BRÜCHIGE ZEITEN
LUIS STABAUER
BRÜCHIGE ZEITEN
Roman
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:
MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien
Land Oberösterreich
Luis Stabauer
Brüchige Zeiten
Wien, Hollitzer Verlag, 2020
Lektorat: Teresa Profanter
Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler
Coverfoto: „Eher geht Europa durch ein Nadelöhr, …“
© Leonie Stabauer, Málaga
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-809-1
GABY KALONER
Wo bin ich?, denkt sie noch im Halbschlaf und spürt eine Hand am Oberarm. Sie öffnet die Augen. Eine Frau im grauen Schlafanzug sitzt an ihrem Bettrand. Vor dem vergitterten Fenster stehen zwei weitere Frauen. An der Wand hängt ein Kalender. Jänner 2019 kann sie lesen.
„Du hast die halbe Nacht geweint“, sagt die Frau neben ihr und zieht ihre Hand zurück. „Das haben wir in den ersten Nächten alle. Denk nicht zu viel nach, das hilft. Wie heißt du?“
Die Frau dürfte in ihrem Alter sein, so um die vierzig.
„Lucía, Lucía Gruber“, sagt sie. „Entschuldige, ich habe mich nicht gleich orientieren können.“
„Jö, a feina Pinkel, orientieren hat sa si net kennan, hast wen hamdraht, oder was?“, sagt eine der beiden anderen Frauen aus dem Hintergrund.
„Hör nicht auf sie. Die reden nur blöd“, flüstert die Frau an ihrem Bett. „Ich bin die Karin.“ Sie streicht Lucía übers Haar, lächelt sie an und erhebt sich. Mit den Schlüsselgeräuschen an der Tür setzt sich Lucía auf.
„Kaffee, Tee, Kakao?“ Auf dem Servierwagen liegen Brote in einem kleinen Korb, Butter und Marmelade sind auf vier Teller aufgeteilt.
Lucía hat keinen Hunger, greift aber doch zu einem der Teller und legt ein Brot dazu. Sie erinnert sich wieder, die Frauen haben schon geschlafen, gestern, spätabends, nachdem sie ein Transporter hierhergebracht hat. Ihre Reisetasche steht neben dem Bett. Sie haben ihr noch keinen Kasten zugeteilt. Zwei Monate war sie bereits in Untersuchungshaft in Wien, und jetzt diese Überstellung nach Schwarzau. Ihr Rechtsanwalt hat noch versucht, sie vor der Abfahrt zu beruhigen, und ihr mitgeteilt, dass ihre Freundin Martina sie in der Justizanstalt Schwarzau besuchen kommen werde. Es sei ihm nicht möglich gewesen, gegen diese Überstellung Rechtsmittel einzulegen.
„Sie sind die erste Person, die in der Zweiten Republik de facto in Schutz- und Beugehaft genommen wird. Es wird versucht, Ihnen terroristische Aktivitäten vorzuwerfen“, hatte er ihr damals im Erstgespräch in der Justizanstalt Mittersteig erklärt. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden diese Maßnahme auch auf europäischer Ebene bekämpfen. Und lassen Sie sich vom Gezeter der Polizisten und Staatsanwälte nicht einschüchtern. Gegen unliebsame Personen verwenden sie fast immer den Gesetzestext zu § 278c StGB Terroristische Straftaten.“
Lucía nimmt sich vor, nach dem Frühstück zu fragen, ob sie für den Besuch ihrer Freundin einen ungestörten Raum benützen kann. Jene Wachebeamtin, die das Frühstücksgeschirr abholt, weiß nichts, sie zeigt nur auf einen Kasten. Lucía räumt ihre Kleidung und die Toilettesachen ein und legt sich hin.
Wieder dreht sich der Schlüssel im Schloss. Dieselbe Frau scheint jetzt doch etwas zu wissen: „Lucía Gruber, kommen Sie mit. Sie haben das Erstgespräch mit der Frau Oberstleutnant.“
Die Leiterin der Justizanstalt mustert Lucía argwöhnisch, lässt sie vor ihrem Schreibtisch stehen und nippt am Kaffee. „Irgendwie müssen Sie gefährlich sein“, sagt sie, „sonst müssten wir Sie nicht als besonderen U-Häftling in unserem Schloss für Schwerverbrecherinnen aufnehmen. Aber das zu beurteilen ist nicht unsere Aufgabe. Verhalten Sie sich ruhig und befolgen Sie die Regeln, dann wird Ihr Aufenthalt angenehm werden, das verspreche ich Ihnen. Ja, und noch etwas: Sie scheinen prominent zu sein, denn bereits für morgen ist der Besuch einer Psychologin genehmigt, sogar mit der Freigabe von Audioaufnahmen, wenn Sie einverstanden sind.“
Lucía blickt der Frau Oberstleutnant ungläubig in die Augen, hebt die Schultern kurz an, dann nickt sie zögerlich.
Die Leiterin der Anstalt ergreift eine Mappe, öffnet sie und blättert darin.
„Fluchtgefahr, Gefahr der Begehung einer neuerlichen Straftat und Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit, drei Tattoos und ehemalige Gymnasiallehrerin“, murmelt sie und sagt dann laut:
„Noch etwas: Eine Frau Professor Magistra Martina Hager steht auf der Besucherliste. Sie kommt um 15:15 Uhr und darf fünfzehn Minuten bleiben. Die Frau Professor wird als Mitangeklagte geführt. Wir werden das Gespräch überwachen, seien Sie vorsichtig.“ Frau Oberstleutnant drückt eine Taste und lässt Lucía wieder in die Zelle führen.
*
Lucía geht im kleinen Besucherraum hin und her, dann wird die Tür geöffnet und Martina wird hereinbegleitet. Sie stellt ihre Tasche ab und umarmt Lucía lange.
