Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Det blinda spelet» bei Norstedts/Norstedts Förlagsgrupp AB, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Det blinda spelet» Copyright © 2019 by Mark Johnson / Norstedts, Stockholm
Redaktion Anja Lademacher
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40355-0
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40355-0
Für meine Mutter,
die mich mit in die Bibliothek nahm.
Aber wenn die Wächter nicht glücklich sind,
wer soll es sonst sein?
Aristoteles, Politik
Das Armaturenbrett leuchtete einen kurzen Moment auf, nachdem der Motor verstummt war, und Jonatan sah sein Spiegelbild in der Frontscheibe aufblitzen. Seine Vergangenheit als politischer Berater in der schwedischen Regierungskanzlei brachte ihm in dieser Situation jedenfalls keinen Vorteil, genauso wenig wie das halbe Jahr Thaibox-Training, das hinter ihm lag. Sein einziger Vorteil bestand darin, dass keiner der Männer hier wusste, was er als Nächstes vorhatte.
Im Rückspiegel sah er, wie aus dem grünen Geländewagen zwei Männer ausstiegen und sich langsam auf Jonatans Auto zubewegten. Unter ihren Jacken zeichneten sich die Umrisse von Schusswaffen ab. Sofort startete Jonatan den Motor, drehte das Lenkrad ganz nach rechts und trat das Gaspedal durch.
Er war selbst davon überrascht, wie schnell alles ging. Mit dem linken Scheinwerfer schrammte er eine der Betonbarrieren – das Geräusch von splitterndem Glas erklang, bevor der Wagen laut dröhnend den Kai entlangraste und auf das eiskalte Meerwasser am Ende des Hafens zusteuerte. Er beschleunigte auf siebzig Stundenkilometer, einen Meter links von ihm die Kaimauer. Er richtete seinen Blick starr geradeaus. Als er die Ecke eines Palettenstapels streifte, schaute er nach rechts und sah, wie der grüne Jeep zurücksetzte. In einem geschmeidigen Manöver wendete der Fahrer das Auto, das größer und bulliger als Jonatans Mitsubishi war und diesen ohne Probleme ins Wasser schieben konnte, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben sollte.
Jonatan wurde klar, dass er sich vom Rand des Kais entfernen musste. Kurz bevor er die Containergebäude erreichte, ging er vom Gas und lenkte das Auto rechts an ihnen vorbei. Die Reifen quietschten auf dem kalten und feuchten Asphalt. Jetzt hatte er die Busse bei den Absperrgittern vor sich, Menschen stiegen ein. Gerade als er wieder nach rechts steuern wollte, blitzte ein Lichtstrahl in seinem Augenwinkel auf, und der grüne Jeep prallte in seinen Kofferraum, wobei sich die grinsende Frontpartie des Geländewagens durch das Blech fraß und Funken die Luft erfüllten. Mit einem fürchterlichen Krachen riss die hintere Stoßstange des Mitsubishis ab.
Jonatans Lenkrad entwickelte plötzlich ein Eigenleben, wurde aus seinen Händen gerissen und drehte sich wie wild. Durch den Regen, der auf die Windschutzscheibe prasselte, konnte er kaum etwas erkennen. Schließlich bekam er das Steuer wieder zu fassen und gab Gas.
Links flog das Terminalgebäude an ihm vorbei. Er schaltete die Scheibenwischer ein, presste seine Kiefer so fest aufeinander, dass sie schmerzten, und sah das nächste Problem bereits vor sich: Zwischen den Betonblöcken an der Ausfahrt wartete noch immer der zweite Geländewagen, glänzend schwarz stand er dort wie ein unheilvoller Schatten. Ein Frontalzusammenstoß wäre auf jeden Fall tödlich, schoss es Jonatan durch den Kopf, während sich von hinten bereits der grüne Geländewagen näherte.
Hektisch hantierte er an seinem Sicherheitsgurt herum, steckte die Schnalle mit einem Klicken ins Schloss und legte einen niedrigeren Gang ein. Dann drückte er das Gaspedal durch und ließ die Kupplung kommen.
«Was machst du denn da?», schrie Betty vom Rücksitz aus.
Das Auto schoss nach vorne, und Jonatan hielt auf die beiden Männer zu, die aus dem schwarzen Auto ausgestiegen waren. Drei der Betonbarrieren waren bei seinem vorherigen Manöver umgekippt, sodass die Absperrung jetzt nicht mehr viel höher als eine Bordsteinkante war.
Jonatan ließ seinen Fuß auf dem Gaspedal, und kurz bevor er mit voller Wucht auf die umgestürzten Betonblöcke traf, warfen sich die beiden Männer zur Seite. Der vordere Teil seines Autos wurde in die Luft gerissen, während der Motor weiterheulte. Sie schlugen auf der anderen Seite der Absperrung auf und hörten, wie der Unterboden über den Kies schleifte.
Das Auto ließ sich kaum noch steuern. Es schlitterte an einer weiteren Absperrung vorbei, wo zwei Polizisten standen, die klug genug waren, sich ihm nicht in den Weg zu stellen, sondern sofort zu ihrem Streifenwagen sprinteten.
«Was zur Hölle treibst du?», rief Betty und drehte sich nach hinten um. «Wir müssen mit der Polizei reden.»
Jonatans Kiefer schmerzten. Er fuhr über eine rote Ampel und trat wieder aufs Gas. Doch obwohl er das Pedal bis zum Anschlag durchdrückte, wurde der Wagen nicht schneller. Das Lenkrad zitterte in seinen Händen. Wahrscheinlich blockierte das eingedrückte Heck die Lenkung. Im Rückspiegel sah er, wie mehrere Fahrzeuge die Verfolgung aufnahmen.
Bis zum Valhallavägen war es weniger als ein Kilometer, und der Verkehr wurde immer dichter. Vor ihm tauchte ein weißer Kastenwagen auf, der ihm keine andere Wahl ließ, als das Tempo zu drosseln.
Verdammt.
Die Geländewagen kamen wieder näher. Sie überholten einige Autos, und sein Vorsprung schrumpfte weiter. Jonatan beschleunigte und lenkte sein Auto auf die Gegenfahrbahn, einer der beiden Jeeps folgte ihm.
Ein entgegenkommender Kleinbus konnte gerade noch ausweichen, ein Taxi fuhr auf den Gehweg, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
Jonatan lenkte den Wagen wieder zurück auf die rechte Spur, sodass der Jeep hinter ihm dem Taxi ausweichen musste und dabei auf der nassen Fahrbahn beinahe den Halt verlor.
Jonatan sah, wie die Ampel weiter vorne auf der Kreuzung auf Grün umsprang. Kurz überlegte er, einen weiteren Überholvorgang zu starten, als der Jeep zum zweiten Mal in seinen Kofferraum krachte und er für einen kurzen Moment die Kontrolle verlor. Die Wucht des Aufpralls schob ihn erneut über die Mittellinie. Der Fahrer eines entgegenkommenden Autos stieg so heftig in die Eisen, dass sein Fahrzeug zu schlingern begann und auf Jonatan zuschoss.
