Oyinkan Braithwaite hat Kreatives Schreiben und Jura in Kingston studiert, in einem nigerianischen Verlag und in einer Produktionsfirma gearbeitet. Heute ist sie als freie Autorin tätig. Sie war nominiert für den Commenwealth Short Story Preis und ihr Debütroman »Meine Schwester, die Serienkillerin« war ein fulminanter Erfolg in der englischsprachigen Welt und hat den Los Angeles Times Book Prize gewonnen. Sie lebt in Lagos, Nigeria.
Yasemin Dinçer, geb. 1983, studierte Literaturübersetzen und hat u. a. Daphne Kalotays »Die Tänzerin im Schnee« ins Deutsche übertragen.
Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Ayoola ist das Lieblingskind, unglaublich schön – und sie hat die Angewohnheit, ihre Männer umzubringen.
Korede ist eher praktisch veranlagt und dafür zuständig hinter ihrer Schwester aufzuräumen: die Krankenschwester kennt die besten Tricks, um Blut zu entfernen, und ihr Kofferraum ist groß genug für eine Leiche. Dann verknallt sich natürlich auch Tade in Ayoola, der hübsche Arzt aus dem Krankenhaus, der doch eigentlich für Korede bestimmt ist. Jetzt muss die sich fragen, wie gefährlich ihr Schwester wirklich ist – und wen sie hier eigentlich vor wem beschützt. Dieser euphorisch gefeierte Roman ist so beiläufig feministisch wie schwarzhumorig, er ist »fiebrig heiß« (Paula Hawkins) und verdammt cool zugleich.
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Meine Schwester, die Serienmörderin
Roman
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer
Inhaltsübersicht
Über Oyinkan Braithwaite
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Leiche
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Èfó
#3
Lied
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Der Patient
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Koma
Das Spiel
Siebzehn
Vernascht
Wach
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Erinnerung
Wahnsinn
Schlafend
Eiscreme
Geheimnis
Freund
Vater
Familie
Schafe
Vater
Ehefrau
Nacht
Zerbrochen
Telefon
#2: Peter
Saal
Wunde
Stühle
Bildschirm
Schwester
Vater
Wahrheit
Fort
#5
Danksagung
Impressum
Für meine Familie, die ich sehr liebe:
Akin, Tokunbo, Obafunke, Siji, Ore
Ayoola ruft mich mit diesen Worten herbei: Korede, ich habe ihn umgebracht.
Ich hatte gehofft, diese Worte nie wieder zu hören.
Ich wette, Ihnen war nicht bewusst, dass Bleiche den Geruch von Blut überdeckt. Die meisten Leute verwenden Bleiche ganz nach Belieben, da sie es für ein Allzweckmittel halten und sich nicht die Zeit nehmen, um die Liste mit den Inhaltsstoffen durchzulesen oder die kürzlich abgewischte Oberfläche noch einmal genauer zu betrachten. Bleiche desinfiziert, aber Rückstände lassen sich damit nicht so gut entfernen. Deshalb verwende ich sie erst dann, wenn ich das Badezimmer so lange geschrubbt habe, dass alle Spuren des Lebens, und des Todes, daraus verschwunden sind.
Das Zimmer, in dem wir uns befinden, wurde offensichtlich erst vor Kurzem renoviert. Es sieht aus wie noch nie benutzt, ganz besonders jetzt, nachdem ich fast drei Stunden mit Putzen verbracht habe. Am schwierigsten war es, an das Blut heranzukommen, das zwischen Dusche und Fuge gesickert war. Die Stelle vergisst man leicht.
Auf keiner der Oberflächen steht irgendetwas herum, sein Duschgel, seine Zahnbürste und Zahnpasta sind allesamt im Schrank über dem Waschbecken verstaut. Dann ist da noch die Badematte – ein schwarzer Smiley auf einem gelben Rechteck in einem ansonsten weißen Bad.
Ayoola sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel. Das Blut auf ihrem Kleid ist getrocknet, es besteht also keine Gefahr, dass es auf den weißen, mittlerweile glänzenden Fußboden tropft. Ihre Dreadlocks sind auf ihrem Kopf aufgetürmt, damit sie nicht über den Boden schleifen. Sie blickt mich unverwandt aus ihren großen braunen Augen an, voller Angst, ich sei wütend und werde mich bald von Händen und Knien erheben, um ihr einen Vortrag zu halten.