„Ich hab dir Eva schläft von Francesca Melandri und Unter der Drachenwand von Arno Geiger mitgebracht, ich denke, die kennst du noch nicht. Und da, Dörrzwetschken und Marillenmarmelade.“
„Danke. Bedeutet das, dass du noch immer mit einem längeren Aufenthalt rechnest?“
„Ich hoffe nicht. Unser Anwalt ist echt super, ich habe lange mit ihm telefoniert. Wir haben deinen Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und die Zusage zu einer Verfahrensprüfung bekommen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum das Justizministerium den beantragten Therapiegesprächen zugestimmt und die Tonaufnahmen genehmigt hat. Du kannst der Therapeutin vertrauen, ich kenne sie von diversen Aktionen. Sie heißt Gaby und wird dich ausführlich befragen. Sie kommt morgen zu dir. Wir hauen dich da raus.“
„Danke, Martina, ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde. Und? Hast du sonst keine Infos für mich?“
Martina schließt kurz die Augen, sie weiß, was Lucía hören möchte, und schüttelt langsam den Kopf.
„Ich habe ihm noch zwei weitere Mails und eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. Er hat alles gelesen oder zumindest geöffnet. Keine Reaktion. Was soll ich noch tun? Soll ich deinen Ex auch anschreiben?“
„Nein, der weiß sicher Bescheid, stand ja in allen Zeitungen. Halte Fabian bitte weiterhin auf dem Laufenden, vielleicht meldet er sich doch einmal.“
„Es kann nicht sein, dass du wegen dieser Kirchenbesetzung immer noch in Untersuchungshaft bist. Der Pfarrer hat keine Besitzstörungsklage eingebracht und die könnte auch kein Haftgrund …“
Eine Wachbeamtin nähert sich den beiden und sagt in strengem Ton: „Die Zeit ist abgelaufen.“
„Das waren noch keine fünfzehn Minuten“, setzt Martina zu einem Protest an. Lucía schüttelt den Kopf und flüstert: „Red mit dem Anwalt.“ Die beiden Frauen umarmen einander. Lucía wird von einer Strafvollzugsbediensteten in ihre Zelle zurückgebracht.
„Alle Achtung, du bist eine Frau Professor“, empfängt sie Karin und eine der anderen beiden Zellengenossinnen meint: „Du kuntast uns sicha was leanen“, und lacht.
Woher wissen die das?
*
Lucía öffnet die Augen und blinzelt. „Kaffee, Tee, Kakao?“, fragt eine dunkelhaarige Frau in Uniform und schiebt den Servierwagen in die Mitte der Zelle.
„Frau Gruber, um 8:55 Uhr hole ich Sie ab, Sie haben ein Gespräch im Medienraum. Machen Sie sich fesch, vielleicht werden Sie sogar fotografiert“, sagt die Wachebeamtin.
Lucía wartet in einem Raum mit einer Sitzecke, einer Couch und einem Regal voller Bücher. Sie kann keine Kamera entdecken. Die Tür geht auf, die Frau Oberstleutnant selbst begleitet eine brünette Frau in den Raum. In Jeans und grauem Pulli, die Jacke legt sie auf die Couch, auch sie dürfte in den Vierzigern sein. Die Gefängnisleiterin lässt die beiden Frauen allein.
„Gaby Kaloner. Gaby mit Ypsilon. Sind das Du und Lucía als Anrede okay?“ Lucía nickt. Gaby lächelt und legt ihr Handy als Aufnahmegerät auf den Tisch.
„Du weißt Bescheid und bist einverstanden, ja? Das ist unser Erstgespräch, wir können es kurz halten und vielleicht schon heute mit ersten Tonaufnahmen über dein Leben beginnen.“
„Ja, alles klar“, sagt Lucía. „Wie viel Zeit haben wir?“ Leise ergänzt sie: „Martina hat mir …“
Gaby hebt ihre Hand ganz leicht über den Tisch und deutet mit einem leichten Wippen an, nicht weiter zu reden. Lucía nickt, bevor Gaby fortfährt: „Heute haben wir zwei Stunden, aber sie haben insgesamt zehn Termine genehmigt. Ich weiß bereits einiges aus den Vernehmungsprotokollen, möchte jedoch alles aus deinem Mund hören. Versuche bitte chronologisch zu erzählen, du kannst gerne bei deinen Eltern beginnen. Ich werde dich nur unterbrechen, wenn ich mich nicht auskenne. Die Gespräche und die Aufnahmen sind für die Analyse deiner psychischen Gesundheit wichtig.“ Gaby zwinkert einige Male recht heftig, schreibt etwas in ihr Notizbuch. Dann dreht sie es in Lucías Richtung, damit diese den Text lesen kann: Ich mache aus deiner Erzählung einen Bericht. Er könnte später auch für den Widerstand gegen die Regierung und für den Europäischen Gerichtshof sehr wichtig werden! Okay?
Jetzt lächelt Lucía.
FRÜHSTÜCK
Schon als Lucía ein kleines Mädchen war, hatte ihr ihr Vater Eduardo Martín Sanchez von den spanischen Faschisten erzählt. Als sie fünfzehn war, sprach er auch über seine Angst, die er im Februar 1981 gehabt hatte, als die Falangisten in Madrid wieder die Macht übernehmen hatten wollen. Ja, er habe große Zweifel gehabt, ob sich der König gegen die Militärs und putschenden Teile der Guardia Civil durchsetzen würde können. Schon 1976, vor seiner Aufnahme in den diplomatischen Dienst, sei er von uniformierten Männern vier Stunden lang befragt worden, ob er noch jemanden aus der anarchistischen Gewerkschaft kenne, welche Bücher er zu Hause habe, wann und wo er bei Demonstrationen dabei gewesen sei und bei welchen, erinnerte er sich.
„Was ist putschen?“, fragte ihn Lucía. Er erklärte es ihr und sprach darüber, wie froh er sei, dass sich der König schlussendlich erfolgreich für die Demokratie eingesetzt hatte.