Er sah ein, dass es vorbei war.
Der Gutshof Cederström im Bergbaugebiet Bergslagen wäre wohl kaum in den Geschichtsbüchern erwähnt worden, wenn nicht ein junger Mann den Hof im Winter des Jahres 1791 besucht hätte. Es sei ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen, erklärte Graf Axel von Cederström dem Polizeipräsidenten ein Jahr später.
Der Graf hatte sich an diesem Tag in der Bibliothek seiner Korrespondenz gewidmet, wie er es oft nach dem Mittagessen tat, als auf dem Hofplatz vor dem Fenster das Geräusch von Hufschlägen ertönte. Er spähte hinaus und konnte durch das Fensterglas einen einsamen Reiter erkennen.
Der alternde Graf musterte das Gesicht des Fremden und durchforschte seine Erinnerungen. Er war überzeugt davon, diesen Mann noch niemals zuvor gesehen zu haben. Der Reiter saß ab und humpelte in Richtung des Eingangs. Sein Stockdegen und die fleckenfreien Kavalleriestiefel wiesen ihn deutlich erkennbar als Offizier aus. Nur ein Offizier, der sein Pferd im Griff hatte, war in der Lage, mitten im Winter bis zu Cederströms Gutshaus zu reiten, ohne dabei schmutzig zu werden.
An der Tür stellte der Fremde sich als Hauptmann Anckarström vor, merkte aber an, dass er aus der Armee ausgeschieden sei. Er bat den Grafen um ein kurzes Gespräch, es gehe um die Zukunft des Königreichs. Anschließend wolle er nach Stockholm zurückkehren. Der Graf, der den größten Respekt für die königlichen Offiziere hegte, bat ihn einzutreten. Er bot Anckarström an, sich in einem Sessel am offenen Feuer niederzulassen, wo er sich aufwärmen könne. Den angebotenen warmen Punsch lehnte der Hauptmann aber dankend ab. Eine Weile lang saß er reglos da und starrte auf seine zitternden Hände, während er kaum hörbar vor sich hin murmelte.
«Womit kann ich Ihnen dienen?», erkundigte sich der Graf.
«Crimen laesae maiestatis», antwortete der Mann und sah ihn mit einer furchterregenden Eindringlichkeit an. «Hochverrat. Beistand bei einer Sache im Interesse der Nation.»
Ein Jahr später sollte ebendieser Anckarström König Gustav III. auf einem Maskenball erschießen. Bereits am nächsten Tag wurde er festgenommen. Er bekannte sich schuldig und gab zu, Graf Cederström getroffen zu haben, erklärte aber auch, dass das Treffen «keine Früchte getragen» habe. Dennoch sei dem Anliegen des Hauptmanns mit «kaltblütiger Ruhe und herzlicher Ermunterung» begegnet worden, was dem Polizeipräsidenten im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Ereignisse besonders kompromittierend erschien. Außerdem erachtete er es als notwendig, den anderen Adelsfamilien des Landes deutlich zu machen, dass derartige Gespräche über die Krone in keinem Fall zu akzeptieren waren.
Als der Graf wiederum vom Polizeipräsidenten verhört wurde, stritt er zunächst jeglichen Kontakt zu dem Meuchelmörder ab, besann sich dann aber, als ihm der Polizeipräsident mit der Konfiszierung des Gutshofs drohte, und berichtete detailgetreu über das Treffen mit Anckarström.
Am selben Tag, an dem der Königsmörder in Stockholm hingerichtet wurde, entsandte der Hof einen Repräsentanten zum Gutshof, um Cederström mitzuteilen, dass er fünf Jahre lang Strafsteuern würde zahlen müssen. Der Grund für diese Bestrafung wurde nie publik gemacht, aber die Bauern und Pächter auf den Feldern des Gutshofs zogen schnell ihre eigenen Schlüsse: Der Graf hatte bei der Ermordung des Königs eine Rolle gespielt. Und trotz der vielen guten Vermächtnisse, die der alternde Graf hinterlassen würde – er hatte die einzige Landwirtschaftsschule der Region aufgebaut, eine geregelte Landwechselwirtschaft eingeführt und eine der größten Werkzeugfabriken des Landes finanziert –, war sein Ruf nicht mehr zu retten. In den folgenden Jahren hatte der Gutshof mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Pächter und Bauern wehrten sich gegen die Landabgaben, und als nach fünf Jahren die letzte Strafsteuer bezahlt war, hatte Axel von Cederström Bankrott gemacht. Eigene Kinder hatte er nicht.
Ein Jahr darauf brachte er sich in ebenjenem Sessel um, in dem damals Anckarström gesessen hatte.
Um zweihundert Jahre später zum Gutshof zu gelangen, musste man sich durch längst vergessene Ortschaften und kleine Dörfer schlagen. Die neuen Besitzer des Hofs hatten keine Mühe darauf verwendet, die Zufahrtsstraßen zu modernisieren.
Jonatan Stark hatte schon vom Gutshof Cederström gehört und stellte sich eine Art Camelot vor, das in überwuchertem und hügeligem Gelände versteckt lag. Ein idealer Ort für politische Beratungen weit weg vom Großstadtgewimmel. Er kannte diese Art von Treffen, war selbst schon mit Papierstapeln zu Verhandlungsorten mitten im Nirgendwo geschickt worden, um vor Männern mit versteinerten Mienen Vorträge zu halten, die eigentlich nur darauf warteten, endlich auf die Jagd gehen zu können.
Nach einer Stunde in dem BMW, der über verschlungene Straßen durch den Wald raste, machte sich eine leichte Übelkeit bei ihm bemerkbar. Seit dem Tag, als er von dem Unfall erfahren hatte, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren, hasste er es, so hilflos als Beifahrer im Auto zu sitzen, es verursachte jedes Mal ein Gefühl der Beklemmung – auch jetzt.
«Geht es Ihnen nicht gut?», fragte der Fahrer, der Bo Kessler hieß und ein eigenes Consultingbüro betrieb, das Investmentanalysen und strategische Beratungen anbot.
«Ich komme schon klar», sagte Jonatan.
«Sicher?» Der Mann hinter dem Steuer ging ein wenig vom Gas. «Wir sind gleich da.»
Jonatan konnte hören, wie der Hybridmotor vom elektrischen in den Verbrennungsbetrieb schaltete, was beinahe wie ein Tonartwechsel klang.
«Das letzte Stück ist das schlimmste», sagte Kessler. «Zu der Zeit, als der Gutshof errichtet wurde, konnte ein Eichhörnchen hier in die Baumspitzen klettern, ohne den Boden auf seinem Weg nach Süden noch einmal berühren zu müssen, bevor es den Strand bei Travemünde erreichte.»