Ich bin nicht wütend. Am ehesten bin ich müde. Der Schweiß tropft mir von der Stirn auf den Fußboden, und ich wische ihn mit dem blauen Schwamm fort.
Als sie mich anrief, wollte ich gerade essen. Ich hatte schon alles auf dem Tablett bereitgelegt – die Gabel links vom Teller, das Messer rechts. Ich hatte die Serviette zu einer Krone gefaltet und mitten auf dem Teller platziert. Der Film war beim Vorspann auf Pause gestellt, und der Ofen-Timer hatte gerade gepiepst, als mein Telefon auf dem Tisch wie wild zu vibrieren begann.
Bis ich nach Hause komme, wird das Essen kalt sein.
Ich stehe auf und spüle die Handschuhe ab, ziehe sie jedoch noch nicht aus. Ayoola blickt mich im Spiegel an.
»Wir müssen die Leiche wegbringen«, erkläre ich ihr.
»Bist du sauer auf mich?«
Ein normaler Mensch wäre vielleicht sauer, aber ich verspüre in diesem Augenblick nur das dringende Bedürfnis, diese Leiche loszuwerden. Als ich ankam, trugen wir ihn als Erstes in den Kofferraum meines Wagens, damit ich schrubben und wischen konnte, ohne dabei sein kaltes Starren ertragen zu müssen.
»Hol deine Tasche«, erwidere ich.
Wir kehren zum Wagen zurück, und er liegt noch immer im Kofferraum und wartet auf uns.
Auf der Third Mainland Bridge ist um diese Uhrzeit kaum bis gar kein Verkehr, und da es keine Straßenlaternen gibt, ist es fast stockdunkel, während man jenseits der Brücke die Lichter der Stadt sehen kann. Wir bringen ihn, wohin wir auch den Letzten gebracht haben – über die Brücke und hinein ins Wasser. Zumindest wird er dort nicht einsam sein.
Etwas von dem Blut ist in den Teppich des Kofferraums gesickert. Ayoola bietet aus schlechtem Gewissen an, ihn zu reinigen, aber ich nehme ihr meine selbst gemachte Mischung aus einem Löffel Ammoniak auf zwei Tassen Wasser aus der Hand und schütte sie über den Fleck. Ich weiß nicht, ob es in Lagos überhaupt die notwendige Technologie für eine umfassende Spurensicherung gibt, aber in jedem Fall könnte Ayoola niemals so effizient sauber machen wie ich.
»Wer war er?«
»Femi.«
Ich schreibe den Namen auf. Wir sind in meinem Zimmer. Ayoola sitzt im Schneidersitz auf meinem Sofa, ihr Kopf ruht an der Rückenlehne. Während sie ein Bad nahm, habe ich das Kleid, das sie getragen hatte, verbrannt. Jetzt trägt sie ein rosarotes T-Shirt und riecht nach Babypuder.
»Und sein Nachname?«
Sie runzelt die Stirn und presst die Lippen zusammen, dann schüttelt sie den Kopf, als wollte sie den Namen zurück in den vorderen Teil ihres Gehirns befördern. Sie zuckt die Achseln. Ich hätte sein Portemonnaie an mich nehmen sollen.
Ich klappe das Notizbuch zu. Es ist klein, kleiner als meine Handfläche. Ich habe einmal ein TEDx-Video gesehen, in dem ein Mann erklärte, ein Notizbuch mit sich herumzutragen und jeden Tag einen glücklichen Moment festzuhalten, habe sein Leben verändert. Auf die erste Seite schrieb ich: Ich habe eine weiße Eule vor meinem Schlafzimmerfenster gesehen. Seither ist das Notizbuch so gut wie leer geblieben.
»Es ist nicht meine Schuld, weißt du.« Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was sie meint. Meint sie die Unfähigkeit, sich an seinen Nachnamen zu erinnern? Oder seinen Tod?
»Erzähl mir, was passiert ist.«
Femi hat ihr ein Gedicht geschrieben.
(An das Gedicht kann sie sich erinnern, aber nicht an seinen Nachnamen.)
Vergeblich wirst du versuchen,
einen Makel in ihrer Schönheit zu finden,
oder eine Frau hervorzubringen,
die an ihrer Seite stehen kann,
ohne zu welken.
