete seine turbulenten Tage als geistig verwirrter Einsiedler in den Pyrenäen. Der Schöpfer der Theorie der Unendlichkeit, Georg Cantor, war ein kabbalistischer Mystiker, der in einer geschlossenen Anstalt starb. Ada Lovelace, die Kultfigur des Cyberfeminismus (und Namensgeberin der Programmiersprache, die vom US-Verteidigungsministerium verwendet wird), litt unter nervösen Krisen, ausgelöst von ihrer Obsession, für die inzestuösen Exzesse ihres Vaters, Lord Byron, Buße zu tun. Die großen russischen Meister des Unendlichen, Dmitri Jegorow und Pawel Florenski, wurden wegen ihres antimaterialistischen Spiritualismus verurteilt und in Stalins Gulag umgebracht. Kurt Gödel, der größte aller modernen Logiker, hungerte sich zu Tode, weil er unter dem Wahn litt, es gebe eine universelle Verschwörung, ihn zu vergiften. David Foster Wallace (dessen Versuch, sich mit dem Thema des Unendlichen auseinanderzusetzen, ich untersuche) erhängte sich. Und Alan Turing – der den Computer konzipierte, das größte Logikproblem seiner Zeit löste und zahllose Leben rettete, indem er den Enigma-Code der Nationalsozialisten knackte – nahm sich aus ungeklärten Gründen das Leben, indem er in einen mit Blausäure vergifteten Apfel biss.
Mein dritter Gesichtspunkt bei der Zusammenstellung dieser Essays ist philosophischer Natur. Die Ideen, die sie darlegen, beruhen ganz entscheidend auf unserem allgemeingültigsten Konzept der Welt (Metaphysik), auf der Art und Weise, wie wir unser Wissen erwerben und rechtfertigen (Erkenntnistheorie), und sogar darauf, wie wir unser Leben führen (Ethik).
Beginnen wir mit der Metaphysik. Die Vorstellung des unendlich Kleinen – des Infinitesimalen – wirft die Frage auf, ob die Wirklichkeit eher einem Fass mit Sirup (kontinuierlich) oder einem Haufen Sand (diskret) ähnelt. Einsteins Relativitätstheorie stellt entweder eine Herausforderung für unsere Vorstellung von Zeit dar oder zerstört sie – falls wir Gödels genialer Begründung folgen – vollständig. Quantenverschränkung hinterfragt die Realität des Raumes und eröffnet die Möglichkeit, dass wir in einem «holistischen» Universum leben. Turings Berechenbarkeitstheorie zwingt uns, neu darüber nachzudenken, wie Geist und Bewusstsein aus Materie erwachsen.
Und dann ist da die Erkenntnistheorie (Epistemologie). Die meisten großen Mathematiker nehmen für sich Einblicke in ein ewiges Reich abstrakter Formen in Anspruch, die über die gewöhnliche Welt, in der wir leben, hinausgehen. Wie interagieren sie mit dieser angenommenen «platonischen» Welt, um mathematische Erkenntnis zu gewinnen? Oder könnte es sein, dass sie sich radikal irren – dass die Mathematik, trotz all ihrer Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit, letztlich auf eine bloße Tautologie hinausläuft, wie die Aussage «Eine braune Kuh ist eine Kuh»? Um dieses Thema anschaulich zu machen, nähere ich mich ihm auf neuartige Weise, indem ich überlege, was allgemein als das größte ungelöste Rätsel in der Mathematik gilt, die Riemann’sche Vermutung.
Auch Physiker machen sich romantische Vorstellungen darüber, wie sie zur Erkenntnis gelangen. Wenn sie nicht über harte experimentelle/empirische Belege verfügen, auf die sie bauen können, stützen sie sich auf ihre ästhetische Intuition – auf das, was der Nobelpreisträger Steven Weinberg, ganz ohne rot zu werden, ihr «Schönheitsgefühl» nennt. Diese «Schönheit = Wahrheit»-Gleichung hat Physikern über einen großen Teil des vorigen Jahrhunderts gute Dienste geleistet.
Aber – wie ich in meinem Essay «Der Krieg um die Stringtheorie» frage – hat diese Gleichung sie in jüngerer Zeit in die Irre geführt?
Und schließlich Ethik. Diese Essays berühren in vielerlei Weise die Lebensführung. Die Eugenikprogramme in Europa und in den Vereinigten Staaten, befördert von Sir Francis Galtons theoretischen Spekulationen, illustrieren auf grausige Weise, wie die Naturwissenschaft die Ethik pervertieren kann. Die fortlaufende Veränderung unserer Lebensgewohnheiten durch die Computerisierung sollte uns veranlassen, gründlich über das Wesen des Glücklichseins und der kreativen Erfüllung nachzudenken (wie ich es hier in «Klüger, glücklicher, produktiver» tue). Und die Allgegenwart des Leidens in unserer Welt wirft die Frage auf, wo – falls überhaupt – die Grenzen der Forderungen liegen, die diese Moralität uns auferlegt (wie ich es in «Über moralische Heiligkeit» tue).
Der letzte Essay in diesem Band, «Egal was man sagt», beginnt mit einer Analyse von Harry Frankfurts berühmter Charakterisierung des Dummschwätzers als jemandem, der der Wahrheit nicht feindselig gegenübersteht, sondern dem sie einfach gleichgültig ist. Dann erweitert er das Bild, indem er betrachtet, wie Philosophen – irrigerweise? – über Wahrheit als «Korrespondenz» zwischen Sprache und der Welt gesprochen haben. In leicht spielerischer Weise schlägt dieser Artikel eine Brücke zwischen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik und verleiht dem Buch eine Geschlossenheit, die, so hoffe ich, nicht gänzlich trügerisch ist.
Und damit ich nicht der Inkonsequenz bezichtigt werde, lassen Sie mich (vermessen selbstbewusst?) der Überzeugung Ausdruck geben, dass das «Kopernikanische Prinzip», «Gödels Unvollständigkeitssatz», «Heisenbergs Unschärferelation», «Newcombs Problem» und das «Monty-Hall-Problem» allesamt Ausnahmen von Stiglers Gesetz der Deonyme darstellen (siehe Seite 399ff.).