Am Abend zuvor hatte Kessler vor dem Fitnessstudio in der Kocksgatan auf Jonatan gewartet. Jonatan wohnte allein und trainierte oft noch am späten Abend. Nach seiner Zeit als politischer Berater für Energiefragen im schwedischen Regierungssitz Rosenbad lebte er vom Arbeitslosengeld, um so finanziell die Zeit zu überbrücken, bis er im nächsten Jahr wieder in die Forschung wechseln und weiter an seinen Untersuchungen zu Solarzellen arbeiten würde.
Kessler war offensichtlich kein Mann, der viel Sport trieb, für solche Dinge hatte er wahrscheinlich keine Zeit. Für Berater wie Bo Kessler war Zeit ein rares Gut. Das kleine bisschen Übergewicht nahm er dabei wohl einfach in Kauf. Mit Männern von Kesslers Sorte hatte Jonatan schon oft zu tun gehabt. Gewöhnlich tauchten sie in den entscheidenden Momenten auf und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren. Was andere von ihnen dachten, war ihnen völlig egal, und sie waren kaltschnäuzig und skrupellos. Männer wie Bo Kessler scheuten sich nicht davor, die Privatsphäre anderer Menschen zu verletzen.
Auf dem Bürgersteig vor dem Fitnessstudio war Kessler am Abend zuvor rastlos hin und her gelaufen. Seine linke Hand war in seiner Hosentasche vergraben, und er hatte die Stimme gesenkt, während er mit Jonatan sprach und die Passanten an ihnen vorbeigingen.
Das schwedische Gasnetz wechselt bald wieder seinen Besitzer, hatte er erklärt. Das wird ein historischer Deal, und wir brauchen dringend einen politischen Sachverständigen wie Sie an unserer Seite, der noch für die frühere Regierung gearbeitet hat und erläutern kann, wie man damals darüber gedacht hat.
Jonatans Bauchgefühl sagte ihm sofort, dass er ablehnen sollte. Sein Interesse für Politik hatte sich weitestgehend verflüchtigt, auch wenn ihn Energiethemen immer noch interessierten und er sich in diesem Bereich gut auskannte. Als er noch in Rosenbad tätig gewesen war, hatten die anonymen Eigentümer hinter LSI Holdings das schwedische Gasnetz erworben. Dabei waren Bestechungen und Erpressungen im Spiel gewesen, und auch jetzt waren sie als Netzbetreiber nicht gerade beliebt. Als ihre Geschäftsmethoden dann in den Medien publik wurden, war es politisch nicht mehr tragbar, dass sie im Besitz eines so wichtigen Teils der schwedischen Infrastruktur blieben. Daher setzte sich die Regierung inzwischen dafür ein, dass das Gasnetz vom staatlichen Energiekonzern Sveakraft zurückgekauft wurde.
Wie haben Sie mich gefunden?
Kessler hatte sich beim Energieministerium über Jonatan Stark erkundigt und so herausgefunden, wo er abends normalerweise unterwegs war.
Ihre Kollegin Mikaela Paulsson sagt, Sie seien ein Boxfreak, hatte Kessler gefeixt. Außerdem sagt sie, dass Sie mal wieder raus in die echte Welt müssen. Sie haben zu viel Zeit und zu wenig zu tun, findet sie.
Also hatte Jonatan zugestimmt, Kessler als Sachverständiger zu dem Treffen auf Gutshof Cederström zu begleiten. Sie hatten sich auf ein Honorar geeinigt, das ungefähr einem Monatslohn entsprach. Allein das hätte Jonatan schon stutzig machen müssen, doch er entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken.
Gerade kamen sie an einem geschnitzten Wegweiser aus Holz vorbei, der anzeigte, dass es noch zwei Kilometer bis zum Gutshof waren. Jonatan rieb sich mit den Händen über das Gesicht, um seinen Kreislauf in Fahrt zu bekommen, denn er fühlte sich abgeschlagen und müde.
«Der Gutshof ist mittlerweile in russischem Besitz», sagte Kessler. «Wussten Sie, dass Anckarström, lange bevor er den König erschoss, verdächtigt wurde, ein russischer Spion zu sein?»
«Nein.»
«Das erste Geld, das Russland in der Zeit von Glasnost verlassen hat, ging hierher in den Bergslagen.»
«Das bezweifle ich.»
«Hier wurde etwas Einzigartiges geschaffen. Aber wie auch immer, erzählen Sie mir lieber Ihre Geschichte.»
«Welche Geschichte?»
«Auf dem Treffen wird vielleicht jemand wissen wollen, wer Sie sind. Es wäre klug, ein paar Antworten parat zu haben.»
«Ich denke, da haben Sie sicher schon eine Idee.»
«Ich?» Kessler lächelte, musste aber nicht lange nachdenken. «Solarzellenforscher von internationalem Rang. Politischer Berater des ehemaligen Staatsministers. Experte für Energiefragen. Vertraut mit den politischen Vorgängen rund um den Verkauf des Gasnetzes.»
«In das Geschäft selbst war ich nicht involviert.»
«Es wird niemanden interessieren, was Sie genau über das Geschäft wissen. Das Einzige, was man dort hören will, ist, wie es war, für Staatsminister Anders Ekholm zu arbeiten.»
«Was genau soll ich dann eigentlich dort?»
«Wir sollen einfach dafür sorgen, dass der Vertrag unterzeichnet wird. Beide Geschäftspartner haben der Verhandlung zugestimmt, LSI Holdings will fünfzehn Milliarden, Sveakraft wird eventuell ein wenig feilschen. Sie müssen nichts weiter tun, als zuzuhören und das zu machen, was ich Ihnen sage.»
Jonatan wartete, aber Kessler machte keine Anstalten, weiter ins Detail zu gehen. Noch wusste er nicht viel über ihn.
«Wie gesagt, es ist ein historischer Deal», fuhr Kessler fort. «Und glücklicherweise wird niemand darüber berichten. Alle Medien haben sich auf den Kutter eingeschossen.»
Jonatan klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war feucht und seine Lippen trocken. «Welchen Kutter?»
«Die Athena», sagte Kessler. «Dieses Flüchtlingsschiff, das auf dem Weg nach Stockholm ist. Vierhundert Menschen an Bord. Bis auf den Värtahafen haben alle Häfen dem Schiff das Anlegen untersagt.»
«Werden die Flüchtlinge bleiben dürfen?»
«Schauen Sie keine Nachrichten?»
«Nein. Ich habe mir lieber Ihre Homepage angeschaut», sagte Jonatan, um das Thema zu wechseln, «und habe gesehen, dass Sie strategische Beratungen und Investmentanalysen anbieten.»
«Das stimmt.»
«Warum finde ich dort nichts darüber, dass Sie in der Rüstungsindustrie gearbeitet haben?»
