Katja Eichinger studierte am British Film Institute und arbeitete als Journalistin in London, u.a. für Vogue, Dazed & Confused und die Financial Times. Nach ihrem Bestseller »BE«, der Biografie ihres verstorbenen Mannes Bernd Eichinger, ist »Mode und andere Neurosen« ihr neues Sachbuch. Neben ihrer Arbeit als Autorin produziert Eichinger Musik, präsentiert Ausstellungen und fotografiert.
Der Berliner Fotograf Christian Werner (geb. 1977) arbeitet für nationale und internationale Zeitschriften wie das ZEITMagazin, 032c, SSENSE und Numéro. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Langzeitprojekte, die in mehreren Büchern erschienen sind. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
www.christianwerner.org
»Katja Eichinger hat nicht nur ihren ganz eigenen modischen Stil, auch ihre Texte sind unverkennbar einzigartig. Großes Kino für den Kopf.« Christiane Arp, Chefredakteurin Vogue
Was ist Mode? Was erzählen wir über uns, wenn wir uns anziehen? Und woher kommt die Lust an Inszenierung und Selbstausdruck? In ihren persönlichen Essays schreibt Katja Eichinger über Handtaschen, Hermès und Habermas. Sie denkt über Fast Fashion und Nachhaltigkeit nach, über die Träume und Hoffnungen, die wir mit unserem Äußeren verbinden, über die Sehnsucht nach Selbstwert und Einzigartigkeit im digitalen Zeitalter und über Mode als politische Geste. Ein radikal vergnügliches Buch, geschrieben mit wachem Blick und großem Gespür für die Sprache der Mode heute. Mit Fotos des Fotografen Christian Werner.
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Mode und andere Neurosen
Essays
Mit Fotografien von Christian Werner
Inhaltsübersicht
Über Katja Eichinger
Informationen zum Buch
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Einleitung
Streetwear oder Die Freiheit, die wir meinen
Jenseits des Penisneids. Die Designerhandtasche
Das Selfie oder Die Sehnsucht nach dem Selbst
Der Pygmalion-Komplex
Der Bart und andere Geheimnisse
Tapezieren mal anders. Über Tätowierungen
Das schnelle High. Fast Fashion
Von Wölfen und Anzügen. Patagucci
Luxus oder Der Club der roten Mäntel
Baader oder Prada Meinhof? Über Mode und Politik
Dank
Impressum
Für meine Mutter
You haven’t even scratched the surface
of my superficiality.
CLIFFORD LEO HARRIS, HEARTBREAK HOTEL
Dream Baby Dream.
ALAN VEGA, SUICIDE
Ich saß unter der Singer-Nähmaschine meiner Großmutter in Wolfhagen, einer Kleinstadt in Nordhessen, und beobachtete, wie ihre Füße auf der Wippe die Maschine zum Schnurren brachten. Es war warm in dem kleinen Nähzimmer. Der Stoff auf dem Schoß meiner Großmutter rutschte wie magisch hoch zur Nähmaschine. Ab und zu hielten ihre Füße inne, das Schnurren hörte auf und ein metallisches Klacken brachte die Holzplatte über meinem Kopf zum Vibrieren. Dann schnurrte es weiter. In den Händen hielt ich eine Blechdose mit Knöpfen. Einige waren mit Glitzersteinen besetzt. Die kramte ich heraus und legte sie in einem Muster vor mir auf den beigen Teppich mit den rostroten Blumen. Die Maschine schnurrte, meine Großmutter wippte, und ich war glücklich. Das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen.
Mode war für mich damals etwas, was man selbst herstellt und selbst bestimmt. Erst sehr viel später verstand ich, dass eine globale Industrie dahintersteht. Es dauerte eine Weile, bis ich lernte, dass die Dinge, die wir auf unserem Körper tragen, unsichtbaren Kräften unterliegen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Mode immer noch mit Glück und Kindheitszauber verbinde, mit diesem aufregenden Gefühl, sich im raschelnden Kleiderschrank meiner Mutter zu verlieren, dass mich diese Kräfte faszinieren.
