Über das Buch

»Nadia Terranova schreibt mit ungeheurer Prägnanz und Sensibilität.« Annie Ernaux

Als Ida den Anruf erhält, sie soll nach Hause kommen, lebt sie schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in ihrer Heimatstadt Messina. Sie muss ihrer Mutter helfen, die Wohnung ihrer Kindheit aufzulösen – der Ort, den ihr Vater eines Morgens verließ, um nie mehr wiederzukehren. Da war Ida dreizehn, der Vater depressiv, die Mutter hilflos. Im Schweigen und gequält von Erinnerungen wächst Ida auf und verlässt Sizilien, so schnell sie kann. Nun folgt sie dem Ruf der Mutter und kehrt zurück in die Stadt zwischen zwei Meeren und in eine Vergangenheit, die sie immer noch nicht loslässt …

»Ein Meisterwerk – Nadia Terranova beschreibt eine universell weibliche Erfahrung.« L'Espresso

»Intensiv und wunderschön – voller Nostalgie.« DONNA

Über Nadia Terranova

Nadia Terranova, 1978 in Messina geboren, lebt in Rom. Ihr Romandebüt wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Autorin mehrerer Kinder- und Jugendbücher und schreibt als Journalistin unter anderem für »Repubblica«. »Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand« wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist für den Premio Strega, den wichtigsten italienischen Literaturpreis nominiert.

Esther Hansen, diplomierte Übersetzerin, übertrug unter anderen Daria Bignardi, Nino Filastò, Marcello Fois, Francesca Melandri, Goliarda Sapienza, Susanna Tamaro und Carmine Abate ins Deutsche. 2008 wurde sie mit dem Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises ausgezeichnet.

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Nadia Terranova

Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

Roman

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Erster Teil: Der Name

Sie nisten nur, wo Schmutz ist

Erstes Nachtstück

Das weiße Licht der Meerenge

Zweites Nachtstück

Für immer sechs Uhr sechzehn

Drei Zentimeter

Drittes Nachtstück (am Nachmittag)

Die blaue Stunde

Zweiter Teil: Der Körper

Das Leben ist ein Augenblick

Viertes Nachtstück (am Nachmittag)

Die Dinge, die wir nicht tun

Fünftes Nachtstück

Schreckliche Dinge, als wären sie normal, oder umgekehrt

Die Häuser der anderen

Zwei schwarze Plastiktüten

Sechstes Nachtstück (am Nachmittag)

Entlüften

Siebtes Nachtstück

Dritter Teil: Die Stimme

Das Unglück war nicht bei allen die Regel, sondern die Ausnahme bei uns

Ewig (wie ein Nachtstück)

Laternen

Annunziata

Das Haus des Puppenspielers

Achtes Nachtstück

Die unvollendete Traurigkeit

Der Abschied

Nachbemerkung zum Text

Impressum

Den Überlebenden

Ich hatte immer das Gefühl, wir seien eine komische Familie, weder reich noch arm, viel reicher als die Armen und viel ärmer als die Reichen, mit einem Garten, wie ihn reiche Leute haben, aber einem dunklen Abort, wo die Pilze sprossen.

Natalia Ginzburg, Kindheit

Eines Morgens Mitte September rief meine Mutter mich an und teilte mir mit, dass in ein paar Tagen die Dacharbeiten an unserem Haus beginnen würden. An unserem Haus, sagte sie. Dabei hatte ich schon lange ein anderes Haus in einer anderen Stadt, eine Wohnung, um die ich mich kümmerte und die ich zusammen mit einem anderen gemietet hatte. Es gab kein Haus mehr, das ich unseres nannte, das Namensschild war bei meinem Auszug abgefallen, und in den Jahren danach hatte ich sorgsam und mit aller Härte jede Erinnerung daran gelöscht. Ich wusste ja, dass die Decke herunterkam – das tat sie seit meiner Geburt, mein Leben lang war der Putz gebröckelt und der Staub gerieselt –, doch die Verantwortung lag nicht bei mir, niemand steht in der Schuld für Dinge, die er nicht will und deren Erbe er bereits ausgeschlagen hat. Ich schrieb erfundene wahre Geschichten für das Radio, die sich einer unerwarteten Beliebtheit erfreuten, ich hatte einen Mann, eine Arbeit, eine andere Stadt, neue Abende und eine andere Zeit.