Jim Holt
New York City, 2017
Im Jahr 1933, als seine großen Entdeckungen schon eine ganze Weile hinter ihm lagen, kam Albert Einstein nach Amerika. Die letzten 22 Jahre seines Lebens verbrachte er in Princeton, New Jersey, wo er der Star des Institute for Advanced Study war. Einstein fühlte sich in seinem neuen Umfeld einigermaßen wohl und ging mit dessen Ansprüchen locker um. «Princeton ist ein wundervolles Stückchen Erde und dabei ein ungemein drolliges zeremonielles Krähwinkel winziger stelzbeiniger Halbgötter», meinte er einmal in einem Brief an Königin Elisabeth von Belgien. Sein Tag begann üblicherweise mit einem gemächlichen Spaziergang von seinem Haus in 112 Mercer Street zu seinem Arbeitszimmer im Institut. Er war damals einer der berühmtesten und dank seines charakteristischen Äußeren – dem zerzausten Haar und den ausgebeulten, von Hosenträgern gehaltenen Hosen – auch wohl bekanntesten Menschen der Welt.
Zehn Jahre nach seiner Ankunft in Princeton gewann Einstein auf seinen Spaziergängen einen Begleiter, einen viel jüngeren Mann, der in seinem weißen Leinenanzug und passendem weichen Filzhut neben dem nachlässig gekleideten Einstein eine elegante Figur machte. Die beiden unterhielten sich beim morgendlichen Schlendern zum Institut und später am Tag auf ihrem Weg zurück nach Hause angeregt auf Deutsch. Der Mann im Anzug wäre von vielen Bewohnern der Kleinstadt wohl nicht erkannt worden, doch Einstein sah in ihm einen Ebenbürtigen, jemanden, der wie er im Alleingang eine konzeptuelle Revolution in die Wege geleitet hatte. Wenn Einstein mit seiner Relativitätstheorie unsere Alltagsvorstellungen über die physikalische Welt auf den Kopf gestellt hatte, so hatte der jüngere Mann, Kurt Gödel, eine ähnlich subversive Wirkung auf unser Verständnis der abstrakten Welt der Mathematik gehabt.
Gödel, der oft als größter Logiker seit Aristoteles bezeichnet worden ist, war ein seltsamer und letztlich tragischer Mensch. Während Einstein gesellig war und gern lachte, war Gödel ernst, einzelgängerisch und pessimistisch. Einstein, ein passionierter Geigenspieler, liebte Beethoven und Mozart. Gödels Geschmack bewegte sich in ganz anderen Bahnen: Sein Lieblingsfilm war Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge, und als seine Frau einen rosafarbenen Flamingo im Vorgarten aufstellte, fand er den Vogel «furchtbar herzig». Einstein liebte herzhaftes deutsches Essen und griff tüchtig zu; der Hypochonder Gödel ernährte sich ausschließlich von Butter, Babynahrung und Abführmitteln. Und auch wenn Einsteins Privatleben nicht unkompliziert war, gab er sich nach außen heiter und weltoffen. Gödel zeigte hingegen eine Tendenz zur Paranoia. Er glaubte an Geister und hatte eine morbide Furcht davor, von aus dem Kühlschrank ausströmenden Gasen vergiftet zu werden; er weigerte sich, das Haus zu verlassen, wenn gewisse renommierte Mathematiker in der Stadt waren, offenbar aus Angst, sie könnten versuchen, ihn zu töten. «Chaos ist nur ein falscher Eindruck», behauptete er – der wichtigste Glaubenssatz eines Paranoikers.
Auch wenn andere Mitglieder des Instituts den pessimistischen Logiker rätselhaft und unnahbar fanden, erzählte Einstein den Leuten, er komme nur deshalb ins Institut, «um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen». Das lag wohl zum Teil daran, dass sich Gödel von Einsteins Reputation nicht schrecken ließ und nicht zögerte, dessen Ideen in Frage zu stellen. Wie ein anderes Mitglied des Instituts, der Physiker Freeman Dyson, einmal meinte: «Gödel war … der Einzige von uns, der sich mit Einstein auf gleicher Augenhöhe bewegte.» Aber auch wenn Einstein und Gödel anscheinend auf einer höheren Ebene als der Rest der Menschheit kommunizierten, so waren sie gleichzeitig doch «Museumsstücke», um es mit Einsteins Worten zu sagen. Einstein brachte es niemals über sich, die Quantentheorie von Niels Bohr und Werner Heisenberg zu akzeptieren; Gödel glaubte, mathematische Abstraktionen seien in jeder Hinsicht ebenso real wie Tische und Stühle, eine Ansicht, die von zeitgenössischen Philosophen als hoffnungslos naiv betrachtet wurde. Gödel wie auch Einstein beharrten darauf, dass die Welt unabhängig von unserem Geist, jedoch rational aufgebaut ist und von uns verstanden werden kann. Vereint durch ein gemeinsames Gefühl intellektueller Isolation, fanden sie in ihrer Kameradschaft einen gewissen Trost. «Sie wollten mit niemand anderem sprechen», erinnerte sich ein anderes Mitglied des Instituts. «Sie wollten nur miteinander reden.»