Dass daraus ein ganzes Buch entstanden ist, verdanke ich Constanze Neumann, der Verlagsleiterin des Aufbau Verlags. Constanze war meine Lektorin bei »BE«, dem 2012 erschienenen Buch über meinen verstorbenen Mann Bernd Eichinger. Constanze und ich verbrachten einige sehr intensive Tage an der Côte d’Azur in Südfrankreich. Dort ist die Anhäufung von Mode-Neurotikern besonders hoch. Immer wieder blickt man dort in seltsam glatte, unbewegliche Gesichter. Bernd war gerade mal ein Jahr tot, und die Arbeit an »BE« war für mich nicht einfach. Die Unterhaltungen mit Constanze über Mode und die seltsamen Dinge, die Frauen im Namen der Schönheit tun, boten eine unterhaltsame Abwechslung. Ich erzählte ihr, dass ich mich während meines Studiums am British Film Institute auf Filmkostüme spezialisiert hatte und mich für Feminismus und Psychoanalyse interessierte. Auch dass ich früher viel für die Vogue und britische Zeitschriften wie Dazed & Confused und Esquire geschrieben hatte. Als Constanze wieder nach Hause fuhr, umarmte sie mich mit den Worten »und lass uns doch mal über ein Modebuch nachdenken.« Seither sind neun Jahre vergangen, und ich habe viel nachgedacht. Habe viel erlebt und einiges dazugelernt. Irgendwann war dann der Zeitpunkt erreicht, das alles aufzuschreiben.
Von Anfang an stand fest, dass das Buch bebildert werden sollte. Mode ist viel zu visuell, als dass ich auf Fotos verzichten wollte. Zunächst dachte ich an meine eigenen Fotos, aber fand es dann reizvoller, eine weitere Perspektive in das Buch einzubringen. Der Berliner Fotograf Christian Werner hatte mich im Herbst 2018 für einen Zeitungsartikel porträtiert. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden. Als er mir seinen Fotoband über Los Angeles zeigte, war ich sprachlos. Er hatte diese Stadt, in der ich viele Jahre gewohnt hatte, genau so eingefangen, wie sie sich für mich anfühlt. Ich konnte gar nicht glauben, dass da jemand die Welt fotografiert, wie ich sie sehe. Und nicht nur das. Christian Werner verleiht der Realität eine witzige und zugleich melancholische Note, die uns ihr Wesen besser verstehen lässt. Er war mir während der Entstehung dieses Bandes ein wichtiger Gesprächspartner und die Arbeit mit ihm eine große Freude.
Eine Neurose, das ist der anhaltende Zustand, nicht zu wissen, was man will. To be or not to be. Shakespeares Hamlet ist der wohl berühmteste Neurotiker der westlichen Kulturgeschichte. Gefangen im ewigen Zweifel, verloren in der Ambivalenz der menschlichen Existenz. Wenn wir lieben, hassen wir auch, und wenn wir hassen, lieben wir zugleich. Wer uns frustrieren kann, kann uns auch zufriedenstellen. Und wer uns zufriedenstellen kann, kann uns auch zutiefst frustrieren. In jeder zwischenmenschlichen Beziehung zweier Individuen sind mindestens sechs Personen involviert: die beiden Personen, um die es geht; die beiden Personen, die diese beiden jeweils denken zu sein; sowie die beiden Personen, für die sie einander halten. Vielleicht auch noch die beiden Personen, die sie gerne sein würden und die beiden, vor denen jeder der beiden Angst hat. Kleidung, also die Art, wie wir unsere Körper unseren Mitmenschen präsentieren, ist essenzieller Bestandteil dieses ewigen Wechselspiels aus Missverständnissen, Täuschungsmanövern, Projektionen und Begehren. Kleidung hat immer eine symbolische Komponente, und es liegt in der Natur des Symbols, dass es miss- oder nicht verstanden wird. Denn ein Symbol ist immer offensichtlich und mehrdeutig zugleich. Der gute Geschmack soll uns von dieser Ambivalenz befreien. Soll sicherstellen, dass wir begehrlich sind und uns vor Lächerlichkeit beschützen. Der gute Geschmack will dauerhaft festlegen, wie wir etwas zu verstehen haben. Wie ein übel gelaunter Diktator, humorlos, paranoid und engstirnig, stampft er durch unsere Köpfe und macht sich wichtig. Befeuert von den Medien und den sozialen Netzwerken. Doch jeden Tag aufs Neue entmachten wir ihn. Verstoßen gegen seine Regeln, missverstehen, zweifeln. Und genau darin liegt die Schönheit des Menschlichen – und damit auch der Mode.
Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.
WERTHER, »DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER«
Es war ein lauer Frühsommertag am Starnberger See. Ich saß mit Freunden im Biergarten und aß Rhabarberkuchen. An den anderen Tischen ein geschmackvolles Meer aus Khaki und weißem Leinen. Die liberale Bourgeoisie Münchens hatte sich wieder einmal zu einem ästhetischen Ritual versammelt, um sich daran zu erinnern, warum sie nicht in Berlin wohnt. Plötzlich fiel meinem Freund Matthias ein älterer Herr in Schwarz auf. Er saß ein paar Meter entfernt mit dem Verleger Michael Krüger in ein Gespräch vertieft. »Ist das nicht …?«. Bevor Matthias den Namen aussprechen konnte, flatterte sein Partner Gürsoy schon aufgeregt »Ja, ja, er ist es!« Ich kniff prüfend meine nicht besonders leistungsstarken Augen zusammen. In der Tat. Der Schopf weißer Haare und die leicht schiefe Nase ließen keinen Zweifel. Bei dem Herrn in Schwarz handelte es sich um Jürgen Habermas. Ich verschluckte mich kurzfristig an meinen Rhabarberstreuseln. Dies war ein außerordentlicher Moment. Ich befand mich nur wenige Bierkrug-Längen von einem der größten Denker unserer Zeit entfernt. Fast war ich noch sprachloser – wenn es denn eine Steigerung von sprachlos geben sollte – als an dem Tag, an dem ich in der Einkaufsschlange bei Karstadt hinter Elfriede Jelinek gestanden hatte.
Hier saß er nun, der Mann, der nachhaltig den Begriff der »Öffentlichkeit« geprägt und damit den Grundstein für die moderne Kommunikationstheorie geliefert hat. Habermas definierte in seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit« ein Idealmodell der Öffentlichkeit, bei dem alle Gesellschaftsgruppen Zugang zum öffentlichen Diskurs haben. Durch Vergleich der besten Argumente bildet sich dabei eine öffentliche Meinung, die zur politischen Entscheidungsfindung der Regierenden beiträgt. Das Volk klärt sich laut Habermas gegenseitig auf, um den Sieg der Vernunft zu gewährleisten. In einem Zeitalter, in dem der öffentliche Diskurs nicht so sehr von Ansichten, sondern von Algorithmen bestimmt wird, in dem Angst und Hass die sozialen Netzwerke überfluten, in dem Staatsoberhäupter und Nachrichtensender sich nicht mehr so sehr der Wahrheit, sondern eher Stimmungen und Unterhaltungswerten verpflichtet fühlen, wird einem bei so viel Glaube an Rationalität ganz warm ums Herz.
Und was war das Erste, das Habermas der Öffentlichkeit des Biergartens durch seine Anwesenheit kommunizierte? Welche Botschaft hatte einer der größten Denker unserer Zeit für uns in diesem Moment? In Absenz eines hörbaren Wortes waren es seine Turnschuhe, die am lautesten sprachen. Schwarze Turnschuhe mit weißer Sohle und auffällig weißem Logo der Marke Nike. Ein paar Jahre zuvor hatte er sich für den Kyoto-Friedenspreis mit einer Rede zum Thema »Freiheit und Determinismus« bedankt. Die Rede war damals im Tagesspiegel unter der Überschrift »Die Freiheit, die wir meinen« abgedruckt worden. Im Biergarten trug Habermas ein Paar Nike vom Modell »Free Ultra«. Ich war fertig mit den Nerven. Ob ihm die Ironie wohl bewusst war? Ich habe mich nicht getraut zu fragen.
Freiheit, das ist die Essenz des Turnschuhs. Mit einem Turnschuh ist man frei von Zwängen des normalen ledernen Schuhwerks; frei, um jeden Bewegungsdrang uneingeschränkt auszuleben. In diesem Sinn bedient der Turnschuh sowohl das Konzept der positiven als auch der negativen Freiheit, wie sie der Philosoph Isaiah Berlin 1958 in einer Vorlesung in Oxford definierte. Mit dem Turnschuh sind wir »frei von« (zum Beispiel Zwang, Not, Hunger, Gewalt) und »frei um zu« (zum Beispiel zu reden, reisen, schreiben). Dabei ist der Turnschuh unter dem Mode-Genre »Streetwear« einzuordnen. Zur »Streetwear« gehören auch Kleidungsstücke wie Baseball-Caps, T-Shirts, Sweatshirts, Hoodies oder Jogginghosen. Nicht bei allen »Streetwear«-Artikeln ist die Zwanglosigkeit und Bewegungsfreiheit so immanent wie beim Turnschuh. Aber trotzdem schwingt es immer mit: ein sowohl nebulöses wie verführerisches Versprechen von Freiheit. Was genau das ist, Freiheit, darüber debattiert die Menschheit schon sehr viel länger als seit Isaiah Berlins Vorlesung. Nämlich ungefähr seit 2300 Jahren, als Aristoteles über den freien Willen nachdachte. Aber weder Aristoteles noch Berlin noch andere Philosophen wie Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jean-Jaques Rousseau oder Jean-Paul Sartre, die sich mit dem Konzept der Freiheit auseinandersetzten, trugen Nikes »Free Ultra«-Turnschuhe. Und weil es an dieser Stelle um »Streetwear« geht, will ich es bei Jürgen Habermas’ Definition von Freiheit belassen:
»Der Handelnde ist dann frei, wenn er will, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält. Als Unfreiheit erfahren wir nur einen äußeren Zwang, anders zu handeln, als wir nach eigener Einsicht handeln wollen.«
So umreißt Habermas Freiheit in seiner Kyoto-Rede. Mit anderen Worten, laut Habermas sind Menschen dann frei, wenn sie in der Lage sind, aus einleuchtenden Gründen heraus eine persönliche Entscheidung zu treffen und entsprechend zu handeln. Entscheidungsfreiheit, also frei zu sein von Zwängen und Kontrolle durch Autoritäten, war denn auch von Anfang an das große Thema der Streetwear. Früher hätten wir Streetwear unter dem Begriff der Freizeitmode zusammengefasst. Und Freizeit, das ist ein Konzept, das in der industriellen Revolution gegen Mitte des 19. Jahrhunderts entstand. Es war die Freiheit, über die eigene Zeit verfügen zu können und sich nicht dem Diktat des Arbeitgebers unterordnen zu müssen, durch die sich damals die proletarische Kultur entwickelte. Wobei sich Massensportveranstaltungen und die damit verbundenen Riten emotionaler Enthemmung zu einem zentralen Element herauskristallisierten. Freizeit und Sport gehören denn für viele auch zusammen. Der eine Begriff wird mit dem anderen assoziiert. Doch weder das Sportstadion noch der Fußballplatz sind Orte, an denen man langfristig Zeit verbringt, und so wurde die Straße zum Aufenthaltsort der proletarischen Jugend. Nicht nur die aufregende, immer wieder romantisierte Straße urbaner Ghettos, sondern vor allem auch die nassen Bürgersteige der Vorstädte und Dörfer in der Provinz. Die Hauptbeschäftigung an diesen Orten ist das Nichtstun.