Meine Mutter sagte, sie habe sich immer allein um alles kümmern müssen, das Haus werde ihr zur Last, sie sei müde, und das Dach zu erneuern, die Bodenfliesen für das Flachdach, das zugleich als Terrasse diente, sei ihre letzte gute Tat für die Wohnung, unmöglich könne man sie so baufällig zum Verkauf anbieten, um anschließend eine kleinere, solidere zu erstehen. Sie sagte, eine Firma würde die tiefen Risse reparieren, die auf Unwetterschäden, schlechte Dämmung und alte Ausbauarbeiten der Nachbarn zurückgingen; währenddessen würden sie und ich in unserem Haus – wieder: unser Haus – unter dem Dach und den Füßen der Bauarbeiter die Möbel, Einrichtungsgegenstände und Bücher durchgehen und langsam mit dem Ausräumen beginnen: Sie wolle sich schließlich nicht eines Tages vorwerfen lassen, meine Sachen weggegeben zu haben, daher müsse ich kommen und entscheiden, wovon ich mich trennen wolle.

Ich dachte, das ist einfach, außer an einer roten Blechdose ganz hinten in einer Schublade hing ich an nichts.

Ich packte das Nötigste in einen Koffer und kaufte im Internet eine Zugfahrkarte für tags darauf: Die ganze kalabrische Küste entlang würde ich aus dem Fenster schauen, bis Villa San Giovanni, dort die Fähre nach Messina besteigen und schließlich bei meiner Mutter ankommen und ihr die gewünschte Hilfe bringen.

In der Nacht träumte ich, dass ich ertrank.

Der Fuß meines Mannes berührte leicht mein Bein, irgendwann verließ ich die wohlige Wärme unter der Decke und stieg langsam ins Wasser.

Ich ging, als wüsste ich wohin, und das Wasser spülte mir frisch um die Knöchel, die Waden, die Knie und die Oberschenkel, um die Hüften, den Bauch, die Brüste und die Schultern, schließlich um Kinn und Mund, und als ich etwas sagen wollte, wurde ich von einer Welle verschluckt und verschwand. Eben ging ich noch, da ertrank ich schon: Mein Blick verschwamm nicht, und meine Kräfte schwanden nicht, es geschah nichts weiter, ich ging einfach ins Meer, und mein Körper hörte auf zu sein.

Ich erwachte und setzte mich auf. Leise rief ich nach Pietro, meinem Mann, nicht weil ich ihn brauchte, sondern weil ich ihn vom Umstand meines Sterbens nicht ausschließen wollte. Es schien mir wichtig, das Sterben, und er sollte sein Zeuge sein. Meine Arme und Achseln waren schweißnass, auch meine Stirn und Schultern, er fasste mich am Ellbogen, schlug schwerfällig die Augen auf und richtete sich neben mir im Bett auf. Es gab nichts zu sagen, das mich getröstet hätte, und von meinem Traum, so spürte ich, konnte ich weder das Ausmaß noch die Angst mit ihm teilen.

Einmal, es war über zehn Jahre her, als wir uns erst einige Wochen kannten, hatte ich ihm vorgeworfen, sich nur wenig für meine Alpträume zu interessieren, während meine Großmutter väterlicherseits mich als Kind immer ermuntert hatte, von ihnen zu erzählen, wenn du sie nicht erzählst, wirst du sie nicht los, hatte sie immer gesagt, und nun war sie nicht mehr da, und wenn er mich nicht fragte, konnte ich nicht von ihnen erzählen und wurde gar nichts los. Also begann Pietro mich nachts zu fragen, wie es mir ging, wenn ich aus dem Schlaf hochschrak, und bevor er morgens zur Arbeit aufbrach: Erzähl mir, was du geträumt hast, wieder und wieder, und ich versuchte ihm zu antworten, doch es gelang mir nicht, man kann Dinge nicht einfach aus einer Zeit in eine andere tragen, sie sind gut da, wo sie sind, und es gibt einen Grund, warum Erinnerungen besser Erinnerungen bleiben und nicht störend in die Gegenwart hineinreichen sollten. Es war ein Fehler gewesen, ihm von meiner Großmutter zu erzählen: Bei ihr in den alten, duftenden Laken floss die Erzählung ganz natürlich aus mir heraus, ihm gegenüber hatte ich Mühe, mich zu öffnen. So war es auch jetzt, keiner von uns hatte Lust auf Worte, und unsere Abmachung lag lange zurück, genau wie die Zeiten, als wir Angst mit Leidenschaft beantworteten und Alpträume mit Sex.