Und die Leute fragten sich, worüber sie wohl sprachen. Vermutlich war Politik eines ihrer Themen. (Einstein, der Adlai Stevenson unterstützte, war aufgebracht, als Gödel sich entschied, 1952 für Dwight D. Eisenhower zu stimmen.) Physik war zweifellos ein weiteres Thema. Gödel kannte sich auf diesem Gebiet gut aus; er teilte Einsteins Misstrauen gegenüber der Quantentheorie, doch auch dem Ehrgeiz des älteren Physikers, sie durch eine «vereinheitlichte Feldtheorie» zu ersetzen, die alle bekannten Kräfte in einem deterministischen Rahmen zusammenführen würde, stand er skeptisch gegenüber. Beide fühlten sich zu Problemen hingezogen, die nach Einsteins Worten «von wirklicher Bedeutung» waren, Probleme, die die grundlegendsten Elemente der Realität betrafen. Gödel interessierte sich besonders für das Wesen der Zeit, denn, so vertraute er einem Freund an, das sei die philosophische Frage. Was war «jenes rätselhafte und scheinbar in sich widerspruchsvolle Etwas, das doch die Existenz der Welt und unserer selbst bildet», fragte er sich. Das war ein Thema, auf dem Einstein eine gewisse Expertise vorzuweisen hatte.
Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1905, hatte Einstein gezeigt, dass Zeit, wie sie von Wissenschaftlern wie auch Laien bis dato verstanden worden war, eine Fiktion war. Und das war nicht seine einzige Leistung in jenem Jahr. Damals war Einstein 25 Jahre alt und im Schweizer Patentamt in Bern angestellt. Nachdem sein Versuch, in Physik zu promovieren, zunächst aus formalen Gründen gescheitert war, hatte er zeitweilig den Gedanken an eine akademische Karriere aufgegeben und einem Freund gegenüber gemeint: «Die ganze Komödie ist mir langweilig geworden.» Kurz zuvor hatte er ein Buch von Henri Poincaré gelesen, einem französischen Mathematiker mit einem Ruf wie Donnerhall, das drei grundlegende ungelöste naturwissenschaftliche Probleme aufgelistet hatte. Das erste betraf den «photoelektrischen Effekt»: Auf welche Weise schlug ultraviolettes Licht Elektronen aus einer Metalloberfläche heraus? Das zweite Problem betraf die «Brown’sche Bewegung»: Warum bewegten sich Pollenkörner im Wasser in einem zufälligen Zickzackmuster hin und her? Und beim dritten ging es um den «lichttragenden Äther», der angeblich den gesamten Raum füllen und als das Medium dienen sollte, durch das sich die Lichtwellen bewegen, auf dieselbe Weise, wie sich Schallwellen durch die Luft oder Meereswellen durch das Wasser bewegen: Warum war es experimentell nicht gelungen, die Bewegung der Erde durch diesen Äther nachzuweisen?
Jedes dieser Probleme besaß das Potenzial, das zu enthüllen, was Einstein für die grundlegende Einfachheit der Natur ansah. Auf sich gestellt, ohne Anschluss an die wissenschaftliche Gemeinschaft, gelang es dem kleinen Patentamt-Angestellten rasch, alle drei Probleme zu lösen. Seine Ergebnisse präsentierte er in vier wissenschaftlichen Artikeln, die er im März, April, Mai und Juni 1905 veröffentlichte. In seinem März-Artikel über den photoelektrischen Effekt legte er dar, dass Licht aus diskreten Teilchen besteht, die später den Namen «Photonen» erhielten. In seinen Artikeln von April und Mai bewies er ein für alle Male die Existenz von Atomen, lieferte eine theoretische Abschätzung ihrer Größe und legte dar, wie ihr Aneinanderstoßen die Brown’sche Bewegung hervorrief. In seinem Juni-Artikel über das Äther-Problem stellte er seine Theorie der Relativität vor. Dann, als eine Art Zugabe, veröffentlichte er im September eine dreiseitige Mitteilung, die die berühmteste Gleichung aller Zeiten enthielt: E = mc2.
All diese Artikel hatten etwas Magisches an sich und zerstörten einige in der Gemeinschaft der Physiker tief verwurzelte Überzeugungen. Was Reichweite und Kühnheit anging, stach Einsteins Juni-Artikel jedoch heraus. Auf 30 Seiten schrieb er die Gesetze der Physik knapp und bündig vollständig um. Er begann mit zwei einfachen Prinzipien. Erstens sind die Gesetze der Physik absolut: Für alle Beobachter müssen dieselben Gesetze gelten. Zweitens ist die Lichtgeschwindigkeit absolut; sie ist ebenfalls für alle Beobachter identisch. Das zweite Prinzip ist zwar weniger offensichtlich, folgt aber der gleichen Art von Logik. Da Licht eine elektromagnetische Welle ist (was seit dem 19. Jahrhundert bekannt war), ist seine Geschwindigkeit durch die Gesetze des Elektromagnetismus festgelegt; diese Gesetze sollten für alle Beobachter identisch sein, und daher sollte jedermann sehen, dass sich das Licht mit derselben Geschwindigkeit bewegt, ganz unabhängig vom Bezugssystem. Dennoch war es kühn von Einstein, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu postulieren, denn dies führte zu scheinbar absurden Konsequenzen.
Stellen wir uns vor – um die Sache einfacher zu machen –, dass die Lichtgeschwindigkeit 100 Meilen pro Stunde beträgt. Nun stehe ich am Straßenrand und sehe einen Lichtstrahl mit dieser Geschwindigkeit vorbeisausen. Und dann sehe ich, wie Sie mit Ihrem Wagen diesem Lichtstrahl mit 60 Meilen pro Stunde hinterherjagen. Für mich sieht es so aus, als sei der Lichtstrahl 40 Meilen pro Stunde schneller als Sie. Aber für Sie im Inneren Ihres Wagens eilt der Lichtstrahl Ihnen noch immer mit einer Geschwindigkeit von 100 Meilen davon, genauso, wie es der Fall wäre, wenn Sie stillstehen würden: Das fordert das Prinzip der konstanten Lichtgeschwindigkeit. Was ist aber, wenn Sie kräftig Gas geben und auf 99 Meilen pro Stunde beschleunigen? Nun sehe ich, dass der Lichtstrahl nur noch 1 Meile pro Stunde schneller ist als Sie. Doch für Sie im Wageninneren saust der Strahl trotz Ihrer erhöhten Geschwindigkeit noch immer mit 100 Meilen pro Stunde davon. Wie ist das möglich? Geschwindigkeit ist natürlich Weg durch Zeit. Je schneller Sie fahren, desto kürzer muss offenbar Ihr Maßstab werden und umso langsamer muss Ihre Uhr relativ zu meiner ticken; das ist die einzige Möglichkeit, dass wir uns weiter über die Lichtgeschwindigkeit einig sein können. (Wenn ich Ihren sich beschleunigenden Wagen durch einen Feldstecher beobachtete, würde ich tatsächlich sehen, dass er in seiner Länge geschrumpft ist und Sie sich im Wageninneren in Zeitlupe bewegen.) Daher machte sich Einstein daran, die Gesetze der Physik entsprechend umzuformen. Um diese Gesetze absolut zu machen, machte er Entfernung (Raum) und Zeit relativ.