„Ich war zweiunddreißig, als mich die spanische Regierung 1976 in die Botschaft nach Wien entsandte. Mama war damals fünfundzwanzig, wir hatten noch vor der Übersiedlung geheiratet. Sie telefonierte täglich mit ihren Eltern in Madrid, aber zurück wollten wir beide nicht mehr.
‚Wir sind schon richtige Wiener‘, sagte sie manchmal, wenn uns neue Freunde besuchten. Die spanische Sonne vermissten wir schon ein wenig.
Zum ersten Hochzeitstag überreichte mir Mama drei Sonnenblumen. ‚Weißt du‘, hatte sie gefragt, ‚warum diese Blume dem Lauf der Sonne folgt?‘
Ich wusste es nicht.
Mama hatte gelacht: ‚Sie kann nicht anders … Auch du bist meine Sonne.‘ Wir umarmten einander lange.
‚Wie schön‘, flüsterte ich Mama damals ins Ohr, auch sie war meine spanische Sonne in Wien.
Bald darauf wurde Mama schwanger. 1977 holten wir uns mit deiner Geburt noch eine Sonne ins Haus: Dein Licht strahlte von da an für uns, daher heißt du Lucía. Wir unternahmen lange Spaziergänge im Prater mit dir und dir gefielen die Wanderungen im Wienerwald. An unsere Konzert- und Theaterbesuche während der Volksschulzeit wirst du dich sicher noch erinnern können. Wir waren schon damals stolz auf dich.“
Eduardo Martín Sanchez drückte seine Tochter an sich, Rosa García Mendoza brachte die Torte ins Esszimmer und stimmte „Cumpleaños feliz“ an.
*
Im April 1999, Lucía war einundzwanzig, reisten Rosa und Eduardo nach London. Zwei Tage später sah Lucía im Fernsehen die Bilder vom Sprengstoffanschlag in Soho. Am nächsten Morgen rief die Botschaft an, ihre Eltern waren unter den Opfern.
Martina meldete sich nicht am Telefon. Albert hatte bereits ein Handy, ihn erreichte sie. Er kam zu ihr und versuchte sie mit seinen Beraterweisheiten zu beruhigen. Lucía blieb drei Tage lang im Bett und weinte beinahe ununterbrochen. An den Abenden konnte sie zumindest mit Albert reden.
„Ich gehe nicht mehr an die Uni“, sagte sie nach zwei Tagen zu ihm. Albert antwortete nicht. Am vierten Abend meinte er, sie mit Zärtlichkeiten trösten zu können. Sie wollte es anfangs nicht, gab aber seinem Drängen doch nach, auch die Pille hatte sie nicht mehr genommen. Wenn es denn sein sollte, dachte sie, ein Kind würde mich da herausholen.
Nachdem die Regel zehn Tage ausgeblieben war, hatte sie den Schwangerschaftstest gemacht. „Wir werden Eltern“, sagte sie zwei Monate später zu Albert.
„Mhm“, erwiderte er nur. Wieder fiel sie in ein Loch. Dann schlug Albert doch einen Hochzeitstermin vor.
Lucía beendete das Sommersemester und ließ sich danach von der Universität beurlauben. Albert hatte noch vor der Geburt eine schöne Wohnung gefunden. Sie konnte den Kaufbetrag mit dem Geld aus der Erbschaft ihrer Eltern beinahe zur Gänze aufbringen. Mit einem kleineren Kredit beteiligte sich Albert am Rest.
„Es ist ja deine Wohnung“, hörte sie in den Jahren nach der Geburt von Fabian öfter, wenn sie Alberts Beteiligung im Haushalt einforderte. Sie konzentrierte sich auf ihren Sohn. Wo immer es möglich war, zeigte sie ihn her, fotografierte ihn täglich und führte für ihn ein Babytagebuch.
Erst nachdem Fabian im Kindergarten war, setzte Lucía ihr Studium fort. In Spanisch konnte sie sich auf Literatur konzentrieren, für die Sporttheorien arbeitete sie hart, wenn Fabian schlief.
Zwei Mal hatte Lucía während des Studiums an einem Gymnasium im 17. Bezirk hospitiert. 2005, direkt nach Abschluss des Studiums, wurde sie dort als Lehrerin übernommen. Zu Sport und Spanisch wurde ihr noch die Verantwortung für die Tauchausbildungen übertragen. Zwei Jahre später kandidierte sie bei den Personalvertretungswahlen und wurde gewählt. Albert wollte sie nicht zur Wahlparty begleiten. Er blieb bei Fabian.
Ihre neuen Freunde aus der Schule konnten mit ihrem Mann wenig anfangen und auch er wusste nichts mit ihnen zu reden, wenn sie auf Besuch kamen. Aber allen überreichte er seine Berater-Visitenkarte. Die sozialen Verhältnisse in Österreich und Lucías Aktivitäten gegen das versteinerte Schulsystem interessierten Albert nicht. Die einzige linksliberale Tageszeitung Österreichs wollte er abbestellen, Lucía bestand darauf, das Abo zu behalten. Er fuhr täglich mit ihrem gemeinsamen Auto ins Büro, und wenn Lucía einmal das Auto gebraucht hätte, rechtfertigte er sich mit einem seiner Stehsätze: „Die Straßenbahnen werden immer voller, lauter Ausländer.“
„Du hast eine spanischstämmige Frau“, entgegnete Lucía. Albert schwieg.
Im Jänner 2011 wollte Lucía unbedingt an der Demonstration gegen den Akademikerball der Burschenschafter teilnehmen, vor allem, weil die Polizei die Kundgebung verbieten hatte wollen. Albert war wieder einmal in Deutschland unterwegs, daher hatte Lucía eine Kollegin gebeten, bei Fabian zu bleiben. In den folgenden Wochen beschimpfte sie Albert wiederholt als verantwortungslose Mutter. Die Gefährdung der Demokratie durch die Burschenschafter diskutierte sie in den sozialen Netzwerken und mit einigen Freunden aus dem Kollegium. Albert gegenüber schwieg sie.