Ich griff nach der Plastikflasche mit Wasser auf dem Nachttisch und trank in langen Zügen. Mein Mann strich mir über den Rücken, mit der Liebe, die wir damals füreinander hatten, einer müden Liebe aus niemals zu intim werdenden Händen, die den Bauch streichelten, sich verzweifelt in ein Stück Unterhemd krallten, in den Bund eines Slips, einer Liebe, die selten etwas anderes wurde oder darüber hinausging, die sich um sich selbst drehte und uns von alleine wieder entzweite, sodass nach einer kurzen Illusion erneut zwei sorgsam getrennte Größen aus uns wurden. Ich trank und schluckte, und Pietro nahm meinen Arm, ich streckte mich aus, und er streckte sich aus, ich drehte mich auf die Seite, und er drehte sich zuerst zu mir, eng an meinen Rücken geschmiegt, dann zur anderen Wand, bis wir uns schließlich Rücken an Rücken in den Schlaf zu wiegen versuchten. Er folgte mir mühsam und schlaftrunken, in seiner Art, mich zu lieben, in der Art, wie zwei Menschen sich nach zehn Jahren noch lieben können; wir waren an einem Punkt angelangt, an dem unsere Körper nicht mehr miteinander funktionierten, sich im Schlaf und im vorausgehenden Halbschlaf nicht mehr ineinander verhakten, wir waren zu abstoßenden Polen geworden.

Sex ist eine Sprache, und in der ersten Zeit unserer Beziehung waren zwischen Pietro und mir viele Worte gewechselt worden, als ich aus Sizilien und vor einer verstümmelten Familie voller Schweigen geflohen war und er mich in Rom aufgenommen hatte und mir gleichzeitig Freund, Vater und Bruder gewesen war. Damals hatte ich zusammen mit der Stadt ein neues Ich entdeckt, und er war da, immer da, und seine Verfügbarkeit hatte mich gerührt. In jenen ersten Monaten hatten wir uns ausgezogen, wann immer es ging, und wenn wir uns bis zur Erschöpfung geliebt hatten, waren wir glücklich, obwohl wir hätten gewarnt sein können, dass es nicht auf Dauer sein würde: Niemals liebten wir uns zweimal, das erste Mal war uns genug, worauf wir uns langsam wieder voneinander entfernten und ankleideten. Was wir suchten, gaben wir uns innerhalb kürzester, nie andauernder Zeit, unverzüglich kehrten wir in jene Fremdheit zurück, die das Maß unserer Anziehung bestimmte. Doch bald schon – zu bald für eine Liebe, die die Liebe des Lebens sein sollte – wurde uns die Fremdheit zum Feind. Unsere Körper waren nicht länger ein Ort der Sprache. Die Zärtlichkeit übertrug sich in die Gesten des Alltags, in die Gespräche und Mühen, und selbst wenn wir tagsüber stritten, taten wir uns niemals wirklich weh: Wir lebten im Schatten des jeweils anderen und wachten übereinander mit einer Sorge, die ich nie zuvor erlebt hatte; nach dem Ende des Verlangens kultivierten wir noch eine Weile unser Ritual, uns gegenseitig Genuss zu bereiten, bis auch dieser Austausch unbrauchbar wurde wie ein altes Wörterbuch.

Die Schuld lag bei mir, das wusste ich. Bestimmt hatte ich mich zuerst verschlossen, so wenig, wie ich an Öffnung und Gemeinschaft gewöhnt war.

Doch Pietro, und nur ihm, hatte ich die Geschichte meines Vaters erzählt, und er hatte nichts entgegnet, hatte die Anomalie akzeptiert. Wir kannten uns seit drei Wochen und waren beide Anfang zwanzig, als er zu unserer ersten echten Verabredung ein Geschenk mitgebracht hatte: Darin lagen ein blaues Skater-T-Shirt und ein Tagebuch mit festem Einband. In jenem Moment sah ich den Mann vor mir, auf den ich gewartet hatte. Er wusste nicht, dass ich als Kind lange Rollschuh gelaufen war, er wusste nicht, dass ich meinen in den Schubladen verborgenen Tagebüchern viel von mir erzählt hatte. Und doch wusste er es.

So hatte ich ihm gebeichtet, dass mein Vater verschwunden war, als ich dreizehn war. Nicht gestorben, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden, fuhr ich fort, während ich bang auf die gefürchtete Frage wartete: Deine Mutter und du, habt ihr denn nichts getan, um ihn zurückzuhalten?