Er überreichte es ihr auf einem doppelt gefalteten Blatt Papier, wie damals in der Schule, als die Kids in der hinteren Reihe des Klassenzimmers einander Liebesbriefchen zusteckten. Die ganze Angelegenheit rührte sie (allerdings ist Ayoola immer gerührt, wenn ihren Vorzügen gehuldigt wird), also willigte sie ein, seine Freundin zu werden.
An ihrem Einmonatigen erstach sie ihn im Badezimmer seiner Wohnung. Sie hatte das nicht gewollt, natürlich nicht. Er hatte sie wütend angeschrien und ihr dabei seinen heißen Zwiebelatem ins Gesicht geblasen.
(Aber warum hatte sie das Messer bei sich?)
Das Messer war zu ihrem Schutz. Bei Männern konnte man nie wissen, sie wollten immer genau das, was sie wollten, und sie wollten es sofort. Sie hatte nicht vor, ihn umzubringen, sie wollte ihn lediglich warnen, aber er hatte keine Angst vor ihrer Waffe. Er war über einen Meter achtzig groß, und sie musste für ihn wie eine Puppe ausgesehen haben, mit ihrer zarten Statur, ihren langen Wimpern und ihren rosigen, vollen Lippen.
(Ihre Beschreibung, nicht meine.)
Sie tötete ihn mit dem ersten Stoß, der direkt ins Herz ging. Allerdings stach sie danach noch zweimal zu, um ganz sicherzugehen. Er sank zu Boden. Sie konnte ihren eigenen Atem hören, und sonst nichts.
Kennen Sie den schon? Kommen zwei Frauen in ein Zimmer. Das Zimmer ist in einer Wohnung. Die Wohnung ist im dritten Stock. In dem Zimmer liegt die Leiche eines erwachsenen Mannes. Wie bekommen sie die Leiche ins Erdgeschoss, ohne gesehen zu werden?
Erstens, sie suchen sich Hilfsmittel.
»Wie viele Laken brauchen wir?«
»Wie viele hat er?« Ayoola rannte aus dem Badezimmer und kehrte mit der Information zurück, in seinem Wäscheschrank befänden sich fünf Laken. Ich biss mir auf die Lippe. Wir brauchten eine ganze Menge, aber ich fürchtete, seiner Familie würde es auffallen, wenn er außer dem Laken auf seinem Bett kein weiteres mehr besäße. Bei einem durchschnittlichen Mann wäre das nichts allzu Ungewöhnliches – aber dieser Mann hier war akkurat. Sein Bücherregal war alphabetisch nach Autoren sortiert. Sein Badezimmer war mit der ganzen Palette an Putzmitteln ausgestattet; er kaufte sogar dieselbe Desinfektionsmittel-Marke wie ich. Und seine Küche glänzte. Ayoola wirkte hier fehl am Platz – ein Schandfleck in einem ansonsten lupenreinen Leben.
»Bring drei mit.«
Zweitens, sie wischen das Blut auf.
Ich nahm das Blut mit einem Handtuch auf, das ich über dem Waschbecken auswrang. Diesen Vorgang wiederholte ich, bis der Fußboden trocken war. Ayoola stand daneben und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich ignorierte ihre Ungeduld. Einen Körper zu beseitigen dauert wesentlich länger als eine Seele umzubringen, insbesondere wenn man keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen hinterlassen will. Mein Blick wanderte jedoch immer wieder zurück zu dem zusammengesackten und gegen die Wand gestützten Leichnam. Ich würde keine gründliche Arbeit leisten können, solange seine Leiche nicht irgendwo anders war.
Drittens, sie verwandeln ihn in eine Mumie.
Wir breiteten die Laken auf dem mittlerweile getrockneten Fußboden aus, und sie rollte ihn darauf. Ich wollte ihn nicht anfassen. Unter seinem weißen T-Shirt konnte ich seinen gemeißelten Körper erkennen. Er sah aus wie ein Mann, der die ein oder andere Fleischwunde überleben könnte, aber das hatte für Achilles und Caesar auch gegolten. Es war eine Schande, dass der Tod seine breiten Schultern und konkaven Bauchmuskeln nach und nach aufzehren würde, bis nichts als Knochen übrig wären. Beim Betreten des Zimmers hatte ich zuerst dreimal nach seinem Puls gefühlt, und dann noch dreimal. Er hätte schlafen können, so friedlich sah er aus. Sein Kopf war tief gebeugt, sein Rücken gegen die Wand gekrümmt, seine Beine schief zu einer Seite ausgestreckt.