Wieder lächelte Kessler. Das Haar an seinen Ohren war schon ein wenig lichter geworden, auf dem Scheitel war er vollständig kahl. «Jeder, der mir zum ersten Mal begegnet und mich gegoogelt hat, glaubt, dass ich mich mit Infrastrukturfragen beschäftige. Sie nicht?»
«Nein», antwortete Jonatan. «Ich nicht.»
«Wie haben Sie das herausgefunden?»
«Ihrem Facebook-Profil zufolge gehen Sie im Januar gern in Sälen Ski fahren. Sie haben keine Kinder. Man fährt im Januar nicht in Sälen Ski und zwängt sich durch die Kindermassen auf den Hängen – es sei denn, man ist ohnehin dort, um an der jährlichen Konferenz für Sicherheitspolitik teilzunehmen.»
«War ich auf einem Foto zu sehen?»
«Vor der Skipiste mit dem Verteidigungsminister.»
«Das habe ich hinter mir gelassen.»
«Wenn Sie das sagen.»
«Wollen Sie wissen, weshalb?» Kessler nickte, als hätte er nichts zu verbergen. «Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich die ganze Politik und diese Abendessen satthatte und eingesehen habe, dass all das Gerede die Konflikte in dieser Welt nur verschlimmert?»
«Ich würde Ihnen nicht glauben.»
Kessler verdrehte die Augen. «Indien rüstet gerade auf. Schmutziger kann es nicht werden, wenn die größte Demokratie der Welt im Begriff ist, sich ein neues Verteidigungssystem zu kaufen. Außerdem verabscheue ich Curry und Tandoori.»
Jonatan schwieg.
«Das ist mein Ernst», sagte Kessler, «dieses Kapitel ist für mich beendet, keine Verbindungen mehr vorhanden. Ab sofort kümmere ich mich nur noch um die Infrastruktur. Ich bringe Experten zu verschiedenen Zeitpunkten in den Prozess ein. Wie Sie gerade. Ein Monatslohn für ein paar Stunden auf Gut Cederström ist doch nicht übel, oder?»
«Es bleibt bei diesem einen Auftrag», stellte Jonatan klar.
«Sicher.»
«Das ist eine einmalige Sache.»
«Wir sorgen nur dafür, dass heute die Absichtserklärung unterzeichnet wird. Ich war schon bei großen Ereignissen ganz nah dran, habe sogar zwei amerikanischen Präsidenten die Hand geschüttelt, aber das heute ist etwas Außergewöhnliches.»
Sie fuhren durch ein herrschaftliches Tor, ehe sie auf den Platz vor dem alten Wohnhaus einbogen. Das Haus war im klassizistisch gustavianischen Stil restauriert worden, aber die russischen Eigentümer hatten dabei der Versuchung nicht widerstehen können, dem Gutshof auch ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Zwei Flügel waren angebaut worden, beide mit einem Erker aus Glas, von denen aus man den Vorplatz gut überblicken konnte. Der eigentliche Zweck der Erker bestand, wie Jonatan vermutete, jedoch eher darin, dass die Gäste vom Haus aus bequem ihre Autos miteinander vergleichen konnten.
Während Kessler das Auto parkte, blickte sich Jonatan nach hinten um. Auf dem Eingangstor waren Überwachungskameras angebracht, und daneben befanden sich vier riesige Scheinwerfer, die ohne weiteres auch die Landebahn für einen Jumbojet hätten ausleuchten können. Außerdem war die gesamte Vorderseite des Geländes von einer zwei Meter hohen weißen Mauer begrenzt.
Jonatan stieg aus dem Wagen, schaute nach oben in den grauen Himmel und ließ seine dunklen Locken im Wind wehen. Die düsteren Wolken kündigten noch schlechteres Wetter an. Er hatte nicht an eine Regenjacke gedacht, als er sich für seinen einzigen maßgeschneiderten Anzug entschieden hatte. Als er dort stand, genauso schlecht auf das drohende Unwetter vorbereitet wie auf seine Aufgabe hier, kam es ihm so vor, als erhielte er eine Warnung:
Wenn du dich zu lange in diesem Milieu aufhältst, wird es dich vernichten.
Schnell schritten sie über den Kies auf dem Vorplatz. Außer ihnen war niemand zu sehen, allerdings parkten noch vier weitere Autos neben Kesslers BMW. Hinter den Eingangstüren zum Hauptgebäude reihten sich Jagdstiefel aneinander, und entlang der Wände hingen Gewehre an Halterungen. Ein junger ganz in Weiß gekleideter Portier erwartete sie hinter dem Rezeptionstresen. Seine Wangen waren so glatt, als hätte er die Pubertät noch vor sich.
Jonatan und Kessler wurden gebeten, ihre Führerscheine vorzuzeigen. Der Portier studierte sie genau und verglich ihre Namen mit einer Liste auf seinem Computer. «Der Konferenzraum befindet sich am Ende der Empore», sagte er und gab ihnen die Führerscheine zurück. «Gibt es irgendwelche Gegenstände, die Sie an der Garderobe lassen möchten?»
Kessler gab seine Aktentasche und die Autoschlüssel ab und nahm sich eine der Tageszeitungen vom Tresen. Dann führte er Jonatan in den Speisesaal auf der linken Seite.
In der Mitte des Raums stand ein langer Tisch, auf dem ein Buffet angerichtet worden war. Früher schien dieser längliche, schmale Raum einmal als Bibliothek gedient zu haben, und er konnte sicher bis zu einhundert Gäste aufnehmen. Jetzt war er jedoch menschenleer – bis auf zwei Männer, die neben dem offenen Kamin am anderen Ende des Raums saßen.
«Eine der Hauptpersonen heute», flüsterte Kessler Jonatan zu. «Lars Lassard vertritt LSI Holdings. Beeindrucken Sie ihn, und Sie können sich jeden Job in der Risikokapitalbranche aussuchen, den Sie wollen.»
Den letzten Satz überhörte Jonatan und betrachtete die Männer, die beide in ihre Mobiltelefone vertieft waren.
«Folgen Sie mir, dann stelle ich Sie vor.»
Kessler ging auf dem knarzenden Parkettboden voran, und noch bevor Jonatan beim Kamin angekommen war, nahm einer der Männer sein Telefon ans Ohr, erhob sich und ging in den angrenzenden Raum hinüber.
Der andere Mann schaute kaum auf, während er geduldig Kesslers Statusbericht über sich ergehen ließ. Schließlich wandte der Mann sich Jonatan zu und musterte ihn auf die abschätzige Art, die sich mächtige Männer für den am wenigsten Einflussreichen im Raum vorbehielten.
«Das ist Jonatan Stark», sagte Kessler. «Ehemaliger Berater in Rosenbad.»
«Ist das wirklich nötig?», lamentierte Lassard. «Es sind schon viel zu viele involviert.»
