Über dieses Buch

Am 13. September 1931 tut das Bündner Bergdorf ­Furna ­etwas, was zuvor noch keine Gemeinde der Schweiz gewagt hat. Es wählt eine Frau zur Pfarrerin: Greti Caprez-Roffler, 25 Jahre alt, Theologin und ­Mutter. Ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen macht. Nach ihrem Tod ­begibt sich die Enkelin auf die Spuren der ersten vollamt­lichen Schweizer Gemeindepfarrerin. Sie stösst auf die aussergewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer Frau, die für sich in Anspruch nahm, was damals für viele ­undenkbar war: ihrer Berufung nachzugehen, Mutter zu sein, eine glückliche Liebe und eine erfüllte Sexualität zu leben. Eine Frau, deren Mut einen hohen Preis hatte – nicht nur für sie.

«Das facettenreiche Porträt einer Schweizer Pionierin, geschrieben mit ­literarischem Einfühlungs­­­vermögen. Spannend wie ein Roman.» Angelika Overath

Foto SRF

Christina Caprez, geboren 1977, Soziologin und Historikerin, war Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin. Radio-, Film und Buchprojekte sowie Moderationen im Bereich Familie, Migration, Religion, Geschlecht, Sexualität. Im Limmat Verlag ist das Buch «Familienbande. 15 Porträts» lieferbar. Christina Caprez lebt bei Zürich.

Parallel zum Buch «Die illegale Pfarrerin» hat Christina Caprez eine Hörausstellung für Kirchenräume und einen Dokumentarfilm über das Leben ihrer Grossmutter geschaffen. Informationen rund um das Projekt, zu Lesungen und Ausstellungsterminen, finden sich auf www.dieillegalepfarrerin.ch.

Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin

Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906–1994

Herausgegeben vom
Institut für Kulturforschung Graubünden

Limmat Verlag

Zürich

Für Flavia

1906–1931
Igis, Zürich und
São Paulo

Hand in Hand in die Weite hinausziehen. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.

Greti Roffler an Gian Caprez, 1. Januar 1928

Schwanger über
den Ozean

Ein Koloss, diese Conte Rosso!2 Aus den zwei haushohen Schornsteinen des Luxusdampfers strömte Rauch, und die Turbinen dröhnten. Im Schiffsbauch mit den vier Flügeln3 hätte die ganze Bevölkerung von Igis4 Platz gefunden, sogar mit den Arbeitern des rasch wachsenden Dorfteils Landquart. Stünde umgekehrt die Conte Rosso in Igis, so verstopfte sie die Gasse, vom Pfarrhaus bis zum Dorfplatz, und risse nebenbei noch ein paar Häuser ein, denn die Gasse war eng und das Schiff breit.5 Das prunkvolle Innenleben, gestaltet von Künstlern aus Florenz, hatte allein vierhundert­tau­send Dollar gekostet. Kristallleuchter verströmten ein dezentes Licht, schwere Teppiche dämpften die Schritte, und zwischen handgeschnitztem Täfer aus Eiche und Mahagoni, an dem Ölbilder hingen,6 flanierten die Passagiere wie in einem italienischen Schloss. Pfarrerstochter Greti Caprez-Roffler mochte ein ähnliches Ambiente als Kind in Marschlins gesehen haben, das etwas abseits vom Dorf Igis lag. Schlossherr Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, jahrelang Kirchgemeindepräsident7, pflegte einen guten Kontakt zum Ortspfarrer und empfing die Pfarrfamilie ab und zu.8

Greti Caprez-Roffler interessierte sich jedoch weniger für pompöse Dekorationen als für die feudalen Mahlzeiten und ihren Platz im Liegestuhl auf dem Deck der zweiten Klasse. Essen mag ich fürchterlich, und arbeiten kann ich auch gut,9 berichtete sie der Mutter. Die täglichen Menus kamen ihrem Appetit entgegen: Horsd’œuvre, Austern, Ragout und Kartoffeln, Wurst und Kartoffelbrei, Emmentaler Käse, Aprikosenkompott, Orangen und Äpfel, Kaffee oder Tee.10 Ein feudaler, glänzender Frass, spottete sie im Brief nach Igis.11 Nach dem Mittagessen spielte im Salon eine Musik­kapelle auf, doch sie verkroch sich in den Liegestuhl hinter ihre Bücher und hoffte, es möge niemand das Gespräch mit ihr suchen.12 In den zwei Wochen bis zur Ankunft in Genua musste sie vier Jahre Theologiestudium vergegenwärtigen, Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik, Ethik, praktische Theologie, Pädagogik und Psychologie.

Jeden Tag stellte Greti die Uhr eine Viertel- bis eine halbe Stunde vorwärts.13 Wie sich der Zeiger nach vorne drehte, so rückte Gian weiter weg. Es war Ende September 1930, seit der Hochzeit vor einem Jahr waren sie nie mehr als ein paar Stunden getrennt gewe­sen. Wann sie sich wiedersehen würden, war ungewiss. Und doch fühlte sich Greti innerlich gefasst.14 Die übliche Rastlosigkeit war einer Gelassenheit gewichen, über die sie sich selber wunderte und die sie dem Kind zuschrieb. Wer nichts davon wusste, konnte ihren Bauch auch jetzt noch übersehen. Sie selber spürte «es» ­jedoch genau und wandte sich im Tagebuch an ihr Kind: Du ­geliebtes, kleines Wesen. An meines Mamis Geburtstag15 hast Du Dich zum ersten Mal ganz leise und sacht bewegt.16 Wie wenn ein Fisch mit der Schwanzflosse schlägt.17

Ursprünglich hatte Greti mit dem ersten Kind länger warten wollen. Während des Studiums hatte sie sich ausgemalt, zuerst den Abschluss zu machen und dann mit dem Liebsten die Welt zu entdecken. Hand in Hand in die Weite hinausziehen, auf eigenen Füssen stehen und miteinander durch Not und Mangel, den Kampf ums Leben hindurchgehen. Und dann so nach fünf Jahren wiederkommen, im ­Herzen reich, mit der Menschen Not und Sehnen mitfühlend und innerlich frei geworden, dann sich einen festen Wohnsitz gründen und Kindern das Leben geben, denen unsere reiche Erfahrung und Wissen um die Weiten der Welt zugutekommen würde. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.18 Doch bald war Greti klar geworden, dass die Eltern und Schwiegereltern dem ­jungen Paar niemals ihren Segen geben würden, wenn sie unver­heira­tet ins Ausland gehen wollten. Ohnehin hatte sie zäh um ihre Liebe kämpfen müssen. Ihr Vater, der Pfarrer, hatte sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt, und seit Gian am Horizont aufgetaucht war, sorgte er sich, die Tochter könnte die Theologie der Liebe ­opfern. Gians Mutter wollte keine Studierte als Schwiegertochter, und schon gar keine Frauenrechtlerin.

