Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel «Montecore, en unik tiger» im Norstedts Förlag, Stockholm.

Die Übersetzung wurde vom Schwedischen Institut Stockholm gefördert.

Die deutsche Erstausgabe erschien zunächst 2007 im Piper Verlag GmbH, München.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2021

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Montecore, en unik tiger» Copyright © 2006 by Jonas Hassen Khemiri

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt,

nach der Originalausgabe von Albert Bonniers Förlag SE, Design by Håkan Liljemärker

Coverabbildung Ralph Hargarten

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-40523-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-40523-3

Fußnoten

Übersetze das im Buch: «Meine Gestalt wartet auf dich im Hauptbahnhof … / Deine einzigartige Katze». (Es war die Tradition deines Vaters, sich in der Gesellschaft unterschiedlicher Frauen immer selbst mit Kosenamen zu bedenken. Mit Pernilla war er «die einzigartige Katze», oder kurz und deliziös: «Capa».)

Hier wendet dein Vater ganz klar eine metaphorische Bildsprache an. Eher als der Himmel war es wohl seine Phantasie, die vor Explosionen blitzte. Oder was meinst du? Schreib mir, Jonas – warst du jemals ernsthaft verliebt? Hast du jemals die Liebe erfahren, die dich in nächtlicher verschwitzter Panik weckt bei dem Traum, das Leben deiner Geliebten sei vom Rendezvous mit einer Krebskrankheit oder dem unglücklich neben ihrer Badewanne platzierten Toaster beendet worden? Hast du dann deinen Herzschlag beruhigt, dir die Augen gerieben, dein Gehirn gereinigt und deine Lungen geseufzt? Hast du dann ihren schlafenden Schatten neben dir in der Dunkelheit entdeckt? Hast du ihr feines Schnarchen vernommen? Hast du deinen Kopf zum Kissen zurückgeführt, deine Nase in der Nähe ihres nacklichen Haaransatzes vergraben, ihre liebliche Schlafhaut beschnüffelt und eingesehen, dass nichts, NICHTS im Leben sich mit dieser Emotion messen kann? Wenn das nicht in deiner Erfahrungssammlung ist, dann hast du in Wirklichkeit nicht gelebt. Frage mich, ich weiß es. Es ist diese orkanische Liebe, die dein Vater in jener historischen Zeit lebt. Verzeihe ihm deshalb seine romantische Rührseligkeit.

Dein Vater meint damit bestimmt Folgendes: Engel als Symbol für den Himmel = der Himmel als Symbol für Schnee = der Schnee als Symbol für das Wetter insgesamt = «wir sollten Engel machen können!» = unsere Liebe sollte alles verändern können, auch das Wetter.

Wie du bemerkst, sind die Briefe deines Vater deliziös formuliert, perfekt adäquat für eine buchliche Einfügung. Aber ich frage mich eine Sache: Warum berichtet dein Vater nicht das Motiv für Pernillas späte Ankunft am Bahnhof? Kennst du die Umstände, die der Geschichte ihren wirklichen mythologischen Wert verleihen? Eigentlich war sie am selben Tag, als dein Vater in Schweden ankam, auf dem Weg nach Norden zu Skiferien mit ihren Eltern. Sie wollte zwei Wochen wegbleiben, aber ein Konflikt mit deiner Großen-Mutter irritierte sie zu Tränen. (Deine Großen-Mutter hörte nicht auf, zu sagen «siehst du, was habe ich dir gesagt», weil deine Mutter das briefische Schweigen deines Vaters betrauerte.) Bei Uppsala bemerkte deine Mutter große, flammende Ausschläge an Unterarmen und Beinen. Sie benutzte diese Ausschläge als Motiv, das Auto ihrer Eltern zu verlassen und nach Stockholm zu retournieren. Da fand sie den Zettel deines Vaters, und mit pochendem Herzen nahm sie ein Taxi zum Hauptbahnhof und fand seinen alkoholgefüllten Körper im Café. Woher ihr Ausschlag kam? Deine Mutter hat den Verdacht, dass sie trotz ihrer Allergie versehentlich durch einen Kuchen Haselnüsse zu sich genommen hatte. Im Buch sollten wir eine andere mehr adäquate Nussallergie dafür nehmen … Deine Mutter war vielleicht allergisch gegen … Kastanienmus? (Vergiss nicht: Alles im Leben kann miteinander verflochten werden, das Leben ist ein codiertes Muster, und es ist unser Auftrag, in buchlicher Form die kleinen Details zu kristallisieren, die sonst der Menschen Masse unbemerkt passieren lassen.)

Willst du wissen, was dein Vater machte? Lass mich es dir zeigen … Sieh mal da, wer ist das? Da! Siehst du ihn? Das ist dein Vater, der seine Schritte aus dem Labor von Raino schleicht, die Straße überquert und den Treppenaufgang entert, wo Raino wohnt. Dein Vater fahrstuhlt sich zu Rainos Wohnung, alarmiert die Klingel und wird von Rainos nach Bier riechender Gestalt in Pantoffeln und Unterhemd begrüßt. Deinem Vater wird die Leine delegiert, und er wird Rainos Hund vorgestellt, einer korpulenten Gestalt der Rasse «Goldener Wiederholer». Der Hund wird von Raino abwechselnd Pimmel, Hure, Schwanz, Vollidiot, Carina oder Fotze genannt (alles Namen, die auf Rainos Ex-Frau zurückgehen, die ihn für einen Statistiker bei der Steuerbehörde verlassen hat). Ehe dein Vater geht, übergibt ihm Raino noch eine verknotete Plastiktüte.

«Hier, nimm das hier.»