«Stark hat dem letzten Staatsminister Anders Ekholm zugearbeitet. Er kennt sich mit den Vorgängen um das Gasnetz aus.»
Lassard zog sich am Ohrläppchen. Am anderen Ende des Raums betraten einige Kellnerinnen in weißen Hemden und schwarzen Röcken den Raum.
«Sie arbeiten also für Kessler», konstatierte Lassard, «und wollen sicherstellen, dass alles in trockene Tücher kommt?»
Seine Stimme klang kühl und ein wenig höhnisch.
«Er hat das richtige Profil», fuhr Kessler fort. «Wir brauchen jemanden, der uns die Perspektive der alten Regierung darlegen kann. Vielleicht kommen bestimmte Fragen auf, die er beantworten kann.»
Schlagartig wurde Lassard ernst. «Politische Fragen?»
«Sie wissen, wie das abläuft», sagte Kessler, «nichts ist sicher, bevor es nicht unterschrieben ist.»
Lassard schnitt eine Grimasse und zog sich erneut am Ohrläppchen. «Sie kennen sich also mit dem Gasnetz aus?»
«Es ist nicht mein eigentliches Aufgabengebiet …», erwiderte Jonatan.
«Aber …»
Jonatan zuckte mit den Schultern. «Aber es ist ziemlich einleuchtend, dass der Staat im Besitz des Gasnetzes sein sollte. Es war nicht gerade die ruhmvollste Tat der letzten Regierung, es zu verkaufen.»
«Wenn kurz vor dem Eintreffen der Gäste eine Wasserleitung platzt, ist es gut, den Klempner vor Ort zu haben», warf Kessler mit einem nervösen Lachen ein. Lassard und er wechselten einen langen Blick, es wirkte wie eine eingehende Unterhaltung, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Sie kannten sich ziemlich gut, das jedenfalls wurde Jonatan klar.
«Kommt außer Sveakraft noch jemand?», fragte Lassard.
«Der Staatsminister schickt jemanden her.»
«Was ist mit Kjell Morén?»
Kessler schlug die Zeitung auf und hielt sie Jonatan und Lassard hin. «Morén muss abtreten» lautete die Schlagzeile auf der ersten Seite. Das Bild zeigte einen Mann mit verängstigtem Blick, der hastig in ein Auto stieg.
Der scheidende Energieminister Kjell Morén stand ganz allein vor den Medienvertretern im Pressesaal von Rosenbad, der den Namen Bella Venezia trug. Normalerweise hätten Sicherheitskräfte mit Checklisten an der Tür gestanden, und normalerweise hätte die Pressekonferenz nach den Morgenbesprechungen der Nachrichtenredaktionen stattgefunden, aber nichts in den vier Wochen, in denen Kjell Morén das Amt des Energieministers innegehabt hatte, war in irgendeiner Form normal gewesen. Viele waren überzeugt davon, dass er heute seinen Rücktritt bekanntgeben würde.
Morén war großgewachsen und hatte graues zurückgekämmtes Haar. Er trug dasselbe Hemd und dasselbe Sakko wie am Tag zuvor, als er dem Medienrummel vor dem Energieministerium und den Kameras auf dem Weg zum Taxi in geduckter Haltung entflohen war.
Betty Lind saß während der Pressekonferenz in der hintersten Reihe und betrachtete die Lage, zu der sie selbst mit beigetragen hatte. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und politische Redakteurin bei Dagens Nyheter, der größten schwedischen Tageszeitung. Sie stellte sich dieselbe Frage wie alle anderen im Pressesaal: Würde Morén die Vorwürfe entkräften können?
Während des Wahlkampfs hatte Kjell Morén sich begeistert für ein geteiltes Elterngeld und gleichgestellte Renten ausgesprochen. Seine politischen Gegner bezeichnete er gerne als Chauvinisten, selbst wenn es dafür eigentlich keine Gründe gab. Und dann war eine zehn Jahre alte Fotografie auf Bettys Schreibtisch gelandet. Das Bild zeigte, wie Morén eine offensichtlich berauschte, beinahe bewusstlose Frau begrapschte. Betty schrieb einen Leitartikel mit der Überschrift «Ist Morén wirklich Feminist?» und veröffentlichte das Foto. Am nächsten Tag meldeten sich drei weitere Frauen, die Morén sexuelle Nötigung unter Alkoholeinfluss vorwarfen.
«In der letzten Zeit habe ich viele Menschen kennengelernt», erklärte Morén und sah in die Gesichter der Reporter, «Alleinerziehende, Lehrer, Beamte, Krankenpfleger, Arbeitslose, Langzeiterkrankte und viele andere mehr. Von uns Politikern wird erwartet, dass wir Veränderungen herbeiführen, und einige Wochen lang konnte ich daran arbeiten, diese Erwartungen zu erfüllen.»
Er legte eine Pause ein. Es war deutlich zu erkennen, dass ihm die Situation zu schaffen machte. Seine verschlossene Miene deutete an, dass auch er mittlerweile den Ernst der Lage erkannt hatte.
«Ich kann unmöglich alle Vorwürfe entkräften. Ich würde das gerne tun, aber es ist, als … gelänge mir das nicht. Es war nie meine Absicht, irgendjemanden zu verletzen oder zu kränken. Was vor zehn Jahren geschehen ist … ich habe die Betroffenen kontaktiert und sie um Entschuldigung gebeten.»
Es wurde still im Saal, und Betty hatte ein wenig Mitleid mit dem gequält wirkenden Energieminister.
«Ich habe Fehler gemacht, für die ich mich schäme. Und ich übernehme die Verantwortung dafür und ziehe mich aus den Regierungsgeschäften zurück. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Falls Sie Fragen haben, stellen Sie sie bitte jetzt, denn weder ich noch ein anderes Mitglied der Regierung wird diesen Vorfall in Zukunft weiter kommentieren. Vielen Dank.»
Morén verließ das Pult, stieg vom Podium und blieb an einem der Seitenausgänge stehen. Alles war in weniger als einer Minute über die Bühne gegangen.
Während andere Reporter nach vorne eilten, um weitere Kommentare einzufangen, blieb Betty auf ihrem Platz sitzen. Sie würde lieber sofort in die Redaktion fahren und dort einen Artikel über Moréns Rücktritt schreiben, doch als sie aufstehen wollte, bemerkte sie, dass sie eine neue E-Mail empfangen hatte. Sie öffnete die Nachricht auf ihrem Smartphone.
ICH HABE WEITERE INFORMATIONEN FÜR SIE.
Im Lauf der letzten Monate hatte Betty mehrere solcher Mails erhalten, alle kurz und prägnant, in Großbuchstaben verfasst und stets von derselben anonymen Adresse. Wer auch immer der Verfasser der Mails war, diese Person versorgte Betty mit gut verwertbarem Nachrichtenmaterial. Eine Sekunde später traf bereits eine weitere Mail ein, deren Inhalt Betty überraschte.