„Dein Körper, deine Haare, dein Mund, deine Ausstrahlung, du bist eine Wucht“, hatte er früher gesagt und sie auch stolz seinen Freunden vorgestellt. In den letzten Jahren bekam Lucía nur mehr von anderen Komplimente. Nach einer gemeinsamen Schulveranstaltung baute sich eine erotische Stimmung zwischen ihr und einem Kollegen auf. Hätte ich dem nachgeben sollen?, dachte sie, nachdem sie wieder einmal allein ins Bett gegangen war.
Anfangs fehlte ihr die körperliche Liebe. Entweder war Albert unterwegs, oder er wollte auf Fabian Rücksicht nehmen, der ja nebenan schlief. Ein Jahr lang hatte er sie schon nicht mehr berührt. Immer häufiger kam er erst nachts nach Hause und Lucía meinte, fremdes Parfum und Wein zu riechen. Als sie dann einmal seine Hand unter der Decke spürte, drehte sie sich weg.
Am 1. Mai 2012 war es so weit. „Feigling!“, murmelte sie, als am Morgen sein Brief auf ihrem Nachtkästchen lag. Er schien es gut geplant zu haben. Vielleicht hat er sogar die Scheidung als Projekt angelegt, dachte Lucía. Ende Mai zog er in seine neue Wohnung. Wenn Fabian ihre Tränen bemerkte, legte er beim Frühstück seine Hand in ihren Nacken. Wenn sie trotzdem traurig war, sagte er:
„In einer Badewanne
saß eine dicke Dame.
Dicke Dame lachte
Badewanne krachte.“
Spätestens danach lachten beide.
Noch vor dem nächsten Schulanfang war alles geregelt.
„Wir haben das Besuchsrecht für jedes zweite Wochenende vereinbart. Papa wollte außerdem, dass du während der Woche in einem Internat bist, zumindest bis du fünfzehn bist. Dem habe ich zugestimmt“, sagte sie zu Fabian nach dem Gerichtstermin. „Dein Vater hat dir ein Zimmer mit Glotze eingerichtet.“
Den Kuba-Urlaub hatten sie noch gemeinsam geplant. Sie verbrachte ihn nun mit Fabian allein. Bei einem Stadtbummel in Havanna gestand er ihr, seinen Vater schon zweimal mit einer Frau getroffen zu haben.
„Ich sollte nicht drüber reden. Aber jetzt? Sie hat versprochen, mir ein Tablet zu kaufen, wenn ich dir nichts sage.“
Lucía blieb stehen, drehte sich abrupt zu Fabian und holte tief Luft. „Danke, dass du es mir sagst“, sagte sie und drückte ihn an sich. „Leider haben Papa und ich seit einiger Zeit nicht mehr viel miteinander geredet, so ist unsere Liebe zerflossen. Versprich mir bitte, immer mit mir zu reden, wenn dich etwas belastet. Du bist mein ganzes Leben.“
Fabian nickte.
Fabian hatte die ersten Jahre am Gymnasium gut abgeschlossen. Er besuchte dieselbe Schule, in der seine Mutter als Lehrerin unterrichtete. Gegen seinen Willen bestand Lucía auf Fabians Internataufenthalt, sie wollte sich auch nicht mehr mit Albert darüber streiten, schon gar nicht vor Gericht.
In ihrer gemeinsamen Schule kritisierte sie den neuen Deutschlehrer offen vor der Kollegenschaft: „Fällt dir für die Schularbeitsthemen nichts Besseres ein als germanische Göttergeschichten oder Monsterfiguren als Anregungen?“, sagte sie im Konferenzraum. An den Wochenenden versuchte sie auch Fabian vor ihm zu warnen. Sie wollte seine Deutschtümelei nicht gutheißen, die er angeblich zur Inspiration der Schüler einsetzte. Vielleicht stimmte es auch. Immerhin motivierte er Fabian zu fabelhaften Aufsätzen.
„Linkslinke wie du werden es auch irgendwann kapieren, dass sie als Gutmenschen nur nützliche Idioten sind. Womöglich ist es aber dann für dich zu spät“, flüsterte ihr der Kollege zu, als sie einmal zufällig gemeinsam aus dem Schulgebäude gingen. Lucía zeigte ihm den Mittelfinger. Sie beobachtete seine Aufsatzthemen nun noch genauer.
„Dein Deutschlehrer ist eine Gefahr für die Demokratie“, sagte sie an einem Wochenende, nachdem sie Fabians Hausaufgaben durchgesehen hatte. „Misch dich nicht ein“, erwiderte Fabian und schob sein Heft in die Tasche.
Die Kinder ihrer Klassen liebten sie. Sie erzählte ihnen Begebenheiten, die sie während ihrer Aufenthalte bei ihrer Madrid-Oma erlebt hatte, und immer wieder sprach sie auch von Ernesto Che Guevara und seinen Reisen durch Lateinamerika. Lucía regte damit die Schüler zu gesellschaftskritischen Referaten in Spanisch an. Im Juni 2014 eröffnete die Direktorin die Notenkonferenz mit einem Elternbrief an die Schule, in dem die Klassenarbeit von Lucía als vorbildlich gelobt wurde. Alle applaudierten, selbst der Deutschlehrer klatschte. Einige aus der Kollegenschaft wollten didaktische und methodische Tipps von ihr. Immer häufiger wurde sie auch zu privaten Festen eingeladen.
Zur Bundespräsidentenwahl 2016 bezog sie in einem TV-Spot einer antifaschistischen Gruppe eine klare Position. Die Direktorin empfahl ihr mehr Zurückhaltung. Auch ihr Eintreten für eine Gesamtschule werde von der Kollegenschaft nicht geteilt, hatte sie gesagt. „Und bedecken Sie Ihre Oberarme, man hat das Tattoo gesehen“, ergänzte sie.