Unter Schnaufen und Keuchen schob Ayoola seine Leiche auf die Laken. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ dabei eine Blutspur. Sie legte eine Seite eines Lakens über ihn, um ihn zu verdecken. Dann half ich ihr, ihn umzudrehen und fest in die Laken einzuwickeln. Schließlich richteten wir uns auf und betrachteten ihn.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Viertens, sie bringen die Leiche fort.
Wir hätten die Treppe nehmen können, aber ich stellte mir vor, wie wir jemandem begegneten, während wir etwas transportierten, das ganz eindeutig ein unbeholfen eingewickelter menschlicher Körper war. Ich legte mir ein paar mögliche Erklärungen zurecht:
»Wir spielen meinem Bruder einen Streich. Er schläft immer wie ein Stein, und wir tragen ihn schlafend woandershin.«
»Nein, nein, das ist kein echter Mann, für was halten Sie uns? Das ist eine Schaufensterpuppe.«
»Nein, Ma, das ist bloß ein Sack Kartoffeln.«
Ich malte mir aus, wie sich die Augen meines Phantasie-Zeugen vor Angst weiteten, während er oder sie sich schleunigst in Sicherheit brachte. Nein, die Treppe kam nicht infrage.
»Wir müssen den Aufzug nehmen.«
Ayoola öffnete den Mund, um etwas zu fragen, dann schüttelte sie den Kopf und schloss den Mund wieder. Sie hatte ihren Teil getan, den Rest überließ sie mir. Wir hievten ihn hoch. Ich hätte ihn aus den Knien und nicht aus dem Rücken heben sollen. Ich spürte ein Knacken und ließ mein Ende der Leiche mit einem dumpfen Aufschlag fallen. Meine Schwester verdrehte die Augen. Ich griff erneut nach seinen Füßen, und wir trugen ihn zur Tür.
Ayoola flitzte zum Aufzug, drückte auf den Knopf, rannte zu uns zurück und hob erneut Femis Schultern an. Ich spähte aus der Wohnung und versicherte mich, dass noch immer niemand auf dem Flur war. Ich war versucht, zu beten, darum zu bitten, keine der Türen möge aufgehen, während wir uns von der Wohnungstür zum Aufzug bewegten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dies genau die Art von Gebet ist, die Er nicht erhört. Also setzte ich stattdessen auf Glück und Schnelligkeit. Geräuschlos schleiften wir Femi über den Steinfußboden. Der Aufzug kam gerade rechtzeitig und öffnete seinen Mund für uns. Wir blieben neben der Tür stehen, während ich überprüfte, dass der Aufzug wirklich leer war, dann hievten wir Femi hinein und packten ihn in eine Ecke, wo er nicht unmittelbar zu sehen war.
»Halt, bitte wartet!«, rief eine Stimme. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ayoola auf den Knopf drücken wollte, der den Aufzug davon abhält, die Türen zu schließen. Ich schlug ihre Hand fort und drückte mehrmals auf den Knopf für das Erdgeschoss. Hinter der sich schließenden Aufzugtür erhaschte ich noch einen Blick auf das enttäuschte Gesicht einer jungen Mutter. Kurz überkam mich ein schlechtes Gewissen – in einem Arm trug sie ein Baby, im anderen mehrere Taschen –, aber es war nicht groß genug, um eine Festnahme zu riskieren. Außerdem, was wollte sie denn überhaupt mit einem Kind im Schlepptau um diese Uhrzeit draußen?
»Was sollte das?«, zischte ich Ayoola an, obwohl ich wusste, dass ihre Bewegung instinktiv erfolgt war, womöglich aus derselben Impulsivität heraus, die sie dazu gebracht hatte, das Messer ins Fleisch zu stoßen.
»Mein Fehler«, erwiderte sie knapp. Ich schluckte die Worte herunter, die mir aus dem Mund sprudeln wollten. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt.
Im Erdgeschoss ließ ich Ayoola auf die Leiche aufpassen und dafür sorgen, dass der Aufzug blieb, wo er war. Falls irgendjemand käme, sollte sie die Tür schließen und ganz nach oben fahren. Falls jemand aus einem anderen Stock versuchte, den Aufzug zu rufen, sollte sie die Tür offenhalten. Ich rannte mein Auto holen und fuhr damit zur Hintertür des Hauses, dann trugen wir die Leiche hinaus. Mein Herz hörte erst auf, in meiner Brust zu hämmern, als wir den Kofferraum zumachten.
Fünftens, sie verwenden Bleiche.
Die Krankenhausverwaltung hat beschlossen, die Uniformen der Krankenschwestern zukünftig Pink statt Weiß zu halten, da das Weiß immer mehr nach geronnener Sahne aussah. Aber ich bleibe bei meiner weißen – sie sieht nach wie vor brandneu aus.
Tade fällt das auf.
»Was ist dein Geheimnis?«, fragt er mich und berührt den Saum meines Ärmels. Es fühlt sich an, als hätte er meine Haut berührt – Hitze strömt durch meinen Körper. Ich reiche ihm die Akte der nächsten Patientin und überlege fieberhaft, wie ich das Gespräch am Laufen halten kann, aber tatsächlich ist es einfach unmöglich, Reinigungstätigkeiten sexy klingen zu lassen – außer man reinigt einen Sportwagen. Im Bikini.
»Google ist dein Freund«, antworte ich.
Er lacht, ehe er einen Blick auf die Patientenakte wirft und stöhnt.
»Mrs Rotinu schon wieder?«
»Ich glaube, sie sieht Sie einfach gern, Herr Doktor.« Er blickt zu mir auf und grinst. Ich versuche, zurückzulächeln, ohne preiszugeben, dass mein Mund durch seine Aufmerksamkeit völlig ausgetrocknet ist. Beim Verlassen des Raumes schwinge ich meine Hüften so, wie Ayoola es gerne tut.
»Geht es dir gut?«, ruft er mir hinterher, als meine Hand nach dem Türknauf greift. Ich drehe mich zu ihm um.
»Hm?«
»Du läufst so komisch.«
»Oh, äh – ich habe mir einen Muskel gezerrt.« Was für eine Schmach. Ich öffne die Tür und verlasse eilig den Raum.
Mrs Rotinu sitzt auf einem unserer vielen Ledersofas im Empfangsbereich. Sie hat eins für sich allein und nutzt die überschüssige Sitzfläche, um ihre Handtasche und Kosmetiktasche neben sich zu platzieren. Als ich mich ihnen nähere, blicken alle Patienten auf, in der Hoffnung, sie seien nun an der Reihe. Mrs Rotinu pudert sich das Gesicht, hält jedoch inne, als ich vor sie trete.
»Ist der Doktor jetzt bereit, mich zu sehen?«, fragt sie. Ich nicke, und sie steht auf und klappt ihre Puderdose zu. Ich bedeute ihr, mir zu folgen, aber sie hält mich mit einer Hand auf meiner Schulter zurück: »Ich kenne den Weg.«
Mrs Rotinu hat Diabetes – Typ 2. Mit anderen Worten: Wenn sie sich richtig ernährt, etwas Gewicht verliert und rechtzeitig ihr Insulin nimmt, gibt es keinen Grund dafür, dass wir sie so oft zu Gesicht bekommen. Aber hier ist sie nun und hüpft beinahe auf Tades Sprechzimmer zu. Ich kann sie allerdings verstehen. Er hat diese Fähigkeit, einen anzusehen und einem das Gefühl zu geben, man sei das einzig Wichtige, solange seine Aufmerksamkeit auf einen gerichtet ist. Er schaut nicht weg, sein Blick wird nicht glasig, und er geht großzügig mit seinem Lächeln um.
Ich steuere also stattdessen den Empfangsschalter an und knalle mein Klemmbrett darauf, und zwar laut genug, um Yinka zu wecken, die es geschafft hat, mit offenen Augen einzuschlafen. Bunmi blickt mich mit gerunzelter Stirn an, da sie gerade am Telefon einen Termin vergibt.
»Was soll das, Korede? Du sollst mich doch nur wecken, wenn es brennt.«
»Das hier ist ein Krankenhaus und kein Bed and Breakfast.«
Als ich mich entferne, murmelt sie mir »Zicke« hinterher, aber ich ignoriere sie. Etwas anderes hat meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich lasse die Luft durch die Zähne entweichen und mache mich auf die Suche nach Mohammed. Vor einer Stunde habe ich ihn in den dritten Stock geschickt, und da ist er natürlich auch noch und flirtet auf seinen Mopp gestützt mit Assibi mit dem langen, dauergewellten Haar und den bestürzend dichten Wimpern, einer weiteren Reinigungskraft. Als sie mich den Flur herunterkommen sieht, läuft sie hastig davon. Mohammed dreht sich zu mir um.