Doch diese Frage hatte Pietro nicht gestellt. Er fragte überhaupt nichts, lauschte aufmerksam den wenigen Sätzen, die ich ihm zugestand: Mein Vater, Gymnasiallehrer, hatte eines Morgens das Haus verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt. Dann wechselte er das Thema. Er sagte, die Arbeit, der ich an der Mittelschule nachging, sei nicht das Richtige für mich; das Leben der anderen, der Schüler, Eltern und Kollegen, würde mich überfordern, bald schon wäre ich fremdbestimmt und unglücklich. Er sagte nicht, dass man ein Leben nicht von Neuem leben könne, dass es keinen Sinn ergebe, das Leben meines Vaters nachzuahmen und selbst Lehrerin zu werden: Seine Betonung lag auf etwas anderem. Das Gedränge in den Klassenzimmern und Schulfluren würde mich überanstrengen, lieber solle ich anfangen zu schreiben und in meine Geschichten den Schmerz legen, der sonst keinen Raum fand.

Bis dahin waren Pietro und ich uns immer bei heiteren Anlässen begegnet, doch nun stellte ich fest, dass der Schmerz in meinen Augen lag, und war überzeugt, dass Pietro eine außergewöhnliche Gabe besaß, in ihnen zu lesen. Auf dieser Überzeugung baute ich unser Leben auf. Tag für Tag vertraute ich mich ihm an, seine Ernsthaftigkeit war ein Fels, und auch dieser Fels hatte feindselige Wände, die nur schwer zu erklimmen waren. Manchmal glaubte ich, nicht einmal mehr einen Zahnarzttermin allein vereinbaren zu können oder dass ich keine Rechnungen oder Steuern mehr bezahlt hätte, läge da nicht sein Aktenordner für unsere Mietwohnung, in dem ich die Quittungen abheftete. Jeden Tag zusammen zu sein, jede Entscheidung gemeinsam zu treffen, den Geruch, den Sex, die Art des anderen fest im Gedächtnis zu haben, darin lag die Bedeutung von Ehe. Alles andere war ein stürmisches, unbekanntes Meer, das die Überquerung nicht lohnte.

Ich fühlte, wie mein Mann sich einige Minuten an meinen Rücken schmiegte und dann einschlief, während ich weiter an der Wand kauerte und hoffte, nicht wieder dem Wasser zu begegnen; die Nacht hielt Waffen zur Verteidigung bereit, doch ich hatte sie bereits erschöpft. Langsam wurde ich wieder unsichtbar, dabei wollte ich von Pietro gesehen werden, wenn ich ertrank, wenn ich starb.

Der Gegenpol der schwärzesten Angst ist immer eine unerwartete Leichtigkeit, deshalb überkam mich die Lust, mit ihm zu schlafen, als könnten wir einander verschlingen wie in den Anfangstagen; ich drehte mich um und begann ihn fordernd zu berühren, doch von ihm kam nur ein Geräusch, das seinen gleichmäßigen Atem unterbrach, während sein Körper sich abweisend zusammenzog. Wir konnten uns streicheln und wiegen, doch die Aussicht auf Sex verscheuchte uns wie verängstigte Tiere: Es hieß nicht, sich nicht mehr zu vertrauen, sondern sich weniger zu vertrauen, die wenige körperliche Nähe zu verlieren, die wir so mühsam errungen hatten. Wir kannten uns zu gut, um uns der Scham unserer Nacktheit zu stellen, denn bei diesem Anblick konnten sich beide nicht mehr gehen lassen, nicht weil wir den Körper des anderen nicht schön oder anziehend gefunden hätten, sondern weil wir keine Worte und keine Art zu reden mehr für ihn hatten, nun, da zwischen uns das ungenutzte Wörterbuch lag.

Auch ich zog mich wieder zurück auf die andere Seite und wandte ihm den Rücken zu. Ich nahm seine Hand und legte sie mir auf den Bauch, grübelte mit offenen Augen. Ich dachte daran, wie dankbar ich ihm für den Rat von vor zehn Jahren war. In meine erfundenen wahren Geschichten legte ich einen Teil meines Schmerzes und das Wasser hinein, das von der Vergangenheit herüberschwappte, und ich hoffte, dass das Schreiben mich retten würde, doch dann erklang ein Gemurmel, eine misstönende Stimme flüsterte mir zu, dass Dankbarkeit nicht ausreichte, um eine Ehe vor dem Ertrinken zu retten.

In dieser nicht enden wollenden Schlaflosigkeit, mit meinem Schweiß, Pietros gleichmäßigen Atemzügen und der Angst, Schiffbruch zu erleiden, wartete ich auf den Morgen, der nicht kommen wollte. Doch früher oder später kommt alles und zerstört die Menschen, die wir sind oder zu sein glauben: Beim ersten Sonnenlicht stand ich leise auf, küsste ihn im Schlaf auf die Lippen und ging zum Bahnhof.