Albert hatte ihr nach diesem Fernsehinterview eine lange WhatsApp-Nachricht geschrieben, und er hatte diese zusätzlich an Fabian adressiert:
Du kannst es nicht lassen! Wann wirst du erwachsen? Mit deinen linken Ausritten hast du unsere Familie zerstört. Die von dir beschimpfte Partei wird sich das nicht gefallen lassen, gerade du müsstest wissen, wie gut die vernetzt sind, und gegen Lehrer gehen sie besonders strikt vor. Du wurdest immer wieder auf Twitter und Facebook gesperrt. Reichen dir diese Warnungen noch nicht? Mit deinen Aktionen gefährdest du auch Fabian. Ich werde ihn schützen und auch seine Indoktrinierung nicht dulden!
Lucía war tagelang wütend und besprach ihre Situation mit einer Therapeutin. Zu Fabian sagte sie nichts. Er fand sie nach dem TV-Auftritt nur mehr peinlich. Klar, in der Pubertät soll er sich an mir reiben, dachte Lucía.
Ein Jahr später wurde sie von einer Gratiszeitung interviewt. Der Fotograf hatte sie in erotischer Pose abgebildet. Sie hatte doch keine Stiefel getragen? Hatten die auf dem Foto ihren Busen vergrößert? Im Hintergrund war ihre Schule ins Foto montiert worden. „Eine Lehrerin klagt an: Burschenschafter gefährden Österreichs Demokratie“, stand daneben. Am nächsten Schultag zitierte sie die Direktorin zu sich.
„Nehmen Sie Platz, wir müssen reden. Ich habe Sie gewarnt, Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Ich bin nach wie vor mit Ihrer Arbeit zufrieden, aber mit dem Zeitungsinterview sind Sie eindeutig zu weit gegangen.“
„Ich glaube, das Foto wurde manipuliert“, setzte Lucía zu einer Erklärung an.
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie haben auf das Ansehen der Schule zu achten. Außerdem ist es gerade in Vorwahlzeiten wichtig, vor den Schülern eine objektive Haltung zu wahren, da hilft es Ihnen nicht, dass Sie gewählte Vertreterin sind. Ich bin von der Schulbehörde beauftragt, Ihnen diese Verwarnung vorzulegen.“
„Und wie beurteilen Sie die Aktivitäten von Fabians Deutschlehrer und dessen militärische Kleidung?“
„Reicht Ihnen diese Verwarnung noch nicht?“, fragte die Direktorin.
Lucía unterschrieb.
Ihre vermeintlichen Vertrauten in der Kollegenschaft wichen ihren Fragen aus. Einige folgten ihr nicht mehr auf Twitter oder kündigten die Freundschaft auf Facebook. Es störte sie nicht, denn nach dem Zeitungsartikel wuchsen ihre Kontakte in den sozialen Medien auf einige Tausend an. Es war allerdings mühsam, die verdeckten Rechten unter ihnen zu erkennen und zu sperren.
Die meisten ihrer Lehrerkollegen wichen ihren Gesprächsversuchen aus oder antworteten nicht. „Sind dir gesellschaftspolitische Haltungen wichtiger als dein Job“, fragte einer, und eine Kollegin, die sie als Freundin bezeichnet hätte, meinte sogar: „Mit deinem Engagement erreichst du bei deinem Sohn womöglich das Gegenteil.“ Andererseits, mit Alberts neoliberalen Einstellungen konnte und wollte sie sich nicht arrangieren. Bestand tatsächlich die Gefahr, das Verständnis ihres Sohnes zu verlieren?
Ab der sechsten Klasse schickte sie Fabian nicht mehr in das Internat. „Ich gestehe ihm ein freies Leben zu“, sagte sie bei einem Kaffeeplausch zu ihrer Freundin Martina. Trotzdem redete er kaum noch mit ihr und übernachtete häufiger bei seinem Vater. Lucía wollte jeweils am Vortag darüber informiert werden. Das tat er über WhatsApp. „Alle lachen über dich“, schrieb er einmal dazu.
Lucía wollte in der Schule mit ihm reden, lud ihn in ein Café ein, schlug einen gemeinsamen Abend vor, er blockte alles ab. Erneut suchte sie Hilfe bei einer Therapeutin. Auf deren Vorschlag, dass Fabian mitkommen sollte, reagierte er unmissverständlich: „Ich bin nicht der Kranke“, schrieb er.
In der zweiten Therapiestunde erzählte sie vom gemeinsamen Lachen über Kindersprüche und wenn sie Fabian ihre Grimassen zeigte, von den Zeiten auf den Spielplätzen, von den vielen Fragen, die er ihr gestellt hatte, von seinem Wunsch, bei ihr im Bett zu schlafen und eine Katze zu haben. „Im ersten Jahr nach der Scheidung war er besonders lieb zu mir und es tat mir gut“, sagte Lucía. Beim nächsten Termin besprachen sie, wie Lucía mit ihrem Sohn wieder eine Gesprächsbasis finden könnte.
„Ich könnte Fabian um Unterstützung bei meiner Entscheidung bitten, ob ich noch einmal für die Personalvertretung kandidieren soll“, sagte Lucía zur Therapeutin. „Als Klassensprecher des Maturajahrgangs unseres Gymnasiums ist auch er davon betroffen.“
Die Maturatermine waren für Anfang Juni 2018 angesetzt worden. Fabian stimmte einem Gespräch zu.