»Ma, ich wollte gerade – «
»Mir egal, was du gerade wolltest. Hast du die Fenster im Empfangsbereich mit heißem Wasser und einem Viertel Branntweinessig geputzt, wie ich dich drum gebeten habe?«
»Ja, Ma.«
»Okay … zeig mir den Essig.« Er verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und überlegt angestrengt, wie er sich aus der Lüge herauswinden soll, die er soeben erzählt hat. Es überrascht mich nicht, dass er keine Fenster putzen kann – ich kann ihn aus drei Metern Entfernung riechen, und es ist ein übler, verdorbener Geruch. Leider ist der Geruch einer Person kein Kündigungsgrund.
»Ich weiß nicht, woher ich welchen kriegen soll.«
Ich erkläre ihm den Weg zum nächsten Laden, woraufhin er in Richtung Treppe losschlurft und seinen Eimer mitten im Flur stehenlässt. Ich rufe ihn zurück, damit er seine Sachen mitnimmt.
Als ich ins Erdgeschoss zurückkehre, ist Yinka schon wieder eingeschlafen – ihr Blick starrt ins Leere, so ähnlich wie bei Femi. Ich blinzele, um das Bild aus meinem Kopf zu bekommen, und wende mich an Bunmi.
»Ist Mrs Rotinu fertig?«
»Nein«, antwortet Bunmi. Ich seufze. Im Wartezimmer sitzen noch andere Menschen. Und all die Ärzte scheinen mit geschwätzigen Personen beschäftigt zu sein. Wenn es nach mir ginge, bekäme jeder Patient eine festgelegte Konsultationszeit zugeteilt.
Der Patient in Zimmer 313 heißt Muhtar Yautai.
Er liegt auf dem Bett, und seine Füße baumeln über den Rand. Er hat ganz schlaksige Glieder, und der Oberkörper, an dem sie hängen, ist ebenfalls ziemlich lang. Er war schon dünn, als er hier ankam, ist aber noch dünner geworden. Wenn er nicht bald aufwacht, wird er noch ganz und gar verkümmern.
Ich hole den Stuhl, der neben dem Tisch in der Zimmerecke steht, und stelle ihn wenige Zentimeter vor sein Bett. Dann setze ich mich und lasse den Kopf in die Hände sinken. Ich spüre Kopfschmerzen im Anmarsch. Eigentlich bin ich hergekommen, um ihm von Ayoola zu erzählen, aber nun scheine ich an nichts anderes denken zu können als an Tade.
»Ich … ich wünschte …«
Die Maschine, die sein Herz überwacht, gibt alle paar Sekunden ein beruhigendes Piepen von sich. Muhtar rührt sich nicht. Er ist seit mittlerweile fünf Monaten in diesem komatösen Zustand – er hatte einen Autounfall, bei dem sein Bruder hinter dem Lenkrad saß. Alles, was der Bruder für seine Bemühungen bekam, war ein Schleudertrauma.
Ich habe Muhtars Frau einmal kennengelernt, sie erinnerte mich an Ayoola. Nicht, dass sie unvergesslich ausgesehen hätte, aber sie schien vollkommen blind gegenüber allen Bedürfnissen außer ihren eigenen zu sein.
»Ist es nicht teuer, ihn so im Koma zu lassen?«, fragte sie mich.
»Wollen Sie den Stecker ziehen?«, erwiderte ich.
Sie reckte das Kinn, beleidigt von meiner Frage. »Es ist nur angemessen, dass ich erfahre, worauf ich mich einlasse.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, stammt das Geld aus seinem Vermögen …«
»Nun, ja … aber … ich … ich bin nur …«
»Hoffentlich erwacht er bald aus dem Koma.«
»Ja … hoffentlich.«
Aber seit diesem Gespräch ist eine Menge Zeit verstrichen, und der Tag rückt näher, an dem selbst seine Kinder der Ansicht sein werden, die lebenserhaltenden Maßnahmen abzuschalten sei für alle das Beste.
Bis dahin ist er mir ein großartiger Zuhörer und interessierter Freund.
»Ich wünschte, Tade würde mich sehen, Muhtar. Mich wirklich sehen.«
Die Hitze ist erdrückend, weshalb wir unsere Kräfte schonen, indem wir uns so wenig wie möglich bewegen. Ayoola hat sich in ihrem pinkfarbenen Spitzen-BH und schwarzen Spitzen-Tanga auf meinem Bett ausgestreckt. Sie ist unfähig, praktische Unterwäsche zu tragen. Ein Bein baumelt auf der einen, ein Arm auf der anderen Seite herunter. Sie hat den Körper einer Musikvideo-Sexbombe, einer sündhaften Frau, eines Sukkubus. Er straft ihr engelsgleiches Gesicht Lügen. Hin und wieder seufzt sie, um mich wissen zu lassen, dass sie noch am Leben ist.
Ich habe den Klimaanlagentechniker angerufen, der beteuerte, er sei in zehn Minuten da. Das war vor zwei Stunden.
»Ich sterbe hier drinnen«, stöhnt Ayoola.
Unser Hausmädchen schlurft mit einem Ventilator in der Hand herein und platziert ihn vor Ayoola, als könnte sie den Schweiß nicht sehen, der mir das Gesicht hinunterläuft. Auf das laute Surren der Flügel folgt ein Luftschwall, und es wird ein klein wenig kühler im Zimmer. Ich lasse meine Beine vom Sofa rutschen und schleppe mich ins Badezimmer. Ich fülle das Waschbecken mit kaltem Wasser und befeuchte mir das Gesicht, während ich in das sich kräuselnde Wasser starre. Ich stelle mir eine Leiche vor, die davongetrieben wird. Was würde Femi von seinem Schicksal halten, unter der Third Mainland Bridge zu verwesen?
Der Brücke jedenfalls ist der Tod nicht fremd.
Vor nicht allzu langer Zeit stürzte ein überfüllter Schnellbus von der Brücke in die Lagune. Es gab keine Überlebenden. Danach fingen die Busfahrer an, potenziellen Passagieren zuzurufen: »Direkt nach Osa! Direkt nach Osa!« Direkt in die Lagune! Auf direktem Weg in die Lagune!
Ayoola trottet herein und zieht sich das Höschen herunter. »Ich muss pinkeln.« Sie lässt sich auf die Klobrille plumpsen und seufzt erleichtert, als ihr Urin in die Keramikschüssel plätschert.
Ich ziehe den Stöpsel aus dem Waschbecken und gehe hinaus. Es ist zu heiß, um mich darüber zu beschweren, dass sie mein Badezimmer benutzt, oder sie darauf hinzuweisen, dass sie ihr eigenes hat. Es ist zu heiß zum Sprechen.
Ich lege mich aufs Bett, nutze Ayoolas Abwesenheit und schließe die Augen. Und da ist er. Femi. Sein Gesicht hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Mir drängt sich die Frage auf, wie er wohl gewesen ist. Den anderen war ich begegnet, ehe sie ihr Leben ließen, aber Femi war für mich ein Fremder.
Ich wusste, dass sie mit jemandem ausging, die Zeichen waren alle vorhanden: ihr kokettes Lächeln, die nächtlichen Gespräche. Ich hätte aufmerksamer sein sollen. Hätte ich ihn kennengelernt, wäre mir vielleicht jene Reizbarkeit aufgefallen, die er ihrer Behauptung nach besaß. Vielleicht hätte ich ihn ihr ausreden können, und wir hätten dieses Ende vermeiden können.
Ich höre im selben Augenblick die Toilettenspülung rauschen und Ayoolas Telefon neben mir vibrieren, was mich auf eine Idee bringt. Ihr Telefon ist passwortgeschützt, sofern man »1234« als Schutz bezeichnen kann. Ich wische mich durch ihre vielen Selfies, bis ich ein Bild von ihm finde. Sein Mund bildet eine feste Linie, aber seine Augen lachen. Ayoola ist auch auf dem Bild und sieht so reizend aus wie immer, aber seine Energie erfüllt das Display. Ich lächle zurück.
»Was machst du da?«
»Du hast eine Nachricht bekommen«, informiere ich sie und drücke rasch zurück zum Startbildschirm.
#FemiDurandIsMissing hat sich rasant verbreitet. Insbesondere ein ganz bestimmter Post zieht eine Menge Aufmerksamkeit auf sich – der von Ayoola. Sie hat ein Bild gepostet, auf dem die beiden zu sehen sind, und dazu verkündet, sie sei die letzte Person, die ihn lebend zu Gesicht bekommen habe. Darunter hat sie gebeten, jeder, wirklich jeder solle sich melden, wenn er irgendeinen Hinweis habe.