ICH WARTE AUF DEM GUSTAV ADOLFS TORG.
Sie hatte keine Ahnung, woher die Person wusste, dass sie sich nur zwei Blocks vom Gustav Adolfs Torg entfernt aufhielt. Und vielleicht war das auch besser so, denn es machte die Sache noch mysteriöser, und ihre Neugier wuchs. Das war das erste Mal, dass sich ihre Quelle mit ihr treffen wollte. Zu Beginn war sie noch ziemlich misstrauisch gewesen, was die Informationen betraf, die sie von der Person erhielt, aber sie hatten sich jedes Mal als richtig herausgestellt.
Vor zwei Wochen war ihr von der Quelle Material zugespielt worden, das enge Verbindungen zwischen dem Risikokapitalunternehmen LSI Holdings und dem russischen Oligarchen Andrej Susjinskij belegen konnte. Der Aufsichtsrat von LSI Holdings hatte dem zwar vehement widersprochen, doch die Berichterstattung in den Medien führte letztlich dazu, dass alle Mitglieder des Vorstands ihre Posten räumen mussten.
Betty steckte das Handy wieder ein und wollte gerade den Pressesaal in Rosenbad verlassen, als Kjell Morén sie bemerkte und zwischen den Stuhlreihen hindurch auf sie zukam.
Er lächelte nicht, reichte ihr aber die Hand. Erneut empfand sie so etwas wie Mitleid mit dem Politiker – doch das Gefühl währte nur kurz.
«Guter Artikel über den Indiendeal. ‹Habichte tragen keine Olivenzweige im Schnabel›.»
Betty hatte einen kritischen Leitartikel über Indiens Aufrüstungspläne geschrieben, die umfangreiche Aufträge für Waffenlieferungen mit sich brachten, für die sich unter anderem auch der schwedische Waffenhersteller Hökbergs AeroDynamics bewarb, in dessen Firmenlogo ein Habicht zu sehen war. Und Hökbergs’ Chancen, den Zuschlag für die Lieferungen zu erhalten, standen gut.
«Letzte Woche war ich noch unantastbar», sagte Morén in vertraulichem Ton. «Es ist wirklich eigenartig, wie schnell sich das ändern kann. In der Politik muss es Missverständnisse geben dürfen, sonst gibt es keine Debatten. Aber bei dieser Sache geht es um mehr als ein Missverständnis.» Er brachte ein gezwungenes Lachen zuwege. «Sie wissen, wie das läuft und dass das hier erst der Anfang ist.»
Betty betrachtete die kleine Gruppe von Journalisten, die noch geblieben waren, um sich miteinander zu unterhalten und ihre Notizen zu vergleichen. Mit gequälter Miene trat Morén einen Schritt näher an Betty heran.
«Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem getan, was mir vorgeworfen wird. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber ich muss Ihnen das unter vier Augen sagen, ich bin nicht so jemand.»
«Okay.» Dann sagte Betty ihm, was sie für die Wahrheit hielt. «Ohne das Foto wären Sie einigermaßen unbeschadet davongekommen.»
Er beobachtete sie einen Moment. «Soweit ich das sehe, hat das alles viel eher damit zu tun, dass ich nach Ihrer Reportage angefangen habe, Fragen über die Verbindung von Susjinskij zu LSI Holdings zu stellen.»
«Glauben Sie, dass Sie das Opfer eines Komplotts geworden sind?», fragte Betty.
«Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel, Betty. Ich will, dass Sie das wissen. Ich bin zwar als Energieminister zurückgetreten, aber bis mein Nachfolger feststeht, bin ich noch im Amt, und bis dahin ist der Job erledigt.»
«Welcher Job?»
«Neue Informationen über das Gasnetz. Ich werde LSI Holdings ein für alle Mal entlarven. Wollen Sie als Erste davon erfahren, wenn es losgeht?»
«Sicher», sagte Betty eine Spur zu schnell und zweifelte plötzlich daran, wie sehr sie Morén vertrauen konnte, nach dem, was sie über ihn geschrieben hatte. «Was sind das für Informationen?»
Bevor Morén darauf antworten konnte, kamen die übrigen Reporter auf sie zu, und Morén war gezwungen, sich zu ihnen umzudrehen. Betty nutzte die Gelegenheit und verschwand durch die Tür nach draußen.
Sie überquerte die Drottninggatan und spürte ein Rasseln in ihrer Lunge. Zehn Jahre als Journalistin und ein Jahr als Chefin des Presseamts in Rosenbad hatten ihre Gesundheit ziemlich mitgenommen. Sie hatte eine Veranlagung zu hohem Blutdruck und eine schwache Lunge – und sie trank zu viel Alkohol. Doch lieber schrieb sie das alles der Arbeit zu.
Sie erreichte den Gustav Adolfs Torg in weniger als einer Minute, trotz des morgendlichen Verkehrschaos und der vielen Menschen, die sich auf den Gehwegen drängten. Die Gebäudekomplexe in den umliegenden Vierteln verschluckten Tausende Büroangestellte, und im Kreisverkehr rund um den Platz stauten sich Taxis, Autos und Busse.
Vor der Königlichen Oper blieb Betty stehen und musterte die Gesichter der Passanten. Sie wartete darauf, dass jemand ihrem suchenden Blick begegnete, doch die Einzigen, die in ihre Richtung schauten, waren die Wachleute vor dem Gebäude des Außenministeriums auf der anderen Seite des Platzes.
«Betty Lind?», hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.
Sie fuhr herum. Ein Mann war von hinten an sie herangetreten. «Dort drüben sitzt der Mann, den Sie suchen.» Er deutete auf die Mauer am Wasser.
«Sie sind doch die Journalistin Betty Lind, oder nicht? Er wartet schon eine ganze Weile.»
Trotz der frühen Uhrzeit war die Strömgatan entlang des Wassers schon mit parkenden Reisebussen überfüllt. Als sie einen der Busse umrundete, blies ihr ein kalter Wind entgegen. Auf der Mauer saß ein zusammengesunkener Mann und schaute nach unten auf das vorbeirauschende Wasser. Es war Ragnar Nylund, der Chef des schwedischen Nachrichtendienstes Säpo.
Ragnar Nylund war als Leiter der Säpo häufig zu Gast in Talkshows, um dort über Terrorismus und andere Sicherheitsbedrohungen zu sprechen, was ihn in ganz Schweden bekanntgemacht hatte. Sein charakteristischer Schnurrbart und die türkische Lederjacke, die er auch heute trug, waren dabei zu seinen Markenzeichen geworden. Nach seinen Fernsehauftritten konnten Meinungsforschungsinstitute oft einen bemerkenswerten Effekt feststellen: Die Menschen fühlten sich sicherer. Der Grund dafür schien in seiner sachlichen Präsentation von Fakten und seinem charmanten Umgang mit spekulativen Fragen zu liegen. In letzter Zeit wurde jedoch häufig über seinen Gesundheitszustand diskutiert. Seine Wangen waren eingefallen, und die kleinen Augen verschwanden tief in den Höhlen. Zwar hatte er im Frühjahr seinen Rücktritt bekanntgegeben, und eine der führenden schwedischen Security-Firmen hatte ihm einen attraktiven Posten angeboten, doch vieles deutete darauf hin, dass er sein Amt noch bis zum Jahresende bekleiden würde.