Das Überraschendste war dabei der Verzicht auf die absolute Zeit. Newton hielt die Zeit für objektiv, universell und allen natürlichen Phänomenen übergeordnet: «Der Fluss der absoluten Zeit kann sich nicht ändern», erklärte er zu Beginn seiner Principia. Einstein erkannte jedoch, dass unsere Vorstellung von Zeit eine Abstraktion ist, die wir aus unserer Erfahrung mit rhythmischen Phänomenen ableiten: Herzschlag, Planetenumdrehungen und -umläufen, dem Ticken von Uhren. Zeitliche Beurteilungen lassen sich stets auf Beurteilungen von Gleichzeitigkeit zurückführen: «Wenn ich zum Beispiel sage: ‹Jener Zug kommt hier um 7 Uhr an›, so heißt dies in etwa: ‹Das Zeigen des kleinen Zeigers meiner Uhr auf 7 und das Ankommen des Zuges sind gleichzeitige Ereignisse›», schrieb Einstein in seinem Juni-Artikel. Wenn sich die fraglichen Ereignisse in einiger Entfernung voneinander abspielen, lässt sich die Gleichzeitigkeit nur durch Aussenden von Lichtsignalen hin und zurück beurteilen. Auf diesen beiden grundlegenden Prinzipien aufbauend, bewies Einstein, dass es vom Bewegungszustand des Beobachters abhängt, ob er zwei Ereignisse als «gleichzeitig» ansieht oder nicht. Mit anderen Worten gibt es kein universelles Jetzt. Bei unterschiedlichen Beobachtern, die die Zeitlandschaft (time scape) auf unterschiedliche Weise in «Vergangenheit», «Gegenwart» und «Zukunft» unterteilen, drängt sich der Schluss auf, dass alle Augenblicke mit gleicher Realität koexistieren.
Einsteins Schlussfolgerungen waren das Ergebnis eines reinen Gedankenexperiments, das von einem Minimum an Voraussetzungen über die Natur ausgeht. Seitdem ist mehr als ein Jahrhundert vergangen, und in diesem Zeitraum sind seine Schlussfolgerungen durch zahllose Experimente präzise bestätigt worden. Als Einstein seinen Juni-Artikel über Relativität als Doktorarbeit einreichte, wurde der Antrag jedoch abgelehnt. (Daraufhin reichte er seinen April-Artikel über die Größe des Atoms ein, der die Prüfer seiner Ansicht nach wohl weniger erschrecken würde, und dieser wurde tatsächlich akzeptiert, jedoch erst, als Einstein einen Satz hinzugefügt hatte, um die vorgeschriebene Mindestlänge zu erreichen.) Als Einstein 1921 den Nobelpreis für Physik erhielt, geschah dies für seine Erklärung des Photoeffekts. Die Schwedische Akademie untersagte ihm zugleich jede Erwähnung der Relativität in seiner Dankesrede. Wie es der Zufall wollte, konnte Einstein an der Verleihungszeremonie in Stockholm nicht teilnehmen. Er hielt seine Nobel-Vorlesung ihn Göteborg, und König Gustav V. saß in der ersten Reihe. Der König wollte etwas über Relativität erfahren, und Einstein ließ sich nicht lange bitten.
1906, ein Jahr nach Einsteins annus mirabilis, wurde Kurt Gödel in Brünn (heute Tschechien) geboren. Kurt war ein ebenso neugieriges – sein älterer Bruder gab ihm den Spitznamen Herr Warum – wie nervöses Kind. Im Alter von fünf Jahren erlitt er anscheinend eine leichte Angstneurose. Mit acht Jahren hatte er einen schweren rheumatischen Fieberanfall, der bei ihm zur lebenslangen Überzeugung führte, sein Herz sei irreparabel geschädigt.
1924 schrieb sich Gödel an der Universität Wien ein. Er beabsichtigte Physik zu studieren, ließ sich aber bald von der Schönheit der Mathematik verzaubern, vor allem von der Vorstellung, dass Abstraktionen wie Zahlen und Kreise unabhängig vom menschlichen Denken eine perfekte, zeitlose Existenz führten. Diese Doktrin, die als Platonismus bezeichnet wird, da sie sich von Platons Ideenlehre ableitet, ist unter Mathematikern seit jeher sehr populär. In der philosophischen Welt der 1920er Jahre galt sie jedoch als hoffnungslos altmodisch. Unter den vielen intellektuellen Bewegungen, die in der blühenden Kaffeehaus-Kultur der Stadt gediehen, gehörte der Wiener Kreis zu den prominentesten. Die Mitglieder dieses akademischen Zirkels einte der Glaube, dass die Philosophie von jeder Metaphysik gereinigt und auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt werden müsse. Unter dem Einfluss von Ludwig Wittgenstein, ihrem widerstrebenden Guru, betrachteten die Mitglieder des Wiener Kreises Mathematik als ein Spiel, das mit Symbolen gespielt wurde, eine komplexere Version von Schach. Was eine Aussage wie «2 + 2 = 4» wahr mache, behaupteten sie, sei nicht, dass sie eine abstrakte Zahlenwelt korrekt beschreibe, sondern dass sie in einem logischen System gemäß gewissen Regeln abgeleitet werden könne.
Gödel wurde von einem seiner Professoren in den Wiener Kreis eingeführt, doch er schwieg über seine platonischen Ansichten. Da er sehr gründlich war und gleichzeitig Kontroversen scheute, hatte er eine Abneigung dagegen, seine Überzeugungen zu diskutieren, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie eindeutig zu beweisen. Aber wie ließ sich zeigen, dass sich Mathematik nicht auf die Kunstgriffe der Logik reduzieren ließ? Gödels Strategie – die von außerordentlicher Klugheit und «atemberaubender Schönheit» war, so die Philosophin Rebecca Goldstein – bestand darin, Logik als Waffe gegen sich selbst einzusetzen. Ausgehend von einem logischen System für die Mathematik, das angeblich widerspruchsfrei war, entwickelte er ein einfallsreiches Schema, das den darin enthaltenen Formeln eine Art Doppelzüngigkeit erlaubte. Eine Formel, die etwas über Zahlen aussagte, konnte in diesem Schema auch so interpretiert werden, als sage sie etwas über andere Formeln und ihre logische Verknüpfung untereinander aus. Tatsächlich konnte Gödel zeigen, dass eine numerische Formel sogar etwas über sich selbst aussagen kann. Nachdem Gödel diesen Apparat mathematischer Selbstbezüglichkeit mühsam aufgebaut hatte, gab er der Sache eine verblüffende Wendung: Er entwickelte eine Formel, die vordergründig etwas über Zahlen sagte, während sie gleichzeitig erklärte: «Ich bin nicht beweisbar.» Auf den ersten Blick erscheint dies wie ein Paradox und erinnert an den sprichwörtlichen Kreter, der behauptet: «Alle Kreter sind Lügner.» Gödels selbstreferenzielle Formel beleuchtet jedoch ihre Beweisbarkeit, nicht ihren Wahrheitsgehalt. Könnte sie lügen, wenn sie behauptet: «Ich bin nicht beweisbar»? Nein, denn wenn das der Fall wäre, hieße dies, dass sie sich beweisen ließe, was sie wahr machen würde. Ihre Behauptung, dass sie sich nicht beweisen lässt, muss also wahr sein. Die Wahrheit dieser Aussage lässt sich aber nur von einem Standpunkt außerhalb des logischen Systems erkennen. Innerhalb des Systems ist sie weder beweisbar noch widerlegbar. Das System ist daher unvollständig, denn es gibt mindestens eine wahre Aussage über Zahlen (diejenige, die sagt «Ich bin nicht beweisbar»), die nicht innerhalb des Systems bewiesen werden kann. Die Schlussfolgerung – dass kein logisches System die gesamte Wahrheit der Mathematik umfassen kann – ist als erster Unvollständigkeitssatz bekannt. Zudem zeigte Gödel, dass kein logisches System der Mathematik die eigene Widerspruchsfreiheit mit seinen eigenen Mitteln beweisen kann, ein Ergebnis, das als zweiter Unvollständigkeitssatz bezeichnet wird.
Wittgenstein behauptete einst, in der Logik könne es keine Überraschungen geben. Aber Gödels Unvollständigkeitssätze waren eine Überraschung. Als der junge Logiker sie 1930 auf einer Konferenz in der Stadt Königsberg vorstellte, konnte sich tatsächlich fast niemand der Anwesenden einen Reim darauf machen. Was konnte es bedeuten zu erklären, dass eine mathematische Aussage wahr ist, wenn es keine Möglichkeit gab, dies zu beweisen? Schon die reine Vorstellung erschien absurd. Selbst der große Logiker Bertrand Russell reagierte verblüfft; offenbar hatte er Gödel missverstanden und angenommen, dieser habe einen Widerspruch in der Mathematik entdeckt. «Sollen wir nun annehmen, dass 2 + 2 nicht 4, sondern 4,001 ergibt?», fragte Russell Jahrzehnte später verwirrt und fügte hinzu, er sei froh, dass er nicht länger auf dem Gebiet der mathematischen Logik arbeite. Als die Bedeutung von Gödels Satz allmählich deutlich wurde, war allgemein nur noch von «Debakel», «Katastrophe» und «Albtraum» die Rede. Es war ein Glaubenssatz gewesen, dass Mathematiker, ausgestattet mit Logik, im Prinzip jedes Rätsel lösen konnten – dass es in der Mathematik, wie ein berühmter Ausspruch formulierte, kein ignorabimus gab. Gödels Sätze schienen dieses Ideal vollständiger Erkenntnis zerschmettert zu haben.
Gödel sah sein Ergebnis hingegen ganz anders. Er meinte bewiesen zu haben, dass die Mathematik eine robuste Realität besitzt, die jedes logische System überschreitet. Aber Logik, davon war er überzeugt, ist nicht der einzige Weg, um die Wirklichkeit zu erkennen; wir verfügen auch über so etwas wie eine extrasensorische Wahrnehmung der Realität, die er als «mathematische Intuition» bezeichnete. Diese intuitive Fähigkeit erlaubt uns beispielsweise zu sehen, dass die Formel, die besagt «Ich bin nicht beweisbar», wahr sein muss, selbst wenn sie innerhalb des Systems, in dem sie existiert, nicht bewiesen werden kann. Einige Denker (wie der Physiker Roger Penrose) haben dieses Thema weitergesponnen und behauptet, Gödels Unvollständigkeitssätze hätten tiefgreifende Implikationen für das Wesen des menschlichen Geistes. Unsere geistigen Kräfte, so die Argumentation, müssen die eines jeden Computers übertreffen, denn ein Computer ist lediglich ein logisches System, das auf einer Hardware läuft, während unser Geist Wahrheiten erkennen kann, die jenseits des Verständnisses eines logischen Systems liegen.
Gödel war 24 Jahre alt, als er seine Unvollständigkeitssätze bewies (etwas jünger als Einstein, als dieser die Relativitätstheorie schuf). Damals umwarb er sehr zum Missfallen seiner Eltern eine ältere geschiedene Katholikin namens Adele, die, um alldem die Krone aufzusetzen, als Tänzerin in dem Wiener Nachtclub «Der Nachtfalter» auftrat. Mit Hitlers Aufstieg zur Macht in Deutschland wurde die politische Situation in Österreich immer chaotischer, auch wenn Gödel dies zunächst kaum zu bemerken schien. 1936 löste sich der Wiener Kreis auf, nachdem sein Gründer von einem geistig verwirrten Studenten ermordet worden war. Zwei Jahre später erfolgte der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Wie gefährlich die Zeiten waren, erfuhr Gödel schließlich, als eine Gruppe junger Nationalsozialisten ihn anpöbelte und ihm die Brille von der Nase schlug, bis sie von Adeles Schirmschlägen zum Rückzug gezwungen wurde. Er entschloss sich, nach Princeton zu gehen, wo ihm im Institute for Advanced Study eine Stelle angeboten worden war. Doch da inzwischen der Krieg ausgebrochen war, erschien ihm eine Atlantiküberquerung zu riskant. Daher nahm das inzwischen verheiratete Paar per Eisenbahn den langen Landweg über Russland, kreuzte den Pazifik, erreichte die Vereinigten Staaten und kam schließlich Anfang 1940 in Princeton an. Im Institut erhielt Gödel ein Arbeitszimmer, das fast direkt über demjenigen von Einstein lag. Für den Rest seines Lebens verließ er Princeton, das er «zehnmal angenehmer» fand als sein einst so geliebtes Wien, nur noch selten.
Auch wenn Gödel in der Öffentlichkeit noch immer kaum bekannt war, hatte er unter Experten einen geradezu göttergleichen Status. «Dort stand es, unfassbar, K. Goedel, aufgeführt wie jeder andere Name in dem leuchtend orangefarbenen Telefonbuch der Gemeinde Princeton», schreibt Rebecca Goldstein Anfang der 1970er Jahre als Studentin der Philosophie in ihrer geistesgeschichtlichen Biographie Incompleteness: The Proof and Paradox of Kurt Gödel (2005) (Kurt Gödel: Jahrhundertmathematiker und großer Entdecker). «Es war, als öffne man das örtliche Telefonbuch und finde dort Namen wie B. Spinoza oder I. Newton.» Später beschreibt sie, wie sie «den Philosophen Richard Rory einmal wie in Trance in Davidson’s Lebensmittelmarkt antraf. Er erzählte mir mit Flüsterstimme, er habe gerade Gödel im Gang für Tiefkühlkost gesehen.»
Der große Logiker war so naiv und weltfremd, dass Einstein sich verpflichtet fühlte, ihm bei den praktischen Dingen des Lebens zur Seite zu stehen. Eine häufig wiedergegebene Anekdote erzählt von Gödels Entschluss, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Gödel nahm die Angelegenheit sehr ernst und bereitete sich durch ein gründliches Studium der US-Verfassung auf die Befragung vor. Am festgelegten Tag begleitete Einstein ihn zum Gericht in Trenton und musste eingreifen, um Gödel zu beruhigen, als der aufgeregte Logiker ansetzte, dem Richter zu erklären, die amerikanische Verfassung enthalte ein Schlupfloch, das eine Diktatur erlauben würde. (Mehr zu diesem Vorfall unter «Gödel nimmt sich die amerikanische Verfassung vor» in diesem Buch.)
Etwa um dieselbe Zeit, als Gödel die amerikanische Verfassung studierte, schaute er sich auch Einsteins Relativitätstheorie genauer an. Das Schlüsselprinzip der Relativität ist, dass die Gesetze der Physik für alle Beobachter identisch sein sollten. Als Einstein dieses Prinzip in seiner revolutionären Arbeit 1905 erstmals formulierte, beschränkte er «alle Beobachter» auf solche, die sich relativ zueinander gleichförmig bewegten – das heißt auf gerader Linie und mit konstanter Geschwindigkeit. Bald erkannte er jedoch, dass diese Einschränkung willkürlich war. Wenn die Gesetze der Physik eine wirklich objektive Beschreibung der Natur liefern sollten, mussten sie auch für Beobachter gelten, die sich in beliebiger Weise relativ zueinander bewegten – sich drehend, sich beschleunigend, sich schraubenförmig bewegend. Daher machte Einstein den Schritt von seiner «speziellen» Relativitätstheorie von 1905 zu seiner «allgemeinen» Relativitätstheorie, deren Gleichungen er im Lauf des nächsten Jahrzehnts ausarbeitete und 1916 veröffentlichte. Was diese Gleichungen so leistungsfähig machte, war die Tatsache, dass sie die Gravitation erklärten, also die Kraft, die die Gestalt des Kosmos bestimmt.
Jahrzehnte später hatte Gödel auf seinen Spaziergängen mit Einstein das Privileg, dass ihm die Feinheiten der Relativitätstheorie vom Meister selbst erläutert wurden. Einstein hatte gezeigt, dass der Fluss der Zeit von der Bewegung und Schwerkraft abhängig war und die Unterteilung von Ereignissen in «vergangene» und «gegenwärtige» relativ war. Gödel vertrat einen radikaleren Standpunkt. Seiner Meinung nach existierte Zeit, wie wir sie intuitiv verstehen, gar nicht. Wie gewöhnlich war er mit einer rein verbalen Argumentation nicht zufrieden. Philosophen von Parmenides in der Antike bis zu Immanuel Kant im 18. Jahrhundert und weiter bis zu J.M.E. McTaggart zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten solche Argumente vorgestellt, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Gödel wünschte sich einen Beweis, der Strenge und Gewissheit eines mathematischen Beweises aufwies. Und er fand genau das, was er suchte, verborgen in der Relativitätstheorie. Seine Ergebnisse stellte er Einstein 1949, zu dessen 70. Geburtstag, vor, zusammen mit einer Radierung.
Gödel war auf die Möglichkeit einer bis dato unvorstellbaren Art von Universum gestoßen. Die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich auf unterschiedliche Weise lösen. Tatsächlich repräsentiert jede Lösung ein Modell, wie das Universum aussehen könnte. Einstein, der aus philosophischen Gründen daran festhielt, dass das Universum ewig und unveränderlich war, hatte an seinen Gleichungen herumgebastelt, bis sie ein solches Modell ergaben – ein Schachzug, den er später als «meinen größten Fehler» bezeichnete. Ein anderer Physiker (zufällig ein jesuitischer Priester) fand eine Lösung, die mit einem sich ausdehnenden Universum korrespondierte, das zu einem bestimmten Augenblick in der endlichen Vergangenheit geboren worden war. Da diese Lösung, die später als Urknall-Modell (Big-Bang-Theorie) bekannt werden sollte, mit den Beobachtungen der Astronomen übereinstimmte, schien es dasjenige zu sein, das den aktuellen Kosmos beschrieb.
Doch Gödel fand eine dritte Art von Lösung für Einsteins Gleichungen, eine, in der das Universum nicht expandierte, sondern rotierte. (Die Zentrifugalkraft, die aus dieser Rotation erwuchs, verhinderte, dass alles unter dem Einfluss der Schwerkraft kollabierte.) Ein Beobachter in diesem Universum würde sämtliche Galaxien langsam um sich rotieren sehen; da er keinen Schwindel fühlen würde, wüsste er, dass es das Universum war, das sich drehte, und nicht er selbst. Was dieses rotierende Universum wirklich bizarr macht, ist, so zeigte Gödel, die Art und Weise, wie seine Geometrie Raum und Zeit vermischt. Ein Bewohner von Gödels Universum könnte in einem Raumschiff zu einer langen, kompletten Rundreise aufbrechen und schließlich zu jedem Punkt seiner eigenen Vergangenheit zurückreisen.
Einstein war nicht wirklich begeistert von der Nachricht, dass seine Gleichungen etwas Alice-im-Wunderland-Ähnliches erlaubten – räumliche Wege, die sich rückwärts in der Zeit krümmten; tatsächlich gestand er, dass Gödels Universum ihn verstöre. Andere Physiker staunten, dass Zeitreisen, die zuvor nur als Stoff für Science-Fiction gegolten hatten, offenbar mit den Gesetzen der Physik vereinbar waren. (Dann begannen sie, sich darüber Sorgen zu machen, was passieren würde, wenn man sich in die Zeit vor seiner Geburt zurückbegäbe und den eigenen Großvater tötete …) Gödel selbst zog einen anderen Schluss. Wenn Zeitreisen möglich sind, argumentierte er, dann ist Zeit selbst eine Unmöglichkeit. Eine Vergangenheit, die man erneut aufsuchen kann, ist nicht wirklich vergangen. Und die Tatsache, dass das aktuelle Universum expandiert, statt zu rotieren, ist dabei irrelevant. Wie Gott ist die Zeit entweder notwendig oder sie ist nichts; wenn sie in einem möglichen Universum verschwindet, ist sie in jedem möglichen Universum obsolet, einschließlich unserem eigenen.
Einstein nahm Gödels seltsames kosmologisches Geschenk zu einem trüben Zeitpunkt in seinem Leben entgegen. Seine Gralssuche nach einer vereinheitlichten Theorie der Physik erwies sich als fruchtlos, und seine Ablehnung der Quantentheorie entfremdete ihn dem Mainstream der Physik. Und die Familie bot wenig Trost. Seine beiden Ehen waren gescheitert; eine uneheliche Tochter hinterließ in der Geschichte offenbar keine Spuren, von seinen beiden Söhnen war der eine schizophren, der andere hatte sich ihm entfremdet. Einsteins Freundeskreis war auf Gödel und einige wenige andere geschrumpft. Eine davon war Königin Elisabeth von Belgien, der er im März 1955 anvertraute: «Die übertriebene Anerkennung für mein Lebenswerk macht mich krank; ich fühle mich als unfreiwilliger Schwindler.» Er starb einen Monat später im Alter von 76 Jahren. Als Gödel und ein weiterer Kollege in Einsteins Arbeitszimmer im Institut gingen, um seine Unterlagen zu sichern, fanden sie die Wandtafel mit Gleichungen bedeckt, die alle in eine Sackgasse führten.
Nach Einsteins Tod vereinsamte Gödel noch stärker. Er führte Unterhaltungen fast nur noch übers Telefon, selbst wenn sein Gesprächspartner nicht mehr als ein paar Schritte entfernt war. Wenn es ihm besonders wichtig war, jemandem aus dem Weg zu gehen, verabredete er sich mit ihm zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und sorgte dafür, dass er irgendwo ganz weit weg war. Die Ehrungen, mit denen die Welt ihn auszeichnen wollte, nahm er zurückhaltend entgegen. Er war 1953 in Harvard erschienen, um die Ehrendoktorwürde für seine Unvollständigkeitssätze in Empfang zu nehmen, die als wichtigste mathematische Entdeckung der vorangegangenen 100 Jahre gepriesen wurden, doch später beschwerte er sich, er sei «ganz unverdientermaßen in die höchst kriegerische Gesellschaft gezwungen» worden; gemeint war John Foster Dulles, der gleichzeitig geehrt wurde. Als er 1974 mit der National Medal of Science ausgezeichnet wurde, weigerte er sich, nach Washington zu reisen und Gerald Ford im Weißen Haus zu treffen, obgleich man ihm einen Chauffeur für ihn und seine Frau anbot. Er hatte halluzinatorische Episoden und sprach dunkel von gewissen Kräften, die in der Welt am Werk seien und «die das Gute direkt unterdrücken». Da er eine Verschwörung fürchtete, ihn zu vergiften, weigerte er sich hartnäckig zu essen. Schließlich, als er «wie ein lebender Leichnam» (so ein Freund) aussah, wurde er ins Princeton Hospital eingeliefert. Dort starb er zwei Wochen später, am 14. Januar 1978, einen selbst herbeigeführten Hungertod. Seinem Totenschein zufolge war die Todesursache «Mangelernährung und Entkräftung», hervorgerufen durch eine «Persönlichkeitsstörung».
Die letzten Jahre von Gödel wie auch Einstein waren durch eine gewisse Aussichtslosigkeit gekennzeichnet. Am aussichtslosesten war jedoch vielleicht ihr eigensinniger Glaube an die Nichtexistenz der Zeit. Die Versuchung war verständlich. Wenn die Zeit nur in unseren Köpfen existiert, können wir vielleicht hoffen, ihr in eine zeitlose Ewigkeit zu entkommen. Dann könnten wir wie William Blake sagen: «Ich sehe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die vor mir bestanden haben.» In Gödels Fall war es möglicherweise die Angst vor einem schwergeschädigten Herzen, die ihn seit seiner Kindheit verfolgte und ihn mit der Vorstellung von einem zeitlosen Universum liebäugeln ließ. Gegen Ende seines Lebens erzählte er einem Vertrauten, er habe lange auf eine Erleuchtung gehofft, die ihn die Welt in einem neuen Licht sehen lasse, die aber nie gekommen war.
Auch Einstein konnte sich nicht vollständig von dem Begriff der Zeit lösen. «Für diejenigen von uns, die an die Physik glauben», schrieb er an die Witwe eines Freundes, der kurz zuvor gestorben war, «ist diese Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Illusion, wenn auch eine besonders hartnäckige.» Als er einige Wochen später selbst im Sterben lag, sagte er: «Es ist Zeit zu gehen.»
Isaac Newton hatte eine seltsame Vorstellung von Zeit. Er sah in ihr eine Art kosmischer Standuhr, die in heiterer Autonomie über dem Rest der Natur schwebt. Und er glaubte, dass die Zeit glatt und kontinuierlich von der Vergangenheit in die Zukunft fortschreitet. «Die absolute, wahre mathematische Zeit verfließt gleichförmig und ohne Beziehung zu einem Gegenstand», erklärte Newton zu Beginn seiner Principia. Denjenigen, die im zeitlichen Fluss des Alltags gefangen sind, klingt dies unsinnig. Zeit erscheint uns nicht als etwas Transzendentes und Mathematisches, sondern als intim und subjektiv. Und sie schreitet auch nicht würdevoll und gleichförmig fort. Wir wissen, dass Zeit unterschiedliche Geschwindigkeiten hat. Beim Countdown auf das neue Jahr fliegt die Zeit zum Beispiel förmlich. Dann, im Januar und Februar, verlangsamt sie sich zu einem elenden Kriechen. Zudem läuft die Zeit für einige von uns schneller ab als für andere. Alte Menschen werden in grausam raschem Tempo in die Zukunft gestoßen. Für einen Erwachsenen scheint es, als sei alle fünf Minuten Weihnachten, meinte Fran Lebowitz einmal. Für kleine Kinder vergeht die Zeit hingegen ziemlich langsam. Da für Kinder alles erst einmal neu und überraschend ist, kann ihnen ein einziger Sommer wie eine Ewigkeit erscheinen. Schätzungen zufolge hat man im Alter von acht Jahren subjektiv bereits zwei Drittel seines Lebens gelebt.
Wissenschaftler haben versucht, den subjektiven Fluss der Zeit zu messen und Menschen unterschiedlichen Alters gebeten zu schätzen, wann eine bestimmte Zeitspanne verstrichen ist. Menschen Anfang 20 sind in der Regel recht präzise, wenn sie beurteilen sollen, wann drei Minuten verstrichen sind, und irrten sich gewöhnlich um nicht mehr als drei Sekunden. Menschen Anfang 60 schossen hingegen mehr als 40 Sekunden übers Ziel hinaus; mit anderen Worten erschienen ihnen drei Minuten und 40 Sekunden wie nur drei Minuten. Senioren ticken «von innen heraus» langsamer, daher hat es für sie den Anschein, dass reale Uhren zu schnell gehen. Das kann bei einem John-Cage-Konzert von Vorteil sein; die alten Menschen sind erleichtert, dass die Komposition 4’33’’ so rasch vorüber ist.
Der Fluss der Zeit mag seine Stromschnellen und seine ruhigeren Abschnitte haben, aber eins scheint sicher: Er nimmt alle von uns wohl oder übel in seinen Fluten mit. Unwiderstehlich und unumkehrbar bewegen wir uns von unserer Geburt mit der Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde unserem Tod entgegen. Während die Vergangenheit hinter uns verschwindet, wird die Zukunft, einst unbekannt und geheimnisvoll, zur banalen Realität, wenn sie sich in das stets vorwärtseilende Jetzt verwandelt.
Dieses Gefühl des Fließens ist jedoch eine monströse Täuschung – so sagt jedenfalls die moderne Physik. Und Newton ist dieser Illusion ebenso zum Opfer gefallen wie wir Übrigen.
Albert Einstein war es, der die Revolution in unserem Verständnis der Zeit auslöste. Im Jahr 1905 zeigte Einstein, dass Zeit, wie sie bislang von Physikern und Laien gleichermaßen verstanden worden war, eine Fiktion ist. Denn Einstein bewies: Ob es einem Beobachter so erscheint, als passierten zwei Ereignisse an verschiedenen Orten «gleichzeitig», hängt von seinem Bewegungszustand ab. Nehmen wir zum Beispiel an, Jones bewegt sich auf der Fifth Avenue Richtung Außenbezirke, Smith hingegen Richtung Innenstadt. Ihre Relativbewegung führt zu einer Diskrepanz von mehreren Tagen, wenn sie beurteilen sollten, was «jetzt» – in dem Moment, in dem sie auf dem Bürgersteig aneinander vorbeigehen – in der Andromeda-Galaxie passiert. Für Smith ist die Raumflotte, die gestartet ist, um das Leben auf der Erde auszulöschen, bereits unterwegs; für Jones hat der andromedarische Rat der Tyrannen noch nicht einmal entschieden, ob die Flotte überhaupt starten soll.