Für einen Samstag im März vereinbarten sie ein gemeinsames Frühstück. Bereits am Tag davor gestaltete Lucía den Tisch mit bunten Servietten, einem Osterstrauch und einem großen Schokolade-Hasen, die er so gernhatte. Um sich auf das Gespräch mit Fabian einzustimmen, ging sie hinauf. Das Schafzimmer mit dem Balkon, das Bad und sein Zimmer waren in der oberen Etage untergebracht. Fabian war für die Ordnung in seinem Zimmer selbst verantwortlich, das hatten sie bereits vereinbart, als er noch im Internat gewesen war. Sie kontrollierte es kaum. Wenn die Haushaltshilfe angekündigt war, hatte er zumindest den Boden leergeräumt, das bestätigte diese. Diesmal wollte sie bei ihm aufräumen, darüber hatte er sich schon als Kind gefreut. Aha, der Kasten ist um 90 Grad gedreht und das Bett steht an der Wand.
Am Kasten hing ein neues Plakat. In großer Schrift leuchteten ihr die Worte entgegen:
Gott ist immer mit den starken Bataillonen!
(Friedrich der Große)
Gott in Frakturschrift und Bataillone! Lucía schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Habe ich die Faschisten im eigenen Haus? Sie hielt sich am Türstock fest, ihr Schwindelgefühl wurde weniger und sie ging näher hin. Iboesterreich stand ganz klein am unteren Rand. Die Identitären! Sie wusste im Moment nicht, was sie tun konnte. Wen konnte sie anrufen? Wer konnte wissen, woher solche Plakate kommen? Kam es von diesem Deutschlehrer?
Lucía riss den Kasten auf und wühlte in Fabians T-Shirts. Sie hielt ein gelbes Shirt in der Hand. IDENTITÄRE BEWEGUNG und Heimat – Freiheit – Tradition war darauf zu lesen.
„Verdammte Scheiße“, schrie sie, setzte sich auf Fabians Bett und vergrub ihr Gesicht in den Händen. So verharrte sie einige Zeit. Draußen begann es zu dämmern, sie knipste das Licht an. Ohne weiter nachzudenken, hob sie die Matratze ein wenig. Aufkleber kamen zum Vorschein. Auf einem rot-schwarzen Sticker stand in großen Buchstaben BLOOD IN – BLOOD OUT, Burschenschafter mit Schwertern waren abgebildet. Auf einem anderen war MERKEL MUSS WEG aufgedruckt.
Sie hörte Fabians Schritte auf der Stiege. Er sprang herein: „He, was soll das! Das ist deine Verbotszone!“, schrie er.
„Was! Was?“, schrie Lucía zurück und hielt ihm mit der einen Hand das T-Shirt, mit der anderen einen Aufkleber vor das Gesicht.
„Geh! Verschwinde, sofort! Das geht dich nichts an!“
„Und ob mich das was angeht. Ich bin deine Mutter, und das ist meine Wohnung. Woher hast du das? Ich will eine Antwort, hier und jetzt!“
„Nein! Verschwinde!“ Es war das erste Mal, dass sich ihr Sohn vor ihr aufbaute.
„Sei vorsichtig. Ich verlange von dir eine plausible Erklärung.“
„Nichts werde ich erklären. Du hast kein Recht, in meinen Sachen zu wühlen. Raus aus meinem Zimmer! Es stimmt, mit dir redet man am besten nicht.“
„Was, mit mir redet man nicht? Wer sagt das? Steckt da dein Vater dahinter? Setz dich hierher und rede!“
„Raus“, schrie Fabian nochmals, „und lass Papa endlich in Ruhe!“ Er machte einen Schritt auf seine Mutter zu. Kurz hob er den Arm. „Du bist eine Volksverräterin! Meine Freunde und ich verteidigen das Eigene. Und du? Du bist immer noch für die illegale Grenzöffnung.“
Lucía atmete einmal kräftig aus, öffnete die Arme und versuchte einen Schritt auf Fabian zuzugehen. Er wich zurück.
„Bitte, Fabs“, sagte sie mit leiser Stimme, „kannst du nicht erkennen, dass die, die vom Eigenen reden, Rassisten sind?“
„Typisch Linke. Wenn ihr nicht mehr weiterwisst, sind alle, die nicht eurer Meinung sind, Rassisten oder Faschisten. Wir werden die Islamisierung Österreichs nicht zulassen.“
Lucía setzte sich nochmals auf Fabians Bett.
„Steh auf! Verschwinde aus meinem Zimmer, sonst riecht mein Bett nach dir.“ Seine Stimme überschlug sich.
Lucía schloss kurz die Augen und erhob sich.
„Gut, du willst es nicht anders. Nimm diesen Mist und was du sonst noch brauchst. Fahr wieder zu Papa. Mach deine Matura, vielleicht bist du danach bereit, mit mir zu reden.“
Sie drehte sich um, ging vor die Tür und zählte bis zehn. Dann bewegte sie sich die Stiege hinunter. Langsam. Der Handlauf gab ihr einigermaßen Sicherheit. Im Wohnzimmer suchte sie ihr Telefon.
KLYTIA
Martina und Katharina hoben nicht ab. Beiden hinterließ sie eine Nachricht. Lucía versuchte es bei Albert, er meldete sich nicht. Sie stellte die angefangene Flasche Wodka auf den Tisch und holte ein Glas aus der Küche. Jene Nacht fiel ihr ein, als sie erfahren hatte, dass ihre Eltern in Soho umgekommen waren. Wie damals fühlte sie sich unsagbar leer und einsam. Hatte sie deswegen Albert angerufen? Nach dem ersten Schluck war sie froh, dass er nicht abgehoben hatte. Nach dem zweiten Glas hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, sie ging hinaus und verriegelte sie. Nach dem vierten Glas wurde ihr leichter, sie suchte ihre Reggae-Wiedergabeliste am Laptop und drehte auf halbe Discolautstärke. Alpha Blondy ertönte.
Das Handy klingelte. Lucía wusste nicht, wie spät es war. Martina.
„Danke, du bist ein Schatz“, stammelte Lucía.