«Ich entschuldige mich für die Hektik», sagte er in gemächlichem Ton.
Betty trat einen Schritt zurück, so als wäre sie gerade in eine Falle getappt. «Woher wussten Sie, wo ich war?»
«Sie würden doch niemals eine Pressekonferenz verpassen, auf der ein Minister seinen Rücktritt bekanntgibt.»
Sie starrte den Geheimdienstchef an. «Sie sind meine Quelle?»
«Enttäuscht?»
Nylund stand auf und überreichte ihr einen braunen Umschlag.
«Was ist das?», fragte Betty.
«Informationen zu einem Militärmanöver in der nächsten Woche.»
«Was soll ich damit?»
Mit unschuldiger Miene sah Nylund sie an. «Das IT-System des Militärs ist gehackt worden. Es stammt von Hökbergs, die sich zurzeit ja auch um den indischen Rüstungsauftrag bemühen. Und wie wir nun wissen, hat es erhebliche Sicherheitsmängel. Wie Sie dem Material hier entnehmen können, sind die Positionen der Flotte und der Amphibienverbände bekanntgeworden. Ist das nicht spektakulär, dass militärische Befehle nach außen gedrungen sind, bevor die Verbände überhaupt die Chance hatten, sie auszuführen?»
Betty war enttäuscht. «Ich bin nicht interessiert.»
«Ich plaudere solche Militärgeheimnisse nicht ohne Grund aus.» Nylund legte den Umschlag neben sich und faltete die Hände. Betty bekam ein wenig Angst, dass der Wind die sensiblen Dokumente einfach in die Fluten wehen würde, doch Nylund wirkte völlig unbekümmert.
«Zwei Minuten bevor die Befehle gestern vom Hauptquartier an die Kommandanten des Manövers gesendet wurden – in hochverschlüsselter Form natürlich –, konnte die Aufklärungseinheit des Militärgeheimdienstes die gesamte Information über der Ostsee abfangen. Wir hatten geglaubt, dass eine Dechiffrierung für jemanden außerhalb der schwedischen Armee unmöglich wäre, aber ein paar Leuten aus dem Umfeld von Andrej Susjinskij ist es anscheinend gelungen.»
«Andrej Susjinskij?»
«Das ist der bisher gefährlichste Sicherheitsangriff, der auf sein Konto geht. Doch Susjinskij hat auch Telefone abgehört und andere Daten gesammelt. Aber das ist noch nicht alles.» Nylund griff nach dem Umschlag und holte einige Fotos heraus. Sie zeigten das Flüchtlingsschiff Athena.
«Susjinskij interessiert sich auch für Flüchtlinge?»
Betty betrachtete die Bilder. Sie war eine ganze Weile still, wobei sie Nylund mit eindringlichem Blick musterte.
«Das hat mich auch gewundert. Wir konnten ein Telefongespräch mithören, in dem er großes Interesse für die Athena zeigte. Aber ich würde gerne genauer wissen, was sein Interesse geweckt hat.»
«Viel Glück dabei.»
«Ich hatte gehofft, Sie würden sich der Sache vielleicht annehmen und mit Sebastian Hendricks sprechen.»
«Ich?»
«Hendricks verachtet die Medien und die Journalisten. Die Säpo oder andere Behörden widern ihn geradezu an. Aber mit Ihnen scheint er zu sprechen. Hatten Sie zuletzt nicht zwei Interviews mit ihm?»
Betty und der Milliardär Hendricks hatten sich zu ihrer Zeit als Pressechefin in Rosenbad kennengelernt. Hendricks galt damals als Unternehmer mit einem hervorragenden Ruf, und er hatte ihr gesagt, dass sie sich jederzeit und mit welchem Anliegen auch immer bei ihm melden könne, was anscheinend sogar ihre Tätigkeit als Reporterin mit einschloss. Dabei hatte vor allem Hendricks’ Impulsivität Eindruck auf Betty gemacht. Ständig widmete er sich anderen Projekten. Sein neuestes Ding war es, Menschen auf der Flucht zu helfen, wovon selbst Betty überrascht war. Er ließ ein Schiff im Mittelmeer kreuzen, das in Seenot geratene Menschen aufnahm. Dennoch hatten sich die Medien in der letzten Zeit eher auf seine privaten Angelegenheiten eingeschossen, in denen es unter anderem um eine Anklage wegen der Misshandlung seiner Ex-Freundin und um Drogen ging.
«Das ist etwas anderes», wiegelte Betty ab. «Es gibt sicher noch andere, mit denen er spricht.»
«Nein, das habe ich überprüft. Sie sind die einzige Reporterin, von der er sich im letzten halben Jahr hat interviewen lassen. Und mit jemand anderem scheint er nicht sprechen zu wollen.» Nylund blickte sich um, so als halte er nach jemandem Ausschau. «Wenn Hendricks nichts über Susjinskijs Interesse an seinem Schiff weiß, dann wird er es meiner Meinung nach zu schätzen wissen, wenn er von Ihnen darüber informiert wird: Ein russischer Oligarch interessiert sich für sein Schiff. Wenn Hendricks die Gefahr sieht, dass das gesellschaftliche Interesse an ihm nachlässt, weil er mit zweifelhaften Oligarchen in Verbindung gebracht wird … dann würde er zumindest in Erwägung ziehen zuzuhören, glauben Sie nicht? Er hat doch mittlerweile beinahe einhunderttausend Follower in den sozialen Medien, oder?»
Dass Nylund einen öffentlichen Selbstdarsteller wie Hendricks dazu nutzte, um eine nationale Sicherheitskrise in den Griff zu bekommen, erschien Betty ziemlich surreal, genauso wie die Situation, in der sie sich gerade befand. Nylund wischte auf seinem Smartphone herum, und bevor Betty begriff, was er da tat, vibrierte ihr eigenes Handy in der Jackentasche.
«Schauen Sie sich das an.»
Betty rief die Nachricht auf und öffnete den Link, woraufhin der Bildschirm ihres Handys schwarz wurde und ein Video zu sehen war. Sie sah zwei junge Frauen auf einem Schiffsdeck, die weinten. Der Himmel über ihnen war dämmrig, es war frühmorgens oder kurz vor Sonnenuntergang. Sie warfen Kartons über Bord, während Sebastian Hendricks hinter ihnen stand und schrie, dass er sie eigenhändig ins Wasser werfen würde, wenn sie die Kisten nicht verschwinden ließen. Auf dem letzten Bild des zwanzig Sekunden langen Videos starrte Hendricks mit wutverzerrtem Gesicht in die Kamera.