Erster Teil
Der Name

Sie nisten nur, wo Schmutz ist

Mit der Menge wurde ich aus dem Bauch der Fähre gedrängt, passierte die Drehkreuze der Caronte-Fährgesellschaft und fand meine Mutter. Sie trug ein helles, knielanges Kleid und hatte sich die Haare bis über die Schultern wachsen lassen; die achtundsechzig Jahre waren ihrem Gesicht nicht anzusehen, sie wirkte verwirrend jung wie ein Mädchen. Ihr schmaler Körper schob sich zwischen mich und die Insel und bildete mein Tor zur Stadt. Ich stellte fest, dass sie mir in den letzten Jahren – mit dem Alter – ähnlicher geworden war, als wäre sie meine Tochter und nicht umgekehrt; sie lächelte mich mit einer Unschuld an, die ich früher an mir gekannt hatte: Sie war mir also nicht abhandengekommen, ich hatte sie nur an sie weitervererbt. Sie fragte, wie die Reise gewesen war und warum ich lieber den Zug und nicht das Flugzeug genommen hatte; für mich war es ganz normal, in Rom ein Abteil zu besteigen, am Fenster auf den Anblick des Meeres zu warten, am Bahnhof von Villa San Giovanni auszusteigen und im Septemberlicht die Meerenge zu überqueren, mich an den Schaumkronen der Wellen im Schirokko zu erfreuen, auf der Brücke zwischen fremden Menschen zu stehen, die rauchend an der Reling lehnten, mir mit dem Blick einen Punkt zwischen Skylla und Charybdis zu suchen und ihn die ganze Überfahrt lang festzuhalten. Die Überfahrt: Sie war ein Grund, warum die Rückkehr lohnte.

Die Sonne schien auf das Kunststoffschild eines ehemaligen Supermarktes: »Willkommen auf Sizilien«, empfing mich die seit Jahren erloschene Schrift, und wir verließen schnell und schweigend den Hafen.

Im Gewirr der Straßen mit Namen aus sizilianischen Meeressagen, Via Cola Pesce und Via Fata Morgana, erwartete uns die Wohnung. Eine hässliche, nachträglich auf einen Altbau aufgestockte Etage, das Plastikkrönchen auf dem Haupt einer Königin. Von der Dekadenz erzählten die Ornamentreste an den Balkonen der darunterliegenden Etagen, ein Löwe mit bröckelnder Mähne, verblichene Adelssymbole, aus den Angeln gerissene grüne Holzläden vor den Fenstern. Dort hatten wir über zwanzig Jahre lang zusammen gelebt, von meiner Geburt bis zu dem Tag, als ich nach Rom gegangen war; Kindheit und Jugend waren damals zurückgeblieben, um über das Haus zu wachen wie die Schwalben, deren Flügelschlag ich trotz der vorgerückten Jahreszeit hörte, während meine Mutter in der Tasche den Haustürschlüssel suchte. Jedes Frühjahr bauten sie ein Nest an der Fassade des Nachbarhauses; als Kind hatte ich immer durch die Vorhänge nach dem Gewirr aus schwarzen Halmen gespäht und morgens auf dem Schulweg unter meinem Balkon etwas Ähnliches gesucht. Mit grausamem Kinderinstinkt ahnte ich, dass der Frühling die Jahreszeit des Todes und der unter Blütenpracht verwesenden Erde war, dennoch wollte ich Teil des Betrugs und seiner Düfte sein und betete, dass eine Schwalbe mein Haus für ihre persönliche Durchreise erwählen würde. Warum rasten sie nicht auch bei uns?, maulte ich, während ich ins Auto stieg, und meine Mutter, mehr mit dem Rückwärtsgang als mit mir beschäftigt, beruhigte mich zerstreut: Umso besser, sie nisten nur, wo Schmutz ist.

Ich sah sie an, und sie fand den Schlüssel.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

»Erinnerst du dich an die Babypuppe?«, sagte ich spontan, und sie lachte.

So nannten wir damals den Nachbarn von gegenüber, der die Nachmittage auf seinem Balkon verbrachte und nicht ahnte, dass die Vögel unter ihm ihr Nest bauten. Er verlebte seine Tage, ohne von den Tieren zu wissen, die unter seinen Füßen zugange waren, ein Mann mit dem runden und stummen Gesicht einer Puppe. So schlossen meine Mutter und ich zu dritt die Haustür auf, zusammen mit der alten Komplizenschaft unserer Spitznamen, einem Wesen, das nur sie und ich sehen konnten.

Beim Eintreten stieg mir sofort der Geruch nach feuchten Wänden in die Nase, gemischt mit dem von Staub. Ich dachte an meinen Mann und klammerte mich an sein Bild: er bei der Arbeit, schon müde vom Tag, ich sollte ihm eine SMS schicken, dass ich gut angekommen war.

Sofort rief die Wohnung mich zurück.

In dem Zimmer, wo ich geschlafen, gespielt und gelernt hatte, war die Zeit stehen geblieben. Boden und Wände waren übersät mit dem Auswurf des Schuppens auf der Terrasse, den meine Mutter vor meiner Ankunft entrümpelt hatte. Ein toter Raum, geflutet von den Wogen der Erinnerung.

»Weder im Büro noch im Wohnzimmer war Platz, da ist alles voll mit Putz«, rechtfertigte sich meine Mutter mit der herrischen Stimme derer, die auf ihrem Recht bestehen.

Und wirklich hatte sich in den anderen Zimmern eine dicke weiße Staubschicht auf Sofapolster, Stühle und Regale gelegt. Während sich in meinem Zimmer das Leben, das wir gemeinsam angehäuft hatten, über Möbel und Boden ergoss. Sie nisten nur, wo Schmutz ist.

Ich musste niesen.

»Du warst schon immer gegen Staub allergisch«, bemerkte meine Mutter.

»Das stimmt nicht, die Allergie kam erst, als ich nicht mehr am Meer lebte.«

Als ich Sizilien verließ, hatte sich zuerst meine Nase verändert, sich nach und nach verschlossen, in feindseliger Verachtung für den raren, beton- und smogverseuchten Sauerstoff der Hauptstadt; dann hatte sich meine Haut verändert durch Autoabgase und das kalkhaltige Wasser aus dem Hahn; und schließlich hatte sich mein Rücken verändert, war unnatürlich rund geworden vom Rein und Raus in die Busse und Bahnen. Die Frau aus Messina war so eine Römerin geworden und das junge Mädchen eine Erwachsene und Ehefrau.

»Als ich noch hier war, bekam ich gut Luft«, beteuerte ich erneut.

Im Blick meiner Mutter glomm eine dumpfe Befriedigung auf. Inzwischen hatte meine Erschöpfung sich in tiefe Müdigkeit verwandelt, daher bat ich meine Mutter, das Abendessen vorzuverlegen, und zog mich danach in mein Zimmer zurück.

Jede meiner Bewegungen wirbelte kleine Staubwolken auf, von den vollgestellten hellen Bücherregalen aus Holz, wenn ich die Buchrücken streifte, von den Kissen und den gerahmten Drucken, über die ich mit dem Finger strich, von der rosafarbenen Überdecke, die ich wegschob, um mich auszustrecken. Die Matratze war zu kurz geworden; um bequem zu liegen, hätte ich meine Füße an den Knöcheln absägen müssen. Bei dieser Vorstellung musste ich lächeln und versuchte, jede Berührung mit Kissen und Laken zu vermeiden. Von den meisten Epochen, die mich hier umgaben, brauchte ich nichts aufzubewahren, doch erinnerte ich mich gut an die Geschichte des Weidenkorbes, in dem meine Eltern mich als Säugling aus dem Krankenhaus nach Hause getragen hatten, und auch an die blaue Wolldecke, die eine Cousine mir zur Geburt geschenkt hatte, eine Cousine, die meine Mutter hasste wegen ihres hirnlosen, untersetzten Verlobten mit kurzen, dicken Beinen, der – so hatte sie oft mit angeekelter Miene erzählt – in einer alten Lederjacke ins Krankenhaus gekommen war, bei deren vulgärem Geruch ihr als Wöchnerin sofort schlecht geworden war. Meine Mutter liebte das Körbchen und hasste die Decke, da sie immer ihre Meinung von den Leuten, die sie angefasst hatten, auf die Gegenstände übertrug. Zwischen dem Korb auf dem Boden und der Decke auf der Kommode sollte ich mir nun meinen Platz für die Nacht suchen.

In den Schubladen lag noch meine Kleidung von früher, ich zog ein T-Shirt hervor und schloss die Augen gegen das aufkommende Gefühl, von den Sachen umzingelt zu sein.