„Das klingt arg beschissen, was du auf meine Box gestammelt hast. Erzähl bitte von Anfang an. Was war los?“
Ihre Erzählung vom Plakat, dem T-Shirt, den Aufklebern und Fabians Reaktionen wurde vor allem bei den Erwähnungen der Drohgesten ihres Sohnes von trockenem Schluchzen unterbrochen. Es war, als würde sie ein heftiger Schluckauf plagen, der allerdings in ihrem Kopf entstand und ihr für einige Sekunden den Atem nahm.
„Was ist, was ist?“, fragte Martina einige Male in den Sprechpausen. Lucía schaffte es, irgendwie fertig zu berichten.
„Dass Fabian seinen Vater verteidigt, verstehe ich. Das Plakat und die Aufkleber traue ich Albert aber nicht zu“, ging Martina auf Lucías Vermutung ein und ergänzte: „Bitte leg dich hin, ich komme morgen am Nachmittag zu dir nach Wien.“
„Nein, das ist nicht notwendig, ich schaffe das schon.“
„Papperlapapp, ich komme. Stell die Flasche in den Schrank und leg dich hin. Ruf an, wenn du etwas brauchst, ich schalte mein Handy nicht ab. Okay?“
„Gut, aber ich glaub, morgen sieht alles anders aus.“
„Dann ist es ja gut, ich komme trotzdem. Pass auf dich auf.“
Lucía schleppte sich hinauf ins Schlafzimmer. Beim Ausziehen der Jeans wankte sie, den Pulli behielt sie an.
„Nicht Zähne geputzt“, dachte sie. Es war ihr egal. Zwei- oder dreimal klingelte ihr Handy, sie rührte sich nicht.
Es war bereits hell geworden, als sie ihr Telefon erneut hörte. Sie konnte nicht aufstehen, es war, als würde ein riesiger Stein auf ihr liegen. Unmöglich. Was war los? Irgendwann schaffte sie es bis zur Toilette. Danach kroch sie wieder ins Bett, es wäre ihr nicht möglich gewesen, sich länger auf den Beinen halten. Sie wollte nur schlafen.
Meinen letzten Rausch hatte ich jedenfalls vor Fabians Geburt, sinnierte sie und überlegte, einen Kübel zum Bett zu stellen. Wie soll ich das schaffen? Wie soll es überhaupt weitergehen? Die Tage nach dem Tod der Eltern fielen ihr wieder ein, auch damals hatte sie keinen Ausweg gesehen. Irgendwie hatte sie es dann doch geschafft. Mit diesen Gedanken musste sie wieder eingeschlafen sein.
Langsam hob sie die Lider, Martina saß an ihrem Bett, sie hatte eine Tasse Tee auf das Nachtkästchen gestellt. Welcher Tag war heute?
„Du siehst aus, als hättest du zwei Flaschen Schnaps getrunken, und du riechst auch so. Ich helfe dir beim Ausziehen. Deinen Pyjama habe ich schon herausgelegt.“
Lucía ließ ihre Freundin gewähren. Während des Lüftens musste sie sich nur kurz auf die unbenutzte Seite des Doppelbetts wälzen, damit Martina Tuchent und Polster aufschütteln konnte. Danach setzte sie sich wieder an Lucías Bettrand, half ihr Tee zu trinken und legte ihr die linke Hand auf den Arm. In der Rechten hielt sie ein altes Buch. Klytia stand in goldener Frakturschrift am Buchrücken.
„Schon nach eurer Scheidung wollte ich dir diesen Roman bringen. Du warst so traurig und ich fragte mich: Wo ist meine Lucía mit dem sonnigen Gemüt?“
„Was? Ich werde momentan sicher nichts lesen und in Frakturschrift schon gar nicht.“
„Musst du auch nicht“, Martina tätschelte Lucías Arm, „oder zumindest nicht sofort, aber bitte, erinnere dich an unsere Unizeiten. Du warst unsere Humorpflanze. Was haben wir mit dir gelacht, wenn du so getan hast, als würdest du Carlos, den Spanisch-Professor, beim Verlassen des Lehrsaals mit deinen Schritten verfolgen, und wie exzessiv du deinen Kopf nach ihm gedreht hast. Kannst du dich noch …“
„Du strengst mich an. Ich möchte nur schlafen“, unterbrach Lucía sie.
„Okay, ich will doch nur … Darf ich deinen Laptop benützen? Ich schreibe auf, warum ich dir dieses Buch mitgebracht habe. Meine Nachricht kannst du dann jederzeit lesen.“
„Mhm“, brummte Lucía und drehte sich auf die andere Seite. Martina schloss das Fenster, schaltete den Computer ein und setzte sich an die Tastatur.
Meine liebe Lucía,
ich will dich aus deinem schwarzen Loch herausholen. Du kannst auf mich zählen, wann immer du mich brauchst.
Es geht dir momentan beschissen, klar, aber vergiss bitte nicht, wie oft du bereits mir und anderen geholfen hast. Jetzt bist du dran. Okay?
Klytia, den Roman von George Taylor, habe ich gleich nach deinem Anruf herausgesucht. Ich habe mich richtig erinnert, die weibliche Hauptperson Lydia ist ein junges Mädchen in Heidelberg des sechzehnten Jahrhunderts, das mit ihrer Existenz und mit ihrer Liebe scheinbar Unmögliches bewegt hat. Sie hat mich schon beim Lesen an dich erinnert. George Taylor schreibt der blonden, unerfahrenen Lydia Klytias Eigenschaften zu lieben auf den Leib. Ich weiß, du kennst Klytia, die Gestalt aus der griechischen Mythologie, die den Sonnengott Helios mit ihrem Blick neun Tage lang in seinem Sonnenwagen verfolgt hat, aber von ihm nicht erhört wurde. Klytia wurde zur Sonnenblume, der spanischen Girasol, die ihren Kopf immer noch nach der Sonne ausrichtet.