Betty steckte ihr Mobiltelefon wieder ein. «Was wollen Sie mir damit sagen?»
«Hendricks weiß vielleicht, was Susjinskij haben will.»
«Wie sind Sie an das Video gekommen?»
«Wir haben da so unsere Methoden.»
Skeptisch beäugte Betty ihn. «Die Methoden der Säpo sind also mit anderen Worten so gut, dass sie auf Journalisten zurückgreifen muss, um an Informationen zu kommen?»
«Ich arbeite allein, Betty.»
«Was bedeutet das?»
«In der Heeresleitung sind alle mit dem Sicherheitsleck beschäftigt, das auf die Software von Hökbergs zurückzuführen ist. Um die Athena kümmert sich da niemand, obwohl die Zustände an Bord katastrophal sind. Es fehlt vor allem an Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung.»
Auf Betty wirkte der Säpo-Chef, als würde er insgeheim um ihre Hilfe betteln. Sein Gesicht war so grau, wie es das von Bettys Vater gewesen war, als er im Sterben lag.
«Das ist meine private Nummer», sagte er und reichte ihr einen kleinen Zettel, «Sie dürfen mich gerne anrufen.»
Als sie nach dem Zettel griff, konnte sie sehen, dass Nylund ein Armband aus lila Perlen trug, auf denen der Text «Fuck Hodgkins» zu lesen war.
«So eins hatte ich auch», sagte Betty spontan.
Schweigend betrachtete Nylund sein Handgelenk.
«Wer ist krank?», fragte sie.
«Meine Tochter Vera.»
«Das tut mir leid. Bei mir war es mein Vater.»
Angesichts dieser unerwarteten Gemeinsamkeit nickte der Geheimdienstchef Betty zu und versteckte das Armband wieder unter seinem Jackenärmel. Einen Moment lang kämpfte er mit den Tränen.
«Irgendetwas auf der Athena interessiert Susjinskij brennend», sprach Nylund weiter. «Mir wäre es recht, wenn er es nicht in die Finger bekommt.»
Auf einmal wurde Betty klar, wie er sich das vorstellte. «Sie wollen, dass ich das Video gegen Hendricks verwende, um eine Antwort auf Ihre Frage zu erhalten?»
Nylund zuckte mit den Schultern. «Wenn man diesem kleinen Video Glauben schenken kann, dann lässt Hendricks auf seinem Schiff Flüchtlinge verhungern. Will die Reporterin in Ihnen denn nicht wissen, warum?»
Betty konnte sich keinen Grund vorstellen, weshalb irgendein Mensch so etwas tun sollte, insbesondere jemand, der so auf seinen Ruf bedacht war wie Hendricks.
Plötzlich gab Nylund einer Person auf dem Gustav Adolfs Torg ein Zeichen. Einen Augenblick später fuhr ein Auto vor.
«Sie können selbst entscheiden, ob Sie das Video veröffentlichen oder nicht», sagte er. «Das steht Ihnen frei, früher oder später wird es ohnehin jemand tun.»
«Warten Sie», sagte Betty hastig. «Die Informationen über LSI Holdings, die Sie mir geschickt haben … woher hatten Sie die?»
Statt ihr zu antworten, stieg Nylund in das wartende Auto, das eine Sekunde später davonraste.
Als Betty am Bistro Pontus im Redaktionsgebäude auf der Insel Kungsholmen ankam, war ihr Hunger verflogen. Normalerweise kaufte sie sich etwas in dem kleinen Café, um es vor ihrem Laptop zu essen, aber an diesem Morgen hatte sie keinen Appetit.
Die Informationen, die sie vom Chef der Säpo erhalten hatte, waren wirklich außergewöhnlich. Was auf dem Video zu sehen war, gefiel ihr zwar nicht, dennoch ließ es sie nicht los. Nylund hatte einen wunden Punkt bei Betty getroffen: Sie konnte es absolut nicht ausstehen, erst als Zweite Kenntnis von sensationellen Nachrichten zu erhalten. Im Aufzug ging sie die Kontaktliste auf ihrem Handy durch, bis sie den Eintrag von Sebastian Hendricks fand. Sie hatten sich bei einem Firmenevent kennengelernt, als sie noch Pressechefin in Rosenbad war, und dort ihre Nummern ausgetauscht. Seitdem war Betty eine der wenigen Journalistinnen, denen die Ehre zuteilwurde, von Hendricks ernst genommen zu werden. Und er hatte sein Versprechen gehalten, Betty durfte eine Reportage über seine Kindheit verfassen. Seine Geschichte schien zwar nicht völlig glaubwürdig, aber Betty meinte dennoch, etwas Authentisches darin entdecken zu können.
Noch bevor sich die Türen des Aufzugs im dritten Stock öffneten, schickte sie ihm eine SMS und fragte, ob er Zeit und Lust habe, sich mit ihr zu treffen.
Seit vier Monaten war Betty Lind nun politische Redakteurin bei Dagens Nyheter. Eigentlich hatte man ihr den Posten der Nachrichtenchefin in Aussicht gestellt, doch aufgrund ihrer Kontakte aus der Zeit in Rosenbad war sie in der Politikredaktion gelandet, was Betty eigentlich ganz recht war. Da sich die Geschäftsführung das Ziel gesteckt hatte, die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen möglichst funktional zu gestalten, musste Bettys Abteilung sich den Platz mit der Nachrichtenredaktion teilen, der sich direkt vor dem Glaswürfel von Chefredakteur Ralf Bogren befand. So konnte dieser bequem mit dem Finger direkt auf diejenigen zeigen, die die Quelle von Problemen waren. Auch sonst bestanden die meisten Wände der Redaktion aus Glas, waren allerdings mit limettengrüner und honiggelber Plastikfolie beklebt, sodass der ganze Bereich eher an einen Kindergarten erinnerte. An den Decken liefen Lüftungsrohre entlang, die im Sommer entsetzlich knarrten. Im Winter waren es dagegen die Heizkörper, die die Arbeit durch ihr lautes Dröhnen erschwerten.
Von ihrem Arbeitsplatz aus blickte Betty auf die russische Botschaft, die direkt gegenüberlag.
Als Betty sich ihrem Schreibtisch näherte, sah sie ihren Assistenten Raja Singh, der in seinem Bürosessel versunken mit dem Rücken zu ihr saß.
«Hat er geweint?», fragte er.
«Krokodilstränen. Aber immerhin hat ihm unser Artikel über Hökbergs gefallen – ‹Habichte tragen keine Olivenzweige im Schnabel›.»
«Habe ich doch gleich gesagt, dass Vögel im Titel gut ankommen.»