Für Katrin
New Light – John Mayer
lovely – Billie Eilish, Khalid
Heaven In Hiding – Halsey
Love Is Madness – Thirty Seconds To Mars feat. Halsey
In My Blood – Shawn Mendes
Dancing With A Stranger – Sam Smith feat. Normani
I Was Wrong – ARIZONA, Robin Schulz
A Beautiful Lie – Thirty Seconds To Mars
Be Alright – Dean Lewis
Waves – Dean Lewis
Beggin For Thread – BANKS
bad guy – Billie Eilish, Justin Bieber
Was It A Dream? – Thirty Seconds To Mars
Wait By The River – Lord Huron
Dangerous Night – Thirty Seconds To Mars
Rescue Me – Thirty Seconds to Mars
Mercy – Shawn Mendes
Walk Through The Fire – Klergy, BELLSAINT
Seventeen – Younotus, Kelvin Jones
everything i wanted – Billie Eilish
Whatever It Takes – Imagine Dragons
Vierzig Minuten hocke ich schon in diesem Flieger und habe nicht gemerkt, dass er nur ein paar Reihen vor mir sitzt. Vierzig Minuten, in denen ich jeden Gedanken an meine Familie verdrängt habe und auch das flaue Gefühl in meinem Magen. Leider nicht wirklich erfolgreich. Weil mein Handy im Flugmodus ist und keine Nachrichten bei mir ankommen, habe ich mir zur Ablenkung das Fotoalbum mit den letzten Bildern von Aubree und mir angesehen und dabei ungefähr elfmal hintereinander New Light von John Mayer gehört. Ich liebe diesen Song und spiele ihn immer dann ab, wenn das flaue Gefühl beim Gedanken an meine Familie überhandnimmt.
Aber elfmal grenzt definitiv an obsessiv. Heute ist es besonders schlimm, weil ich nicht weiß, wie ich die nächsten Tage auf der Insel überleben soll. Weil es das erste Mal seit vier Jahren ist, dass ich meine Familie wiedersehe.
«Entschuldigen Sie, gibt es hier noch eine andere Toilette außer dieser?» Ich habe meine Stimme gesenkt und deute nach vorne, wo das Schild über der Tür immer noch leuchtet. Darauf steht in Rot «Besetzt», und das schon seit ein paar Minuten.
Die Stewardess mit der weißen Bluse beugt sich freundlich zu mir herunter. «Die zweite Toilette ist leider defekt.» Sie lächelt bedauernd, aber professionell, es geht kaum über die Mundwinkel hinaus. Um ihren Hals schlingt sich ein rotes Tuch mit dem Logo von Endeavor Air. «Darf ich Ihnen als Entschädigung für die Wartezeit etwas zu trinken anbieten? Ein Glas Orangensaft vielleicht?»
«Nein, danke.» Das ist ein ganz schlechtes Thema. Das Wort ‹trinken› genügt, dass ich ruckartig die Beine zusammenpresse. Ich schüttele den Kopf, vor allem aber über mich selbst, weil ich zu spät vom College losgefahren bin und es deshalb nicht mehr geschafft habe, auf dem Flughafen zur Toilette zu gehen. Erst vor einigen Stunden hat mir mein Stiefvater ein personalisiertes Ticket für diesen Flug zukommen lassen, und seitdem stehe ich quasi unter Dauerstrom.
Nur ein paar Tage, Ivy. Das schaffst du.
Das sage ich mir schon die ganze Zeit. Aber seit der Mail, in der ich eindringlich darum gebeten wurde, dass ich nach Hause komme, versuche ich vergeblich, meine Atmung auf eine normale Frequenz zu bekommen. Ich weiß nicht, warum mein Stiefvater mich sehen will, aber ich werde gleich auf diese verdammte Insel fahren müssen. Ich werde ihn wiedersehen und mir anhören müssen, was er mir zu sagen hat. Und ich werde die ganze Zeit darauf hoffen, dass ich meinen Stiefbrüdern nicht über den Weg laufe. Und wenn diese Sache, worum auch immer es geht, erledigt ist, kann ich mein echtes Leben wieder aufnehmen. Mein Leben ohne die Familie Blakely.