Lydia hat im sechzehnten Jahrhundert Männer verzaubert. Bist du nicht auch eine Menschenverzauberin?
Verstehst du, was ich dir erklären wollte? Wir haben dich in der Uni Girasol genannt, weil auch du deinen Kopf immer wieder nach anderen ausgerichtet hast. Verbunden mit deinem bedingungslosen Glauben an das Gute in den Menschen bist du für uns zur Girasol geworden. Dein positives Denken und deine Liebe werden dich auch jetzt aus dieser Krise retten. Du warst uns allen ein Vorbild und du sollst es bleiben.
Der Roman Klytia soll dir Hilfe, Erinnerung und vielleicht dort oder da auch Anleitung für die Befreiung von Altlasten sein.
Bitte, liebe Lucía, versuche wieder jene Girasol zu werden, die mir und auch sich selbst schon so viel Freude bereitet hat.
Ich will dich wieder lachend, verzückend und mitreißend erleben. Dann werden wir bald wieder tanzen gehen und den einen oder anderen Mann verwirren. Wie damals.
Und, vielleicht das Wichtigste: Wenn du wieder lieben kannst, wie eben Lydia in den Eigenschaften von Klytia, dann werden du und Fabian wieder eine gute Mutter-Sohn-Beziehung leben können.
Deine Freundin Martina
Als sie aufwachte, sah Lucía Martina an ihrem Bettrand sitzen. „Bist du noch immer da oder schon wieder?“
„Noch immer. Du musst etwas essen“, sagte Martina. „Ich habe dir eine Gemüsesuppe gemacht.“
Sie half Lucía sich aufzusetzen und reichte ihr die Schale. Danach blickte Lucía auf ihren Radiowecker. Sonntag, 11:20 Uhr. Sie erschrak und versuchte aufzustehen. Gestützt von Martina erreichte sie die Toilette.
„Ich rufe morgen in der Direktion an“, sagte Martina, als Lucía wieder im Bett gelandet war. „So gehst du mir nicht in die Schule. Ich melde dich krank. Der Roman und meine Erklärung, was Klytia mit dir zu tun hat, liegen hier in die Lade. Wenn du Fragen hast, reden wir ein anderes Mal darüber.“
Lucías Blick verfinsterte sich, sie wollte etwas sagen und hob die Hand, gleichzeitig wurde ihr klar, sie würde auch am Montag noch keine Kraft haben. Martinas Stimme klang, als wäre sie ein Echo. Weit weg und verzerrt. Lesen wollte sie momentan nichts.
Die Tage vergingen. Martina und Katharina wechselten sich in der Betreuung von Lucía ab. Albert kam zweimal in die Wohnung und nahm einige Kleidungsstücke für Fabian mit. Über ihn sagte er nichts.
Nach einer Woche hatte Lucía Martinas Brief gelesen und begonnen, in Klytia zu schmökern. Die Figuren gefielen ihr, sie wusste wenig über die konkreten Religionskonflikte im sechzehnten Jahrhundert in Heidelberg. Dann trat Lydia auf. Sie wurde ihr zur Vertrauten. Ohne erkennbare Aktivitäten konnte sie Menschen und Situationen beeinflussen, nur durch ihr Sein, ihr gelebtes Interesse und ihre bedingungslose Liebe. Wer hat mir die Kraft genommen, andere motivieren zu können?, notierte Lucía an einen Seitenrand. Lydia hatte aber auch sich und ihren Vater aus Liebe ins Gefängnis gebracht und war nur gnadenhalber befreit worden. Keine Gnade, ich muss mich selbst befreien, schrieb Lucía auf die letzte Seite des Romans.
*
Es war bereits nach Ostern, als Martina wieder einmal die Post aus dem Postkasten brachte. Ein Brief vom Stadtschulrat war dabei. Lucía bat sie ihn zu öffnen und vorzulesen:
Werte Frau Kollegin,
vor vier Wochen wurden Sie ordnungsgemäß von Ihrem Hausarzt krankgemeldet, jedoch ohne Angabe der Diagnose. Wir ordnen daher eine amtsärztliche Untersuchung an und ersuchen Sie, den Termin am 8. Mai 2018 wahrzunehmen.
Personalmanagement des Wiener Stadtschulrates
Lucía schüttelte den Kopf und schob den Brief unter den Polster. Außer einem Anruf der Direktorin, ob sie im Sommer den Tauchkurs übernehmen könne, hatte sich niemand aus der Schule bei ihr gemeldet. Und das dürfte nur ein Vorwand gewesen sein: „Pardon, ich muss Sie vorladen lassen“, hatte die Schulleiterin am Ende des Telefonates gesagt.
An diese Schule wollte sie nicht mehr zurück. Auch wegen Gerhard, Fabians Geschichtslehrer. Anfangs hatte es ihr gefallen, wieder ab und zu mit einem Mann zusammen zu sein. Drei Jahre lang hatte er sie hingehalten, war dann aber schließlich doch bei seiner Frau geblieben. Im Konferenzzimmer wich er ihr aus. Lehrerkollegen, mit denen sie früher oft Gespräche geführt hatte, mieden sie. Der Direktorin wollte sie auch nicht begegnen.
Und Fabian? Seit sie wieder halbwegs klar denken konnte, schickte sie ihm jeden Morgen eine WhatsApp-Nachricht. Er meldete sich nicht. Lucía wollte ihn in Ruhe die Matura machen lassen, wusste allerdings nicht, wie sie mit seiner Gesprächsverweigerung auf Dauer umgehen konnte. Wie konnte sie wieder in eine aktive Rolle kommen? Fabian konnte doch nicht alles vergessen haben. Wieder fielen ihr die glücklichen Stunden mit ihm ein und wie gut ihr Verhältnis bis in das Jahr nach der Scheidung gewesen war. Erneut suchte sie Hilfe und rief die Therapeutin an. Nach einigen Sitzungen fasste diese Lucías Situation zusammen: