Über Roxanne Veletzos

Roxanne Veletzos wurde in Bukarest geboren und zog mit ihrer Familie nach Kalifornien, als sie ein Teenager war. Sie begann schon früh mit dem Schreiben. Nach ihrem Studium des Journalismus arbeitete sie als Lektorin, Autorin und Marketingmanagerin für verschiedene Firmen. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in San Francisco.

Corinna Rodewald studierte Literaturübersetzen und lebt in Berlin. Sie übertrug unter anderem Beth Harbison, Virginie Carton und Philippe Georget ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Das Mädchen, das von Freiheit träumte.

Bukarest, 1941: Ein kleines Mädchen wird auf den Stufen eines Hauses gefunden, nur mit einem Brief, in dem seine jüdischen Eltern darum bitten, man möge ihr Kind retten. Natalia wird adoptiert und freundet sich mit Victor an. Die Zeit der sowjetischen Besatzung beginnt, und Natalia verfolgt trotz aller Schikanen ihren Traum, Pianistin zu werden. Als sie Jahre später Victor wiederbegegnet, scheint er zu den neuen Machthabern zu gehören. Dennoch verlieben die beiden sich ineinander. Dann erhält Natalia unerwartet die Chance, aus Bukarest zu fliehen – doch um welchen Preis?

»Diese eindringliche Geschichte erinnert an Markus Zusaks ›Die Bücherdiebin‹ und wird viele Leser berühren.« Library Journal

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Roxanne Veletzos

Im Licht der Freiheit

Roman

Aus dem Amerikanischen von Corinna Rodewald

Inhaltsübersicht

Über Roxanne Veletzos

Informationen zum Buch

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Vorwort

Erster Teil: Anton und Despina

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Zweiter Teil: Natalia

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Dritter Teil: Victor

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Anmerkung der Autorin

Bildteil

Danksagung

Bibliographie

Impressum

Für meine Großeltern

Schätzungen zufolge wurden zwischen Oktober 1940 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf rumänischem Gebiet mehr als 280 000 Juden ermordet. Eines der bekanntesten Ereignisse, der Bukarest-Pogrom, fand im Januar 1941 statt, als Hunderte Juden auf die Straße gezerrt und dort zusammengeschlagen oder getötet wurden.

Erster Teil
Anton und Despina

1

Bukarest

Januar 1941

Das Mädchen sitzt allein draußen auf den Stufen vor dem Gebäude. Die Dunkelheit ist undurchdringlich, und die Kleine zittert. Sie hat die Arme um den schmalen Körper geschlungen und das Gesicht im Kragen der Strickjacke verborgen. Sie versucht sich zu erinnern, was genau ihre Mutter gesagt hat. Hat sie erwähnt, wie lange sie wegbleiben würde? Das Mädchen hat seinen Eltern noch nachgesehen, als sie um die Ecke verschwanden, die Mutter mit hängenden Schultern und zitternd in ihrem dünnen Kleid, der Vater kraftlos ein paar Schritte hinter ihr auf dem vereisten Bürgersteig.

Ein eisiger Schauer durchfährt das Mädchen, als es die Hände auf den kalten Beton unter sich legt. Der Wind peitscht ihr gegen die nackten Beine, und sie wünscht, sie hätte eine Decke oder Fäustlinge oder zumindest ihre Mütze, die sie verloren haben muss. Trotzdem ist sie lieber hier draußen in der Eiseskälte als in der düsteren, muffigen Eingangshalle. Der Geruch nach gedünstetem Kohl, der dort aus einer der Wohnungen strömt, hat ihren Magen vor Hunger knurren lassen, obwohl sie sich zu Hause stets weigert, Kohl zu essen.

Sie zieht die Knie an die Brust und blickt an dem dreistöckigen Gebäude hoch, dessen ausladende, runde Balkone drohend hervorragen. Sie ist sich sicher, dass sie dieses Haus noch nie gesehen hat. Auch nicht diese verlassene Straße, die nur in der Ferne schwach beleuchtet wird von einer Laterne, deren Licht den schmutzigen Schnee glitzern lässt. Keine Menschenseele ist in Sicht. Es ist, als hätte jemand die Lichter dieser einst lebhaften Stadt gelöscht und damit jegliches Umherspazieren, jedes Gespräch, sämtliches Gelächter unterbunden.

Die Eltern werden jeden Augenblick wieder zurück sein, sagt sich das Mädchen, während es erneut die Straße mit dem Blick absucht. Es versucht, sich an die Worte seiner Mutter zu erinnern, an ihre sanfte Stimme, die sagt, sie solle keine Angst haben, alles werde gut. Doch das Mädchen weiß, dass es um diese Uhrzeit nicht draußen sein sollte. Erst vor ein paar Tagen hörte sie, wie ihre Eltern darüber sprachen, dass die Eiserne Garde in der Stadt patrouillierte und jeden verhaftete, der nach Sonnenuntergang noch auf der Straße war. Dass sie jemanden direkt vor ihrem Wohnhaus erschossen und alle es gesehen hatten. Die Eltern sprachen auch über andere Dinge, die ihre Tochter nicht hören sollte, sie flüsterten im Nebenzimmer, nachdem sie schon längst zu Bett gebracht worden war. Die Worte waren gedämpft, doch der Anflug von Verzweiflung, der in ihren Stimmen lag, ließ das Mädchen in seinem warmen Bett erschaudern.

In der Ferne hört sie Lärm – Geschrei und Gezeter, vermischt mit dem rhythmischen Stampfen von Stiefeln und dem Zuschlagen von Fenstern. Das Gleiche ist auch schon die letzten Abende passiert, aber diesmal wird der Lärm von einem seltsamen Geruch begleitet, er erinnert an verglühende Kohlen, riecht aber zugleich ekelhaft süßlich, so dass sich ihr der Magen umdreht. Sie zieht sich die Strickjacke höher über die Nase und denkt an ihr Zuhause und ihr Bett mit der rosafarbenen Satindecke und dem vertrauten Licht, das durch die angelehnte Tür zwischen dem Schlafzimmer der Eltern und ihrem eigenen fällt.

Ihr steigen die Tränen in die Augen, sie kann sie nicht länger zurückhalten. Sie schämt sich dafür, dass sie nicht tapfer ist, obwohl sie es ihrer Mutter doch versprochen hat. Ich werde brav sein, Mama, und geduldig, hatte sie gesagt, doch jetzt kommt es ihr vor, als hätte sie die Worte vor einer Ewigkeit ausgesprochen.

Sie versteckt das Gesicht in ihrer Armbeuge, und ihr Schluchzen durchbricht die Stille, hallt durch Hinterhöfe und Gassen. Auch wenn sie weiß, dass sie still sein sollte, kann sie ihre Verzweiflung nicht mehr zurückhalten. Sie weint, bis keine Tränen mehr übrig sind. Dann legt sie sich auf den kalten Treppenabsatz, rollt sich zu einer Kugel zusammen und versinkt in einen tiefen Schlaf.

Bis plötzlich zwei kräftige Arme sie packen und hochheben. Als sie die Augen aufschlägt, blickt sie in das Gesicht einer ihr unbekannten Frau. Sie hat das silbrige Haar zu einem Knoten geschlungen, und einzelne Strähnen fallen in das von Falten durchzogene, rundliche Gesicht. Das Mädchen nimmt den schwachen Geruch nach Wäschestärke und Schweiß wahr, als die Frau sie so fest an ihre Brust drückt, dass sie sich nicht aus der Umklammerung befreien kann, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt und wild um sich schlägt. Doch in der Umarmung liegt auch etwas Zärtliches, etwas Tröstliches, und dem Mädchen ist so kalt, dass es das Gesicht schließlich an der Brust der Frau vergräbt und erneut zu weinen beginnt. Mit dem Ellbogen stößt die Frau die Tür zur Eingangshalle auf und trägt das Bündel hinein. Das Mädchen will fragen, ob die Frau etwas über ihre Eltern weiß, ob sie bald kommen, um sie abzuholen, doch als sie den Mund öffnet, bringt sie nur ein Krächzen zustande.

»Sch…«, flüstert die Frau ihr ins Ohr. »Ich bin ja hier. Sch… Es ist alles gut. Alles ist gut.«

Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos fällt auf das Gesicht der Frau, und es leuchtet blass wie der Mond, den die vorüberziehenden Wolken freigeben, ihre Augen glänzen feucht. Ihre Arme legen sich enger um sie, sanft und stark zugleich, und ihr Duft hüllt das Mädchen ein.

»So ein süßes Ding«, glaubt sie die Stimme der Frau murmeln zu hören, als spräche sie mit sich selbst. »So ein süßes kleines Ding.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Was für ein Jammer.«

*

Seit zwanzig Jahren arbeitet sie schon als Concierge in dem Gebäude. Zwanzig lange Jahre, im Laufe derer sie jede Familie in den umliegenden Häusern kennengelernt hat. Sie könnte schwören, dass dieses kleine Mädchen zu keiner von ihnen gehört. Nein, es stammt mit Sicherheit aus einem anderen Teil der Stadt. Vielleicht haben seine Eltern jemanden im Haus besucht, und das Mädchen hat sich davongestohlen, ohne dass sie es bemerkten. Doch wer würde ein Kind, vermutlich noch keine vier Jahre alt, allein auf dem Dacia Boulevard herumspazieren lassen? Und das nach der Sperrstunde, trotz der Schüsse und Leichen am Straßenrand? Ungläubig schüttelt die Frau den Kopf. Sie zählt nicht zu den gebildetsten Frauen, doch sie weiß, was sich gehört, und das hier, das weiß sie genau, gehört sich nicht.

Selbst im Schlaf noch klammert sich das arme Kind so fest an ihre Hand, dass es ihr nicht gelingt, von der Treppe in der Eingangshalle aufzustehen, wo sie sich mit dem Mädchen, halb auf ihren Schoß gebettet, niedergelassen hat. Jedes Mal, wenn sie glaubt, sie könne es hochheben, verkrampft sich das Kind und windet und krümmt sich, so dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als es weiterhin beruhigend an sich zu drücken und ein Gebet zu sprechen.

Stunden später ist es ihr schließlich gelungen, das Mädchen hinunter in ihr Zimmer im Souterrain zu bringen, wo durch das schmale Fenster bereits das gedämpfte Licht der winterlichen Dämmerung sickert.

Als das Mädchen aufwacht, setzt es sich im Bett auf. Verschlafen schweift ihr Blick in dem kleinen Zimmer umher. Von einem alten Frisiertisch blättert die Farbe ab; hinter einem fadenscheinigen Vorhang erahnt sie die Küchenzeile, und in einer anderen Ecke steht die rostige sobă, ein Ofen, in dem ein paar zischende Flammen flattern wie große Motten. Das Mädchen zieht die Decke fester an sich und rückt ans Bettende, doch in seinem Gesicht zeichnet sich keine Angst mehr ab, nur noch Verwirrung.

»Wo ist meine Mama?«, bricht es nach einem Moment der Stille aus ihr hervor. Ihre Stimme ist so leise, dass sie kaum zu hören ist. »Holt sie mich bald ab?«

Die Frau blickt auf ihre kalten Hände, die sie in ihrem Schoß aneinanderreibt. Im Holzofen lodert die Glut auf und knackt, und erst als sie vollkommen verglimmt ist, hebt die Frau den Blick.

»Nein, meine Kleine«, sagt sie nur. »Nein.«

2

Anton und Despina Goza waren in ihrem großen Familien- und Freundeskreis dafür bekannt, stets pünktlich zu sein. Nie kamen sie auch nur eine Minute zu spät zu Verabredungen, es spielte keine Rolle, dass die Straßenbahnen unregelmäßig fuhren, die Bürgersteige von Eisregen überzogen waren und die Stadt sich seit einigen Wochen in einem besorgniserregenden Zustand befand. Despina hatte die gesellschaftlichen Umgangsformen verinnerlicht und traf stets zur vereinbarten Zeit ein, und zwar vollendet zurechtgemacht, angefangen bei ihrem Hut, gefertigt nach der aktuellen Pariser Mode, bis zu ihren Pumps aus Reptilleder, die ebenso zu ihrer Handtasche passten wie zu ihrem Gürtel, der ihre Wespentaille zur Geltung brachte. Obwohl sie ihre vier älteren Schwestern um mindestens einen Kopf überragte, war sie überaus feminin und elegant. Ihr Gesicht glich dem einer griechischen Göttin, sagten die Freundinnen ihrer Mutter oft bewundernd und möglicherweise ein wenig neiderfüllt angesichts von Despinas Porzellanhaut, ihren hohen Wangenknochen und ihrem gewellten dunklen Haar.

Als Despina an diesem Morgen die Augen aufschlug und zur Pendeluhr an der Wand sah, stellte sie entsetzt fest, dass sie verschlafen hatte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment im Bett sitzen, ein Kissen im Rücken, und hörte zu, wie die Welt vor ihrem Fenster allmählich zum Leben erwachte. Jeden Tag wurde sie von den Geräuschen des morgendlichen Verkehrs auf der Strada Vlaicu begrüßt, von Schritten und gedämpften Stimmen, die einander grüßten. Das alles war ihr vertraut, und sie empfand es als tröstlich: ihr Mann, der neben ihr schlief, das schräg über das Fußende ihres viktorianischen Betts fallende Sonnenlicht, die milchkaffeefarbenen Seidenlaken, die sie schimmernd umhüllten wie feiner Wüstensand. Als Despina an diesem Morgen jedoch an den vor ihr liegenden Tag dachte, vollführte ihr Magen ein Salto. Was für ein Wahnsinn, es ausgerechnet jetzt anzugehen, dachte sie. Jetzt, wo der Krieg vor der Tür steht.

Tief in ihrem Innern wusste sie, dass es nie den richtigen Zeitpunkt geben würde, dass der richtige Zeitpunkt womöglich schon längst hinter ihnen lag. Dass ihr trotz ihres Glücks und ihres erfüllten Lebens das, was sie sich am sehnlichsten wünschte, verwehrt blieb. Es schien ihr, als hätte Gott ihr den Rücken gekehrt, denn obwohl sie an ihn appellierte, mit ihm verhandelte, hatte sie noch immer kein Kind. Die leise Hoffnung in ihrem Herzen wollte sie am liebsten zum Verstummen bringen. Dann könnte sie nach der langen Zeit des Aufruhrs endlich wieder zur Ruhe kommen. Hör auf, es zu wollen, mahnte sie sich immer wieder, doch ihr Herz wollte nicht auf sie hören.

Zumindest hatte sie es aufgegeben, dafür zu beten. Sie hätte schon vor Jahren damit aufhören sollen, als klar geworden war, dass sie kein Kind bekommen konnte, als ihr Selbsthass so stark geworden war, dass ihre Schwestern sie nur noch zusammen besuchen wollten, auf Zehenspitzen um sie herumschlichen und versuchten, sie mit unverfänglichen Themen auf andere Gedanken zu bringen. Ein vorschnelles Wort, eine unbedachte Bemerkung genügten inzwischen, und schon brach Despinas Verzweiflung aus ihr heraus, die tagelang andauern konnte.

»Du bist mit so vielem gesegnet, Despina. Konzentrier dich auf das, was du in deinem Leben hast«, redeten sie ihr aufmunternd zu, während sie wissende Blicke austauschten, Schachteln mit Schokolade auspackten, Tee servierten und ihr die Hände rieben. Doch Despina saß wie ein Häufchen Elend in ihrem Sessel und war am Boden zerstört.

Vier Fehlgeburten. Nachdem jede von ihnen eine neue Wunde in ihrem Herzen hinterlassen hatte, nachdem die Enttäuschungen vorhersagbar geworden waren und ihre Schärfe verloren hatten, war Despinas Hoffnung immer weniger geworden. Und nun diese unverhoffte Chance. Der Termin war so rasch vereinbart worden, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, sich darauf vorzubereiten.

Im Bad seufzte sie beim Blick in den Spiegel über dem Waschbecken und drückte die Fingerspitzen auf die zarte Haut unter ihren mandelförmigen Augen. Ihr Gesicht war eine blasse Maske, die Gesichtszüge ausgeprägter als gewöhnlich. Im Schlaf musste sie sich auf die Lippe gebissen haben, denn sie war geschwollen und leicht gerötet. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, und ihre Gedanken richteten sich wieder auf den vor ihr liegenden Tag.

Als Anton ins Bad kam, begegneten sie sich in der Tür.

»Guten Morgen, Liebes.«

Er küsste sie auf die Wange und schenkte ihr ein Lächeln, wirkte aber abwesend. Despina bemerkte, wie gut er in seinem gestreiften Seidenpyjama aussah, selbst zu dieser frühen Stunde, die kurzen Haare zerzaust und noch ein Hauch des abendlichen Whiskeys in seinem Atem. Er nahm seine Zahnbürste und summte vor sich hin.

Bisweilen brachte es Despina aus dem Konzept, wie grenzenlos optimistisch er war, aber genau das machte seinen Charme aus. Selbst an diesem Morgen konnte sie nicht anders als lächeln, während sie ihn beobachtete.

Nicht nur auf Despina übte Anton diese Wirkung aus, sondern auf jeden, der ihm begegnete. Seine Unbeschwertheit war ansteckend, unwiderstehlich. Auf der Straße drehten sich die Frauen nach ihm um, wenn er wie Cary Grant in seinem wie angegossen sitzenden Anzug an ihnen vorbeiging, einen weißen Angoraschal um die breiten Schultern geschlungen, wenn er die Hand an den Hut legte und ihn zum Gruß leicht anhob. Selbst Männer warfen ihm ein Lächeln zu, angesteckt von seiner joie de vivre und beeindruckt von seinem Wohlstand und davon, wie er den neuen Tag voller Zuversicht begann.

*

Zehn Jahre waren vergangen, seit Despina Anton begegnet war, und doch erinnerte sie sich noch in allen Einzelheiten an den Tag, als wäre es gestern gewesen. Amüsiert dachte sie darüber nach, dass sie einander womöglich nie kennengelernt hätten, wäre Despinas Vater an jenem Tag nicht die Tinte für seinen Montblanc ausgegangen oder hätte er sich dazu entschlossen, selbst ein neues Tintenfass zu besorgen. Doch ihr Vater war mit seiner Buchführung beschäftigt gewesen, und in der Luft hatte schon der erste Anflug von Frühling gelegen, so dass Despina, als er sie bat, neue Tinte zu besorgen, gern einwilligte.

»Piața Romană«, hatte er zu ihr gesagt, als er ihr mehrere große Banknoten in die Hand drückte. »Du kennst ja das Geschäft. Und vergiss nicht, auch ein paar Briefumschläge mitzubringen. Die aus Leinen, wenn du sie findest.«

Das war ihnen inzwischen zu einem Ritual geworden. Despina besorgte, was er benötigte, dafür durfte sie das Wechselgeld behalten. Ihr Vater fragte sie nie, was sie damit anstellte, und es gab immer etwas, das ihr in einem der Schaufenster ins Auge fiel – ein hübscher Hut, eine Handtasche aus Seide, ein bunter Schal, der zu ihren Haaren passte.

In Gedanken versunken schlenderte Despina in gemütlichem Tempo die Straße Richtung Piața Romană entlang. Ohne auf die Straßenschilder zu achten, überquerte sie die Kreuzungen, denn sie kannte den Weg zum Geschäft auswendig. Ihr Vater kaufte seit Jahren dort seine Schreibwaren, und die Inhaberin, Frau Zoltof, kannte Despina inzwischen gut. Als sie die Ladentür öffnete, war sie verwundert, statt der älteren Dame einen jungen Mann vorzufinden, der auf einer Leiter stand und Zigarettenschachteln in das Regal über der Kasse räumte. Ihr erster Gedanke war, dass sie das falsche Geschäft betreten haben musste, doch als sie Anstalten machte, wieder hinauszugehen, ließ seine Stimme von der Leiter herab sie innehalten.

»Guten Morgen, die Dame.«

Ein warmes, sanftes Lächeln lag auf den Lippen des Mannes. Einen Augenblick lang starrte sie ihn nur selbstvergessen an. Seine gerade, römische Nase, ein markantes Kinn mit Grübchen. Hellbraune Augen, die sie freundlich anblickten. Die Farbe erinnerte sie an einen Schluck des Cognacs ihres Vaters, der unten im Glas umherwirbelte.

Als der Mann scheinbar völlig mühelos die Leiter herunterstieg, wagte sie einen Blick auf seine muskulösen Unterarme, die honigfarben unter den hochgekrempelten weißen Hemdsärmeln hervorragten.

»Bitte kommen Sie doch herein«, forderte er sie auf. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

Sie trat ganz in den Verkaufsraum und schloss die Tür hinter sich.

»Ich bräuchte Briefumschläge und Tinte, bitte«, sagte sie knapp und hob ihr Kinn. »Ich bin die Tochter von Herrn Papodopulos. Eine seiner Töchter.«

Augenblicklich kam sie sich lächerlich vor. Was kümmerte es ihn, wer sie war? Sie war nur hier, um Umschläge und Tinte zu kaufen, um Himmels willen. Doch der junge Mann schien sich darüber zu freuen, dass sie sich vorgestellt hatte. Als er hinter dem Ladentresen hervortrat und mit der Hand durch seine dichten, beinahe schwarzen Haare fuhr, lächelte er sie einnehmend an.

»Zu Ihren Diensten. Was immer Sie benötigen.«

Despina spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und sie sah sich nach etwas um, worauf sie ihren Blick heften, worüber sie eine Bemerkung machen konnte, um von der Tatsache abzulenken, dass sie sich wie ein Tölpel aufführte. Wie peinlich, dachte sie. Er ist doch nur ein Angestellter im Laden. Rasch wandte sie sich ab und begann in den Hunderten von Briefpapiermustern zu stöbern, die in schmalen Holzfächern an der Wand ausgestellt waren.

»Ich hätte gern fünfhundert von diesen Umschlägen hier«, sagte sie kühl und hielt ihm einen hin.

Sie hatte keine Ahnung, was sie da aus dem Fach gezogen hatte. Als er ihr den Umschlag aus der Hand nahm, berührten sich ihre Finger leicht. Despina errötete noch mehr, wandte den Blick ab und begann mit den Miniaturstatuetten aus Glas herumzuspielen, die auf einer Auslagevitrine standen. Aber sie konnte spüren, dass er sie beobachtete und dass er dabei amüsiert lächelte.

*

Von Anfang an fügte Anton sich in ihr Leben wie das fehlende Teil eines Puzzles. Despinas Vater, ein vermögender Geschäftsmann aus Griechenland, der nach dem Krieg mit seiner Familie nach Bukarest gezogen war, nahm Anton unter seine Fittiche und war selbst erstaunt, wie schnell er den jungen Mann ins Herz schloss. Es stimmte, Anton stammte nicht aus einer wohlhabenden Familie, aber in den wenigen Wochen, die Despina ihn nun kannte, hatte sie sich so sehr verändert, dass ihrem Vater keinerlei Einwände einfallen wollten.

Über Nacht hatte seine jüngste Tochter begonnen, den Panzer, der sie umhüllte, seit sie in dieses fremde Land gekommen waren, abzulegen. Als sie Griechenland zwölf Jahre zuvor verlassen hatten, war Despina noch ein Kind gewesen, das vor Energie und Lebensfreude sprühte. Nun, mit dreiundzwanzig, war sie ihm oft beinahe vorgekommen wie eine Fremde. Sie war zu einer Schönheit herangewachsen, strahlte dabei aber stets etwas Kühles, Distanziertes aus.

Seit sie Anton begegnet war, war das Leuchten in ihren Augen zurückgekehrt. Zu Hause wirbelte sie wieder in ihren Seidenkleidern umher, die Arme ausgestreckt, lachte und machte Bemerkungen über die Schönheit von diesem und jenem, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Ihre Ausgelassenheit war ansteckend. So dauerte es nicht lang, und der gesamte Haushalt erwartete Antons Besuche mit dem gleichen Überschwang wie Despina.

Es verging keine Woche, in der der junge Mann nicht zum Tee oder zum Abendessen eingeladen wurde. Er freute sich auf die frisch gebackenen Blätterteigtaschen, jedes Mal mit einer anderen Füllung, sei es Käse, Spinat oder Pflaumen, und auf den dreißig Jahre alten Brandy, der auf dem Servierwagen in der Bibliothek bereitgestellt wurde. Er genoss es, wenn sie gemeinsam eine Feier besuchten und sich alle um ihn herum ins Auto drängten, als wäre er bereits Teil der Familie.

Von Despinas Vater lernte Anton viel über Politik, Weltgeschehen und Geschäfte. Er führte ihn ein in die Schönheit der Kunst, und daraus ergab sich seine zunehmende Wertschätzung all der schönen, sorgfältig ausgewählten Dinge, die den Lebensstil der Familie hier und da begleiteten – Weingläser aus Kristall, Silberbesteck mit Monogramm, das Aroma importierter Zigarren, das herrliche Gefühl der Seiden- und Leinenanzüge, mit denen die Familie ihn trotz seiner Proteste überhäufte. Die Anzüge trug er, wenn er sonntags mit Despina in die Oper oder zum Pferderennen ging. Er lernte, wie er die behandschuhte Hand einer Frau küsste und ihr dabei nur einen kurzen Moment lang in die Augen sah, wie er einem Mann selbstbewusst die Hand schüttelte, und er eignete es sich an, so zu sprechen, dass ihm Respekt entgegengebracht wurde.

Rasch wurden Anton und Despina, ein elegantes und schönes Paar, zum Gesprächsthema der gesamten griechischen Gemeinde in Bukarest. Despina strahlte mehr denn je. Als die Wochen vergingen und sie immer mehr Zeit zusammen verbrachten, wurde ihr eines klar: Das wahre Leben hatte für sie erst an dem Tag begonnen, als ihr Vater sie zum Schreibwarenladen geschickt hatte und sie Anton begegnet war. Inzwischen war er der Inhaber des Ladens und dreier weiterer Filialen in den wohlhabendsten Vierteln der Stadt.

Seither führte Despina ein zufriedenes Leben. Die glückseligen Momente überwogen die kleinen Ärgernisse, gegen die keine Beziehung immun war.

Eine ihrer liebsten Erinnerungen war an einem Tag im Herbst 1935 entstanden, als Anton und sie Arm in Arm die Patriarchalkathedrale oben auf dem Mitropoliei-Hügel verlassen hatten. Ein Fotograf hatte ihnen zugewinkt – »Schauen Sie zu mir, das Licht ist wundervoll!«, hatte er gerufen – und sich durch die jubelnde Menge auf der Treppe zu ihnen gekämpft. Wenn Despina die Fotografie in ihrem silbernen Rahmen betrachtete, auf der sie in einem cremeweißen Kleid aus Satin und Anton in einem schwarzen Smoking zu sehen waren, stockte ihr kurz der Atem. Der Fotograf hatte an jenem Tag das Glück in ihren Blicken eingefangen.

*

Als Despina im Esszimmer einen Schluck Kaffee nahm, schlug die Pendeluhr neunmal. Despina merkte kaum, dass sie sich den Gaumen verbrüht hatte. Anton zog hinter seiner Zeitung eine Augenbraue hoch, dann legte er die Zeitung auf den Tisch neben seinen Teller.

»Wenn ich doch nur Gedanken lesen könnte«, sagte er und nahm einen Bissen von seinem Toast.

»Ach, es ist nichts«, entgegnete Despina sanft.

»Sag schon.«

»Ich weiß doch auch nicht, Anton. Was, wenn es wieder …«, sie wagte kaum, es auszusprechen, »wenn es wieder nichts wird?«

»Dann versuchen wir es eben noch einmal«, erwiderte Anton, ohne zu zögern, als gäbe es für ihn keine andere Antwort.

Despina lächelte schwach. Sie fühlte sich etwas weniger ängstlich und war dankbar für seine Zuversicht. Doch sie wusste, dass es auch für ihn schwer war. Sie bemerkte seine wehmütigen Blicke, wenn sie einen Nachmittag mit ihren Schwestern und deren Kinderschar verbrachten.

Beinahe wollte sie vorschlagen, lieber zu Hause zu bleiben und es sich vor dem Kamin gemütlich zu machen. Es sah aus, als würde es bald wieder schneien.

»Despina, schau mich an«, sagte er mit Nachdruck. »Liebling.«

»Anton«, setzte sie an. »Ich glaube …«

»Wir geben nicht auf«, schnitt er ihr das Wort ab, und in seiner Stimme lag eine Schärfe, die sie nicht von ihm gewohnt war. »Wir geben nicht auf, bis du entscheidest, dass es genug ist. Was, so wie ich meine schöne, starrköpfige Frau kenne«, fügte er leise lachend hinzu, »niemals der Fall sein wird.«

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie schüttelte den Kopf, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie wollte sich in die Arme ihres Mannes schmiegen, doch dann fiel ihr Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit.

Als Anton ihren Stuhl nach hinten zog und nach ihrer Hand griff, verschränkte sie ihre Finger mit seinen und drückte fest seine Hand. Was sie miteinander verband, war stark genug und würde weiterbestehen, egal, was das Schicksal heute für sie bereithielt.

3

Die Stadt rauschte an ihnen vorbei. Die weißen Spitzen der Jugendstilgebäude, der Telefonpalast, die Pracht der Calea Victoriei, das Hotel Capitol mit seiner zarten Fassade aus der Belle Époque, wo sie an vielen heißen Sommerabenden kühle Drinks zu sich genommen hatten. Heute saßen keine elegant gekleideten Gäste auf der im Bogen verlaufenden und mit schmiedeeisernem Geländer eingefassten Terrasse, kein Licht war in den breiten Fenstern zu sehen. Selbst die im Zickzack über die Dâmboviţa führenden Brücken sahen aus, als erfüllten sie keinerlei Zweck.

Weiter ging es die verlassen wirkende Allee entlang, bis der Palast mit seinen endlosen Fensterreihen in Sicht kam. Vor den Toren standen eine Handvoll Wachen wie Wachsfiguren und blickten teilnahmslos auf den majestätischen Platz, dessen Pflastersteine, über die schon unzählige Fußgänger gelaufen waren, unter einer neuen, glitzernden Schicht Schnee lagen.

Sie wechselten nur wenige Worte mit ihrem Fahrer. Die unaussprechlichen Ereignisse, die die Stadt in den letzten Tagen in ihren Grundfesten erschüttert hatten, machten oberflächliche Konversation kaum möglich, auch wenn Anton ein- oder zweimal versuchte, das unangenehme Schweigen zu brechen, indem er bemerkte, dass seine Geschäfte nur noch schleppend vorangingen.

»Wer braucht denn in diesen Zeiten schon die nutzlosen Dinge, die es bei mir zu kaufen gibt?«, fragte er, und der Fahrer wandte sich halb zu ihm um und nickte nur. Despina saß auf dem Rücksitz, den Kopf gegen die kühle Scheibe gelehnt, und betrachtete die großen, schweren Schneeflocken, die auf der Windschutzscheibe landeten, wo sie zu winzigen Sternen schrumpften. Sie wünschte, all das Schreckliche, was sie in der letzten Zeit hatte mit ansehen müssen, könnte auf dieselbe Weise aus ihrem Gedächtnis verschwinden.

Drei Tage Massaker, bei denen ganze Viertel in Flammen aufgegangen waren und Leichen die Straßen säumten; zerschmetterte Fenster und verstörte Menschen, schreiende Frauen und der Gestank verbrannter Körper. Männer, die nachts spurlos verschwanden, Schüsse im Cişmigiu-Park. Horden von Menschen waren mit Schildern durch die Straßen marschiert, darauf Parolen wie Juden sind unser Feind und Löst das jüdische Problem. Viele hatten ein Kreuz auf ihre Türen gemalt, damit ihre Häuser nicht verwüstet, ihre Fassaden nicht beschädigt wurden. Und hinter ihnen, verbunden durch den gemeinsamen Hass, sammelte sich die Meute mit erhobenen Fäusten. Es war schon beinahe zu einem alltäglichen Anblick geworden: brennende Autos auf den Boulevards, Männer und Frauen, die auf die Straße gezerrt wurden, wo man sie niederschlug und auf sie eintrat.

Nachts kam die Stadt zwar meist zur Ruhe, doch die Angst der Menschen wuchs ins Unermessliche. Sie schlossen die Fenster, zogen die Vorhänge zu und ließen die Rollläden herunter, um die Welt draußen auszusperren. Sie plauderten über Bekannte oder ihre Kinder oder darüber, was sie zu Abend essen würden, um sich davon abzulenken, dass draußen die Legionäre der Eisernen Garde mit Bajonetten die Straßen auf und ab marschierten.

Angeblich zählte dieser von den Nazis unterstützte und als die Todesschwadron bekannte Teil der rumänischen Armee zu den gefürchtetsten in ganz Europa. Nacht für Nacht patrouillierten sie in ihren grünen Uniformen mit dem Symbol des dreifachen Kreuzes auf dem Ärmel durch die Stadt. Schon von Weitem hörte man den Gleichschritt ihrer Stiefel und wie sie im Chor ihre finstere Hymne anstimmten:

Der Tod, ja der Tod eines Legionärs allein

wird uns die lieblichste Hochzeit sein.

Für das Heilige Kreuz, für unser Land

zerstören wir Wälder, erobern wir Berge.

Hitlers Einfluss verbreitete sich inzwischen bis in die Tiefen Mittel- und Osteuropas, immer weiter, und hatte nun auch das rumänische Volk erreicht.

Kurz nach den Feiertagen, als Despina eines Nachmittags mit einem Korb aufgebrochen war, um Lebensmittel zu kaufen, hatten die meisten Geschäfte in ihrer Nachbarschaft aus Angst vor der ständigen Plünderei ihre Rollläden geschlossen, und so war sie beinahe zwei Stunden gelaufen, bis sie einen Lebensmittelhändler gefunden hatte, der noch das Notwendigste auf Lager hatte: Mehl, Eier, Öl. Wegen der schweren Einkäufe wollte sie einen kürzeren Weg nach Hause nehmen, obwohl sie Anton versprochen hatte, auf den Hauptstraßen und in der Nähe anderer Fußgänger zu bleiben. Doch ehe sie sich versah, war sie in einem von Scherben und verkohlten Trümmern übersäten Gassengewirr gelandet. Anton wäre außer sich gewesen, hätte er gewusst, dass sie ohne Begleitung durch diese geplünderten Viertel ging. Schon bald war sie auf die Strada Negru Vodă gelangt, eine ruhige, im Schatten uralter Eichen liegende Straße. Sie führte durch ein ruhiges Viertel, in dem sich die Menschen einst die Zeit genommen hatten, einander zu grüßen und sich miteinander zu unterhalten, während die Kinder ihren Eltern um die Beine liefen und Fangen spielten. Heute jedoch blieb Despina an der Ecke stehen. Ihr stockte bei dem Anblick, der sich ihr bot, der Atem. Die Cahal Grande Synagoge, eines der ältesten Wahrzeichen der Stadt, stand in Flammen. Johlende Legionäre standen davor und schlugen sich gegenseitig auf die Schulter. Das Gebäude war bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Nichts war übrig von seiner kunstvollen Architektur. Nicht die Menora, nicht die alten Schriften. Nicht einmal die Waschräume.

Auf den Gesichtern der Legionäre lag pure Freude, ihr hämisches Grinsen wurde vom Schein der Flammen grotesk beleuchtet und verzerrt. Despina aber stand wie angewurzelt da. Einer der Männer sah in ihre Richtung, musterte sie mit unverhohlener Bewunderung und grinste anzüglich. Dann verbeugte er sich so tief, dass sein Arm beinahe über den Boden strich. Despina drehte sich um und rannte los, laut klapperten ihre Absätze über den Bürgersteig. Sie wollte nur noch nach Hause und das Grauen abschütteln, das sich in ihrer Magengrube eingenistet hatte, den bitteren Geschmack loswerden, der ihr die Kehle hochstieg.

Die Gewalt war wie über Nacht in Bukarest ausgebrochen und drohte in diesen Tagen nun völlig außer Kontrolle zu geraten.

*

Despina war noch tief in Gedanken versunken, als der Buick vor einem trostlosen zweistöckigen Gebäude hielt, von dem der Putz abblätterte. Das Dach war mit billigem Metall gedeckt, und an dem verfärbten Stuck über der Eingangstür hing ein dunkelblaues Schild, das ihnen zeigte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten: das Waisenhaus.

Der Fahrer ging um den Wagen herum, öffnete Despina die Tür und hielt ihr seine behandschuhte Hand hin. Ihr Herz flatterte aufgeregt, als sie aus dem Wagen stieg und ihren Mantel enger um sich schlang. Sie hatten lange auf diesen Besuch warten müssen, trotz ihrer zahlreichen Versuche, bei der Direktorin der Einrichtung, Frau Tudor, vorsprechen zu dürfen. Schließlich hatte sich sogar Despinas Cousine Maria eingeschaltet, die ehrenamtlich im Waisenhaus arbeitete. »Wir handeln nicht mit Kindern«, war Maria gesagt worden. »Ihr Geld wird ihnen hier nichts nützen.« Doch dann war das kleine Mädchen eingetroffen, und da das Waisenhaus ohnehin schon völlig überfüllt war, hatte Frau Tudor schließlich eingewilligt.

Maria half drei Tage die Woche, Mahlzeiten auszugeben, die Kinder zu baden, ihnen die Köpfe zu scheren und Wunden zu heilen, und das trotz der Proteste ihres Mannes und der erstaunten Blicke ihrer Freundinnen. Warum um alles in der Welt tut sie das freiwillig?, fragten sie sich, wenn sie auf einer der Restaurantterrassen zu Mittag aßen, zum Pferderennen und in den Schneidersalon gingen und in der Konditorei auf der Strada Lipscani Süßigkeiten für ihre Kinder kauften. Und was ist mit ihrem Mann, was ist mit seinem Ruf? Doch Maria kümmerte sich nicht um das Gerede, rührte unermüdlich Haferbrei an, heizte Badewasser und versorgte die vielen Kinder, die niemanden mehr hatten.

Despina wusste, was ihre Cousine dazu bewegte. Mit Maria verband sie nicht nur eine auffällige äußerliche Ähnlichkeit, sondern auch eine emotionale Verbundenheit, die enger war als das, was Despina für ihre Schwestern empfand. Sie wusste, wie sehr Maria ihren Sohn vermisste, der mit gerade einmal neun Jahren an Typhus erkrankt war. Der Junge war so schnell an der Krankheit verstorben, dass Maria kaum Gelegenheit gehabt hatte, sich von ihm zu verabschieden. Seinetwegen arbeitete sie hier und widmete sich den verlorenen Kindern.

Mit diesem Gedanken griff Despina nach Antons Hand und führte ihn durch das Holztor hinein.

4

Ein fauliger Geruch, den Despina nicht einordnen konnte, schlug ihr entgegen, und sie blieb stehen. Abfälle, wurde ihr klar, und weil sie sich plötzlich schwach auf den Beinen fühlte, suchte sie Halt an der Wand. Mit heftig klopfendem Herzen sah sie sich auf dem trostlosen Innenhof um, der dem St.-Paulus-Waisenhaus als Spielplatz diente. In der Mitte des Hofes, neben einer Eiche, deren karge Äste in den schiefergrauen Himmel ragten, stand eine Metalltonne. Darum herum spielten Dutzende Kinder in einheitlicher, abgetragener, khakifarbener Kleidung Fangen und quietschten dabei vergnügt, als würde der fürchterliche Gestank ihnen nichts ausmachen.

Despina hielt sich den Handrücken vor die Nase, und in dem Bemühen, ihre Beklommenheit abzuschütteln, wagte sie sich vorsichtig ein paar Schritte auf den unebenen grauen Pflastersteinen vorwärts. Diese Kinder zu sehen – allesamt mit laufender Nase und kahl geschorenem Schädel, mit zerschrammten Knien und leerem Blick –, erfüllte sie mit einer derartigen Traurigkeit, dass sie nur noch davonlaufen wollte. Warum waren Anton und sie hergekommen? Was hofften sie an einem solchen Ort zu finden? Es war ein Fehler, wollte sie Anton zuflüstern und zog ihn am Arm. Aber als er sich zu ihr umdrehte, lächelte er, als würde er an einem sonnigen Nachmittag Kindern beim Spielen im Park zusehen.

»Komm, Liebling«, sagte er und hakte sich bei ihr ein. »Es ist alles in Ordnung.«

Er führte sie über den Hof auf das Gebäude zu, das wohl das Haupthaus war. Sie waren beinahe angekommen, als ein schlaksiger, etwa zehnjähriger Junge, der ein Jo-Jo auf und ab schnellen ließ, auf sie zugeschlendert kam.

»Sie wollen wohl unser hübsches Heim hier besichtigen, was? Und uns Kinder?«, fragte er und fing das hölzerne Spielzeug geschickt in seiner Hand. »Ich bin der beste Fußballspieler, den es gibt. Und ich kann Wechselgeld zählen.«

Anton griff in seine Manteltasche und zog einen Schein hervor. Ohne einen Blick darauf zu werfen, hielt er ihn dem Jungen hin, der ihn sich sofort schnappte. Staunend riss er die Augen auf, drehte und wendete den Schein, um herauszufinden, wie viel er wert war.

»Danke, danke sehr!«, sagte er und bückte sich, um den Schein in seine Socke zu stopfen.

»Gern geschehen«, entgegnete Anton freundlich. »Kannst du uns dafür zeigen, wo sich das Büro der Heimleiterin befindet?«

»Das wird nicht nötig sein«, ertönte es barsch hinter ihnen.

Anton und Despina drehten sich um. Vor ihnen stand eine drahtige Frau mittleren Alters, die ihr grau meliertes Haar in einem strengen Dutt trug und sich einen grauen Wollschal um die schmalen Schultern geschlungen hatte.

»Ich habe Sie bereits erwartet«, sagte Frau Tudor und warf zuerst einen Blick auf ihre Uhr und dann auf Despina – eine unverhohlene Rüge, die Despina erröten ließ.

»Sie müssen Marias Cousine sein.«

»Ja«, antwortete Anton anstelle seiner Frau, der es die Sprache verschlagen hatte. Viel zu überschwänglich schüttelte er der Heimleiterin die Hand, und es war ihm offensichtlich etwas peinlich, als sie ihm schließlich ihre Hand entzog und sie steif hinter ihren Rücken schob.

»Nun denn, hier entlang«, forderte sie sie auf, doch ihr reserviertes Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

Hastig und ohne einen Blick zurückzuwerfen, führte Frau Tudor sie einen schummrigen Gang entlang, in dem es nach Ammoniak und frischer Farbe roch. Einen Augenblick später standen sie in einem Büro, das fast vollkommen von einem gewaltigen Schreibtisch aus Holz ausgefüllt wurde.

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Frau Tudor wies auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch.

Anton setzte sich, zog die Handschuhe aus und lehnte sich bequem zurück. Despina rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn bis an die Kante.

»Zuerst möchte ich ein paar Fakten mit Ihnen klären«, begann Frau Tudor, die in ihrem Stuhl hinter dem massiven Schreibtisch fast verschwand, nachdrücklich. Sie hielt inne, um ihre übergroße Brille auf der Nase nach oben zu schieben, und schlug eine Mappe auf. »Das Mädchen, um das es geht … Es ist äußerst in sich gekehrt. Wie Sie ja sicher von Maria wissen, wurde es Ende Januar unter ungewöhnlichen Bedingungen hierhergebracht. Offenbar wurde es auf dem Dacia Boulevard von der Concierge vor einem Wohnhaus gefunden. Die Dame nahm das Kind über Nacht bei sich auf und ging mit ihm am nächsten Tag aufs Polizeirevier in der Hoffnung, dass sich jemand nach ihm erkundigt hatte. Das war aber nicht der Fall, und deswegen brachte die Polizei das Mädchen hierher.«

Frau Tudor räusperte sich und trank einen Schluck Wasser. »Als das Mädchen hier eintraf, sah es im Grunde ganz normal aus, gut entwickelt und im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten, aber … es hat noch kein einziges Wort von sich gegeben. Sie kann sprechen – irgendwie ist es der Concierge gelungen, den Namen und den Geburtstag aus ihr herauszubekommen –, aber hier wirkt sie vollkommen …«, Frau Tudor hielt inne, als würde sie nach dem richtigen Begriff suchen, »… abwesend. Das Einzige, wofür das Kind sich zu interessieren scheint, ist das alte Klavier in der Abstellkammer. Stundenlang sitzt das Mädchen da oben und spielt, manchmal weigert es sich sogar, zum Abendessen herunterzukommen.« Sie klappte die Mappe zu und schob sie unwillig von sich. »Nun ja, wollen Sie das Mädchen immer noch sehen?«

Frau Tudor war daran gelegen, zügig zum Kern der Sache zu kommen. Sie war überzeugt, dass der Besuch des Paares vor ihr ein abruptes Ende finden würde, wenn die beiden das Mädchen erst einmal gesehen hatten. Leute wie sie, Leute in teuren Kleidern und mit einem privaten Wagen, der vorn am Bordstein parkte, hatten doch keine Ahnung, was es einem abverlangte, sich um so viele Kinder zu kümmern, einen Ort wie diesen zu leiten. Sie konnte ihr Missfallen nicht verbergen. In stummer Geringschätzung sanken ihre Mundwinkel nach unten.

»Ja, natürlich«, antwortete Despina jedoch. »Das wollen wir. Nicht wahr?«

Anton nickte und griff nach ihrer Hand, noch immer sein geduldiges Lächeln auf den Lippen.

»Also gut. Wenn Sie wirklich sicher sind«, sagte Frau Tudor mit Nachdruck. »Ich denke, das Mädchen sollte Sie zuerst treffen, gnädige Frau. Allein.«

»Allein? Aber es ist nicht nur meine Entscheidung. Mein Mann –«

»Ja, gnädige Frau, allein wäre am besten. Nach allem, was das arme Ding durchgemacht hat, ersparen wir es ihm besser, vor zu vielen Menschen vorgeführt zu werden.«

Schon war sie aufgestanden und hielt die Tür auf.

»Ich komme gleich nach«, sagte Anton, als Despina, die Frau Tudor zögerlich aus dem Büro folgte, sich noch einmal zu ihm umblickte. »Du wirst fühlen, was das Richtige ist, meine Liebste.«

*

Nervös ging Despina in dem muffigen Zimmer auf und ab. Durch ein kleines, vergittertes Fenster konnte sie nach unten auf den Hof sehen, auf dem inzwischen keine Kinder mehr herumliefen. Zuerst dachte Despina, sie wären wohl wieder in ihren Klassenzimmern, doch dann wurde ihr klar, dass es an einem Ort wie diesem höchstwahrscheinlich keine gab. Keine Bücher, kein Spielzeug. Nichts als unendlich viel Zeit. Sie atmete tief durch, setzte sich auf einen der Kinderstühle und wartete.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, als die Tür mit einem Klicken aufging und sie aus ihren Gedanken gerissen wurde.

»Komm«, hörte sie Frau Tudor überraschend liebevoll sagen. »Komm, Liebes.« In der Tür erschien ein zierliches Mädchen. Von Frau Tudor sanft angeschoben, trat es langsam über die Schwelle.

Es konnte unmöglich älter als vier sein, stellte Despina fest. Das Mädchen reichte ihr kaum bis zur Hüfte. Trotz der kurz geschorenen Haare und der schmutzigen, blassen Haut war unschwer zu erkennen, dass es hübsch war. Der herzförmige Mund und die hohen Wangenknochen – die eine Wange zierte ein kleiner Schönheitsfleck – verliehen dem Mädchen ein puppenhaftes Aussehen. Und die Augen erst – noch nie hatte Despina solche Augen gesehen. Ein dunkles Moosgrün, wie ein Teich an einem Sommertag.

»Hallo.« Despina lächelte dem Kind zu. Als sie aufstand, ließ sie vor lauter Aufregung beinahe ihre Handtasche fallen.

Ein Zittern erfasste sie, und die Zeit schien in diesem Augenblick stehenzubleiben. Doch das Mädchen sah nicht einmal vom Dielenboden auf, sondern stand nur da, schniefte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. Ihr Unbehagen war fast greifbar.

»Hier, vielleicht brauchst du das«, brachte Despina hervor und kramte nach ihrem Taschentuch. Sie hielt es dem Mädchen hin, doch es griff nicht danach, so dass Despina das Tuch schließlich wieder sinken ließ. Sie wusste, dass ein falscher Blick oder eine unüberlegte Geste alles zunichtemachen konnte, noch ehe sie eine Chance gehabt hatten, einander kennenzulernen. Doch Despina konnte die Augen nicht von dem kleinen Mädchen abwenden, als wäre alles um sie herum in einem Nebel versunken.

Als sie und Anton beschlossen hatten, es mit Adoption zu versuchen, hatte sie sich alles anders ausgemalt. Sie hatte sich ein kleines Mädchen mit hüpfenden blonden Locken und mit einem ansteckenden Lächeln vorgestellt. Ein Kind mit rundlichen, geröteten Wangen und strahlenden Augen. Das Mädchen, das vor Despina stand, hatte nichts mit diesem Bild zu tun. Aber dennoch berührte es Despina auf unerklärliche Weise.

Vorsichtig streckte sie die Hand aus, damit das Mädchen nicht erschrak, und strich mit den Fingern sacht über den kahl geschorenen Kopf. Es zuckte zusammen, als hätte die Berührung ihm einen Stich versetzt, doch dann hob es, schüchtern zunächst, den Blick, und seine eindrucksvollen grünen Augen trafen auf Despinas, die voller Tränen standen.

*

In den folgenden sechs Wochen traf Despina stets überpünktlich zu ihren Terminen im Waisenhaus ein. Meist kam sie allein, doch wenn Anton den Anforderungen seiner Geschäfte für ein paar Stunden entkommen konnte, begleitete er sie. Dann schlenderten sie mit dem Mädchen in ihrer Mitte zum Park, der nur ein paar Straßen weiter lag. Nach den Gewaltausbrüchen auf den Straßen hatte sich eine unheilvolle Ruhe über die Stadt gelegt, und so konnten sie eine Weile auf einer Bank sitzen und die frischen Blätterteigtaschen essen, die Despina am Abend zuvor gebacken hatte. Manchmal kauften sie warme Brezeln mit Mohn vom Stand am Parkeingang. Jedes Mal brachte Despina ein anderes Buch mit, das sie zusammen lesen konnten. Während sie in Märchen und Sagen eintauchten, saß das Mädchen mit dem Kopf an Despinas Schulter gelehnt da. Inzwischen waren ihre Haare etwas nachgewachsen, und sie glänzten kupferfarben. Sie sprach noch immer nicht, aber Despina hatte das Gefühl, dass sie vorerst keine Worte brauchten. Sie war einfach froh, gemeinsam im Cişmigiu-Park unter den Statuen berühmter Dichter und Komponisten sitzen zu können und den Schwänen zuzuschauen, die über den See glitten. Die Tage wurden wärmer, aber noch war es frisch. Die Sonne wärmte ihre blassen Gesichter, und in manchen dieser Momente schienen die Grauen des vergangenen Winters einer anderen Welt anzugehören.

Noch Jahre später würde Despina in Gedanken zu dieser Parkbank zurückkehren, auf der sie trotz des Krieges, der in Europa wütete, für kurze Zeit glücklich und unbeschwert gewesen war. Nie würde sie jenen herrlichen Nachmittag vergessen, an dem sie, die Hand des Mädchens fest in ihrer, zum letzten Mal über den Hof voller Kinder und hinaus durch die schweren Holztore des St.-Paulus-Waisenhauses ging.

5

Stefan drehte am Radioknopf, um die richtige Wellenlänge zu finden, aber die Stimme des Nachrichtensprechers brach immer wieder ab. Er setzte seine Brille mit dem Drahtgestell auf, und aus Gewohnheit strich er sich ein paar seiner blonden Strähnen über die Stirn, um seine früh beginnenden Geheimratsecken zu verdecken. Er war keine vierzig, sah jedoch älter aus und fühlte sich auch so, viel älter als seine Frau Maria, der es gelungen war, ihre Jugend und grenzenlose Energie zu bewahren, obwohl sie nur fünf Jahre trennten. Gerade bewegte sie sich eifrig um ihn herum, staubte den Kaminsims ab, schob die Topfblumen auf der Fensterbank hin und her und ordnete die Teller im Geschirrschrank neu an.