Erstes Nachtstück

Ich erwache mit Milben in der Lunge. Angst oder Asthma, niemals hätte ich einwilligen dürfen, hier zu schlafen, zurückzukehren ist immer ein Fehler. Staub oder Meeresluft, ich kann nicht atmen, habe mich viel zu früh hingelegt.

Ich bin eine erwachsene Frau, eingezwängt in der Finsternis zwischen den Puppen ihrer Kindheit. Andere Familien würden höchstens eine Puppe aufbewahren, in meinem Zuhause entschied man sich, alle zu behalten. Eine von ihnen sitzt in dem Korb, in dem ich als Säugling lag, und klimpert im Dunkeln mit den Lidern.

Die Wohnungen meiner Schulkameraden waren so leicht, dass ich beim Eintreten das Gefühl hatte, sie höben gleich vom Boden ab; ihre Eigentümer waren frei, sie jederzeit zu verlassen, während meine Mutter und ich uns nur mühsam durch unser Zuhause schleppten, wie festgekettet an den Dingen, die wir nicht fortwarfen. Wir bewahrten alles auf, nicht um der Vergangenheit zu gedenken, sondern um die Zukunft gnädig zu stimmen: Was einmal genutzt worden war, konnte erneut brauchbar werden, man musste an die Dinge glauben und durfte sie niemals versehentlich entsorgen. Nicht die Erinnerung war unser Beweggrund, sondern die Hoffnung; jedes Ding spielte seine Rolle und drohte mit Erpressung, und nun starren sie mich alle an.

Die gestreifte Wachsschürze, damals war ich drei, zurückgelegt für die Kinder, die ich nicht bekommen habe. Die Aussteuer, angelaufenes Silberzeug und von weißen Tüchern umwickelte Kronleuchter, für das Eheleben und das neue Haus, das ich in Rom nicht gekauft habe. Die Frauen-Boxhandschuhe für ein paar atemlose Unterrichtsstunden im Fitnessstudio mit Gummiboden, bis ich begriff, dass Selbstverteidigung das Letzte war, was ich dort lernen würde, allerhöchstens würde das Training mich lehren, nicht darunter zu leiden, die Schlechteste zu sein. Und noch Dutzende, Hunderte andere Sachen jeglicher Form und Größe, Puppen, Bücher, buntes Plastikspielzeug, Holzkämme, Kleiderkartons: Ich bewahrte sie auf und ertrug den Willen zur Aufbewahrung, ich hoffte und ertrug den Willen zur Hoffnung.

Mittlerweile ist das Zimmer gesättigt von ungenutzter Hoffnung.

Durch die Fensterläden weht eine Böe herein, der Schirokko hat die trockenen Blätter der von der Hitze verdorrten Aloe auf dem Balkon erfasst. Meine Augen fallen zu, Vorhang auf für die Erinnerungen.

Erstens. Pipi machen zwischen den Pflanzen, als ich einmal abends betrunken vom Strandfeuer mit Freunden zurückkam, weil ich keine Kraft mehr hatte, durch den Flur ins Bad zu gehen.

Zweitens. Im Morgengrauen hörte ich Hufgetrappel auf der Straße, ich dachte an eine vorbeifahrende Kutsche oder einen Pferdewagen, nach dem Aufwachen erzählte ich meiner Mutter davon, sie nickte und glaubte mir nicht. Eines nachts ging ich zum Fenster und entdeckte, dass die Geräusche von illegalen Pferderennen stammten: Die Kriminellen aus dem Nachbarviertel sperrten die Straßen ab und verwandelten sie in einen mafiosen Palio, die Menschen kamen in Scharen und wetteten auf minderjährige Jockeys und kranke Pferde. Mein weiches Viertel, immer in der Zange zwischen den Palazzi der Wohlhabenden und den höhergelegenen Wohngegenden, von Geburt an beschämt aufgrund seiner Namenlosigkeit, wurde abwechselnd von den einen oder den anderen heimgesucht. Ich kneife die Augen fester zusammen, und schon ist es eine böse Mär.

Drittens, der Schreck. Eines Nachts, als ich schon entschieden hatte wegzugehen und bald die Koffer packen würde, trat ich zum Rauchen auf den Balkon. Schritte auf der Straße lenkten meinen Blick nach unten: Ein Junge im Kapuzenpulli, die Hände in den Taschen vergraben, blieb stehen, sah sich um, bückte sich schnell, ließ etwas unter einem Auto verschwinden und rannte davon. Das Viertel war damals fest in der Hand von Kleindealern, die die dunklen Bürgersteige unter den kaputten Straßenlaternen nutzten. Ich zog mich zurück, schloss die Läden, Fenster und Vorhänge aus übertriebener Angst: Hätte dieser junge Mann hochgeschaut und mich auf dem Balkon gesehen, fürchtete ich, hätte er mich mindestens umgebracht, doch ich würde ja weggehen, wiederholte ich mir, weg, weg, weg.