Doch das Paar setzte sich durch. Als Gian nach Abschluss seines Studiums die Stelle in Brasilien in Aussicht hatte, rang Greti Eltern und Schwiegereltern die Erlaubnis ab, ihn zu heiraten und nach São Paulo zu begleiten. Dort mieteten sie zwei Zimmer mitten im Stadtzentrum bei einer deutschen Familie. Die Rua Xavier de Tole­do 9 lag eine Viertelstunde zu Fuss vom imposanten Bahnhof Estação da Luz entfernt, dem Symbol der Elite São Paulos, wo Kaffee und Zucker aus den armen Bundesstaaten des Nordens ange­liefert wurden.19 Noch näher lagen zwei grosse Baustellen. Hier entstan­den die neogotische Catedral da Sé und der Martinellibau, das erste Hochhaus Brasiliens. Die ersten zwölf Stockwerke waren soeben einge­weiht worden, auf dreissig Etagen sollte der Wolkenkratzer noch wachsen. Ingenieur Büchi, ein Schweizer, der mit Greti und Gian in der Pension Helvetia ass, baute für die Firma Schindler den Lift ein, der allein eine Million Schweizerfranken kostete. An einem Feiertag führte Büchi sie durch das Bauwerk. Während Gian seinen Ausführungen zu den technischen Details zuhörte, setzte sich Greti auf eine Kiste und vertiefte sich in ihr Psychologiebuch.20 Ihre Lust, die Welt zu entdecken, schwand, und plötzlich war ihr mehr nach Nestbau als nach Abenteuer. Gianin hatte eine Zeit lang die fixe Idee, in einer fremden Stadt hätte man abends die Stadt zu besehen, berichtete Greti den Eltern. Wir haben es dann auch versucht, es war aber schrecklich langweilig. Und nun finden wir es am schönsten daheim.21 Nach dem Abendessen schnitten sie eine Papaya22 auf, die Greti auf dem grossen Samstagsmarkt gekauft hatte.23 Solche Früchte hatten die beiden weder in Graubünden noch in Zürich je gesehen. Während sie abwusch, sass er auf dem Gutschi (Couch) in der Stube, las ihr vor oder spielte Handorgel. Wenn sie nicht zu müde waren, fragten sie einander Portugiesischwörter ab.24

Einmal pro Woche setzte sich Greti an die Schreibmaschine. Den Schwiegereltern schickte sie das Original, den Eltern den Durchschlag, das war praktisch. Sie inszenierte sich als gewissenhafte Hausfrau. Am Montag habe ich gewöhnlich ziemlich aufzuräumen und Kleider und Schuhe zu putzen. (…) Am Dienstag habe ich dann die ­Wäsche. Am Mittwoch ist (…) ein kleinerer Markt, mehr in der Nähe. Der Weg dahin geht stets durch einen wunderschönen Park. Am Donnerstag muss ich flicken, am Freitag Briefe schreiben (…).25 Sonntags besuchten sie den Gottesdienst,26 danach kochte Greti auf ihrer nur halbwegs funktionierenden Platte27 das Mittagessen. Vermutlich vor allem an den Vater gewandt, berichtete sie, dass sie trotz allem ­jeden Tag etwa fünf Stunden auf das Schlussexamen lerne: Ich habe schon ein Kollegheft und eine Ethik durchgearbeitet.28

Die deutschsprachige Exilgemeinschaft in São Paulo – Kaufleute, Bankiers, Ingenieure und Dienstmädchen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich – wuchs rasch, so dass sie eine eigene evangelische Kirche betrieb. Dort war Greti mit offenen Armen empfangen worden. Die Gemeinde hatte gerade einen zweiten Pastor eingestellt, den jungen Deutschen Martin Begrich, der zur gleichen Zeit wie Gian und Greti mit seiner Frau in São Paulo ange­kommen war.29 Die beiden Pastoren hatten der Schweizer Studentin nicht nur die Kinderlehre30, sondern sogar einen Gottesdienst an­vertraut. Am 27. April 1930 trat Greti erstmals vor die versammel­ten Auswanderer.31 Ihre Predigt verankerte sie im Alltag der brasilia­nischen Grossstadt, sie sprach von den zur Arbeit hastenden Menschen, vom Anblick menschlicher Schaffenskraft angesichts des Martinelliwolkenkratzers, von den Ablenkungen des Nachtlebens. So viele Kirchen stehen in dieser Stadt, wo aber bleibt das Christentum? Wir finden es am Morgen nicht, da jeder ohne Freude an seine Arbeit geht, am Mittag nicht, da der Mensch nur seine eigene Grösse sucht, und nachts nicht, da unsere Brüder und Schwestern Gottes Wege verkehren. (…) Und nun stehen wir an dem Punkt, an dem es ganz deutlich wird, was es heisst, ein evangelischer Christ zu sein, dem die Kirche nicht sagt, dies und das musst Du tun (…). Der evangelische Christ steht allein vor Gott und seinem Wort und hat selber zu entscheiden.32

In den Kirchenbänken hörten die beiden Pastoren Greti zu. Nach dem Gottesdienst schallte ihr aus der Gemeinde der Wunsch entgegen, sie möchte doch öfter Predigt halten. Voller Begeisterung schrieb sie ihren Eltern: Ich bin überzeugt, dass ich hier sehr oft predigen kann, wenn ich will. Auch meiner übrigen Mitarbeit wird kaum etwas in den Weg gelegt werden. Dass ich einen Rock anhabe, das spielt hier deshalb keine Rolle, weil sie keine Tradition haben. Deshalb sind hier viel mehr Dinge möglich als drüben. Sie beziehen ihre Kultur von drüben, und da braucht nur einer, in meinem Fall also einer der Pastoren, zu kommen und zu sagen, das hätte man drüben, dann haben sie nichts dagegen. Dass ich verheiratet bin, spielt vollends keine Rolle. (…) Seht ihr, dies ist es, dass ich eigentlich das Gefühl habe, ich von mir aus sollte eigentlich hier bleiben, für immer, hier kann ich voraussichtlich viel freier arbeiten als drüben.33 In Igis freute sich der Vater über Gretis Brief, und er zeigte sich tief beeindruckt über ihre Predigt: Sie war sehr textgemäss, dazu praktisch, d. h. aus dem Leben. Fahr nur so weiter. Ich habe diese Art nicht so bald los gehabt wie Du. Heute aber ­erkenne ich darin doch meine Tochter.34

Während sich Greti und Gian in ihren neuen Alltag einlebten, wuchs in ihr der Wunsch nach einem Kind. Sie fing an zu rechnen. Ihre Mutter zog sie als erstes ins Vertrauen.

São Paulo, 19. Dezember 1929

Mein liebes Mami

Heute komme ich nur zu Dir. Ich möchte nämlich vieles wissen, das die anderen nichts angeht. (…) Ich hätte gerne das Rezept von Dir, Punkto Buben oder Mädchen. (…) Es wird für Dich nicht sehr leicht sein, aber Deiner eigenen Tochter, die Du selber unter dem Herzen getragen, solltest Du es doch schreiben können. Du kannst ja die Geschlechtsorgane mit den lateinischen Namen bezeichnen, wenn es Dir dann leichter zu sagen geht.35

Igis, 15. Januar 1930

Mein liebes Gretulein!

