Die einmalige Kraft einer Frauenfreundschaft.
Im Sommer 1974, zum Sound von Fleetwood Mac und Abba, lernt die Außenseiterin Kate die schöne, aufregende Tully kennen, die alles zu haben scheint, was ihr fehlt. Aus den sehr unterschiedlichen Mädchen werden Freundinnen, die weder Tullys Karrierestreben noch Kates Entscheidung für Kinder und Familie trennen kann. Jahrelang umschiffen Tully und Kate die Klippen jeder engen Freundschaft – Eifersucht, enttäuschte Liebe – und halten zueinander. Bis zu jenem Tag, als ein Verrat ihr Vertrauen auf die Probe stellt …
Ein so kraftvoller wie einfühlsamer Roman über Liebe, Verlust und Zusammenhalt – voller Zeitkolorit und großer Gefühle.
Große Serienverfimung auf Netflix.
Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel »Immer für dich da«.
Über Kristin Hannah
Kristin Hannah, geboren 1960 in Südkalifornien, arbeitete als Anwältin, bevor sie zu schreiben begann. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA und lebt mit ihrem Mann im Pazifischen Nordwesten der USA. Nach zahlreichen Bestsellern war es ihr Roman »Die Nachtigall«, der Millionen von Lesern in über vierzig Ländern begeisterte und zum Welterfolg wurde.
Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.
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Die Mädchen aus der Firefly Lane
Immer für dich da
Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić
Inhaltsübersicht
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1. Kapitel
I. Teil
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
II. Teil
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
III. Teil
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
IV. Teil
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
Dank
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Impressum
Dieser Roman ist uns gewidmet, den Mädchen.
Freundinnen, die einander in schweren Zeiten beistehen,
bei großen und kleinen Problemen, jahrein, jahraus.
Ihr wisst, wer ihr seid.
Ich danke euch.
Ebenso widme ich ihn den Menschen,
die einen so großen Teil meines Lebens ausmachen:
meinem Vater Laurence, meinem Bruder Kent,
meiner Schwester Laura, meinem Mann Benjamin
und meinem Sohn Tucker. Ganz gleich,
wo in der Welt wir uns gerade befinden,
ihr seid stets in meinem Herzen.
Und meiner Mutter,
die mich zu so vielen Romanen inspiriert hat,
zu diesem ganz besonders.
Ein alter Freund ist der beste Spiegel.
George Herbert
(englischer Schriftsteller, 1593–1633)
Früher nannte man sie die Mädchen aus der Firefly Lane. Das war vor langer Zeit – vor über dreißig Jahren –, doch nun, während sie dem Sturm lauschte, der draußen wütete, kam es ihr vor, als wäre es gestern gewesen.
Sie dachte an die vergangene Woche, die schlimmste ihres Lebens. Die Tage hatten ihr längst vergessene Zeiten ins Gedächtnis gerufen, und auch wenn sie nachts träumte, war sie wieder ein Teenager – in den Jahren, als Amerika in Vietnam kämpfte und den Krieg verlor.
Sie dachte an die Abende, als sie mit ihrer besten Freundin durch die Dunkelheit radelte, die so dicht war, dass man sich unsichtbar fühlte. Der Weg spielte keine Rolle, und doch sah sie ihn noch genau vor sich: den gewundenen Streifen Asphalt, gesäumt von schmutzigen Wassergräben und von Hängen, auf denen struppiges Gras wuchs.
Als sie sich noch nicht kannten, schien die Straße ins Nirgendwo zu führen, war einfach die Firefly Lane, nach einem Leuchtkäfer benannt, den man in dieser regenreichen, rauen Ecke der Welt noch nie gesehen hatte.
Alles hatten sie mit den Augen der anderen wahrgenommen. Standen sie oben auf einem Hügel, sahen sie weder die hohen Bäume noch den Pfad mit den verschlammten Kuhlen oder die schneebedeckten Berge in der Ferne. Für sie existierten nur die Orte, zu denen sie eines Tages reisen wollten.
Sie wohnten in benachbarten Häusern. Nachts schlichen sie sich hinaus und trafen sich in der Firefly Lane. Am Ufer des Pilchuk River rauchten sie Zigaretten, die sie zu Hause hatten mitgehen lassen. Wenn sie Billy, Don’t Be a Hero hörten, weinten sie. Sie erzählten einander alles, verflochten ihre Leben so eng miteinander, bis keine mehr wusste, was zu ihr und was zu der anderen gehörte. Für alle, die sie kannten, wurden sie zu Tully-und-Kate.
Über dreißig Jahre lang war ihre Freundschaft für sie wie ein Bollwerk – fest und unverwüstlich. Die Musik war im Lauf der Jahrzehnte eine andere geworden, doch die Versprechen, die sie sich in der Firefly Lane gegeben hatten, galten nach wie vor.
Für immer beste Freundinnen.
Sie glaubten, dieser Schwur würde ewig halten. Und eines Tages, wenn sie alt waren, würden sie auf einer knarrenden Holzveranda in Schaukelstühlen sitzen, über ihr Leben plaudern und lachen.
Inzwischen wusste sie es besser. Seit über einem Jahr redete sie sich ein, sie könne auch ohne beste Freundin auskommen. Kein Problem. Manchmal glaubte sie es sogar.
Doch dann hörte sie die Musik – ihre Musik. Goodbye Yellow Brick Road, Material Girl, Bohemian Rhapsody oder Purple Rain. Am Vortag spielte im Supermarkt eine Version von You’ve Got a Friend – einfach nur Berieselungsmusik – und Kate war am Gemüsestand in Tränen ausgebrochen.
Sie schob die Bettdecke zurück und stand auf, leise, um den schlafenden Mann neben sich nicht zu wecken. Einen Moment lang betrachtete sie ihn im dämmrigen Licht des frühen Morgens. Sogar im Schlaf wirkte er besorgt.
Sie griff nach dem Telefon und verließ das Schlafzimmer, durchquerte den stillen Flur bis zur Terrassentür und schaute hinaus auf die sturmgepeitschten Bäume. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und wählte die vertraute Nummer. Sie wusste nicht, was sie ihrer ehemals besten Freundin nach all den Monaten des Schweigens sagen wollte, wo sie anfangen sollte. Ich habe eine schlimme Woche hinter mir, könnte sie sagen, und Mein Leben gerät aus den Fugen … oder einfach: Ich brauche dich.
Am anderen Ufer der Bucht klingelte das Telefon.
Die siebziger Jahre
Dancing Queen
young and sweet,
only seventeen
Für die meisten Menschen im Land war das Jahr 1970 eine Zeit der Umwälzungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Nur in einem Haus im Magnolia Drive blieb alles beim Alten.
Die zehnjährige Tully saß auf dem kalten Holzfußboden des Wohnzimmers und bastelte ein Blockhaus für ihre Puppen, die auf rosafarbenen Papiertaschentüchern schliefen. In ihrem Zimmer hätte sie ihre Schallplatte mit den Jackson Five hören können, doch im Wohnzimmer gab es nicht einmal ein Radio.
Tullys Großmutter mochte weder Musik noch das Fernsehen oder Brettspiele. Meistens saß sie, wie jetzt auch, in ihrem Schaukelstuhl am Kamin und stickte. Sie hatte bereits zahllose Stickbilder produziert, auf den meisten standen Bibelsprüche. Im Dezember spendete sie alle der Kirchengemeinde, die sie dann auf ihrem Weihnachtsbasar verkaufte.
Tullys Großvater war ebenfalls still, seit seinem Schlaganfall stand er nicht mehr aus dem Bett auf. Nur hin und wieder läutete er eine kleine Glocke, dann wurde Tullys Großmutter hektisch, was sonst nie vorkam – schon beim ersten Klingeln sprang sie auf und eilte mit einem Seufzer zu ihm.
Tully griff nach der Puppe mit dem blonden Haar, ließ sie mit der dunkelhaarigen Puppe tanzen und summte dazu Daydream Believer. Als an der Haustür geklopft wurde, hielt sie überrascht inne.
Mr und Mrs Beattle kamen sonntags, um Tully und ihre Großmutter zur Kirche abzuholen, doch es war nicht Sonntag, und an den anderen Tagen schaute nie jemand vorbei.
Tullys Großmutter schob ihre Stickarbeit in die rosafarbene Plastiktüte an ihrer Seite und schlurfte zur Haustür, um zu öffnen. Zuerst geschah gar nichts. Dann sagte sie: »Ach, du bist es.«
Ihre Stimme hatte sonderbar geklungen. Tully trat auf den Flur hinaus.
Im Rahmen der Haustür stand eine hochgewachsene Frau mit langem, wirrem Haar und einem Lächeln, das seltsam verrutscht wirkte. Trotzdem war sie eine der schönsten Frauen, die Tully jemals gesehen hatte, mit milchweißem Teint, einer schmalen Nase und hohen Wangenknochen. Doch die Lider über den braunen Augen wirkten schwer und schienen sich immer wieder schließen zu wollen.
»Begrüßt man so eine Tochter, die man ewig nicht gesehen hat?« Die Frau ging an Grandma vorbei und beugte sich zu Tully hinab. »Ist das meine kleine Tallulah Rose?«
Hatte die Frau »Tochter« gesagt? Grandmas Tochter? Aber das bedeutete doch, dass sie …
»Mommy?«, flüsterte Tully und wagte es kaum zu glauben. Wie oft hatte sie davon geträumt, ihre Mutter käme zurück, wie lange darauf gewartet.
»Hast du mich vermisst?«
Tully nickte heftig. Um ein Haar hätte sie vor lauter Freude laut gelacht.
Grandma schloss die Tür. »Möchtest du einen Kaffee?«
Tullys Mutter schüttelte den Kopf. »Ich möchte meine Tochter abholen.«
»Wahrscheinlich hast du auch kein Geld mehr«, sagte Grandma müde.
Tullys Mutter schien ärgerlich zu werden. »Und wenn schon.«
»Tully braucht – «, begann Grandma.
»Ich glaube, ich kann selbst beurteilen, was meine Tochter braucht.« Tullys Mutter versuchte, gerade zu stehen, doch das schaffte sie irgendwie nicht. Immer wieder geriet sie ins Wanken, schaute komisch und fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar.
»Ein Kind aufziehen bedeutet Verantwortung, Dorothy«, sagte Grandma. »Warum bleibst du nicht bei uns und lernst Tully – « Sie brach ab und runzelte die Stirn. »Du bist ja betrunken.«
Tullys Mutter lachte und zwinkerte Tully zu.
Tully tat es ihr nach. Betrunken sein war nicht schlimm. Bevor er krank wurde, hatte auch Grandpa getrunken. Sogar Grandma nahm dann und wann ein Glas Wein zu sich.
Tullys Mutter wandte sich wieder zu Grandma. »Ich habe heute Geburtstag, falls du das vergessen hast.«
»Wirklich?«, rief Tully aufgeregt. »Warte!« Mit wild klopfendem Herzen lief sie in ihr Zimmer und suchte in ihrer Kommode nach der Kette, die sie in der Sonntagsschule aus Makkaroni und Glasperlen gebastelt hatte. Bei ihrem Anblick hatte Grandma die Stirn gerunzelt und gesagt, sie solle sich keine Hoffnungen machen. Aber Tully machte sich seit Jahren Hoffnungen, sie konnte und wollte sie auch nicht aufgeben. Als sie die Kette gefunden hatte, rannte sie zurück.
»Ich bin nicht betrunken«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Ich sehe mein Kind nach drei Jahren wieder und bin einfach glücklich.«
»Nach sechs Jahren«, sagte Grandma. »Sie war vier, als du sie das letzte Mal bei uns abgeladen hast.«
»So lange ist das schon her?«, fragte Tullys Mutter und machte einen verwirrten Eindruck.
»Komm wieder nach Hause«, sagte Grandma. »Ich helfe dir.«
»Wie beim letzten Mal? Vielen Dank.«
Beim letzten Mal?, dachte Tully. War ihre Mutter etwa schon einmal da gewesen?
Grandma seufzte. »Willst du mir das dein Leben lang vorhalten?«
»Für manche Dinge gibt es kein Verfallsdatum. Komm, Tallulah.«
Tully zog die Stirn kraus. So hatte sie sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt – ihre Mutter hatte sie weder umarmt noch geküsst oder auch nur gefragt, wie es ihr gehe. Außerdem musste sie noch ihren Koffer packen. Sie deutete auf die Tür zu ihrem Zimmer. »Meine Sachen sind noch – «
»Dieses ganze materielle Zeug brauchst du nicht«, unterbrach sie ihre Mutter.
Tully fragte sich, was »materielles Zeug« war.
Ihre Großmutter umarmte sie, und Tully atmete den tröstlichen Duft nach Puder und Haarspray ein. Grandmas Arme waren die einzigen, die sie jemals gehalten hatten, nur bei ihr hatte sie sich aufgehoben gefühlt. »Grandma«, flüsterte sie beunruhigt. »Was geschieht denn jetzt?«
»Du kommst mit mir mit«, antwortete ihre Mutter und hielt sich am Pfosten der Haustür fest.
Grandma legte ihre Hände auf Tullys Schultern. »Du kennst unsere Adresse und unsere Telefonnummer, Tully. Wenn du Angst bekommst oder etwas schiefläuft, schreibst du mir oder rufst mich an.«
Erschrocken bemerkte Tully, dass ihre Großmutter weinte. Das hatte sie noch nie gesehen. Sie überlegte, ob sie etwas falsch gemacht hatte.
»Tut mir leid, Grandma«, flüsterte sie.
Ihre Mutter kehrte zurück, packte ihre Schultern und schüttelte sie. »Man entschuldigt sich nicht, Tallulah. Schuldgefühle sind erbärmlich. Und jetzt komm.« Sie nahm Tullys Hand und zog sie zur Tür.
Stolpernd folgte Tully ihrer Mutter aus dem Haus und über die Straße zu einem alten VW-Bus. Er war voller Blumenaufkleber in Regenbogenfarben, in der Mitte ein riesengroßes, gelbes Peacezeichen.
Die Tür öffnete sich, schwerer Zigarettenrauch quoll heraus. Im Dunst erkannte Tully drei Personen: Auf dem Fahrersitz war ein dunkelhäutiger Mann mit Afro und rotem Stirnband, auf dem Rücksitz eine blonde Frau in gestreifter Hose, Fransenweste und einem braunen Kopftuch, das sie im Nacken verknotet hatte. Neben ihr saß ein Mann in einer Schlaghose, darüber ein löchriges, schmuddeliges T-Shirt. Im Fußraum lagen leere Bierflaschen, Fast-Food-Verpackungen und Musikkassetten.
»Das ist meine Tochter Tallulah«, sagte Tullys Mutter.
Tully hasste es, Tallulah genannt zu werden. Sie beschloss, ihrer Mutter das zu sagen, sobald sie allein waren.
»Cool.«
»Sie sieht aus wie du. Echt unglaublich.«
»Los, steigt ein«, sagte der Fahrer. »Wir müssen uns beeilen.«
Der Mann im T-Shirt hob Tully in den Bus. Sie rückte auf, um Platz für ihre Mutter zu machen, doch die ließ sich neben der Frau mit dem Kopftuch nieder und schlug die Tür zu. Aus dem Autoradio kam merkwürdiger Gesang. Tully verstand nur ein paar Wörter, und die sagten ihr nichts. Alles in dem Wagen verschwamm im Rauch der Zigaretten.
Tully presste sich an die Seitenwand des Wagens, während ihre Mutter und die anderen über Protestmärsche, Bullenschweine und einen Ort oder Mann namens »Kent State« sprachen. Nichts ergab für Tully einen Sinn, und von dem Zigarettenrauch wurde ihr schwindlig. Als der Mann neben ihr sich eine Pfeife anzündete, konnte Tully einen Seufzer nicht unterdrücken.
Der Mann atmete den Rauch aus und sagte: »Bleib locker, Baby.«
»Wenn ich schon sehe, wie das Kind angezogen ist«, sagte ihre Mutter. »Wie eine Puppe. Ein freier Mensch muss sich schmutzig machen können.«
»Yeah.« Der Pfeifenraucher lehnte sich zurück.
Ihre Mutter sah Tully endlich an, zum ersten Mal richtig. »Kirche, Küche, Kinder ist nicht mehr. Wir sind frei und machen, was wir wollen. Wenn du willst, kannst du sogar Präsidentin der Vereinigten Staaten werden.«
»Ein neuer Präsident wäre nicht schlecht«, sagte der Fahrer.
»Absolut.« Die Frau mit dem Kopftuch nahm dem Mann die Pfeife ab und zog daran.
Verlegen blickte Tully an sich hinunter. Sie hatte gedacht, das Kleid stünde ihr. Und sie wollte nicht Präsidentin der Vereinigten Staaten, sondern Ballerina werden.
Doch vor allem wünschte sie sich, mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Sie griff in ihre Tasche und holte die Kette heraus. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mom. Die Kette hab ich für dich gemacht.« An dieser Kette hatte sie lange gebastelt, sie noch mit Glitzer verziert, als die anderen Kinder der Sonntagsschule schon längst draußen beim Spielen gewesen waren.
Ihre Mutter griff nach der Kette. Tully wartete darauf, dass sie sich bedankte und die Kette umlegte, doch das geschah nicht. Ihre Mutter saß einfach da, wippte im Takt der Musik und unterhielt sich mit ihren Freunden.
Der schwere Pfeifenrauch machte Tully schläfrig. Ihr fielen die Augen zu. Jahrelang hatte sie ihre Mutter vermisst. Nicht nur so wie ein verlorenes Spielzeug oder eine Freundin, die nicht mehr vorbeikam, weil man sich mit ihr gestritten hatte. Ihre Mutter hatte ihr richtig gefehlt. Dieses Gefühl war immer da, als wäre in ihr etwas Leeres, das ihr tagsüber zu schaffen machte und nachts wehtat. Sie hatte sich gesagt, wenn ihre Mutter käme, würde sie sich mustergültig benehmen. Die perfekte Tochter würde sie sein. Und falls sie doch etwas falsch machte, würde sie es wiedergutmachen. Ihre Mutter sollte stolz auf sie sein, das war ihr größter Wunsch.
Und nun wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. In ihren Träumen waren sie nur zu zweit gewesen, und ihre Mutter hatte ihre Hand gehalten.
Sie stiegen einen grünen Hang hinauf. »Da sind wir«, sagte ihre Mutter, als sie das schöne Haus oben auf dem Hang erreichten. »Das ist unser Zuhause.« Sie küsste Tullys Wange und flüsterte: »Ich habe dich schrecklich vermisst. Ich musste gehen, weil …«
»Wach auf, Tallulah!«
Tully schrak hoch. Sie hatte Kopfschmerzen, auch ihr Hals tat weh. »Wo sind wir?«, wollte sie fragen, brachte aber nur ein Krächzen zustande.
Darüber lachten alle und verließen den Wagen. Tully kletterte hinterher.
Draußen waren überall Menschen. Einige sangen, andere schrien aufgeregt durcheinander. Plakate wurden geschwenkt. Auf den einen stand MAKE LOVE, NOT WAR!, auf den anderen RAUS AUS VIETNAM! Noch nie hatte Tully so viele Menschen auf einmal gesehen.
Ihre Mutter fasste ihre Hand und zog sie an sich.
Nach einer Weile verschwammen die Menschen zu einer wogenden Masse, die durch die Straßen zog, sang und Parolen rief. Tully hatte eine Heidenangst, ihre Mutter würde sie loslassen und sie würde mit der Menge fortgespült. Plötzlich waren auch Polizisten da. Sie waren bewaffnet und hielten Schutzschilde vor sich.
Doch die Menschen marschierten nur, und die Polizisten sahen ihnen zu.
Es wurde dunkel. Tully hatte noch immer Kopfschmerzen. Außerdem war sie hungrig und durstig. Doch sie marschierten weiter, folgten einer Straße nach der anderen. Inzwischen schienen es jedoch andere Menschen zu sein. Die Plakate waren verschwunden, stattdessen machten Flaschen die Runde. Die Leute unterhielten sich im Gehen. Hin und wieder bekam Tully einen Gesprächsfetzen mit, den sie nicht verstand.
»Hast du die Bullenschweine gesehen? Konnten nicht draufhauen, weil wir friedlich waren. Trenn dich mal von dem Joint, Dorothy.«
Alle lachten, ihre Mutter am meisten. Tully begriff gar nichts mehr. Immer mehr Menschen drängten sich um sie, tanzten jetzt und sangen. Irgendwo spielte Musik.
Und dann griff Tullys Hand plötzlich ins Leere.
»Mom!«, schrie sie.
Niemand reagierte, niemand wandte sich ihr zu. Sie drängte sich durch die Menge und rief nach ihrer Mutter, bis sie heiser war. Zu guter Letzt kehrte sie zu der Ecke zurück, wo sie ihre Mutter zuletzt gesehen hatte, und wartete.
Sie kommt wieder.
Tränen brannten in ihren Augen und quollen über. Sie setzte sich, wartete und versuchte, tapfer zu sein.
Doch ihre Mutter kam nicht.
In den Jahren danach versuchte Tully sich zu erinnern, was als Nächstes geschehen war und was sie getan hatte. Aber die vielen Menschen, die sie den ganzen Abend über gesehen hatte, waren wie eine Wolke, die sich über ihr Gedächtnis geschoben hatte. Sie wusste nur noch, dass sie irgendwann in einer menschenleeren Straße in einem schmutzigen Hauseingang aufgewacht war.
Vor ihr war ein berittener Polizist, der sie stirnrunzelnd betrachtete und fragte: »Bist du allein, Kleine?«
»Ja«, war alles, was Tully antworten konnte, ohne in Tränen auszubrechen.
Der Polizist brachte sie zu ihren Großeltern zurück. Ihre Großmutter schloss sie in die Arme, küsste ihre Wange und sagte, es sei nicht ihre Schuld.
Aber Tully wusste es besser. Irgendetwas hatte sie falsch gemacht. Wenn ihre Mutter das nächste Mal käme, würde sie es richtig machen, ihr versprechen, dass sie Präsidentin der Vereinigten Staaten werden und sich nie mehr entschuldigen wolle.
* * *
Tully besorgte sich eine Liste der bisherigen Präsidenten und lernte sie der Reihe nach auswendig. Monatelang erzählte sie jedem, dass sie eines Tages die erste Präsidentin des Landes sein würde – egal ob die Person es hören wollte oder nicht. Ihren Ballettunterricht gab sie auf.
An ihrem nächsten Geburtstag backte ihre Großmutter einen Kuchen und steckte elf Kerzen hinein. Mit der dünnen Stimme einer alten Frau sang sie Happy Birthday. Immer wieder spitzte Tully die Ohren und wartete darauf, dass es an der Haustür klopfte. Aber niemand kam, und es rief auch niemand an. Sie packte ihre Geschenke aus, bedankte sich und versuchte, fröhlich zu wirken. Eines ihrer Geschenke war ein Tagebuch, so etwas bekam sie eigentlich immer von ihrer Großmutter – Dinge, mit denen man sich allein beschäftigen konnte, ohne viel Lärm zu machen.
»Sie hat nicht mal angerufen«, sagte Tully schließlich.
Ihre Großmutter seufzte. »Deine Mutter hat viele Probleme. Sie ist schwach und verwirrt. Du musst aufhören, sie dir schönzureden, Tully. Die Hauptsache ist, dass du nicht wie sie bist. Du bist stark.«
Wie oft Tully das schon gehört hatte.
Ihre Großmutter setzte sich auf das Sofa mit dem abgewetzten, geblümten Bezug und zog Tully auf ihren Schoß.
Tully schmiegte sich an sie und legte den Kopf an ihre weiche Brust.
»Ich wünschte, deine Mutter hätte sich für ein anderes Leben entschieden, aber ich fürchte, sie wird sich nicht mehr ändern. Meine Tochter ist eine verlorene Seele.«
»Bin ich ihr deshalb egal?«
Tully blickte in die grauen Augen ihrer Großmutter, die von ihren Brillengläsern noch zusätzlich vergrößert wurden.
»Auf ihre Weise hat deine Mutter dich lieb, Tully. Deshalb kommt sie auch immer wieder hierher.«
»Liebhaben fühlt sich anders an.«
»Ich weiß.«
»Ich glaube, sie kann mich nicht einmal richtig leiden.«
»Mich kann sie nicht leiden. Vor einigen Jahren ist etwas vorgefallen, und ich habe nicht so reagiert, wie sie … Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.« Grandma drückte Tully an sich. »Eines Tages wird es ihr leidtun, dass sie so viele Jahre mit dir versäumt hat.«
»Dann könnte ich ihr mein Tagebuch zeigen.«
Jetzt schaute Grandma sie plötzlich nicht mehr direkt an. »Das wäre schön.« Sie schob Tully von ihrem Schoß hinunter und stand auf. »Ich muss nach deinem Großvater sehen. Er fühlt sich nicht gut.«
Tully nahm das Tagebuch und stellte sich vor, wie sie es ihrer Mutter eines Tages präsentieren würde. Sie überlegte, was sie einheften sollte, denn es gab nur wenige Fotos von ihr selbst, die meisten hatten die Mütter ihrer Freundinnen bei Geburtstagsfeiern und Ausflügen aufgenommen. Tullys Großmutter sah nicht mehr gut genug, um fotografieren zu können. Auch von ihrer Mutter hatte sie nur ein einziges Foto.
Tully holte einen Stift, schlug die erste Seite des Buches auf und notierte oben das Datum. Darunter schrieb sie: Liebe Mom, heute bin ich elf Jahre alt geworden …
Danach begann sie, kleine Dinge aus ihrem Leben aufzuheben und einzukleben: Schulfotos, Fotos von Sportfesten, eingerissene Kinokarten. Wenn sie etwas Schönes erlebt hatte, schrieb sie es in Form eines kleinen Aufsatzes hinein und klebte Beweismaterial dazu. Irgendwann begann sie, das Erlebte auszuschmücken und sich selbst ein wenig besser darzustellen, als sie war. Es waren keine Lügen, nur leichte Übertreibungen, die dazu dienten, ihre Mutter eines Tages stolz auf sie zu machen. Ein Buch nach dem anderen füllte sie und bekam zu jeder Gelegenheit ein neues geschenkt.
Erst als sie vierzehn Jahre alt war, verlor sie allmählich die Lust an der Sache, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Vielleicht lag es an der Pubertät, daran, dass ihr Körper sich langsam zu dem einer Frau entwickelte. Oder sie war es einfach leid, ihr Leben in einem Buch festzuhalten, für das sich kein Mensch interessierte. Sie räumte alle in einen Karton, verstaute ihn ganz hinten in ihrem Kleiderschrank und bat ihre Großmutter, ihr keine neuen mehr zu schenken.
»Bist du sicher?«
Tully nickte. Sie versuchte, nicht mehr an ihre Mutter zu denken und redete sich ein, sie wäre ihr gleichgültig geworden. In der Schule erzählte sie, ihre Mutter sei gestorben, bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen.
Diese Lüge hatte etwas Befreiendes. Tully hörte auf, sich von ihrem Taschengeld Sachen in der Kinderabteilung zu kaufen. Stattdessen besorgte sie sich knappe T-Shirts, die ihre Brüste betonten, und Hüfthosen mit Schlag, die ihren runden Hintern zur Geltung brachten. Die T-Shirts durfte ihre Großmutter nicht sehen, Tully zog etwas anderes darüber, wenn sie das Haus verließ.
Seit sie sich auf diese Weise kleidete und sich entsprechend verhielt, waren die Mädchen und Jungen der angesagten Cliquen in ihrer Schule plötzlich bereit, sie aufzunehmen. Freitag- und samstagabends erzählte sie zu Hause, sie übernachte bei einer der Freundinnen, die Grandma akzeptierte, aber ging stattdessen auf die Rollschuhbahn. Dort fragte niemand nach ihrer Mutter, und keiner sah sie mitleidig an. Sie lernte Zigaretten zu rauchen, ohne zu husten, und dass man Kaugummi kauen musste, damit der Atem nicht nach ihnen roch.
Als Tully in die achte Klasse kam, gehörte sie zu den beliebtesten Mädchen der Schule und hatte jede Menge Freundinnen und Freunde. An die Mutter, die sie nicht wollte, dachte sie kaum noch.
Nur hin und wieder fühlte sie sich – nicht einsam, sondern vielleicht eher ohne feste Bindung. Ihre Freunde und Freundinnen kamen ihr bloß wie Platzhalter vor.
Als sie eines Nachmittags mit dem Schulbus nach Hause fuhr, lauschte sie den Gesprächen der anderen ringsum. Alle redeten über ihre Familie, nur sie hatte nichts beizutragen. Sie besaß keinen kleinen Bruder, der nervte, hatte keinen Hausarrest, weil sie ihren Eltern Widerworte gegeben hatte, würde am Nachmittag nicht mit ihrer Mutter einkaufen gehen. Als sie aussteigen musste, verabschiedete sie sich ausführlich von ihren Freundinnen, riss Witze und winkte ihnen nach. Aber nichts davon kam von Herzen. So erging es ihr in letzter Zeit oft.
Die restliche Strecke von der Bushaltestelle zum Haus ihrer Großeltern musste sie zu Fuß zurücklegen. Als sie in ihre Straße einbog, sah sie den VW-Bus.
Er war verbeulter als vor ein paar Jahren, doch noch immer voller Blumenaufkleber in Regenbogenfarben.
Als Kate Mularkeys Wecker klingelte, war es noch dunkel. Sie stöhnte, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie wollte nicht in die Schule gehen. Schon wenn sie daran dachte, wurde ihr übel.
Die achte Klasse hatte sich als Katastrophe entpuppt. Eigentlich war das ganze Jahr 1974 bisher fürchterlich gelaufen, und sie war einsam wie noch nie. Glücklicherweise begannen bald die großen Ferien. Aber wahrscheinlich würden auch die nicht besser werden.
Früher hatte sie Joannie gehabt, ihre beste Freundin, mit der sie zusammen geritten, Fahrrad gefahren und in der Jugendgruppe gewesen war. Doch als sie älter wurden, hatte das aufgehört. Joannie veränderte sich, kiffte, bevor die Schule begann, schwänzte Unterrichtsstunden, ließ keine Party aus. Kate machte nicht mit und wurde abserviert. Neue Freundinnen fand sie nicht, Joannies schlechter Ruf hatte auf sie abgefärbt. Nun hatte sie nur noch ihre Bücher. Der Herr der Ringe hatte sie mittlerweile so oft gelesen, dass sie ganze Absätze auswendig konnte.
Aber Freunde gewann man dadurch nicht.
Seufzend stieg sie aus dem Bett. In der Kammer unter dem Dach, die vor Kurzem zu einem winzigen Bad ausgebaut worden war, duschte sie, flocht ihr glattes blondes Haar zu einem Nackenzopf und setzte ihre Brille auf. Kein Mensch trug mehr eine eckige Hornbrille – runde, randlose Brillen waren jetzt modern –, aber ihr Vater hatte kein Geld, um ihr eine neue zu kaufen.
Unten im Haus krempelte Kate ihre Hosenbeine hoch und schlüpfte in die schwarzen Gummistiefel, die auf der Veranda bereitstanden. Sie waren ihr zu groß, schwerfällig bewegte sie sich über den verschlammten Hof. Sweetpea, ihre alte Quarter-Horse-Stute, hinkte zu ihr an den Zaun und wieherte.
»Hallo, Süße.« Kate warf eine Portion Heu hinter den Zaun und kraulte das samtige Ohr.
»Ja, ich vermisse dich auch«, flüsterte sie. Sie waren einmal unzertrennlich gewesen, hatten viele Sommer zusammen verbracht und auf kleinen Turnieren Preise gewonnen. Aber es gab Dinge im Leben, die änderten sich von heute auf morgen, Kate konnte ein Lied davon singen. Freundinnen wurden zu Fremden und Pferde wurden alt.
»Bis später«, verabschiedete sie sich und kehrte schweren Herzens zum Haus zurück.
In der Küche stand ihre Mutter am Herd, in einem ausgeblichenen, geblümten Kittelkleid und rosafarbenen Flauschpantoffeln. Sie rauchte, während sie Teig in eine Pfanne gab. Das brünette, schulterlange Haar hatte sie mit rotem Gummiband zu zwei dünnen Rattenschwänzen gebunden. »Deck den Tisch«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Dann rief sie »Sean, komm jetzt runter!« Sean war Kates achtjähriger Bruder.
Kate deckte den Tisch. Ihre Mutter füllte zwei Gläser mit Milch.
»Sean, Frühstück!«, rief sie noch einmal.
Sean kam die Treppe heruntergepoltert, stolperte über den Labrador-Welpen, den sie seit Kurzem hatten, und lachte albern.
Kate ging ins Wohnzimmer und warf einen Blick nach draußen. Auf der Straße unten fuhr ein Umzugswagen vor, am Haus gegenüber hielt er an.
Kate trat noch näher ans Fenster. Seit sie denken konnte, hatte das Haus auf der anderen Straßenseite leer gestanden.
Ihre Mutter kam ihr nach, Kate hörte ihre Schritte auf dem Linoleum in der Küche, dann auf dem Teppichboden des Wohnzimmers.
»Da drüben zieht jemand ein«, sagte Kate.
»Wirklich?«
Nein, Mom, hab ich mir gerade ausgedacht.
»Vielleicht haben sie eine Tochter in deinem Alter. Dann hättest du wieder eine Freundin.«
Kate verdrehte die Augen. Nur Mütter konnten auf die Idee kommen, Freundinnen seien an jeder Ecke zu finden. Sie kehrte in die Küche zurück und frühstückte unter einem Bild, das Jesus zeigte, die Hand zum Segenszeichen erhoben.
Ihre Mutter kam zurück und blieb unter dem Wandteppich stehen, auf dem Das Letzte Abendmahl abgebildet war.
»Ist was?«, fragte Kate gereizt.
Ihre Mutter seufzte. »Warum bist du immer so bissig?«
»Ich? Du fängst doch immer Streit an.«
Kates Mutter zog die Brauen hoch. »Weil ich dich gebeten habe, den Tisch zu decken, und dir zum Wohnzimmerfenster gefolgt bin?«
»Das hast du gesagt.«
»Ich kann es übrigens gut nachvollziehen, warum du so bist.«
»Ach ja?«
»Du findest keine neuen Freunde. Vielleicht solltest du – «
Kate stand auf. Die Rede, sie solle sich mehr Mühe geben, hatte sie schon bis zum Erbrechen gehört. Sie lief die Treppe nach oben.
Gott sei Dank folgte ihre Mutter ihr diesmal nicht, sondern rief: »Sean, beeil dich. In zehn Minuten fährt die Familienkutsche ab.«
Sean lachte. Kate verdrehte die Augen und fragte sich, wie lange ihr Bruder diesen blöden Witz noch lustig finden würde.
Sie blieb in ihrem Zimmer, bis sie den alten Ford-Kombi anspringen hörte. Sie selbst ließ sich nicht mehr zur Schule fahren, jedenfalls nicht von ihrer Mutter, die einem »Auf Wiedersehen« nachrief und winkte, als würde sie dafür bezahlt. So etwas war peinlich.
Kate ging wieder nach unten, wusch das Frühstücksgeschirr ab, packte ihre Schulsachen zusammen und verließ das Haus.
Draußen schien die Sonne, doch in der Nacht hatte es so stark geregnet, dass Wasser in den Schlaglöchern der Einfahrt stand und die alten Leute von Snohomish wahrscheinlich schon von Überflutungsgefahr sprachen. Der Matsch saugte an ihren Schuhen. Um ihre regenbogenfarbenen Socken zu schützen, blickte sie nach unten und umrundete die Pfützen mit vorsichtigen Schritten. Erst am Ende der Auffahrt registrierte sie das Mädchen auf der anderen Straßenseite.
Das lange, kastanienrote Haar war gewellt und rahmte ein blasses Gesicht mit Schmollmund ein. Sie sah phantastisch aus, war hochgewachsen und schlank, auch ihre Klamotten waren einfach perfekt – Hüftjeans mit Batikeinsätzen im Schlag, Plateauschuhe, eine rosafarbene Bluse mit Trompetenärmeln, die kurz genug war, um einen Streifen Bauch zu zeigen.
Kate drückte ihre Schulbücher an sich und wünschte, sie hätte sich nicht eben noch die Pickel ausgedrückt und überall auf ihrem Gesicht rote Flecken hinterlassen. Und warum hatte sie diese billige, unmoderne Jeans angezogen? »Hi«, rief sie, »der Schulbus hält hier auf meiner Seite.«
Schokoladenbraune Augen, dick umrandet mit Kajal, darüber metallicblauer Lidschatten, blickten sie ausdruckslos an.
Dann kam der Bus, hielt zischend und schnaufend an. Ein Junge, in den Kate mal verknallt gewesen war, steckte den Kopf aus dem Fenster und brüllte: »Hey, Pickelgesicht, steig ein.«
Mit gesenktem Kopf ließ Kate sich auf ihrem Platz ganz vorn nieder. Dort saß nie jemand außer ihr. Sie wartete darauf, dass das Mädchen an ihr vorbeiging, doch das geschah nicht. Die Tür schloss sich, der Bus setzte sich wieder in Bewegung.
Kate warf einen Blick auf die Straße.
Das Mädchen von gegenüber war verschwunden.
* * *
Schon jetzt passte Tully hier nicht her. An ihrem ersten Tag in der neuen Schule nahm sie sich morgens über zwei Stunden Zeit, um die richtige Kleidung zu finden und sich zu schminken. Trotzdem fühlte sich alles falsch an.
Als der Schulbus auf der anderen Straßenseite hielt, entschied sie sich von einem Moment zum anderen, in diesem Provinznest namens Snohomish nicht zur Schule zu gehen. Nur ungefähr eine halbe Stunde brauchte man mit dem Auto von hier nach Seattle, doch Snohomish schien trotzdem Lichtjahre von dieser Stadt entfernt zu sein.
Nein.
Kommt nicht in Frage.
Tully machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück. Sie stieß die Haustür so wütend auf, dass diese gegen die Wand knallte.
Mit dramatischen Gesten konnte man einen Standpunkt gut unterstreichen, das hatte sie inzwischen gelernt.
»Du bist doch verrückt!«, rief sie ins Wohnzimmer, doch da waren nur die Umzugsmänner.
»Is’ was?«, fragte einer.
Tully lief an ihnen vorbei, stieß sich an einem Schrank, fluchte und war so voller Wut, dass sie nicht wusste, wohin damit.
Und alles war die Schuld ihrer sogenannten Mutter, der Frau, die sie zigmal im Stich gelassen hatte.
Sie saß im Schlafzimmer auf dem Fußboden und schnitt Bilder aus der Cosmopolitan aus. Ihre lange, wirre Mähne hatte sie mit einem perlenbestickten Lederband, das seit hundert Jahren aus der Mode war, aus dem Gesicht gebunden. Ohne aufzublicken blätterte sie um und betrachtete ein Aktfoto von Burt Reynolds.
»Mit den Hinterwäldlern hier gehe ich nicht in die Schule«, erklärte Tully.
Ihre Mutter blätterte weiter, schnitt einen Blumenstrauß aus. »Ist gut.«
Tully hätte schreien können. »Wieso ist das gut? Ich bin erst vierzehn.«
»Meine Aufgabe ist es nicht, dir Befehle zu erteilen, sondern dich bei dem, was du dir wünschst, zu lieben und zu unterstützen.«
Tully schloss die Augen und zählte stumm bis zehn. »Ich kenne hier niemanden.«
»Dann lern jemanden kennen. Meine Mutter hat gesagt, in deiner alten Schule warst du sehr beliebt.«
»Ich will hier weg, Mom.«
»Bitte nenn mich Cloud.«
»Auf keinen Fall.«
Tullys Mutter sah auf. »Gut, dann nenne ich dich Tallulah.«
»Diese Gegend passt nicht zu mir.«
»Du bist ein Kind des Himmels und der Erde, dein Zuhause ist überall. In der Bhagavad Gita steht, dass – «
»Das ist mir sowas von egal!« Tully wandte sich ab. Auf diese drogengeschwängerten Sinnsprüche konnte sie verzichten. Auf dem Weg aus dem Haus ließ sie die Zigarettenpackung aus der Handtasche ihrer Mutter mitgehen.
* * *
Die ganze nächste Woche beobachtete Kate das neue Mädchen von fern.
Tully Hart wirkte rebellisch. Mit ihrer schrillen Garderobe hob sie sich von den anderen an der Schule ab. Nie musste sie zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein, überhaupt schienen für sie keine Regeln zu gelten. Und wenn ein Lehrer sie beim Rauchen erwischte, zuckte sie bloß mit den Schultern. Jeder in der Schule redete voller Ehrfurcht über sie. Die meisten hier waren auf den Milchfarmen der Umgebung oder in einfachen Arbeiterfamilien aufgewachsen und kannten nichts anderes als Snohomish. Für diese Jugendlichen war Tully exotisch, und jeder wollte mit ihr befreundet sein.
Kate fühlte sich auch davon ausgeschlossen und litt noch stärker als zuvor. Morgens wartete sie nun zusammen mit Tully auf den Schulbus, spürte, dass sie Welten trennten, und wünschte, sie wüsste, wie sie ihr Schweigen durchbrechen konnte. Sie wäre bereits glücklich gewesen, wenn Tully sie überhaupt wahrgenommen hätte, doch das würde sie wahrscheinlich nie tun.
»… bitte mach es vor den Fernsehnachrichten und solange er noch warm ist. Kate, hörst du mir überhaupt zu? Kate!«
Kate fuhr hoch. Sie musste beim Lernen eingenickt sein. Benommen starrte sie in ihr Schulbuch und schob ihre Brille nach oben. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe einen Nudelauflauf gemacht. Für unsere neuen Nachbarn. Den sollst du ihnen bringen.«
»Aber …« Kate suchte nach einer Ausrede. »Sie sind doch schon vor einer Woche eingezogen.«
»Dann sind wir eben zu spät. Ich hatte auch noch was anderes zu tun.«
»Ich muss Hausaufgaben machen. Kann nicht Sean das machen?«
»Sean wird sich dort wahrscheinlich mit niemandem anfreunden.«
»Ich auch nicht.«
Ihre Mutter setzte sich zu ihr. Das Haar, das sie am Morgen mit dem Lockenstab bearbeitet hatte, hing schlaff herunter, ihr Lidschatten und das Rouge auf ihren Wangen waren verblasst, ihr Gesicht wirkte müde. Die bunte Häkelweste, die sie im vergangenen Jahr zu Weihnachten bekommen hatte, war falsch geknöpft. »Kann ich mal etwas sagen, ohne dass du gleich in die Luft gehst?«
»Weiß nicht.«
»Das mit dir und Joannie tut mir wirklich leid.«
»Ist doch egal.«
»Natürlich ist es das nicht. Ihre neuen Freundinnen scheinen auch kein guter Umgang zu sein.«
Auch das war ihr egal, dachte Kate trotzig, doch zu ihrem Entsetzen spürte sie, dass ihre Augen zu brennen begannen. Sie erinnerte sich, wie sie mit Joannie jedes Jahr auf der Kirmes Achterbahn gefahren war. Wie sie zusammen geritten waren und sich kichernd ausgemalt hatten, wie viel Spaß sie in der Oberstufe gemeinsam haben würden. Doch sie zuckte nur mit den Schultern.
»Das Leben ist nicht immer einfach«, sagte ihre Mutter. »Erst recht nicht, wenn man vierzehn ist.«
Kate verdrehte die Augen. Was wusste ihre Mutter schon vom Leben eines Teenagers. »Was für eine Scheiße du redest.«
»Das habe ich nicht gehört, Kate. Und das werde ich auch nicht mehr hören, ist das klar?«
Kate wünschte, sie wäre wie Tully. Die hätte jetzt nicht klein beigegeben, sondern sich wahrscheinlich nur eine Zigarette angesteckt und ihre Mutter frech angeschaut.
Kates Mutter zog seufzend eine Packung Zigaretten aus ihrer Rocktasche. Sie zündete sich eine an und beobachtete Kate aufmerksam. »Du bist mein Kind, und ich möchte dir nicht wehtun, aber manchmal frage ich mich, worauf du wartest?«
»Was soll das heißen?«
»Immer versteckst du dich hinter deinen Schularbeiten oder deinen Büchern. Wie soll dich da jemand kennenlernen?«
»Mich will doch niemand kennenlernen.«
Mom streichelte ihre Hand. »Überall verbrennen Frauen ihre Büstenhalter und demonstrieren für ihre Befreiung von der Männerherrschaft. Sie sitzen nicht herum und warten darauf, das was passiert.«
»Und wenn ich das auch mache, finde ich eine Freundin?«
»Deine Generation hat Glück. Ihr könnt werden, was auch immer ihr wollt. Doch dafür musst du manchmal etwas wagen. Wenn nicht, wird es dir später leidtun.«
Kate taxierte ihre Mutter. Hatte sie gerade wirklich wehmütig geklungen? Aber was wusste sie schon von den Kämpfen und Beliebtheitswettbewerben in der Schule! Sie war schon seit ewigen Zeiten nicht mehr jung.
Ihre Mutter lächelte und tätschelte ihre Hand. »Eines Tages wirst du erkennen, dass ich recht habe. Wenn du Pech hast, geschieht es an dem Tag, an dem du händeringend einen Babysitter suchst.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Ihre Mutter lachte, als hatte sie einen Witz gemacht, den Kate nicht verstanden hatte. »Geh und schau, wie dir das Mädchen von gegenüber gefällt.«
Sonst noch was?
»Und benutz die Ofenhandschuhe, die Auflaufform ist noch heiß.«
Danke Mom, damit sehe ich bestimmt klasse aus.
Mürrisch betrachtete Kate den Auflauf. Dann deckte sie ihn mit Alufolie ab und streifte die blauen, gesteppten Ofenhandschuhe über, die Tante Georgia genäht hatte. Schließlich stapfte sie unwillig die vom Regen aufgeweichte Einfahrt hinunter.
Das Haus gegenüber war einstöckig und in L-Form gebaut, der Straße abgewandt. Auf dem Schindeldach wuchs Moos, der früher mal helle Putz war jetzt schmutzig und bröckelte, der Rinnstein war voller Laub. Rhododendronbüsche und wildwuchernder Wacholder verdeckten einen Großteil der Fenster und wirkten wie eine Barriere.
An der Eingangstür holte Kate tief Luft.
Dann balancierte sie die Auflaufform auf einer Hand, streifte den Handschuh von der anderen und klopfte.
Bitte lass niemanden zu Hause sein.
Doch fast sofort waren drinnen Schritte zu hören.
Die Tür wurde von einer hochgewachsenen Frau geöffnet, die einen bunten Kaftan, ein indianisches Stirnband und zwei unterschiedliche Ohrringe trug. Ihr Blick wirkte desorientiert, als bräuchte sie eine Brille, doch sie hatte etwas Zartes und zugleich Sprödes, das Kate gefiel.
»Hallo«, sagte die Frau.
Im Hintergrund spielte eine eigenartige, pulsierende Musik. Kate erkannte auch eine Lavalampe, die abwechselnd rote und grüne Schlieren zog.
»Hallo«, sagte sie. »Ich wohne gegenüber. Meine Mutter hat für Sie einen Nudelauflauf gemacht.«
»Immer hereinspaziert.« Die Frau trat zurück.
Plötzlich tauchte Tully auf, schön und selbstbewusst wie ein Filmstar, trug ein leuchtend blaues Minikleid und weiße Stiefel, die bis über die Knie reichten. Ohne ein Wort fasste sie Kates Arm und zog sie durch das Wohnzimmer in die Küche. Dort war alles rosafarben – Wände, Möbel, Vorhänge. Für einen Moment wirkte Tully verlegen.
»War das deine Mutter?«, fragte Kate.
»Ja. Sie hat Krebs.«
Kate wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Das tut mir leid«, brachte sie schließlich hervor. Tully schwieg. Kate starrte auf die Schokoriegel, den eingeschweißten Fertigkuchen, die Tüten Kartoffelchips, die auf dem Tisch lagen. Selten hatte sie so viel Junk-Food in einem Privathaushalt gesehen. »Ich wünschte, das dürfte ich auch essen«, sagte sie und bereute es sofort, denn sie hatte sich wie ein kleines Kind angehört. Tullys Miene blieb unbewegt.
»Der Auflauf ist noch warm.« Kate stellte die Form auf den Tisch und schaute betreten auf die Ofenhandschuhe.
Tully lehnte sich gegen eine rosafarbene Wand, zündete sich eine Zigarette an und musterte Kate.
Kate warf einen Blick in Richtung Wohnzimmer, wo sie Tullys Mutter vermutete. »Darfst du schon rauchen?«
»Meine Mutter ist zu krank, um sich dafür zu interessieren.«
»Ach so.«
»Möchtest du mal ziehen?«
»Nein, danke.«
»Dachte ich mir schon.«
Kate hob den Blick. An der Wand hing eine Uhr in Katzenform. Bei jedem Ticken bewegte sich ihr Schwanz hin und her.
»Du musst wahrscheinlich nach Hause«, sagte Tully. »Mit der Familie Abendbrot essen und so.«
Kate nickte und fühlte sich immer idiotischer.
Tully begleitete sie durch das Wohnzimmer, wo ihre Mutter auf dem Sofa lag, und sagte: »Tschüs, Mädchen von gegenüber.«
Sie öffnete die Haustür. Man sah ein Stück Himmel mit so leuchtend violetten Streifen, dass sie unnatürlich wirkten. »Danke für das Essen«, sagte Tully. »Ich kann nicht kochen, und Cloud schafft es auch nicht.«
»Wer ist Cloud?«, fragte Kate.
»Meine Mutter. Zurzeit möchte sie Cloud genannt werden.«
Wieder wusste Kate nicht, was sie sagen sollte.
»Ich wünschte, ich könnte kochen«, sprach Tully weiter. »Oder dass jemand für uns kocht. Meine Mutter ist zu krank.«
Sag, dass du es ihr beibringen kannst.
Trau dich einfach.
Kate schaffte es nicht, denn die Angst, von Tully zurückgewiesen zu werden, war zu groß. »Ich muss los«, sagte sie.
»Man sieht sich«, antwortete Tully.
Kate trat hinaus in den Abend.
»Wie heißt du eigentlich?«, rief Tully ihr nach.
Kate drehte sich um. »Kate. Kate Mularkey.«
Tully lachte. »Komischer Name.«
Kate seufzte und wandte sich ab.
»Entschuldige, ich wollte nicht lachen«, sagte Tully noch immer lachend.
Kate zuckte nur die Achseln.
»Dumme Kuh!«, rief Tully.
Kate lief weiter.
Tully sah, wie Kate das Haus umrundete und verschwand.
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, murmelte sie und hörte, wie klein ihre Stimme unter dem weiten Sternenhimmel klang.
Warum hatte sie plötzlich das Bedürfnis gehabt, sich über Kate lustig zu machen? Mit einem Seufzer schloss sie die Tür. Der Marihuana-Geruch im Wohnzimmer hatte sich verstärkt. Ihre Mutter lag noch immer auf dem Sofa – sie war eingeschlafen, und ihr Mund stand offen, in den Mundwinkeln klebte Speichel.
Kate hat gesehen, was hier los ist, dachte Tully voller Scham. Wahrscheinlich würde sie es schon am Montag in der Schule herumerzählen. Und alle würden wissen, dass ihre Mutter eine Kifferin war.
Deshalb lud sie nie jemanden zu sich ein. Manche Geheimnisse durfte nie jemand erfahren.
Wie viel sie für eine Mutter gegeben hätte, die für Nachbarn etwas zu essen machte. Vielleicht hatte sie sich deshalb über Kates Namen lustig gemacht, sie war einfach neidisch gewesen. Wütend knallte sie die Wohnzimmertür zu.
Ihre Mutter holte röchelnd Luft und rappelte sich hoch. »Was ist?«
»Essen ist fertig.«
Ihre Mutter strich sich den Wust ihrer Haare aus dem Gesicht und versuchte, sich auf die Wanduhr zu konzentrieren. »Wieso das denn, es ist erst fünf Uhr!«
Tully wunderte sich, dass ihre Mutter noch die Uhr lesen konnte. Sie ging in die Küche, häufte Nudelauflauf auf zwei Teller, suchte Besteck heraus und trug alles ins Wohnzimmer. »Hier.« Sie reichte ihrer Mutter eine Portion.
»Woher kommt das Essen?«, fragte sie. »Hast du gekocht?«
»Quatsch. Das Nachbarmädchen hat es uns gebracht.«
Ihre Mutter sah sich verwirrt um. »Haben wir Nachbarn?«