Viertens. Es muss doch noch eine vierte Erinnerung geben, die leichter ist. Aber nein. Die Nacht beschert schmerzende Erinnerungen, Schlaflosigkeit und Verzweiflung. Vielleicht wäre es hilfreich, an Sex zu denken, wenn ich mich nur konzentrieren könnte.

Zusammen mit den Ermahnungen meiner Mutter kehrt der Schlaf zurück. Geh nicht auf den Balkon, er ist einsturzgefährdet, und die Fassade müsste auch mal wieder gestrichen werden. Das ist nicht mehr dein Problem, hatte ich mich von ihrer Zukunft distanziert, du willst ja sowieso verkaufen.

Das weiße Licht der Meerenge

Ich erwachte von der Hitze und den morgendlichen Stimmen, suchte nach Pietros Fuß, schob mein Bein in die Leere; dann fiel mir das Kinderbett ein und dass ich allein war und ihm noch nicht geschrieben hatte. Mein Mann und ich telefonierten nicht gerne auf die Distanz, wir hielten uns an eine Art Pakt, uns in Ruhe zu lassen, sodass unsere Leben getrennt voneinander unterschiedliche Wege nehmen konnten, alle möglichen Wege. »Guten Morgen«, schrieb ich mit schlafmüden Fingern, aus kleinen Augen aufs Display blickend. »Hier alles gut, hoffe, bei Dir auch.« Das fehlende Fragezeichen signalisierte: Du musst mir nicht antworten, ich weiß, dass du da bist.

Zwei Stockwerke unter mir kam mit klapperndem Auspuff ein Mofa zum Stehen, ein Mädchen rief mit hoher Stimme nach jemandem, auf dem Nachbarbalkon wurden in der Sonne mit dumpfen Schlägen Teppiche ausgeklopft. Im Zimmer ließ das Licht den übermäßigen Staub aushärten, die Dinge gewannen wieder an Kontur, die Gedanken sortierten sich. Die Erinnerung an die Schlaflosigkeit ließ mich erschrocken im Bett hochfahren: lieber nicht zaudern, nicht im Bett gefangen bleiben nach dieser ersten, anstrengenden Nacht.

Barfuß ging ich durch den Flur, nur in Unterhose und T-Shirt, in denen ich geschlafen hatte. In der Küche steckte ein karierter Zettel im Schnabel der Espressokanne auf dem kalten Herd, mit der fordernden Handschrift meiner Mutter und dem Ein-Wort-Befehl beschriftet: »Anstellen«. Ich hatte im Vorübergehen einen schnellen Blick in ihr Zimmer geworfen, es war leer, was ich bereits gespürt hatte: Wir waren allein, die Wohnung und ich.

Wenn ich mich allein in einer anderen Wohnung befand, bewegte ich mich immer wie paralysiert, darauf bedacht, zu gehorchen, stets den strengen Blick der abwesenden Bewohner im Nacken. Hatten sie mir aufgetragen, die Schuhe auszuziehen, lief ich auf Strümpfen, fürchteten sie, dass ich etwas kaputt machte, rührte ich die Dinge kaum an, als könnten sie mir tatsächlich vorwerfen, die Regeln zu brechen. Eingedenk dieser Anspannung vermied ich es meistens, bei jemandem zu Gast zu sein, und mietete mich auf Reisen in möglichst anonymen Hotels ein, mit karminroten Steppdecken auf den Betten und Landschaftsaquarellen über dem Kopfende, neutrale, unaufdringliche Zimmer, in die ich meine Alpträume und meine Schlaflosigkeit tragen konnte. Im Alleinsein suchte ich Erleichterung, dabei war ich nie allein, seit ich denken konnte, nie allein, schon gar nicht in dem Haus in Messina. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr bevölkerten dort die Eltern meiner Mutter meine Einsamkeit, die beide vor meiner Geburt gestorben waren; von ihnen hatten wir die Wohnung geerbt, und sie wollten sich lange Zeit nicht damit abfinden zu gehen. Einmal im Jahr tauchten sie auf, am Totensonntag, aber für mein Gefühl wachten sie immer über allem, auch in den intimsten Momenten, wenn ich im Bad war oder mich in geheimen Fantasien verlor.