Das Rezept zu schreiben wird mir eigentlich fast leichter als es Dir zu sagen. Wie Du aufgeklärtes Menschenkind ja weisst, hat der Mann zwei Hoden und nach der Aussage des Schierser Apo­thekers sollen im rechten die männlichen und im linken die weib­lichen Samen sein. Die Zeugung solle nach einer Pause im Geschlechtsverkehr, also am besten nach der Periode geschehen. Damit sich nun die rechte Hode entleere, müsse der Mann bei dem Akt, so bald er spüre, dass der Samen komme, schnell das rechte Bein aufziehen so fest er könne. Das ist also der ganze Witz. Ob’s bei uns nun tatsächlich half oder ob’s nur Zufall war, kann ich nicht sagen.36

São Paulo, 16. Februar 1930

Liebes Mami,

Gianin glaubt, es sei deshalb nicht möglich, weil die Samen gar nicht direkt aus der Hode kommen, sondern von dort zuerst auf ziemlich langem Wege in die Samenbläschen gelangen und von dort abgegeben werden. Anders ist es nur, wenn zwei, drei mal ein Coitus nach dem andern kam, so dass die Abschiebung aus der Hode in die Samenbläschen nicht nachkommt. Dies sind dann aber viel weniger oder gar nicht lebensfähige Keime. Deshalb die Impotenz derer, die es zu oft tun.

Stärker noch als die Bestimmung des Geschlechts interessierte sie der optimale Zeitpunkt für die Zeugung. Schritt für Schritt tastete sie sich bei der Mutter vor.

Greti: Wir erwägen ernsthaft den Gedanken, ob wir nicht Ende Januar 1931 ein Kind haben könnten. D. h. wir sehnen uns beide danach, und zwar möchten wir beide einen Buben. Eine Geburt muss hier sehr unange­nehm sein, in der Klinik sehr teuer, und mit den Hebammen ist es so eine Sache. Mein Plan wäre dann folgender:

Anfang Mai Zeugung (es wird dann schon grad gehen, wie wir wollen!)

Anfang Oktober Reise, Ende Oktober Examen.

Dann würde ich November, Dezember und Januar bei Euch sein und bei Dir mein Kind bekommen, mit Annas Schwester. Ende ­Februar würde ich dann reisen. Das Kind muss man dann vorher nur tüchtig wiegen, damit ihm die Meerfahrt gefällt, als fort­währendes Wiegen er­scheint.37

Mutter: Es ist dann eben noch sehr die Frage, ob’s dann grad so eintrifft, wie Du rechnest. (…) Ich hatte auch schreckliche Sehnsucht nach einem Pöpsli. (…) Trotzdem ging es bis in den November hinein, bis ich empfing. Wenn es nun bei euch auch so geht, macht’s Euch eben einen Strich durch die Rechnung.38

Greti: Du solltest mir nun auch schreiben, wie man dran ist, wenn man im sechsten Monat ein Kind erwartet, ob es ausgeschlossen ist, dann ein Theologieschlussexamen zu machen. Ich denke doch nicht. Unsere Frauen müssen im sechsten Monat noch heuen etc. Schreibe mir, liebes Mami, wie dies ist. Sag es aber niemandem. Und verbrenne meinen Brief.39

Mutter: Wenn Du nicht mehr Beschwerden hast als ich während der ­Erwartung (das Wort «schwanger» mag ich nicht ausstehen, trotzdem es der gewöhnliche Ausdruck der Ärzte ist, weil es mir so roh und ordinär vorkommt), wird es Dich gar nicht hemmen. (…) Aber Du könntest die Geschichte auch umkehren. Du machst das Examen nach der Geburt. Nur müsstest Du (…) das Kleine mitnehmen, um es in den Pausen stillen zu können. Ich oder ein anderes von uns könnten ja mit nach Zürich kommen um zum Kleinen zu sehen. (…) Das wäre sicher gescheiter; meinst nicht auch?40

Greti: Das Kind zuerst und dann das Examen, dies gibt es für mich nicht. Wenn das Kind dann schon da ist, dann langt mir dann weder die Energie noch die Zeit für eine intensive Examensarbeit.41

Mutter: Also Papa sagt, das sei unmöglich. Wenn’s etwa mit drei Monaten wäre, würde es noch besser gehen, dann wäre es weniger auffällig.42

Greti: Dass eine schwangere Frau doch nicht ein Examen machen ­könne, ästhetisch oder sittlich oder weiss ich was nicht, rührt mich gar nicht. Das geht die Professoren dann nichts an, ob ich als schwangere Frau ­Examen machen will oder nicht. Darüber gibt es zum Glück keinen Paragraphen. So was gibt es einfach nicht. Das ist noch nie da gewesen. Es würde mich aber schrecklich reizen. Die Frau «mit ihrem hohen, hehren Mutterberuf» macht just während der Schwangerschaft Schlussexamen. Welche Schändung «der göttlichen Schöpfungsordnung». (…) Wenn es nicht geht, verzichte ich lieber auf das Kind als auf das Examen.43

Greti musste auf nichts verzichten. Genau wie geplant wurde sie im Mai 1930 schwanger. Sie meldete sich sofort zum Schluss­examen an44 und kaufte für Mitte September eine Karte für die Überfahrt nach Europa. Und nun also lag sie mit ihren Büchern im Liegestuhl auf Deck. Während sie sich die grossen Theologen der Geschichte einzuprägen versuchte, brütete Gian in seinem Büro an der Escola Politecnica in São Paulo über der Frage, ob Eukalyptus als Baumaterial tauge. Liebes, Du, hatte er ihr am Tag nach ihrer Abreise geschrieben, wohl wissend, dass sein Brief sie erst Wochen später erreichen würde. Weisst Du, dass ich zum ersten Mal meiner Frau schreibe? Hast Du das mündliche Examen schon hinter Dir, die Überfahrt, den Zoll und das anvertraute Gut? Und «es», war es auch lieb zu Dir? Sag ihm, es soll so lieb zu Dir bleiben, wie Du es zu mir warst. Heute konnte ich gut arbeiten, und ich war so frisch, als hättest Du die «ganze Bürde meiner Jahre» mitgenommen und die grosse Verantwortung der Holzmesserei. Vielleicht ist es die Freude an Dir, dass Du nun dies alles unternimmst und Dich so glänzend gehalten hast.45

Zu ihrem 24. Geburtstag46 hatte Gian ihr ein besonderes Buch geschenkt,47 nicht etwa eine Prestigebibel, wie es sich für eine ange­hende Theologin geziemt hätte, sondern das Aufklärungsbuch der britischen Biologin und Frauenrechtlerin Marie Stopes Glückhafte Mutterschaft. Ein Buch für alle, die an der Zukunft schaffen. Stopes verband die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Schwangerschaft und Geburt mit einer feministischen Forderung. Die erwachte Frau unserer Zeit nimmt die Dinge nicht mehr blind und mit ­geduldiger Resignation hin; sie glaubt nicht mehr an die Inferiorität des Weibes, was unseren Grossmüttern geholfen haben mag, ihre Schmerzen schweigend zu ertragen.48

In solchen Sätzen erkannte sich Greti wieder. Kürzlich hatte sie einen Artikel von Hugo Sellheim gelesen, einem der renommier­testen Gynäkologen ihrer Zeit und Leiter der Frauenuniversitätsklinik Leipzig. Zwar war Sellheim kein Feminist wie Marie Stopes. Angesichts einer 24-jährigen Schwangeren wie Greti hätte er nur den Kopf geschüttelt, denn für ihn sollte jede Frau mit achtzehn oder spätestens zwanzig Jahren ein Kind gebären. Die Frau wird in unserem heutigen Leben zu alt für die erste Entbindung, weil sie selbst mit ihrer Ausbildung für einen Beruf zu viel zu tun hat und kein Mann da ist, der sie rechtzeitig heiraten und unterhalten könnte, schrieb der Leipziger Gynäkologe. Es bleibt also die Frauenkraft in Richtung ihrer natürlichen Verwendung für die Fortpflanzung brach liegen, oder sie wird in einer anderen Richtung – der Erwerbsarbeit – verwendet, also im Sinne der natürlichen Bestimmung «missbraucht».49 Dennoch wollte Sellheim den medizinischen Fortschritt in den Dienst werdender Mütter stellen. Gebärenden empfahl er eine Mischung aus Zuckerlikör und dem Schmerzmittel Scopan.50 Die Aussicht auf eine schmerzfreie Geburt faszinierte Greti so sehr, dass sie ihren Eltern verkündete: Ihr werdet Euch wundern, aber ich möchte (…) das Kind ohne Schmerzen kriegen, nicht weil ich mich fürchtete, dazu habe ich vorläufig noch keine Zeit, aber weil ich das von der Medizin als eine Selbstverständlichkeit verlange.51 Sie nahm sich vor, in der Schweiz einen Arzt zu suchen, der die neue Methode praktizierte. Wenn es bei ihr glückte, wollte sie anderen jungen Frauen davon erzählen, die es dann ihrerseits ausprobieren und weitersagen würden.52

Zuerst galt es jedoch, in engem Zeitrahmen das Examen hinter sich zu bringen. Voraussichtlich werden wir am 5. Oktober elf Uhr in Genua sein, werden den folgenden Nachmittag und am 6. Oktober vormittags in Genua bleiben, am 6. Oktober mit dem direkten Zug 11.55 Uhr in Genua abreisen und am 6. Oktober abends 8.53 Uhr in Zürich ­anlangen, dann habe ich in Zürich noch zwei Tage vor dem ­Examen, was langen sollte, um ein Kleid zu kaufen und die Haare zu schneiden. Und ein bisschen auszuruhen, schrieb Greti ihrer Freundin und ­Studienkollegin Verena Stadler. Wenn ich nun weder am 6. noch 7. noch 8. Oktober anlangen sollte, läute bitte Brunner an und sag ihm, es müsse etwas passiert sein, er solle doch bitte Geduld haben. Passieren kann natürlich allerlei, nebst der Dummheit, in Santos oder in Rio das Schiff ohne uns abfahren zu lassen, kann dieses selber wegen Sturm nicht richtig anlangen oder untergehen, item lieber nicht. Wenn alles nach Plan geht, werde ich Dir also nicht mehr telegraphieren (…).53

Das Telegramm an die Freundin konnte Greti Caprez-Roffler sich sparen: Die Conte Rosso erreichte Genua pünktlich.54 Die junge Frau leistete sich eine Spazierfahrt im Taxi durch die Stadt,55 die historischen Palazzi schaute sie jedoch kaum an. Ihr Unterleib spannte im rüttelnden Auto.56 Du kleines Wesen unter meinem Herzen (…). Ich sehne mich nach Dir, aber ich fürchte mich auch. Du kleines Wesen, gell, Du plagst mich nicht zu sehr, nicht mehr, als Du es jetzt schon tust. Du musst mit mir tapfer und brav sein. Und dann, wenn Du von mir gegangen bist, dann werden wir beide wieder warten, warten, dass Dein Vater komme und Dich in seine Arme nehme. Du kleines Wesen, gell du nimmst mir nicht das Leben, ich kann nicht von Deinem Vater ­weggehen. Ich habe ihn so lieb. Wir können nicht ohne einander sein. Unsere Herzen sind verwachsen, und nichts steht zwischen ihm und mir. Ich kann Dir nicht von unserem Miteinandersein erzählen, es ist zu tief und schön. Du weisst es vielleicht so schon, dass wir immer noch zu ­wenig an Dich und zu sehr an uns und unsere Liebe denken, weisst es unwillig und zornig.57

São Paulo,
Sommer 1930

Nackte Wände, der Boden festgetreten und kahl. Niemand ­kümmert sich um Blumenbeete in diesem Hinterhof im Zentrum von São Paulo. Lediglich eine improvisierte Wäscheleine und ein Holzklappstuhl. Darauf sitzt Greti Caprez, geborene Roffler, Theologiestudentin aus Igis in Graubünden, 24 Jahre alt. Hinter der Kamera? Vermutlich Gian Caprez, Ingenieur aus Pontresina, 25-jährig. Mit ihm, den sie ihren Ehekameraden nennt, ist sie vor zehn Monaten nach São Paulo gekommen. Er hat eine Stelle am Polytechnikum angetreten, sie lernt für ihr Schlussexamen und führt den gemeinsamen Haushalt. Das Bild ist im Hof der Pension Helvetia entstanden, wo die beiden unter der Woche zu Mittag essen.1 Sie sitzt etwas gebeugt auf der vorderen Stuhl­kante. Auf ihrem Schoss? Möglicherweise ein Hemd von ihm, das sie flicken will, und ein Heft mit Notizen aus dem Studium. Auf jeden Fall würde es zu ihr passen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Arme und Wangen wirken nicht so schmal wie auf ­früheren Fotos: Sie ist schwanger. In wenigen Tagen wird sie ­allein auf einen Ozeandampfer in Richtung Europa steigen, um in ­Zürich ihr Schlussexamen abzulegen und danach bei ihren ­Eltern im Pfarrhaus von Igis ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Ihr Mann bleibt bei seiner Arbeit am Polytechnikum in São ­Paulo.

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Zürich,
12. Mai 1926

Ein junges Liebespaar auf einem Schiff. Keinem Ozeandampfer wie der Conte Rosso: Dieses Motorboot ist schon mit zwölf ­jungen Männern und Frauen ausgelastet. Fürs Foto sind sie ­zusammengerückt. Prominent und raumgreifend: Gian Caprez und Greti Roffler. Im Gegensatz zu den anderen Paaren stehen sie aufrecht im Boot und umschlingen sich, wobei sie grösser wirkt als er.

Anlass ist der Maibummel der angehenden Ingenieure auf dem Zürichsee zur Halbinsel Au. Die Gesellschaft hat sich ­herausgeputzt, es sieht aus, als ob die Frauen um den schönsten Damenhut wetteiferten. Nur Greti hat sich für ein Unisex-Beret entschieden, kombiniert mit einem weiten, luftigen Sommerkleid mit tief liegendem Gürtel. Gian trägt ebenfalls ein Beret, einen Anzug und ein weisses Hemd. Für eine simple Bootsfahrt hätte man sich vermutlich nicht so schön gemacht, aber der Maibummel ist ein besonderes Ereignis. Vor nicht einmal vier Monaten haben sich Greti und Gian ineinander verliebt, auf der Au küssen sie sich zum ersten Mal. Im Tagebuch schwärmt sie kurz nach dem Ausflug: Alle Worte sind zu plump für das Verhältnis des Gianin und mir. Noch bei keinem Menschen hatte ich so deutlich das Gefühl vom Vorhandensein seiner Seele, liebte so sehr seine Seele getrennt vom Körper.58

Zwei Liebhaber

Schon bei der ersten Begegnung am Abend des 26. Januar 1926 in Zürich hatte Greti Roffler das starke Gefühl einer Schicksalshaftig­keit. Sie war neunzehn, studierte im ersten Semester an der Universität und fühlte sich in der Stadt verloren. Welch ein Verkehr, was für eine Betriebsamkeit! Die leuchtenden Schaufenster, die eleganten Herren und geschminkten Damen, die Prostituierten im Niederdorf – all das befremdete sie. Selbst Chur, wo sie die Kantonsschule besucht hatte, wirkte im Vergleich wie ein beschauliches Dorf, das Strassenbild geprägt durch Pferdekutschen. Sie hatte kaum je ein Automobil gesehen – die lärmenden Gefährte waren in Graubünden erst vor wenigen Monate zugelassen worden. Mehr noch wunderte sie sich über die Anonymität in der Grossstadt. Von den vielen Menschen, die mir begegnen, kenne ich fast nie einen, klagte sie einer Freundin. Ich habe mich dran gewöhnt, sie überhaupt nicht mehr zu sehen.59 Um sie in Zürich in guten Händen zu wissen, hatte ihr Vater sie bei seinem Kollegen Paul Schmid, dem Pfarrer am St. Peter, einquartiert. Von dessen Wohnung am Talacker wanderte sie jeden Morgen zur Hochschule hinauf. Der Austausch mit ihrer Cousine Gretly Puorger, die hier Medizin studierte, linderte das Heimweh.

Sie war es, die Greti bat, sie an den Bündnerball ins Restaurant Kaufleuten zu begleiten. Doch Greti zögerte: Sie habe sich am ­Finger verletzt und ausserdem gar kein passendes Kleid.60 Womöglich war sie aber auch einfach schüchtern, fühlte sich zu wenig schön für den Ball und fand in der Verletzung eine willkommene Aus­rede. Am Ende sagte sie doch zu. Ihre Studentenbude lag nur einen Katzensprung vom Kaufleuten weg, so dass sie jederzeit nach Hause gehen konnte. Im repräsentativen Saal mit dem Parkett, der Kassettendecke und den Balkonen, von denen aus man das Geschehen auf der Tanzfläche verfolgen konnte,61 trafen sich Studie­rende aus allen Fachrichtungen und allen Ecken Graubündens. Das Gefühl, weit weg von der vertrauten Umgebung zu sein, einte die jungen Frauen und Männer. Auf der Tanzfläche drehten sich immer neu zusammengewürfelte Paare, eine Tombola versprach Preise. Greti zog das grosse Los: eine Flasche Cherry Brandy, die sie mit allen am Tisch teilte. In der Runde sass auch Gian Caprez, Sohn eines Baumeisters aus Pontresina und Ingenieursstudent. Sie kannten sich flüchtig von der Kantonsschule in Chur, wo er die Klasse über ihr besucht hatte. Nun begegneten sie einander das erste Mal von Angesicht zu Angesicht. In dieser Nacht aber wurde daraus eine Liebe, die nicht mehr aufhörte,62 erinnerte sich Greti Jahrzehnte später, mit über siebzig Jahren, in ihren Memoiren.

Nach dem Bündnerball wanderten Gretis Gedanken immer wieder zu Gian. Eigentlich kam ihr die Begegnung mit ihm ganz und gar nicht gelegen. Sie hatte schon an der Kantonsschule den einen oder anderen Schwarm gehabt, hatte geschmachtet und ­gelitten. Nun wollte sie sich auf das Studium konzentrieren und wehrte sich dagegen, wieder dem Strudel der Leidenschaft ausgeliefert zu sein.63 Gegen den Willen des Vaters hatte sie sich für Alte Sprachen und nicht für Theologie entschieden, denn sie litt an Selbstzweifeln und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einer Kanzel zu stehen. Statt dessen stellte sie sich vor, später Lehre­rin an einem Töchtergymnasium zu werden.64 Doch schon im Lauf des ersten Semesters stellte sie ihre Wahl in Frage. Sie fand es öde, stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten und nach der genauen Bedeutung eines Wortes zu suchen. Unter der Woche verirrte sie sich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die Greti brennend interessierten: Was war der Sinn von Leben und Tod? Worin bestand die menschliche Existenz? Fragen, die sich ihr in der Einsamkeit noch drängender stellten.65 Abends nahm ihr Zimmerwirt Paul Schmid sie zu ­religiösen Gesprächsabenden für junge Frauen mit, und sonntags hörte sie gebannt seinen Predigten zu.66 Die Religion wurde in der Grossstadt zur Nische, in der sie sich aufgehoben fühlte – und immer öfter fragte sie sich, ob sie nicht doch zur Theologie wechseln sollte. Um kein Semester zu verlieren, müsste sie ihre ganze Freizeit in das versäumte Hebräisch stecken.67 Doch ausgerechnet jetzt tauchte dieser Gian Caprez auf und stellte ihre Pläne in Frage.

Tagebuch, 2. Februar 192668

Es geht mir so viel im Kopf herum und doch weiss ich nicht, was oder auch wie schreiben, am allerwenigsten aber was tun.

Was soll ich zur Theologie umsatteln, denn ich will nicht ­ledig bleiben. Und wenn ich auch umsatteln würde, was wird später mein Los sein? Pfarrhelferin, wie ich auch ohne Uni werden könnte69, denn predigen kann und will ich nicht.

Dann darf ich aber nicht mehr tanzen, auch nicht mehr lieben und werde zu einer versauerten alten Jungfer, oder bringe es höchstens noch zu einer Pfarrfrau, wovon mir keines passt. Wenn ich aber heiraten würde, wie könnte ich es verantworten, andere Menschen, meine Nachkommen in den gleichen Wirrwarr, die gleiche Not, in denen ich bin, hineinzufallen. Könnte ich es dann ertragen, wenn sie mir eines Tages sagen würden: Warum nur hast du uns geboren?

Und was ist schuld an der Geschichte? Der Bündnerball! Er hat uns beide verrückt gemacht! Ich war vorher so ruhig, hatte mit ­allem abgeschlossen und mich ganz auf zukünftiges Altjungferntum eingestellt. Und da muss mir dieser Gianin in den Weg laufen.

Der Konflikt, der sie ein Leben lang begleiten sollte, zeigte sich ihr jetzt, im Februar 1926, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Noch versuchte sie ihn kleinzuhalten, indem sie ihre Liebeswünsche als unrealistisch abtat.

Tagebuch, 14. Februar 1926

In zwei Wochen bin ich hoffentlich zu Hause. Er wird auch heimreisen, später, nach mir, und wir werden uns nie mehr sehen. Denn Architekten, stud. ing., bauen doch gern Luftschlösser, und wer auf Luftschlösser traut und hofft, ist ein Narr! (…) Ich werde überhaupt nicht heiraten; ich weiss, dass dies in meinem Schicksal liegt. Wie ich mich dann durchs Leben schlage, weiss ich noch nicht, vielleicht alt und vergrämt, vielleicht froh und glücklich (…). Wer weiss? Wo bin ich in zwanzig Jahren?

Nachts

Himmlischer Herre hilf mir aus meiner Not und Verzweiflung (…). Hilf mir das Rechte zu wählen, den Weg zu gehen, den Du willst. Sag mir, ob ich Theologie studieren solle. Herr führe mich, Herr erlöse mich!

In den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft gab sich Gian Caprez tatsächlich gar reserviert. Zwar traf er sich mit ihr, doch er war weitaus distanzierter als andere junge Männer, denen sie begegne­te, versuchte nicht, sie zu küssen, sondern legte höchstens scheu seinen Arm um sie. Sie interpretierte es als mangelndes Inte­resse – schliesslich war er mit seinen Mitstudenten überaus gesellig und humorvoll. Wie viel forscher trat da ein zweiter Student auf, den sie zur gleichen Zeit kennenlernte. Ernst Bener, angehender Maschinenbauer, ebenfalls aus Graubünden, machte ihr richtiggehend den Hof, und Greti, neugierig auf das Leben und hungrig nach Erfahrung, liess sich mit beiden ein. Jeder der Männer weckte ihr Interesse auf ganz unterschiedliche Weise: Gian berührte sie tief in der Seele, Ernst sprach ihr erwachendes Begehren an. Wie es sich für eine Theologiestudentin gehörte, wehrte sie Ernsts Avancen jedoch zunächst ab und versteckte das eigene Verlangen hinter der Konvention.

Tagebuch, 4. April 1926 (Ostern)

Obwohl ich in dem Augenblick, da du dich niederbeugtest, von heissester Angst erfüllt war, du solltest mich nicht gleich auf die Lippen küssen, und obwohl ich dich nachher hasste und mit gar bittern, bösen Gedanken neben dir schritt, war ich in diesem ­Augenblick Dein und bin jetzt noch Dein.

Den ersten Kuss mit Gian auf der Halbinsel Au erlebte sie ganz anders.70 Schon die Kulisse – der Zürichsee – war ganz nach Gretis Geschmack. Nach den Vorlesungen mietete sie ab und zu ein Boot und ruderte in die Dämmerung hinaus, manchmal zusammen mit Gian.71 Am Maibummel der Ingenieure waren die beiden in ihrem Element und holten beim Ruderwettbewerb der Paare den ersten Platz. Nach dem Essen im Landgasthof auf der Au tanzten sie in die Nacht hinein. Um zwei Uhr nachts, als die Musik aufhörte zu spielen und die jungen Männer und Frauen paarweise den Saal verliessen, verschwanden auch Gian und Greti Hand in Hand in der Dunkelheit des Wäldchens am See.72 Am Landungssteg fanden sie eine Bank unter dem ausladenden Blätterdach einer Kastanie, die sie vor dem aufkommenden Regen schützte. Wie schon bei Ernst war Greti hin- und hergerissen zwischen ihrer Lust und dem, was sie zu wollen hatte. Doch nun ergriff sie selber die Initiative. Sie nahm Gian in ihre Arme und liebkoste sein Gesicht. Als sie sich dann küssten, gestand er ihr, dass dies sein erster Kuss sei, er aber schon ahne, dass sie keine Philisterin, keine Spiessbürgerin sei.73

Greti spürte, dass sie beide etwas Besonderes verband. Vielleicht biegen hier unsere Wege auseinander, vielleicht aber werden wir zu wirklichen Freunden, die einander alles bringen können ohne Hinterhalt, ohne dass immer dieser ekelhafte Unterschied da ist, um dessentwillen die nettesten Dinge nicht getan werden dürfen.74 Seit ihrer Jugend störte sie sich an der Kluft zwischen Mädchen und Jungen. Als Kind hatte sie unbeschwert mit den Nachbarsbuben gespielt, doch mit zwölf war die Leichtigkeit verflogen. Mit dem Wechsel auf die ­Sekundarstufe liefen die Kinder nach Geschlechtern getrennt zur Schule. Greti wäre am liebsten ein Neutrum geblieben, doch es gab keinen Raum für ein verbindendes Dazwischen.75 Nun aber, mit Gian, hoffte sie, die Grenze zwischen ihm, dem Mann, und ihr, der Frau, aufzulösen.

Tagebuch, Zürich, 16. Mai 1926

Aber gibt es denn wirkliche Freundschaft zwischen Buben und Mädchen? Ich (…) glaube, hier, zwischen uns beiden ist es möglich, denn er ist noch viel stärker und sicher auch viel besser als ich, wenn wir nur ehrlich sein wollten, uns immer sagen würden, was dem einen am andern missfällt und damit den reichen ­Segen einer Freundschaft einheimsen wollten!76

Trotz ihres Vertrauens in Gian fürchtete Greti, er und Ernst könnten sich abgesprochen und ihr eine Falle gestellt haben: Die beiden Männer wüssten ganz genau, wie weit der andere mit ihr gegangen sei, und stellten Gretis Tugendhaftigkeit bewusst auf die Probe. Die Angst, keine ehrbare Frau zu sein, sass tief und überschattete die Erkundung des eigenen Begehrens. Wenn sie küssen, verachte ich mich nachher immer mehr oder minder, weil ich das ­Gefühl habe, irgendwie «gebraucht» worden zu sein.77 Und doch – da war dieses Verlangen, und da waren auch die Gefühle, die sie für beide Männer hatte. Emotionen, die sie verwirrten, weil sie sie nicht ein­ordnen konnte. Man kann78 doch nicht beide mit seinem ganzen Sein lieben. (…) Es geht, solange ich vor keine Entscheidung gestellt werde. Was aber dann?,79 fragte sie ihr stummes Tagebuch. Dann beschwich­tigte sie die kritische Stimme in sich. Wenn sie beide an mir etwas lieb haben, wenn ich beiden etwas sein könnte, warum sollte ich dann nicht mit beiden gehen? Von mir aus wäre es ja keine Lüge.80 Und als der Sommer begann und die doppelte Liason mittlerweile fünf Mona­te andauerte, hatte sie mit ihren Gefühlen Frieden geschlossen. Ich bin ganz wahnsinnig zufrieden und glücklich, freue mich zu leben, studieren zu dürfen und die Liebe zweier Menschen in meinen Händen tragen zu dürfen. Sie glauben beide an mich, haben mich beide lieb. Was brauche ich danach zu fragen, dass es zwei sind! Ich habe sie ja auch beide lieb.81

Ihre Freundinnen verfolgten Gretis Liebesabenteuer mit Anteil­nahme und verurteilten sie nicht. Emmy Sonderegger, die sie in der Haushaltungsschule82 kennengelernt hatte, sprach ihr Mut zu. Man soll lieber recht viele kennenlernen, um dann später nicht hineinzufallen.83 Auch Cousine Gretly Puorger, die Medizinstudentin, ermutigte Greti. Du erlebst dabei eigentlich doppelt viel Schönes, lebst eigentlich zweifach.84 Die experimentierfreudige Hildi Hügli, Freundin aus der Kantonsschule, hatte erst recht keine moralischen ­Bedenken. Sie war mit ihrem Liebsten schon viel weiter gegangen – was kümmerte sie da, dass Greti zwei Männer küsste. Wenn sie der Freundin dennoch riet, sich von Gian zu trennen, dann tat sie dies aus anderen Motiven: Sie fand den Ingenieursstudenten zu streng, zu geradlinig und ernsthaft, kurz: zu farblos für Greti.85 Die verteidigte ihre Liebe: Mit Gian verbinde sie vielleicht nicht die grosse Leidenschaft, aber: Er ist doch der Einzige, den ich je liebte. (…) Er ist der Einzige, der einigermassen dem Fragen nach mir selbst Antwort gab. Sie, Greti, könne nur einen wie ihn heiraten: In ihm hätte ich einen Menschen, der meiner Unruhe die Ruhe, der meiner Furcht vor dem Morgen die Sicherheit im Jetzt, meiner unzuverlässigen Toleranz die unbedingte Zuverlässigkeit und Treue entgegenzusetzen hätte.86

Eine vergleichbare Nähe spürte sie zu ihrem zweiten Lieb­ha­ber, Ernst Bener, nicht. Dem Frauenstudium stand er skeptisch ge­genüber, und als Greti in den Herbstferien der Grossmutter in Furna im Haushalt und im Stall half, spottete er über die Haus-, Schwein- und Hühnermutter. Dies seien eben keine Arbeiten für einen Mann!87 Greti spürte immer deutlicher, dass es mit Ernst nicht das Rechte war. Bei ihm war sie froh, einen zu haben, während sie bei Gian glücklich war, ihn zu haben. Doch Gianins Liebe schien ihr alles andere als gewiss. Er hielt sich immer noch bedeckt über seine ­Gefühle für sie und genoss einfach das Zusammensein mit ihr. Sie hingegen wünschte sich immer drängender ein Bekenntnis. Schliesslich stand für sie viel mehr auf dem Spiel als für ihn. Sie wünschte sich Kinder und brauchte dazu einen zuverlässigen Mann. Zugleich war es unausweichlich, dass sie die Theologie der Familie würde opfern müssen – und wenn sie gezwungen war, dieses Opfer zu erbringen, so wollte sie sich ihrer Sache zu hundert Prozent sicher sein. In ihrer Not schrieb sie ihm kurzerhand, ihr scheine es, ihre Beziehung habe ihr Ende erreicht. Diese Intervention provozierte ein offenes Gespräch zwischen den beiden, bei dem sie einander ihr Seelenleben offenbarten. Es stellte sich her­aus: Auch er hatte sie als distanziert wahrgenommen.

Tagebuch, 3. Dezember 1926

«Nun wirst du nicht mehr so kalt sein», sagtest Du. Du Giannin fühltest Du denn die ganze lange Zeit nicht, dass hinter der Maske meiner Kälte ein zages, schwaches Herz in heissestem Sehnen Dich rief? Weisst Du denn nicht, dass ich auch nur ein Weib bin mit einem kleinen, zitternden Herzen?

Zürich, 7. Dezember 1926, Gian an Greti

Du liebes Greti,

Ich finde gerade auch in diesem Scheusein, das meinerseits gewiss ebensogross war, etwas Feines. Nun ist etwas geschehen, etwas Grosses, dass diese böse «Maske der Kälte» genommen hat (…).

Nun, da die Verhältnisse zwischen ihr und Gian geklärt waren, wollte Greti ihn ihren Eltern vorstellen. Als der Vater davon erfuhr, reagierte er wutentbrannt. Du sollst studieren, und ausser dem Stu­­dium hat weder jetzt noch später irgendwann irgendetwas zu existieren für Dich!,88 herrschte er sie an und versagte ihr in seiner Eifersucht den üblichen Kuss vor dem Schlafengehen.89 Joos Roffler fürchtete, den ersten Platz im Gefühlsleben der Tochter zu verlieren, ihr nicht mehr Anker und Orientierungspunkt zu sein. Ausserdem sah er seine Ambitionen in Gefahr: Wenn sie heiratete, würde sie dereinst nicht in seine Fussstapfen treten.

Seine Frau Betty brachte der Tochter mehr Verständnis entge­gen. Sie hatte selber als Jugendliche Schule und Liebe gegeneinander abgewogen. Ihr Vater Tobias Luk war Kantonsbuchhalter in Chur, ein fortschrittlich denkender Mann, der in jungen Jahren in Russland und Amerika sein Glück versucht hatte90 und die Tochter auf die Kantonsschule schicken wollte – Anfang der 1890er-Jahre ein unerhörtes Ansinnen, noch waren Mädchen nicht zur Matur zugelassen. Doch Betty, so erzählt es Greti später in der Familienchronik, mochte nicht stillsitzen und lernen. Lieber ging sie mit ihren Freundinnen zum Tanz. Die Liebeslust der eigenen Tochter konnte sie darum nachvollziehen.

Nicht so die Grosseltern in Furna, die sich um Gretis Ruf als ehrbare Jungfrau sorgten.91 Der Enkelin blieb neben dem Studium ohnehin zu wenig Zeit für die Entwicklung ihrer hausfraulichen Fähigkeiten.

Elsi Aliesch-Nett, geb. 1925, Gretis Cousine
zweiten Grades, aufgewachsen in Furna92

Gretis Grossmutter maulte, ein Studium brauche eine Frau nicht, das gebe dann keine gute Hausfrau. Greti konterte, das wolle sie dann schauen, ob sie keine rechte Hausfrau sein könne. Sie hatte dann ja sechs Kinder. Sie hat schon bewiesen, dass man das alles kann!

Im Dezember 1926, fast ein Jahr nach dem Bündnerball, gelang es Greti dennoch, die Einwilligung des Vaters für den Antrittsbesuch des Liebsten in Igis zu erlangen. Zu Beginn der Weihnachtsferien, auf dem Weg nach Pontresina, besuchte Gian sie im elterlichen Pfarrhaus. Sie zeigte ihm das Dorf ihrer Kindheit und führte ihn ins leere Kirchenschiff, wo sich die beiden unter der Kanzel von Gretis Vater lange küssten. Dies aber war der schönste Gottesdienst, den ich erlebt. Von der Wand winkte tröstlich der Spruch: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.» Und meine Augen entdeckten auf der andern Seite den Psalm: «Dein Wort ist meinem Mund süsser denn Honig», den er viel logischer las: «Dein Mund ist süsser denn Honig.» Was Wunder, dass wir lange hatten, die Kirche anzusehen!93 Siehe da: Mit seinem Charme und Humor eroberte Gian die Herzen sämtlicher Pfarrhausbewohner.94 Nur Joos Roffler hoffte insgeheim, die Flamme der Tochter werde bald erlöschen.

Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern
vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation95

Meine Eltern litten beide unter Tuberkulose und starben bald nach meiner Geburt. Ich kam dann als Pflegekind ins Pfarrhaus von Igis. Die Pfarrerskinder waren schon gross, Greti studierte in Zürich, Christa, der jüngste, war zehn Jahre alt.96 Papa Roffler war ein hochintelligenter Mensch, er hatte ein grosses Wissen, und er konnte sehr charmant sein. Aber er war sehr jähzornig, und er führte ein strenges Regime. Man ist nicht an ihn herangekommen. Er hatte recht und damit basta. Punktum, hat er immer gesagt. Punktum. Ich war sehr empfindlich, laute Diskussionen waren für mich tödlich. Einmal fragte ich die Mama: Warum hast Du diesen Mann geheiratet? Der hat ja immer schlechte Laune, Tag für Tag schlechte Laune! Sie sagte dann: Weisst Du, er ist ja sonst ein Lieber. Erst später habe ich gemerkt, dass nicht überall so eine Atmosphäre herrscht wie bei uns. Non und Nona etwa, die Eltern von Gianin, die waren ganz andere Leute. Für mich war das wie ein Sonnenaufgang, wenn die kamen. Die brüllten und stritten nicht wie Rofflers. Sie waren immer ruhig und nahmen es gemächlich.

Elsi Jenny-Roffler, 1911–1998, Schwester von Greti,
in einem selbst verfassten Lebenslauf97

Der Vater war ein strenger, aber sehr besorgter Patriarch, die Mutter war ein liebevolles Aufstehmännchen. Sie hatten sich sehr gut ergänzt.

Für Greti war der Vater die dominante Figur, Gian hatte zu seiner Mutter die engere Beziehung. Christina Lendi war in Celerina als Tochter eines Hoteliers, Pferdefuhrhalters und Weinhändlers ­aufgewachsen. Vor Gians Geburt hatte es das Schicksal nicht gut gemeint mit ihr: Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter bei der Geburt eines jüngeren Geschwisters.98 Die zweite Ehe des Vaters war unglücklich, er begann zu trinken und nahm sich schliesslich im Inn das Leben. Christina hatte damals gerade den Baumeister ­Johann Caprez aus Pontresina geheiratet und ihr erstes Kind gebo­ren. Kurze Zeit später wurde das Kind krank und starb ebenfalls. Voller Sorge war sie bald schwanger mit ihrem zweiten Kind. Der 5. Mai 1905 wurde zu ihrem Glückstag: Sie gebar Johann Rudolf, den alle nur rätoromanisch Gian nannten und der ihr Ein und ­Alles wurde.

Materiell hatten Gians Eltern keine Sorgen, das Baumeister­geschäft lief in Zeiten des boomenden Tourismus im Oberengadin prächtig, und Johann Caprez war ein geschickter Geschäftsmann, der durch Spekulation zu einem beachtlichen Vermögen kam.99 Nicht mit Geld zu kaufen war die Gesundheit. Kinderkrankheiten wurden lebensbedrohlich. In einer kritischen Nacht gaben ihn die Ärzte auf, doch das Kind war zäh. Allerdings verursachte ein Gelenkrheuma ein Herzleiden, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Trotz seiner zarten Konstitution und der überbehütenden Mutter war Gian kein vorsichtiges Kind. Auf dem Flachdach des Elternhauses ging er mit Freunden gefährliche Mutproben ein, sprang zwischen Kamin und Dachkännel hin und her oder wetteiferte darum, die Starkstromleitung zu berühren, ohne vom Schlag getroffen zu werden. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, pflückte er auf dem Friedhof Edelweiss und verkaufte sie an Touristen. Bei Skirennen war er meist der Schnellste, und auch im Bergsteigen entwickelte er einen grossen Ehrgeiz und kletterte allein durch exponierte Felswände.

Als Greti später Gians Familiengeschichte erfuhr, meinte sie zu verstehen, wo seine Schüchternheit und Wohlanständigkeit, seine Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe herkamen. Schuld daran war in ihren Augen seine zu enge Mutterbindung. In Tat und Wahrheit, so war Greti überzeugt, schlummerte in ihm ein wildes Kind, das von seinen Eltern beschnitten worden war. Es wurde eingeschüchtert und eingeschlossen in die (…) Nützlichkeits- und Anstandsregeln, die da Convention heissen. (…) Da ging er lieber unten auf dem festen Erdboden, lieber – Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, lieber Knecht in Wohlbehütetheit als eigener Herr in Gefahr. (…) Er lernte ein Mädchen kennen, dessen Liebe voller Widersprüche und Heftigkeit und heissem Sehnen war. All das Wilde, das an ihm abgetan worden und das er selber abgetan, fand er in ihm wieder. Sie war auch wirklich nicht lebenstüchtig, für das Leben, wie er es bis jetzt verstanden. Denn sie sah zu viel, sagte zu viel, schwieg zu wenig und versuchte immer wieder, sich durchzusetzen. (…) Vielleicht dass er sie (…) von ihrer Masslosigkeit und Rohsein erlösen konnte, in ihrer Demut des liebenden Weibes und süssen Beugens unter seinen Willen, unter das Feine und Zarte, das neben seinem Herrentum sein Wesen ausmacht. Feine und zarte, selbstsichere und selbstbewusste Eigenwilligkeit – dies ist er. Und in Liebe zu ihm verfeinerte, ausgeglichene Eigenwilligkeit – dies ist sie: beide in ihrem anzustrebenden Ziel.100

Christian Caprez, geb. 1942, Sohn von Greti und Gian Caprez101

Ich war als Kind oft in den Ferien bei meinen Grosseltern Johann und Christina Caprez-Lendi in Pontresina, die ich Non und Nona nannte. Der Zvieri hiess bei Nona Afternoon Tea, mit Biskuits, englischem Kuchen und Birnenbrot. Die Butter servierte Nona in einem schönen Geschirr mit einem Buttermesser. Manchmal kam ihre Cousine aus Celerina zu Besuch, und wenn Nona ihr das Butter­geschirr über den Tisch schob, machte die Cousine mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, schob das Buttermesser zur Seite und nahm ihr eigenes Messer, um sich ein Stück Butter abzu­schneiden. Nona sagte nichts, schob ihr aber Geschirr und Buttermesser noch einmal hinüber. So ging es hin und her, aber es wurde nie ein Wort gewechselt.

Frisur 1

Zürich,
9. September 1929

Zwei Bilder. Greti trägt auf beiden ein sackartiges Kostüm, der Rock reicht bis weit über die Knie. Erst die Bildlegende102 ­erzählt von einem nahezu revolutionären Akt. 9. Sept. 1929 in ­Zürich vor dem Haarschnitt steht links, nach dem Haarschnitt rechts. Eben noch, auf dem Mühlesteg beim Hauptbahnhof, trägt sie die schwarzen Strähnen kunstvoll in einem Zopf hochgesteckt. Geistesgegenwärtig macht ihr Begleiter, vermutlich Gian, einen Schnappschuss von ihr. Nach vollbrachter Tat posiert Greti mit der neuen Frisur am Bahnsteig. Die Haarspitzen kräuseln sich gleich bei den Ohren. Die Haare sind gefallen: das äussere Symbol der inneren Selbständigkeit,103 hat Verena der ­Freundin vor einem halben Jahr geschrieben. Auch Gians Schwester ­Elisabeth, die Pferdekutschen und sogar Autos lenken kann, trägt ihr Haar kurz.104