Weil ich es anders nicht aushalte, spiele ich den Song von John Mayer jetzt auch noch ein zwölftes Mal ab. Wenn ich Empfang hätte, würde ich auf seinen Instagram-Account gehen und mir die Videos in seinen Story-Highlights ansehen, in denen er sich Smokey Eyes schminkt. Es ist total albern, und er sieht dabei aus, als hätte man ihm ein blaues Auge verpasst, aber diese Videos haben es bisher noch jedes Mal geschafft, mich abzulenken und zum Lächeln zu bringen. Viel zu schnell ist der Song wieder zu Ende, und ich skippe noch ein weiteres Mal zurück, falle in den Wohlfühlbeat, bis der Druck meiner Blase übermächtig wird und ich gezwungen bin, die Augen aufzuschlagen.
Gott sei Dank. Das Licht über der Toilettentür erlischt, und heraus tritt ein Anzugträger mit graumeliertem Haar und dichten Augenbrauen, der sich noch im Gehen den Hosenstall zuzieht. Sofort springe ich auf und werfe meinen Rucksack auf den Sitz. Schwankend, weil der Pilot offenbar gerade durch ein Luftloch steuert, hangele ich mich von Sitz zu Sitz. Aus einer Reihe vor mir löst sich eine Gestalt in einem Jeanshemd und zieht seine Begleiterin hinter sich her, und ich hoffe inständig, dass keiner von beiden jetzt auf die Toilette muss.
Dass ich ihn nicht sofort erkenne, dass ich seine Anwesenheit nicht einmal spüre, kommt mir im Nachhinein fast absurd vor, denn es ist der perfekte Moment für dramatische Filmmusik.
«Entschuldigung», rufe ich den beiden hinterher, aber sie reagieren nicht, und im nächsten Moment verschwinden sie zusammen durch die Toilettentür. Bitte nicht, flehe ich stumm. Ich halte es garantiert keine Minute länger aus.
Eine zweite Stewardess spricht mich auf dem Gang an. «Setzen Sie sich bitte wieder hin, es gibt leider ein paar kleine Turbulenzen.»
Oh Gott, sie hat keine Ahnung, wovon sie redet. Wenn ich nicht gleich auf die Toilette komme, gibt es hier ziemlich große Turbulenzen. Ich ignoriere sie und laufe nach vorn zur Bordtoilette, deren Tür durch das Ruckeln des Flugzeugs eine Handbreit aufschwingt – und mir rutscht das Herz in die Hose.
Heilige Mutter Gottes!
Mein Blick fällt durch den Spalt auf einen nackten Männerhintern und ein paar Frauenhände, die darüber nach oben fahren. Fassungslos starre ich für Sekunden auf das Bild vor mir. Das muss ein Traum sein, denke ich. Ein Albtraum, wie er einen heimsucht, wenn man vergessen hat, sein Essay über Visual Studies zu schreiben, und sich ausmalt, was Professor Graham schlimmstenfalls mit einem anstellen wird. Das hier ist jedenfalls das Schlimmste, was ich mir gerade ausmalen kann. Ich kann die beiden unmöglich ansprechen, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken, aber wenn ich es nicht tue, wird es gleich noch viel peinlicher für mich.
Ich hole tief Luft und poche zaghaft mit den Fingerknöcheln gegen den Türrahmen. «Entschuldigen Sie bitte …» Mein Gesicht glüht regelrecht auf, und ich räuspere mich. «Es tut mir total leid, aber ich … muss wirklich ganz dringend auf die Toilette, und die andere ist im Augenblick defekt, könnten Sie eventuell später …»
Die Tür bekommt einen Tritt und kracht vor meiner Nase zu. Im selben Moment leuchtet das Besetztzeichen wieder auf, und von den Sitzen ertönt ein Pling für die Anschnallgurte.
Jemand berührt mich an der Schulter, und ich zucke zusammen, als wäre ich an einen elektrischen Zaun geraten. Mein Puls klettert noch weiter in die Höhe.
«Wenn Sie warten möchten, dann müssen Sie sich jetzt hier anschnallen», erklärt mir die Flugbegleiterin und klappt für mich einen Notsitz aus der Wand.
«Okay, danke.» Mit hochrotem Kopf kauere ich mich auf den schmalen Sitz und lege den Gurt um. Am liebsten würde ich in die Wand kriechen. Ich kann nicht glauben, was da gerade passiert. Während ich mir fast in die Hose mache, streben die beiden Vordrängler da drin eine Mitgliedschaft im Mile High Club an. Die Geräusche aus der schlecht isolierten Kabine sind mehr als eindeutig.
Vielleicht sollte ich die Geräuschkulisse für Aubree mit dem Handy aufnehmen. Sie fände das im Gegensatz zu mir wahrscheinlich ziemlich witzig. Oh Gott, ich kann nur hoffen, dass der Typ nicht allzu lang braucht, und bei diesem Gedanken wird mein Gesicht gleich noch heißer. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Der Flieger wird in weniger als einer halben Stunde auf dem Flughafen Manchester-Boston landen, und sobald wir in den Landeanflug übergehen, ist es nicht mehr erlaubt, noch einmal aufzustehen. Ob ich es bis dahin aushalte, ist allerdings fraglich. Kann es eigentlich noch schlimmer kommen?
Dieser Tag ist einfach nur grässlich. Vom Flughafen aus sind es etwa fünfzig Meilen durch dichtesten Wald bis zur Insel – in einer guten Stunde werde ich zu Hause sein. In meinem Magen bildet sich ein fester Knoten, als ich daran denke. Zuhause.
Augenblicklich wünsche ich mir, ich wäre doch im Wohnheim geblieben und hätte mir eine Ausrede einfallen lassen, weshalb ich nicht kommen kann. Irgendetwas, um zu verhindern, dass ich dieses Haus auf der Insel je wieder betreten muss. Aber die Mail klang ziemlich dringend, und Richard Blakely … Ich meine, er ist immer noch mein Stiefvater.
Stöhnend rutsche ich auf dem Klappsitz herum und hypnotisiere den Zeiger auf meiner Uhr, um dann wieder die Bordtoilette anzustarren. Mit den Fingerspitzen trippele ich auf meinen Knien und verfluche mich dafür, diese hautengen Jeans angezogen zu haben, die mir nun den Unterleib einschnüren. In der Toilette rumpelt es, als pralle jemand von innen gegen die Tür. Lieber Gott, das kann alles nicht wahr sein! Wenn ich Pech habe, bricht das Paar gleich noch durch das dünne Blech und fällt mir auf den Schoß. Ich unterdrücke ein Stöhnen und beiße die Zähne zusammen.
Als die Geräusche endlich verebben, kontrolliere ich reflexartig den Zeiger auf meiner Uhr, nur um gleich darauf wieder schamrot anzulaufen. Sieben Minuten. Die Tür geht einen Spalt weit auf, und heraus taumelt eine Frau mit langen blonden Haaren und ziemlich viel Make-up im Gesicht. Aus dem Ausschnitt ihrer Bluse blitzt ein Tattoo. Beim zweiten Blick erkenne ich, dass sie deutlich älter ist, als man es zuerst vermutet. Schnell senke ich den Blick, aber die Situation ist mir offenbar viel peinlicher als ihr, denn sie stöckelt los, ohne auch nur einmal kontrollierend über ihre Kleidung zu tasten. Die Tür schließt sich hinter ihr – und bleibt zu.
Mir ist klar, dass die beiden zur Tarnung nicht gleichzeitig aus der Kabine kommen können, aber muss der Typ sich jetzt noch die Haare stylen, oder warum dauert das so lange? Ich lasse den Gurt aufschnappen und stemme mich hoch. Im selben Moment, in dem meine Hand nach dem Türgriff fasst, wird sie aufgeschoben, und ich blicke in ein Paar viel zu vertraute bernsteinfarbene Augen. Die Brauen darüber wölben sich überrascht in die Höhe.
«Fuck», sagt er.
Genau das habe ich auch gerade gedacht.
Sein Gesicht ist mir so vertraut, als wären die vergangenen vier Jahre ausgelöscht. Als hätte er mir erst heute Morgen am Frühstückstisch gegenübergesessen. Ich kenne jede Einzelheit, weiß, wie ein Grübchen neben seinem Mundwinkel entsteht, wenn er grinst, oder wie er aussieht, wenn sich vor Wut seine Brauen zusammenziehen. Diese kleine Narbe an seiner Oberlippe, die sein Lächeln einen Hauch süffisant aussehen lässt – ich weiß genau, woher sie stammt, und der Gedanke daran lässt quälende Schuldgefühle in mir aufpoppen, die ich schnell wieder wegschiebe. Ich habe jetzt noch im Ohr, wie seine Stimme klingt, wenn er lacht oder einen bissigen Kommentar loslässt, und ich erinnere mich genau an die hundert Male, die sich diese Stimme über mich lustig gemacht hat. Das ist der Punkt, von dem ich mir wünschte, ich hätte ihn längst vergessen.
«Asher», stoße ich überrascht hervor und presse dann die Lippen zusammen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Mein Herz, das spontan einen Sturzflug in meine Eingeweide gemacht hat, schlägt viel zu schnell.
Mit der rechten Hand fährt Asher sich durch das zu lange Haar. Er ist unrasiert, wodurch die kleine Narbe an seiner Oberlippe noch stärker hervortritt. Die Ärmel seines Jeanshemdes hat er hochgekrempelt. Darunter trägt er ein weißes Shirt. Ich kann nicht erkennen, ob er genauso schockiert ist wie ich. Wenn ja, dann hat er sich jedenfalls gut unter Kontrolle.
«Ivy», sagt er, und sein Adamsapfel bewegt sich, als er schluckt. «Bist du auf dem Weg zur Insel? Hat mein Dad dir etwa auch ein Ticket für diesen Flug gebucht?»
Bedeutet das, er wurde ebenfalls von seinem Vater nach Hause zitiert? Aber wie er das sagt: mein Dad. Ich habe den Unterton genau gehört. Und obwohl ich weiß, dass ich nicht richtig dazugehöre, noch nie dazugehört habe, schmerzt dieser Ton doch.
Ashers Mundwinkel biegen sich nach oben, und da ist es, das kleine Grübchen neben seinem linken Mundwinkel. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, es nicht vermisst zu haben, was nur beweist, wie bescheuert ich bin. Denn wie kann man etwas vermissen, das man eigentlich verabscheut?
«Wow», sagt er und grinst noch breiter. «Es ist echt … unerwartet, dich zu sehen.»
Erschreckend, ja. Unerwartet, nein. Allerdings hatte ich gehofft, dieser Begegnung noch etwas länger ausweichen zu können.
Auf Ashers Hals nehme ich feine Schweißperlen wahr, und im nächsten Moment spüre ich, wie sich seine muskulösen Arme um meinen Oberkörper legen. Ich habe Asher seit vier Jahren nicht gesehen, aber der teure holzige Geruch der Blakely-Männerseife ist mir immer noch viel zu vertraut. Genau genommen habe ich diesen Geruch vier Jahre lang nicht aus meinem Kopf bekommen. Offenbar habe ich ein gutes olfaktorisches Gedächtnis. Jetzt allerdings mischt sich dieser Duft mit einem Frauenparfüm. Ich spüre sein kratziges Kinn an meiner Schläfe und seinen Atem, der flüchtig mein Ohr streift.
«Unglaublich», raunt er und hält mich dann auf Armlänge von sich. «Das letzte Mal, als du auf der Insel gewesen bist, warst du fast noch ein Baby. Dir sind inzwischen doch tatsächlich Brüste gewachsen.»
Mein Gesicht wird schlagartig heiß. Das ist so typisch. Mir ist klar, dass er mich nur provozieren will, aber es fällt mir trotzdem schwer, das Schimpfwort zu unterdrücken, das mir auf der Zunge liegt. Ich schaffe es, nur ein leises «Willkommen im Mile High Club» zu flüstern, bevor ich ihn wegschiebe und mich an ihm vorbei in das winzige Klo dränge.
«Als ob du Mitglied wärst.» Asher lacht hinter mir. Auch dieses Lachen ist mir vertraut. Er kann damit gleichzeitig herablassend und schmerzerfüllt klingen, was ich noch nie verstanden habe. Und es macht mich wütend.
Ich drehe mich zu ihm um. «Ich bin die erste Vorsitzende, Arschloch!» Mit Schwung schlage ich die Tür vor seiner Nase zu. Kaum bin ich seinem Blick entkommen, hole ich keuchend Luft und stütze mich an der Wand ab, weil mir das Blut in den Ohren rauscht. Ich höre sein Lachen noch durch die dünne Tür und schimpfe mit mir selbst, weil ich ihm gegenüber nicht einfach gleichgültig reagieren kann. Ich hoffe nur, dass er nicht draußen stehen bleibt und wartet, bis ich wieder rauskomme. Bitte lass ihn einfach verschwinden und vergessen, dass ich existiere! Doch schon in der nächsten Sekunde wird klar, dass Asher mir diesen Gefallen nicht tun wird.
«Soll ich dich gleich mitnehmen?» Seine Stimme klingt freundlich. Viel zu freundlich für den Asher, den ich in Erinnerung habe. «Mein Wagen steht am Flughafen.»
«N… nein», würge ich heraus.
«Ivy», sagt er mit einem dunklen Unterton. «Es ist doch schwachsinnig, wenn du dir extra ein Taxi nimmst. Und mit dem Greyhound bist du Stunden unterwegs, der fährt über Boston. Lass uns zusammen nach Hause fahren.»
«Nein. Danke.»
Wegen der Fluggeräusche kann ich nicht hören, ob er geht, aber nachdem einige Sekunden vergehen, ohne dass er etwas sagt, stoße ich erleichtert die Luft aus.
Mit meinem Verhalten habe ich Asher leider deutlich gezeigt, wie schnell er mich immer noch aus der Fassung bringen kann, und das ist gar nicht gut. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, und ich hasse mich dafür, dass mir jetzt Tränen in die Augen schießen. Hasse es, ihn und seine blöden Sprüche vermisst zu haben. Obwohl mir klar gewesen ist, dass ich Asher höchstwahrscheinlich auf der Insel begegne, fühle ich mich überrumpelt. Er hat sich kein bisschen verändert, und er schafft es immer noch in wenigen Augenblicken, in mir die schlimmsten Eigenschaften zu wecken. Natürlich hatte ich noch keinen Sex im Flugzeug, aber das werde ich Asher bestimmt nicht auf die Nase binden.
Während ich mich hektisch aus meinen engen Jeans quäle, vermeide ich es, mich umzusehen. Bloß nicht in den Mülleimer gucken und dabei noch irgendwelche Spuren von ihm und dieser Frau finden! Doch die Hitze weicht mir nur langsam aus dem Gesicht. Zehn Sekunden in der Gegenwart von Asher Blakely reichen vollkommen aus, um mir in Erinnerung zu rufen, warum ich froh sein sollte, dass ich die Ferien immer bei einer Freundin verbringen musste und nicht nach Hause fahren durfte. Auch wenn ich mit fünfzehn nicht verstanden habe, warum Richard mich in das Internat in der Nähe von New York abgeschoben hat; im Nachhinein ist es das Beste gewesen, was mir passieren konnte. Ansonsten hätte ich irgendwann einen Mord begangen.
Ich starre auf den Seifenspender direkt vor mir, auf dem ein Logo mit schnörkeligem B prangt. Das Logo der Blakelys, also meiner Familie. Unserer Familie. Ich unterdrücke ein Schaudern, und nachdem ich mich endlich erleichtert habe, wasche ich mir trotzdem damit die Hände, obwohl der Geruch in mir viel zu viele Erinnerungen weckt. Wenn ich mir damit nur auch die Gefühle abwaschen könnte, die Asher in mir ausgelöst hat. Er hat etwas an sich, das mir augenblicklich den Brustkorb einengt.
Ich versuche, diese Gedanken abzuschütteln, bevor ich vorsichtig den Kopf durch die Tür nach draußen strecke. Erst nachdem ich mir sicher bin, dass die Luft rein ist, trete ich aus der Kabine. Mit zitternden Knien wanke ich durch den Gang zurück zu meinem Sitzplatz. Als ich an seiner Reihe vorbeikomme, sehe ich demonstrativ in eine andere Richtung, und kaum habe ich meinen Platz erreicht und mir den Rucksack auf den Schoß gezogen, kommt auch schon die Durchsage, dass wir uns im Landeanflug befinden. Die Temperatur in Manchester, New Hampshire, beträgt 26 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von 68 Prozent. Die Sonne scheint auf diesen allerschönsten Ort der USA, wie der Pilot uns mitteilt, und gleich darauf macht er einen blöden Witz über das Landemanöver. Ich kontrolliere den Flugmodus an meinem Handy und will es zurück in die Tasche stecken, da stelle ich fest, dass mein Portemonnaie nicht mehr in meinem Rucksack ist.
Shit. Das kann doch nicht sein.
Hektisch durchwühle ich meine wenigen Habseligkeiten. Mein Bullet Journal ist noch da, Gott sei Dank. Die Zeichenstifte auch. Das Buch, das ich zum Start des neuen Semesters unbedingt gelesen haben will, die einzelne Postkarte, die Aubree und ich uns selbst geschickt haben, als wir im Frühjahr für eine Woche in Mexiko gewesen sind – eine Reise, für die wir sechs Monate gespart hatten –, meine Kopfhörer, das selbstgemachte Lipgloss von Aubrees kleiner Schwester May, eine Schachtel Kaubonbons mit Zimtgeschmack. Aber kein Portemonnaie. Außer meinem Führerschein und der Kreditkarte ist damit nun auch mein Bargeld weg. Erschrocken wende ich mich an meine Sitznachbarin, einer Frau Mitte vierzig, die eine dunkelbraune Sonnenbrille trägt.
«Entschuldigung, haben Sie zufällig gesehen, ob jemand an meinem Rucksack war», frage ich mit einem Zittern in der Stimme. «Eben, als ich kurz aufgestanden bin.»
«Sorry.» Sie kaut auf einem Kaugummi, und es ist nicht mal zu erkennen, ob sie überhaupt die Augen aufhat. Ich will sie nicht verdächtigen, aber für einen Augenblick ist die Vorstellung sehr präsent, wie diese Frau in meinem Rucksack wühlt, wie ihre Finger meine persönlichen Sachen berühren, und ich muss schlucken.
«Hallo», rufe ich nach der Flugbegleiterin und winke sie zu mir heran.
«Getränke gibt es jetzt leider nicht mehr, wir sind schon im Landeanflug.»
«Ich weiß, ich … ähm …» Ich senke meine Stimme, weil ich vermeiden will, dass uns jemand zuhört. Vor allem will ich nicht, dass Asher etwas mitbekommt. «Ich befürchte, irgendjemand hat mein Portemonnaie aus meiner Tasche genommen, als ich eben auf der Toilette war.»
Sie beugt sich zu mir herunter. «Sind Sie sicher, dass es nicht mehr da ist?» Ihr Blick ist skeptisch. Als könnte sie sich nicht vorstellen, dass man jemanden wie mich beklaut, wo ich bloß mit einfachen Jeans und schlichter Sweatshirtjacke bekleidet bin. Ich sehe nicht nur, wie ihr Blick an meinem Körper herunterwandert, ich kann ihn förmlich fühlen.
«Ja, da bin ich sicher.» Ich will jetzt nicht in Panik ausbrechen und zwinge mich, ruhig zu atmen. Das hier ist zu viel auf einmal, und ich muss daran denken, was ich erst heute Morgen mit meinem Brush-Pen in Aubrees Journal gemalt habe:
Meine Probleme sind schöner als deine.
Tja, so viele wie ich gerade habe, muss das wohl stimmen.
«Haben Sie schon überall nachgesehen? Vielleicht haben Sie das Portemonnaie in der Hosentasche?»
Ich hebe eine Augenbraue an, dann klopfe ich demonstrativ meinen rechten Oberschenkel ab. «Ganz bestimmt nicht. Ich habe wirklich alles abgesucht.»
«Auch auf der Toilette? Vielleicht haben Sie es ja neben dem Waschbecken abgelegt?»
Man sollte meinen, eine dämliche Frage pro Gespräch wäre ausreichend. Mist, jetzt kommt die Panik doch. Das Atmen fällt mir schwerer, und mein Puls trommelt in meinem Hals. Ich versuche, mir nichts davon anmerken zu lassen, und atme langsam ein und aus. «Nein, habe ich nicht. Ich hatte es eilig und habe alles im Rucksack gelassen. Er lag die ganze Zeit hier auf meinem Sitz.» Der fast schon hochmütige Ausdruck der Stewardess lässt Wut in mir hochkochen. «Ist natürlich möglich, dass mein Portemonnaie einfach Lust auf einen Ausflug hatte und selbst aus der Tasche geklettert ist. Wie sind denn da Ihre Erfahrungswerte?»
Mittlerweile sind die anderen Passagiere auf unser Gespräch aufmerksam geworden, und es wird getuschelt. Normalerweise bin ich nicht so unfreundlich, aber das muss meiner Verzweiflung geschuldet sein. Oder es liegt an Ashers Anwesenheit. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie er sich zu uns umdreht, und stelle mal wieder fest, dass kein anderer Mensch auf der Welt über einen so spöttisch überheblichen Gesichtsausdruck verfügt.
«Die Sache ist die», sagt die Stewardess, und es ist nicht zu übersehen, dass sie am liebsten mit den Augen rollen würde, «wir können leider nicht das Handgepäck aller Passagiere überwachen. Die Koffer sind selbstverständlich versichert, aber für Ihren Rucksack sind Sie selbst verantwortlich.» Sie wendet sich an meine Sitznachbarin. «Ist Ihnen etwas aufgefallen?»
«Sorry.» Der Kopf der Sonnenbrillenfrau bewegt sich nicht einmal, als sie verneint. Kennt diese Frau eigentlich noch ein anderes Wort? Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe. «Kann man dann vielleicht, ich weiß auch nicht, die Polizei informieren, bevor die Passagiere die Maschine verlassen?» Sobald ich es ausgesprochen habe, wird mir bewusst, wie anmaßend sich das anhört.
Die Stewardess hebt abwehrend die Schultern. Ihre Augen sprechen Bände. «Wir können doch nicht alle Passagiere Ihretwegen unter Generalverdacht stellen. Ich glaube nicht, dass das im Verhältnis …»
«Es ist nur … also wegen meiner Platinum Card.» Ich warte darauf, dass sich ihr Gesichtsausdruck ändert, was er in den meisten Fällen tut, wenn man ein Wort wie Platinum Card in den Raum wirft. Als ihre Augen groß werden und sich ihre Miene von ‹angenervt› zu ‹überaus zuvorkommend› ändert, schäme ich mich, weil das gerade ziemlich armselig von mir war. Ganz abgesehen davon ist es nicht meine Kreditkarte, auch wenn mein Name draufsteht. Es ist die meines Stiefvaters. So wie einfach alles ihm gehört.
«Ach, vergessen Sie’s», winke ich ab. Ich weiche Ashers interessiertem Blick aus, zerre den Reißverschluss meines Rucksacks zu und hänge mir einen der Gurte über den Arm. Mein Haar hängt darunter fest und ziept, aber ich lasse es so, weil ich den Schmerz irgendwie verdient habe.
«Es ist meine eigene Schuld. Sie können ja nichts dafür», sage ich entschuldigend. Warum bin ich auch auf die Toilette gegangen, ohne meinen Rucksack mitzunehmen? Ich bin nicht bloß wütend auf mich selbst, jetzt bin ich wirklich verzweifelt, was niemandem verborgen bleibt, und die Flugbegleiterin zieht mit einem mitleidsvollen Blick ab.
Die nächsten Minuten gehe ich in Gedanken durch, was ich tun muss, und einen Plan zu haben, beruhigt mich wieder: die Kreditkarte sperren lassen, mir ein Taxi suchen und den Fahrer auffordern zu warten, während ich Richards Haushälterin darum bitten muss, diesen zu bezahlen. Und anschließend herausfinden, wie ich die Karten in meinem Portemonnaie ersetze. Das ist zwar nervig, aber keine Katastrophe. Jedenfalls werde ich nicht Asher um Hilfe bitten und mit ihm zur Insel fahren. Das bringe ich einfach nicht über mich.
Als die Maschine landet und ich kurz darauf mit den anderen Passagieren durch den langen Gang zum Terminal haste, überlege ich, mich in einem der Flughafenshops zu verstecken, bis Asher es aufgibt, auf mich zu warten.
Es stellt sich allerdings heraus, dass das gar nicht nötig ist, denn von Asher ist schon am Gepäckband nichts mehr zu sehen. Meine Augen scannen die gesamte Umgebung ab, können sein Jeanshemd und das dunkelblonde Haar aber nirgends ausmachen. Was habe ich denn erwartet?
Dafür kommt die Frau auf mich zu, die sich mit ihm auf der Bordtoilette vergnügt hat. Sie hat unfassbar hohe Schuhe an, die ihre Beine um einen gefühlten Kilometer verlängern, und unwillkürlich werfe ich einen Blick auf die abgewetzten schwarzen Ankle Boots, die ich so gut wie jeden Tag trage.
«Ich bin Kadence Sawyer.» Von der Seite wirft sie mir einen neugierigen Blick zu.
«Ivy Blakely», antwortete ich automatisch, obwohl ich eigentlich nicht daran interessiert bin, Freundschaften mit Ashers Affären zu schließen. Sie ist wirklich hübsch, aber deutlich älter als Asher und dementsprechend noch viel älter als ich. Ich erinnere mich, dass Asher eigentlich immer ältere Freundinnen hatte, aber ich frage mich schon, warum sich eine erfahrene Frau mit einem Typen einlässt, der so offensichtlich ein Arsch ist?
«Du hast denselben Nachnamen wie Asher.» Kadence wirkt überrascht.
«Muss daran liegen, dass wir verwandt sind», murmle ich und ahne gleich, dass es ein Fehler ist und sie mir nun erst recht nicht von der Seite weichen wird.
«Ihr seid verwandt?»
Ich seufze, denn jetzt ist es auch egal. «Asher ist mein Stiefbruder.»
«Oh.» Jetzt sieht sie wirklich neugierig aus. «Ich habe mir schon gedacht, dass ihr euch irgendwoher kennt. Dein Bruder also.» Sie lacht auf. «Das ist ja super.»
Ich verziehe den Mund, weil mir nicht klar ist, was daran bitte super sein soll. Ich freue mich ja auch nicht über einen Gendefekt. «Stiefbruder», wiederhole ich, obwohl das genau genommen nicht richtig ist, denn sein Vater Richard Blakely hat mich nach der Hochzeit mit meiner Mutter adoptiert. Damals war ich zwölf, und ich bin mir sicher, hätte er gewusst, dass meine Mutter drei Jahre später sterben und ihm damit die volle Verantwortung für mich überlassen würde, er hätte sich die Sache mit der Adoption noch einmal reiflich überlegt.
Kadence betrachtet mich neugierig, aber ich achte nicht auf sie und hypnotisiere stattdessen das Rollband, das noch leer an uns vorbeizieht. Schließlich treffen die ersten Gepäckstücke ein, und Kadence zieht einen superschicken, stabilen Hartschalenkoffer vom Band. Es ist mir fast peinlich, nach meiner alten unförmigen Sporttasche direkt dahinter zu greifen, aber ich schlucke den Gedanken schnell herunter. Immerhin habe ich sie von meinem eigenen Geld gekauft und nicht Richard zu verdanken. Trotzdem bemerke ich, wie Kadence irritiert eine Augenbraue anhebt, als sie mein Gepäckstück registriert. «Hast eine harte Zeit hinter dir, was?»
Im ersten Moment bin ich sprachlos. Aber eigentlich kann ich ihr diese Bemerkung nicht einmal verübeln, denn meine Tasche sieht wirklich alles andere als Blakely-like aus. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich damit in die Firmenzentrale in Manchester marschiere, und muss unwillkürlich grinsen. «Kann man so sagen.»
Als wir gemeinsam Richtung Ausgang gehen, entdecke ich einen dieser Werbestände von American Express, wo Mitarbeiter Neukunden anwerben, und erleichtert bleibe ich stehen. «Entschuldige, Kadence. Es hat mich wirklich gefreut, dich kennenzulernen, aber ich muss dringend nach … Hause.» Dieses Wort auszusprechen, sorgt dafür, dass ich danach erst einmal tief Luft holen muss. «Und ich muss hier noch schnell was erledigen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Also wenn … ähm, du und Asher … Kennt ihr euch schon länger?»
Was ich eigentlich damit meine, ist länger als die halbe Stunde, bevor er mit ihr auf der Toilette verschwunden ist, aber das auszusprechen, kann ich gerade noch unterdrücken. Nur befürchte ich, dass Kadence mir meine Gedanken ohnehin vom Gesicht ablesen kann.
Sie bleibt stehen, wirkt aber völlig ungezwungen. «Ehrlich gesagt kenne ich Asher schon ziemlich lange. Auch wenn es dich vielleicht schockiert, aber ab und zu, wenn wir beide Lust dazu haben, treffen wir uns. Von dir hat er allerdings noch nie etwas erzählt.» Ihr Blick fällt nachdenklich von oben auf mich herab, als würde sie sich ernsthaft darüber wundern.
Mich wundert das allerdings überhaupt nicht. «Sorry, ich wollte nicht neugierig sein. Das alles geht mich wirklich gar nichts an. Aber wenn ich ehrlich bin», tief hole ich Luft, «ich würde an deiner Stelle wahrscheinlich seine Nummer blockieren.»
Kadence lacht auf. «Du hast recht», sagt sie. «Das geht dich wirklich gar nichts an.» Mit einer geübten Handbewegung streicht sie ihr langes Haar über ihre rechte Schulter. «Vielleicht sehen wir uns wirklich irgendwann noch mal, Ivy Blakely.» Sie winkt mir zum Abschied mit einer Hand zu.
«Ja, vielleicht», sage ich möglichst gelassen. Und im Stillen beschließe ich für mich, um sie und vor allem um Asher in den nächsten Tagen einen großen Bogen zu machen.