«Gewiss. Aber wofür?»

«Du musst sie dabei haben.»

«Okay. Aber wofür?»

«Wenn Pimmel einen Schiss präsentiert, muss der aufgesammelt und in einer Tüte abtransportiert werden.»

Hahaha, du bist ein witziger finnischer Mann mit einem Humor, der genauso gut gewachsen ist wie dein Schnurrbart. Tschüss dann.»

«Ich mache keine Witze.»

«Hahaha!»

«Du … Ich bin seriös.»

«HAHAHA

«Hör auf zu lachen! Du musst die Scheiße aufsammeln.»

«Hm … Ist dieser humoristische Witz kein Witz?»

«Nein … Und tschüss.»

Raino dirigiert den Hund mit einem wohlgezielten Tritt ins Treppenhaus hinaus. Und da stehen sie nun, winselnder goldlockiger Hund und dein meisterhafter Vater. Sie senken sich nieder auf die frühlingsfrostige Erde, sie machen eine schnelle Runde im Park. Der Hund streunt herum und riecht Pfosten, dein Vater betrachtet ihn misstrauisch mit nervösem Herumfingern an dem Plastiktütenknoten in der Tasche. Der Hund pisst Sandkasten und schnüffelt Blumenbeete. Dein Vater räuspert den Hals. Der Hund biegt Hinterbeine wie ein Buddha und liefert einen hellbraunen sehr leichtfließenden Schiss. Dein Vater seufzt, schaut sich um, beugt seinen Rücken und mit dem Gesicht des Ekels schabt er den Schiss ab, der festgeklebt auf dem Asphalt liegt. Und da, als er vorgebeugt steht wie ein Schuhbinder und die Wärme der Exkremente verspürt, verspricht er sich ein Versprechen:

«DAS HIER DARF NICHT UMSONST GEWESEN SEIN!!! Kann man tiefer sinken? In einem fremden Land mit gebeugtem Rücken stehen, um einen Diarrhöe-Schiss einzusammeln, der von einem Hund abgelegt wurde, dessen Name von einer untreuen Ex-Frau stammt?»

Dein Vater kampferhebt die Hand mit der Schisstüte über den Kopf und lässt seine Stimme über den Park hallen:

«JETZT IST SCHLUSS MIT DEM SPIELEN! JETZT WIRD ES ERNST!!!»

Im selben Moment separiert sich der Grauheit Himmel zu einem leuchtend blauen Loch. Das strahlende Versprechen der Sonne schaut auf deinen Vater herab. Er sieht den Himmel, senkt den Arm und übergibt die Schisstüte dem speziell gekennzeichneten Hundemülleimer. Die Emotion der Finger, warme Scheiße von einem Hund aufgesammelt zu haben, bleibt noch lange nachdem dein Vater den Hund an Raino übergeben hat. Sie lässt seine Ambition wachsen, niemals seinen Traum aufzugeben.

Hier können wir eine separate Szene einfügen, in der dein Vater die Straßen Stockholms mit seiner ständig klickenden Kamera promeniert. Er fängt die rauchenden Penner im Kungsträdgården ein, lächelnde Pferdepolizisten, schachspielende Rentner, winkende Hundebesitzer, spuckendbrüllende Rettet-die-Bäume-Demonstranten. Er dokumentiert verlaufene Touristen, schimmernde Königsstatuen, kaputte Telefonzellen, symbolische Brücken. Und dann natürlich das Lieblingsmotiv deines Vaters, das sich zu Hunderten in eurem Schrank findet: die vielen schneebedeckten pedalgefrorenen Fahrräder, die mit ihrem innewohnenden Konflikt das fotografische Auge deines Vaters erfreuen.

Entschuldige, aber ich bemerke gerade ein unvergleichliches Phänomen auf der Suchmaschinenwebsite von Eniro: Weißt du, wo Rainos Studio lokalisiert war? In der Nähe des Regulatorvägen in Flemingsberg. Wenn man diese Straße weiter verfolgt, dann ändert sie den Namen in Hälsovägen. Wenn man dann nach rechts abbiegt auf den Katrinebergsvägen und weiter zum Mellanbergsvägen und dann noch mal nach rechts und über den Nibblebacken … Rate, wo man dann steht! Im Kastanienvägen! Zufall oder ein Wink des Schicksals? Wer vermag das schon zu unterscheiden. (Weißt du übrigens, wie viele Kastanienvägen es in Schweden gibt? Sechsundfünfzig Stück! Alle diese Muster beginnen fast, mir Angst zu machen. Wohin wird diese Reise beendet werden?)

Ehe wir weiterwandern, möchte ich dir noch etwas vital Wichtiges repetieren: ALLE mögliche Information über die politische Gegenwart Tunesiens MUSS, aus Gründen, die dir sicher bekannt sind, aus dem Buch ausgeschlossen werden. Das ist ein Rat, der dein Gesetz werden muss, Jonas. Es ist vital, zentral und konzentriert, dass wir auf KEINE Weise, unter KEINEN Umständen zufällig irgendwelche politischen Ansichten vom heutigen Tunesien in das Buch schmuggeln. Ich nehme an, dass ich dein Verständnis habe, warum. Du bist nicht solitär damit, einen tunesischen Pass zu haben, der Komplikation verursachen kann …

Hier unterläuft deinem Vater eine gewisse wörtliche Repetition, aber ich lasse sein Missgeschick wortgetreu für dich übersetzt.

Hier folgen sechs Monate briefischer Pause zwischen mir und deinem Vater. Übrigens: Dass das Englisch deines Vater «krumm» sein soll, ist ein Exzess, den wir Übertreibung nennen dürfen. Das ist natürlich nur ein weiteres Beispiel für die notorische Schüchternheit deines Vaters. Sein Englisch war und ist exzellent, ebenso wie sein Französisch und sein Spanisch. «Wenige Männer teilen dieses Mannes zungliches Talent für Sprache!», verkündete Ghaddafi in einer Lobesrede auf deinen Vater, als ihm in diesem Jahr der offizielle Fotopreis Libyens zugeteilt wurde.

Dein Vater schreibt tatsächlich dreimalig im selben Brief «mein Glück ist unbeschreiblich». Siehst du, welch ein unbeschreibliches Glück ihm deine Geburt gab? An dem Abend, als er nach deiner Geburt vom Krankenhaus nach Hause kam, lebte er in einer paradiesischen Blase. Hat er dir erzählt, wie er seinen Körper die ganze erste Nacht lang an eurem Küchenfenster parkte, die Einsamkeit des Hofes anstarrte, sich selbst zu Tränen gratulierte und bei Stevie Wonders Isn’t she lovely mitchorte? (Er ersetzte lediglich «she» durch «he».) Dass er sich für dich mehr auf die Enttäuschungen fokussierte, die du ihm gebracht hast, ist etwas, was er wahrscheinlich bereut. Hier folgt eine weitere Pause in meiner Korrespondenz mit deinem Vater. Während dieser Zeit wächst die Touristenindustrie in Tabarka. Ich poliere meine Karriere vom Küchenleiter zum Poolleiter zum Planer von Tanzwettbewerben. In paralleler schwedischer Zeit maximiert dein Vater seine Versuche, seine fotografische Karriere zu befördern.

Während deine Mutter nach der Niederkunft wieder zu Kräften kommt, gibt dein Vater seine Zeit im Restaurant an der Rådmansgatan aus. Er reinigt des Teppichbodens Grünheit von Kaugummi, er glänzt der Toiletten Schein unter dem Erbrochenen hervor, er sucht unter den Garderoben nach vergessenen Einkronenstücken. Nachmittags assistiert er Rainos entwickelten Entrecôtes, justiert Licht und Kontrast auf Fischsuppen und Desserts. An den Wochenenden kämmt er seine Lockenfrisur, setzt die Baskenmütze auf und wandert seine Schritte von Galerie zu Galerie in Gamla Stan und auf der Hornsgatan. Seine zwei fertiggestellten fotografischen Suiten liegen in seiner Aktentasche bereit. Seine Finger senken Türklinken, Glocken bimmeln, schwarzepoloshirtstragende Galeristen mit großen Plastiklesebrillen begrüßen ihn nervös lächelnd, blättern durch seine Unterlagen, summen ihre Zustimmung und nehmen seine selbstgemachte Visitenkarte entgegen. Sie preisen sein Talent. Sie versprechen eine eventuelle Kooperation. Aber … als er gerade gehen will, fragen sie natürlich die für Schweden ach so vitale Frage über den nationalen Hintergrund. Und die Zunge deines Vater trägt mit immer müderer Stimme vor, dass seine Wurzeln für seine fotografische Ambition unwesentlich sind. Die Galeristen entschuldigen sich und versprechen ihr effektives Anrufen. Erleichtert geht dein Vater zu seiner Frau nach Hause und verkündet: Bald wird meine Karriere ihren Galopp finden!

Ist es nicht bizarr, dass dein Vater, der später gegen alles und jeden Misstrauen zeigen wird, tatsächlich den Worten der Galeristen zu glauben scheint? Vielleicht war der Wille zu glauben so gut gewachsen, dass ihm keine Alternativen zur Verfügung standen? Denn weißt du, wie viele Galeristen den Hörer in die Hand nahmen und deinen Vater telefonierten?

 

Kein Einziger.

 

Die Jahre vergehen.

1982 wandelt sich dein Vater um vom Spüler zum Metrofahrer bei den Stockholmer Verkehrsbetrieben. Er erhält seine Position, nachdem er einen Schwedischtest bestanden hat, indem er seinen Blick aktiv auf das Blatt des Nachbarn reflektierte …

 

Ich schlage vor, dass du hier deine drei frühesten Erinnerungen an deinen Vater injizierst. Bist du bereit? Gutes Glück!

GENIAL!!!!

Das Finale ist sehr deliziös! Mehr dergleichen! Eine Erinnerung: Memoriere bitte, dass es dein Vater ist, der die Prinzipialfigur ist, und nicht deine Mutter. Gewiss ist deine Mutter in jeder Hinsicht magnifik, aber ihre Magnifizienz darf ein anderes Mal gestaltet werden. Vielleicht in deinem triangulären Buch?

Na ja, ich glaube nicht, dass dein Vater das gesagt hat. Wir müssen ganz distinkt damit sein, dass dein Vater ALLES getan hat, um deine kosmopolitische Zukunft zu pflegen. Dass er gewiss niemals irgendeine Außenseiterschaft in deinem Kopf genährt hat. Hast du dich vielleicht verhört? Vielleicht sagte dein Vater: «Sie ist eine typische Schwedin. Eine echt Karrieristin.» (Oder Touristin (oder Zirkusartistin?))

Dein Vater inkludierte drei Zeichnungen in den Brief. Hier ist er maximal nobel … Eigentlich war dein Sprachmuster weite Wege von der Normalität entfernt. Und deine Zeichnungen? Na, du weißt ja selbst, wie sie aussahen …

Gratulationen, dass du es geschafft hast, dich der Wahrheit Realität zu ergeben. Aber ich schlage dennoch vor, dass du diese Erinnerungen aus Tunis löschst. Denk dran: Wir sollen der Geschichte Mytischkeit MAXIMIEREN, NICHT sie degradieren.

Was brodelt denn da? Hast du Gase im Bauch? Hier kannst du viel passender etwas mehr Information über deines Vaters Erfolg introduzieren. Du kannst erzählen, wie er expandiert von dem Fotografieren zunächst nur von Hunden zum Fotografieren aller Arten von Haustieren: Katzen, Kakadus, Schlangen, Aquarienfische. Er fotografiert Kaninchen und Stabheuschrecken. Und eines Tages wird er von der populären Jugendzeitschrift Okej beauftragt, Ben Marlene zu visitieren, den Sänger in der zelebren Popgruppe Trance Dance, um ihn mit seinen drei reinrassigen Dalmatinern zu dokumentieren. (Dieses Foto verkaufte dein Vater dann für einen eleganten Preis an eine Bildagentur weiter).

Hm … Der Leser begreift hier doch wohl, dass die wenigen Male, wo du in die Dunkelkammer eingeschlossen wurdest, deines Vaters Methode waren, dich an deine Angst zu gewöhnen? Das war nichts, was dein Vater gern getan hat. Vielleicht bereut er das auch. Es wird perfekt, wenn wir der Dunkelkammer Dunkelheit gegen deine Erinnerungen an den deliziösen Sommer 1989 kontrastieren. Denn du erinnerst dich doch wohl an diesen letzten glücklichen Sommer? Als dein Vater mit seiner Karriere Erfolg gehabt hatte, deiner Eltern Liebe wiedergefunden war und die Sonne schien wie in der Orangensaftreklame? Ich weiß, dass dein Vater sich oft mit der Nostalgie schmerzvollem Lächeln an diesen Sommer erinnert.

Hier exkludieren deine Phrasen der Wahrheit Realität. Denn weißt du, was dein Vater machte, nachdem du eingeschlafen warst? Er saß einsam isoliert bei eurem prasselnden Kaminfeuer, während deine Mutter versuchte, ihn zu diskutieren. Dann erhob er sich plötzlich, verließ das Haus und begab sich auf eine solitäre Expedition in deiner Großen-Mutters Toyota. Zwei Stunden lang suchte er Straßen und nächtlich geöffnete Kioske ab in der Ambition, einen roten Volvo zu sehen mit rassistischen Einwohnern, die er mit Tritten bombardieren und in eine historische Zeit zurückboxen würde. Warum hat er dir das nicht erzählt? Vielleicht weil seine größte Angst war, dass des Außenseitertums Infektion dich anstecken würde.

Was meinst du mit diesen Phrasen? Begreifst du nicht, dass dein Vater alles sakrifizierte für seiner Familie Ökonomie? Das war doch zu EUREM Guten!

Ich schlage das wahrheitsgetreuere: «sind imponierend muskulös und männlich haarig von Kopf bis Fuß» vor.

Warum hat dein Vater diese bösen Worte über Negermusik gesagt? Ich glaube, man kann das mit seiner expandierten Irritation über andere Einwanderer erklären. Er war frustriert von der Inkapazität der Einwanderer, ihre Traditionen zu verlassen, und fürchtete, faule Einwanderer würden die Zukunftschancen seiner Söhne limitieren. Er war gequält von der wachsenden Anzahl verschleierter Frauen. Er war beunruhigt über die Modifikation Schwedens. Und am meisten war er irritiert durch die wachsende Anzahl Neger. Eritreer und Somalier wuchsen ständig ihre Anzahl, sie echoten ihre unschüchternen Lacher in der Metro, sie faulenzten sich in den Vorortscafés herum, sie repetierten ihre Klagegesänge über Schwedens Rassismus. ABER: Notiere bitte, dass dein Vater niemals Rassist war (trotz deiner Anschuldigungen). Schreibe: «Mein Vater findet NICHT, dass Neger weniger wert sind als andere Rassen. Mein Vater liebt schließlich Otis Redding! Mein Vater ist überzeugt davon, dass alle Rassen einen identischen Wert in sich tragen! Dies gilt unabhängig von ihrem Talent für Rhythmus und Tanz, ihrer athletischen Kapazität, ihrem Bananenhunger oder ihrer Faulheit. Dass eine gewisse Rasse vielleicht Affen ähnelt, gibt NICHT die Konsequenz, dass sie wie Affen behandelt werden sollte.»

Schreib mir, Jonas. Warum erzählst du diese Rückkehr in die Kleiderabteilung? Das ist doch eine Lüge! Ich weiß aus sicheren Fakten, dass alles, was du getan hast, war, deine erigierte Zunge und deinen hochgestreckten Mittelfinger dem Wachmann zu zeigen. Und er hat es nicht einmal gesehen! Wen versuchst du zu täuschen? Und warum? Das prophezeit nichts Gutes …

Roy Horn, vom Tigerdompteurduo Siegfried & Roy

Hallo, lieber Leser, der du da im Buchladen stehst und blätterst! Lass mich dir erklären, warum gerade in dieses Buch Zeit und Finanzen investiert werden sollten!

Lass uns gemeinsam ansehen, wie der beste Papa der Welt und Superheld des Buches weiß beanzugt auf seines luxuriösen New Yorker Lofts Dachterrasse auf und ab schlendert. Über den rötlich werdenden Himmel schweben Vogelschatten, Taxihupen entfernen sich, und im Hintergrund blubbert ein gigantischer Jacuzzi.

Unser Held beobachtet das Gewimmel von Manhattan. Der Wind spielt mit seinem maskulinen Pferdeschwanz, während die Erinnerung sein Leben Revue passieren lässt. Die armselige Kindheit im Waisenhaus in Tunesien, die Übersiedelung nach Schweden und der Kampf um seine Karriere. Exzellente Fotokollektionen, frequente Enttäuschungen, repetierter Verrat. Begleitet von der Sonne Sinken und der Jacuzzibläschen Blinken, lächelt er bei dem Gedanken an seiner Karriere späten Erfolg.

Doch plötzlich wird seine nostalgische Aura durchbrochen. Wer sind denn die ballontragenden Überraschungsgäste, die, Hurra rufend, aus seinem Privatfahrstuhl strömen? Da winken ihm fotografische Äquilibristen wie Cartier-Bresson und Richard Avedon. Da werden intellektuelle Prominente wie Salman Rushdie und Naomi Klein willkommen geheißen. Da treffen die großherzigen Weltgewissensträger wie Kofi Annan und Sting ein. Champagnerkorken erheben sich gen Himmel, während die

Unser Held füllt seine Augen mit Tränen und dankt seinen Freunden.

Wie konnte ein ärmlicher Waisenknabe zu diesem kosmischen Erfolg gelangen?

Investiere sogleich in eine Fahrkarte für die Reise in dieses Buch, dann wirst du Wissen erhalten!

 

Deviniere mal, wer dir diese Phrasen schreibt. KADIR ist es, der die Tasten drückt!!!! Deines Vaters antikester Freund! Du memorierst mich doch wohl? Ich hoffe auf deinen eifrig nickenden Kopf. Das Jahr zählte 1986, als ich euch in Stockholm besuchte: deine lächelnde Mutter, deine neugeborenen Kleinebrüder, deinen stolzen Vater mit seinem neuen Fotostudio. Und dann du, der mir und deinem Vater bei unseren Gelehrtheiten in der schwedischen Sprache assistiert hat. Erinnerst du dich noch an unsere Sprachregeln? Damals warst du ein korpulenter sprachbegabter Junge mit einem ausgewachsenen Hunger auf Eis und Pez-Bonbons. Jetzt bist du plötzlich ein aufgerichteter Mann, der schon bald seinen Debütroman veröffentlichen wird! Sei meiner gigantischen Gratulationen versichert! Ach, die Zeit tickt schnell, wenn man Humor hat, nicht wahr?

Dein Verlagshaus hat mir deinen E-Mail-Briefkasten korrespondiert, und ich schreibe dir, um zu fragen, ob du mit irgendwelchen Nachrichten von deinem Vater versehen bist. Weißt du, wo er sich in diesem Augenblick lokalisiert? ist eure Beziehung ebenso tragisch still, wie sie es in den vergangenen acht Jahren war? Dein Vater und ich standen in steter Freundschaft, bis vor einem Monat, als er plötzlich aufhörte, meine E-Mails zu beantworten. Jetzt wird meine Brust von einer Sorge zerrissen. Ist er vom CIA gekidnappt und in einem orangefarbenen Overall nach

In den letzten Jahren ist er mit seiner Kamera als politischer Waffe durch die Welt getourt. Seine Logis ist in einem luxuriösen Loft in New York, seine Bücherregale sind okkupiert von intellektueller Gegenwartsliteratur und seine Zeit vergeht mit globalen Weltverbesserern wie dem Dalai Lama und Bob Geldof. An freien Abenden nimmt er an Friedenskonferenzen teil oder saust durch die Avenuen in seinem lilafarbenen Mercedes 500 SL mit Ledersitzen und interaktivem Scheibenwischer.

Schreib mir … ist dein Erfolg äquivalent mit dem deines Vaters? Hat dein Buchvertrag dich zum Millionär oder zum Milliardär gemacht, oder nur ein paar Jahre sicheren Einkommens gesichert? Sind literarische Äquilibristen wie Stephen King und Dan Brown enge Freunde oder nur formell bekannte Kollegen? Durch wie viele Ritzen darf man flitzen als bald veröffentlichter Autor? Liegen in deiner Korrespondenz jeden Tag parfümierte Unterhosen? Respondiere mir gern, wenn die Zeit es dir möglich macht.

Auch ich habe literarische Träume gehabt. Eine längere Zeit über plante ich, deinem Vater eine Biographie zu widmen. Leider wurden meine Ambitionen durch Wissenslücken und blasierte Verlagshäuser behindert. Doch bevor ich diese Mitteilung schrieb, wurde mein Gehirn plötzlich

Lass uns unsere klugen Köpfe in der Absicht treffen, eine Biographie zu schaffen, die deinem prominenten Vater würdig ist! Lass uns in der Kreation eines Meisterwerkes kollaborieren, das ein Weltpublikum, nombreuse Nobelpreise und vielleicht sogar eine Einladung in Oprah Winfreys TV-Studio gewinnen wird!

Antworte mir schnellstmöglich deine positive Respons. Du wirst dir NICHT kondolieren müssen!

 

Dein neugefundener Freund Kadir

 

PS: Um deine Lust an meiner Proposition zu befeuchten, füge ich zwei Word-Dokumente hinzu. Eines wäre das adäquate Vorwort zu unserem Buch, das andere beschreibt die Kindheit deines Vaters. Ich kenne den antiken Unwillen deines Vaters, dir seine Geschichte zu offenbaren. Aber glaube mir, wenn ich schreibe: Wenn er es nur gekonnt hätte, hätte er viel mehr abgegeben. Und wenn er nur von deinem zukünftigen Roman wusste, würde er die breitesten Avenuen mit strahlendem Stolz erleuchten.

Hat dein Vater dir je das Gerippe demonstriert, das von diesem Haus noch übrig ist? Es lokalisiert im östlichen Teil von Jendouba, nicht weit vom Skulpturenpark und dem inzwischen geschlossenen Kino. Dort gab es zwei Schlafsäle mit türkisfarbenen Fensternischen und schwarzen Ziergittern. Dort gab es eine Küche und einen Speisesaal, ein Schulzimmer mit alten Bänken und einer abgewetzten Schiefertafel sowie zahlreiche Kolonien von nachts tickenden Kakerlaken.

Schon in jener historischen Zeit war das Herz von Cherifa ebenso groß, wie ihr Hintern breit. Ihr gigantischer Glaube an Potentiale konnte es nur mit ihrem brennenden Hass für den Auftrag der Franzosen als Zivilisationsverbreiter aufnehmen. Faizal, Cherifas Ehemann, war

Mein premiäres Rendezvous mit deinem Vater geschah Ende 1962. Dieser Morgen war in vieler Hinsicht ordinär. Ich lag schon früh auf meiner Matratze wach, während Sofiane noch seine Schnarchgeräusche und Omar Blähungen von sich gaben. Ich hörte wie sich Cherifas Morgengestalt durch den Garten zur Wasserpumpe schleppte. Und dann plötzlich … mitten in zwei heiserhälsigen Hahnengesängen … ein Klopfen an der Tür. Erst leicht und flatterhaft. Dann stärker.

 

Dein Vater.

 

Sein Alter war hier das eines kleingewachsenen Zwölfjährigen, seine Arme astgleich dünn und sein schwarzes Haar ein aufgeplusterter Wuschel. Sein Hemd trug rötliche Spuren von Erbrochenem, und sein Körper bebte im Sonnenlicht. Cherifa fragte, was sein Anliegen sei. Dein Vater separierte seine trockenen Lippen und gestikulierte seine Arme wie ein verzweifelter Vogel. Er räusperte sich und rasselte Heiserlaute hervor. Aber keine Worte wurden prononciert. Ich erinnere mich, wie er selbst sehr erstaunt über seine Stummheit aussah.

Die Grenze von Cherifas Mitleid war mehr als erreicht. Das Haus war übervoll, und sie hatte Faizal garantiert, dass KEINE weiteren Märtyrerkinder auf seine Kasten gerettet werden würden. Doch was konnte sie tun? Sollte sie dieses arme stumme Wesen auf die Straße zurückschicken? Während sie ihren Entschluss bedachte, präsentierte dein Vater ihr ein wohlgewichtiges Kuvert. Sie schielte auf seinen Inhalt und füllte dann schnell ihre Lungen, wie wenn das Duschwasser plötzlich eiskalt wird. Sogleich dirigierte sie deinen Vater in des Eingangs kühlen Schatten. Was hatte dein Vater Cherifa delegiert? Ich glaube, einen erklärenden Brief. Oder eine generöse Summe Ökonomie.

Während Cherifa den Inhalt des Kuverts noch einmal besah, um sicherzugehen, dass sie seine Substanz auch

«Ich heiße Kadir», offerierte ich. «Willkommen in deinem neuen Zuhause!»

«…», respondierte dein Vater.

«Äh … wie?»

«…»

Dein Vater betrachtete mich mit fragendem Blick. Es war, als ob schwarze Magie seine Sprache blockiert hätte. Im Grunde war das die natürliche Schockreaktion auf eine nächtliche Explosion, einer Mutter Tod, eine chaotische Flucht und das Gefühl, absolut solitärst auf der Welt zu sein. Ich klopfte deinem Vater auf die Schulter und flüsterte:

«Keine Sorge, hier bist du zu Hause.»

Im Buch muss diese Szene mit großer dramatischer Würze und symphonischen Basstuben erfüllt werden. Schreibe so:

«Hier begegnen sie sich also. Mein Vater und Kadir. Der Held und sein Begleiter. Kadir, der in alle Zukunft das Schicksal meines Vaters begleiten wird, ein wenig wie Robin Batman begleitet oder der Neger in Zwei stahlharte Profis Mel Gibson folgt. Sie sind zwei neugewonnene beste Freunde, die niemals die einander gegebenen Versprechen vergessen werden.»

(Vielleicht kannst du dann zwei schwebende Vögel draußen in der Dämmerung beschreiben, die sich begegnen, die Schnäbel einander zuwenden und dann zum Kroumirieberg segeln. (Das als Symbol für unsere initiierte Freundschaft.))

Die Stummheit deines Vaters weckte Cherifas Fürsorge. Er wurde zu ihrem neuen Liebling, und oftmals assistierte er ihr mit Aufträgen aus dem Haushalt. Sie versuchte, seine Stummheit zu durchbrechen, indem sie ständig mit ihm redete. Sie diskutierte Himmel und Erde, Wetter und Wind, Dorftratsch und Beziehungen, ruchlose Paprikapreise und erotische Nachbarbesuche.

Weil er auf die aktive Aufmerksamkeit neidisch war, die dein Vater von Cherifa erhielt, fing Faizal an, seine Handflächen mit harten strafenden Schlägen zu traktieren. Er hoffte auf ein Jammern deines Vaters, doch alles, was je geschah, war, dass die Handflächen rot wurden, bluteten und zu festem Schorf heilten. Die Stummheit deines Vaters war immer noch intakt. (Ist es nicht witzig, dass du das

Lass den Kalender nun das Frühjahr verlassen und nach dem Herbst zum nächsten Winter kommen. Lass den Frost den Hof draußen überziehen, lass die Grillen verstummen. Dein Vater und ich spielten wortlose Spiele, teilten Karamellbonbons, spionierten die wasserholenden Mädchen des Viertels aus. Wir entwickelten eine avancierte Zeichensprache, die nur wir verstanden.

Die Nächte deines Vater bestanden immer noch aus transpirierendem Aufwachen, der Erinnerung an den Schrei einer Mutter, an Funken und Flammen und nächtlich überquerte Grenzen. Seine Augen waren frequent von Tränen erfüllt, von den Erinnerungsbildern, die immer den Charakter der Undeutlichkeit trugen. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch nur eine bestimmte Trauer kann getröstet werden. Andere nicht. Das ist des Lebens tragische Tatsache.

Hier biete ich an, dass du einige eigene Erinnerungen von eurem jährlichen Urlaub in Tunesien einfügst. Wenn du fürchtest, mit meiner metaphorischen Magnifizienz konkurrieren zu müssen, dann kannst du eine andere Schriftgröße verwenden. Memorierst du etwas von Jendouba?

Natürlich erinnerst du dich an Jendouba …

Die Stadt im Westen Tunesiens, in der Papas aufgewachsen sind. Die Stadt, wo verschrumpelte strohhütige Bauern schief auf Pferderücken sitzen und wo rote Traktoranhänger mit Eisenstangen klappern. Du erinnerst dich an den hektischen Souk, die Hadschis,

Du erinnerst dich an das Durchkneten im Hamam, das unaufhörliche herausreiben von schweißigem Schmutz, die haarigen Körper von Papas und dann auf der Ladefläche des Pick-ups zurück mit vorbeisausenden Kakteen und Bergen von Knoblauch.

Aber am stärksten ist die Erinnerung an Großmutter Cherifa, die so dick war, dass sie immer seitwärts durch die Tür ging. Cherifa, die dich mit einer Umarmung willkommen hieß und dich Felouse nannte und immer in deine Schwimmringe kniff, um das Unterhautfett zu kontrollieren und immer Papas ausschimpfte, weil du von all dem komischen schwedischen Essen praktisch zu Tode gehungert warst, Und du erinnerst dich an Großvater Faizal, den pensionierten Dorfschullehrer mit dem Arztkoffer, der Jendouba immer verteidigte und behauptete, die Stadt hätte in der Tat große Ähnlichkeit mit New York. So würden beispielsweise beide Städte sehr nah an einem Fluss liegen. Beide Städte würden von Idioten regiert. Beide Städte hätten gelbe Taxis. Beide Städte hätten ein großes Müllproblem. Und in beiden Städten könnte man sich nur schwer verlaufen – New York hat sein Schachbrettsystem, und wir haben unser geniales Alphabetsystem, und dann lächelt Faizal, sodass der weiße Schnurrbart zu einem zusätzlichen Lächeln über dem Mund wird, denn er muss natürlich nicht erklären, wessen Cousin es war, der sich das Straßensystem von Jendouba ausgedacht hat …

Und du erinnerst dich an alle Freunde von Papas. Die Fahrten vom Flugplatz in Omars Sechziger-Jahre-Mercedes mit von Klebeband gehaltenen Radkappen, das Willkommenscouscous bei Olfas Familie, die fluchenden Begrüßungen von Amine, die warmen Knie von Zmorda. Wie alle seufzen, wenn Nader wie üblich anfängt mit diesem Schneider anzugeben, der, man stelle sich vor, ohne einen extra Aufschlag Hosen mit unterschiedlicher Beinlänge näht. Und du erinnerst dich an noch so unglaublich viel mehr, die Tätowierungen auf dem gigantischen Bizeps von Sofiane, an den linken Arm von Dhib, der von den vielen Sonnenstunden im Taxi immer besonders braun ist, die Schlafnächte auf dem Dach und der Geruch frisch gewaschener Laken, Shishapfeifen mit Apfelgeschmack und die frisch gebackenen Kekse aus Emirs Fabrik. Die Abenddämmerungen auf den Verkehrsinseln der Hauptstraße, wo du mit Großmutter sitzt und mit krachendem Geräusch Stücke aus Wassermelonen brichst, die Kerne auf

In der nächsten Szene ist es Winter 1964. Auf den Gipfeln des Kroumiriebergs glänzt der Schnee und dein Vater lebt jetzt seit zwei Jahren bei Cherifa. Zwei Jahre völliger Stummheit. Zwei Jahre ohne das geringste Flüstern.

An diesem winterlichen Tag saßen alle vor Kälte zitternd im Speisesaal, wir nahmen unsere Mahlzeit ein und bliesen uns warme Luft in die Hände. Ich erinnere mich, wie dein Vater sich plötzlich levitierte und, obwohl das sehr illegal war, auf die Küche von Cherifa zumarschierte. Aus der Entfernung sah ich, wie er sich die vierzehnjährige Kehle räusperte, die Zunge losriss und … redete!

«Hrm … Könnte ich bitte noch Nachschlag bekommen? Ich bin nicht satt geworden.»

Seine Stimme war, von einer sehr breiten Heiserkeit abgesehen, ganz normal. Cherifas Lippen rundeten sich und klappten auf und zu wie bei einem erstaunten Fisch.

«Entschuldigung. Könnte ich bitte ein bisschen mehr

«Wenn du mir keinen Nachschlag gibst, dann könnte es passieren, dass ich gewisse Gerüchte weitergebe … Niemand bekommt mehr Geschichten zu hören als der, von dem die Leute glauben, er sei stumm. Falls du verstehst, was ich meine? Denn du wirst doch nicht wollen, dass Faizal erfährt …»

Und hier wurde die Stimme deines Vaters zu einem unhörbaren Flüstern. Cherifas Verwirrung war so groß, dass sie tatsächlich (zum ersten Mal in der Geschichte der Welt) einen essenmäßigen Nachschlag bewilligte. Seit jenem Tag war dein Vater noch mehr von Cherifa favorisiert (und von Faizal noch mehr detestiert).

Warum retournierte die zungliche Effektivität deines Vaters so plötzlich? Ich habe keine Ahnung. Manchmal ist das Leben so eigensinnig und folgt nicht den Mustern, die buchlich adäquat wären. Im Buch machen wir es am besten so, dass wir, um beim Leser keine Verwirrung zu stiften, ein ganz klares Motiv für deines Vaters geheilte Zunge nennen. Wie wäre es, wenn wir deinen Vater in einen Wald marschieren und einen Kastanienbaum passieren lassen, dann bekommt er eine Kastanie auf den Kopf und schreit: «Au!» Und dann kannst du ihn ausrufen lassen: «Ach, eine Kastanie, wie symbolisch, dass gerade sie meine Stummheit kuriert!» Oder du kannst ihn von einer magischen Traumsequenz heimsuchen lassen, in der seine Zukunft in Form eines modernen joycehaften Bewusstseinsstroms vorgezeichnet wird:

Mit der Gabe der Sprache wuchs die Freundschaft zwischen deinem Vater und mir zu einem felsenfesten Fundament. Ich fragte nie nach seines Schweigens Ursache, hingegen wollte ich alles über seine Eltern und seine Geschichte wissen. Und dein Vater breitete sie vor mir mit seiner ganz eigenen Stimme aus und mit Worten, die plötzlich geflossen kamen wie das Blut aus dem Fahrstuhl in Shining. Er erzählte von seinem Vater, Moussa, den er als einen wohlhabenden Algerier beschrieb, der sein Leben im internationalen Luftraum verbrachte und des Nachts einen luxuriösen Samtpyjama trug.

«Mein Vater, ach, mein Vater!», rief er, bis er die Aufmerksamkeit aller (abgesehen von dem halb tauben Amine) attrahiert hatte. Unseren eifrig lauschenden Ohren berichtete er von seines Vaters Karriere als chemischer Wasserreiniger. Schon bald leuchtete das Bild deines Großvaters in die ganze Welt hinaus, und er erhielt genügend Finanzen, um in frequente Süßigkeitenfabriken und Jukeboxgeschäfte zu investieren.

«Dann begegnete er auf einem Symphoniekonzert in Monaco meiner Mutter. Sie ist eines der weltschönsten Mannequins, als Tochter algerischer Eltern im amerikanischen Miami Beach geboren. Inzwischen ist sie Schauspielerin und eng mit Filmstars wie Grace Kelly und Humphrey Bogart befreundet. Habt ihr das hier eigentlich schon gesehen?»

«Und übrigens …», addierte er, nachdem er das Foto detailliert betrachtet hatte, «lasst euch nicht von dem naseuntersuchenden Leibwächter im Hintergrund stören.»

Deines Vaters Geschichten imponierten uns allen sehr. Unsere Augen leuchteten in Stereo, als wir riefen: «Mehr! Erzähl mehr!»

Die Konsequenz war eine weitere Stimulation des säuselnden Drachen, den man Phantasie nennt. Dein Vater fuhr fort:

«Mein Vater Moussa hat zudem bei der Weltmeisterschaft im Gewichtheben frequent Gold gewonnen und als Tigerdompteur gearbeitet. Er besitzt vier Pontiacs V8, zwei sind schwarz und der Rest rot. Derzeit wohnt er in einem luxuriösen Viertel in Paris, wo die Rasenmäher wie kleine Autos aussehen und man die Wochenenden auf dem Golfplatz oder der Rennbahn verbringt. Frauen aller Couleur schwimmen oben ohne in seinem Swimmingpool und reiben sich die Schultern mit kokosduftender Luxuscreme ein. Warum ich hierher lokalisiert wurde? Nach dem unglücklichen Tod meiner Mutter bei einem Autounfall wuchs in meinem Vater der Wunsch, mich durch die harte Schule der Armut gehen zu lassen. Aber schon bald … wann auch immer, vielleicht morgen oder nächste Woche wird seine Gestalt hier erscheinen, um mich in den

Ich betrachtete deinen Vater und fragte (mit einem gerade frisch erwachten Misstrauen):

«Und wie hat er diesen Erfolg erlangt?»

Vorsichtig faltete dein Vater die Fotografie zusammen, retournierte sie in seine Tasche und antwortete:

«Mein Vater ist ein Triple an Talent: Wasserreiniger, Casanova und Kosmopolit!»

Warum nun entwickelte seine Zunge eine solche Menge an Wahrheitsentgleisungen? Ich weiß es nicht. Dafür können wir zwei interessante Tendenzen feststellen:

1. Alles, was im Leben deines Vaters eine politische Ausrichtung hatte, wurde ausgefiltert. Politik war für ihn ein Sumpf, in dem schon allzu viele aus seiner Umgebung versunken waren. Erst spät in seinem Leben sollte dein Vater seine Einstellung zur Politik ändern. Vielleicht zu spät.

2. Natürlich begriffen wir alle, dass die Worte deines Vaters nicht immer ganz korrekt waren. Trotzdem ließen wir uns hypnotisieren und stimulieren. Ist es nicht bizarr, wie der Phantasie Worte einen gewissen Trost herausrufen können? Und ist nicht diese Tatsache Grund dafür, dass es so überflüssige Dinge gibt wie Horoskope, Psychologen und Schriftsteller?

Ehe ich diese Kollektion von Informationen über die Kindheit deines Vaters terminiere, möchte ich noch etwas vital Wichtiges hinzufügen: Solltest du immer noch an der Genialität dieses Projektes zweifeln, so möchte ich