Ich wuchs in einem Dorf in der Nähe von Kassel auf, wo die Dorfjugend jeden Tag stundenlang auf der Mauer vor dem Edeka-Markt saß. Weil ich nicht die lokale Gesamtschule, sondern das altsprachliche Gymnasium in der Stadt besuchte, hatte ich, abgesehen vom Konfirmandenunterricht, wenig mit der Dorfjugend zu tun. Meine Mutter hätte wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch bekommen, hätte sie mich auf der Mauer gesehen. Aber auch ohne elterliches Einschreiten schien mir das Herumgesitze maximal unattraktiv. Nur um eine Sache habe ich sie beneidet, die Svens, Olafs, Nicoles und Christinas von der Mauer vor dem Edeka-Markt: ihre Adidas »Allround«-Turnschuhe.
Ein Leben ohne ein Paar Adidas »Allround«-Schuhe war für einen Teenager der achtziger Jahre eigentlich kein Leben. Man war für immer verdammt in die Zirkel der Uncoolness, in die meine Schule sowieso gehörte. In meiner Klasse gab es ein Mädchen, deren Eltern zu Hause Latein sprachen. Und es gab auch Kinder, denen die Eltern verboten, Jeans zu tragen. Wir gehörten also nicht unbedingt zur Speerspitze der modischen Avantgarde. Trotzdem gab es sie sogar am Kassler Friedrichsgymnasium, die »Allround«-Träger, die den Sprung aus der Antike in die modische Neuzeit geschafft hatten. Die Turnschuhe, die alle haben wollten, waren also nicht begrenzt auf die Straße beziehungsweise Mauern vor Edeka-Märkten. Vielmehr gehörten sie zu dem in den Achtzigern aufflammenden Markenbewusstsein wie der intensive Duft von Christian Diors Parfum »Poison« (verboten an meiner Schule) und Benetton-Pullover beziehungsweise die grünen Einkaufstüten der Benetton-Läden, die man stolz als Sportbeutel benutzte. Es ist heute kaum vorstellbar, aber globale Jugendmarken mit ikonischen Logos, deren Essenz einmal destilliert und dann unendlich oft wiederholt wird, gab es vor den Achtzigern nur sehr wenige.
Als 1981 MTV auf Sendung ging, veränderte sich das schlagartig. MTV machte allen vor, wie man die Sehnsüchte, Abneigungen und Ängste hormonell geplagter Teenager in ein Logo packen und ein globales Phänomen erschaffen konnte. Der Geruch von »Teen Spirit«, wie er 1991 von Nirvana besungen werden sollte, wurde von MTV extrahiert und zum Verkauf angeboten.
Der Turnschuh war zentraler Bestandteil der MTV-Ikonographie, verkörpert er doch spätestens seit den Ramones Rebellion und Selbstbefreiung von Zwängen.
Als Joschka Fischer 1985 bei seiner Vereidigung zum ersten grünen Minister Nike-Turnschuhe trug, löste er damit eine Welle der Empörung im bürgerlichen Lager aus. Fischer war einer der wichtigsten Vertreter der Alternativbewegung, die sich 1978 nach dem Deutschen Herbst formiert hatte. Anstelle des bewaffneten Widerstands der Roten Armee Fraktion wollte man eine alternative Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft aufbauen, jenseits von starren gesellschaftlichen Normen und veralteten Denkweisen. Mit Fischers Vereidigung war klar: Die Alternativbewegung war im Begriff, die etablierte Gesellschaft zu erobern. Und seine Turnschuhe waren das Sinnbild für die Missachtung der alten Gesellschaftsordnung.
Auch mein verstorbener Mann Bernd zählt zu den Turnschuhrebellen der Achtziger. Einmal erzählte er mir, wie er Anfang der Achtziger, ohne groß nachzudenken einen Bayerischen Filmpreis in Jeans und Turnschuhen entgegennahm. Er hatte die Aufregung, die seine Kleidung auslöste, überhaupt nicht verstanden. Seine Aufmachung sei keine bewusste Provokation gewesen. Er habe andere Probleme gehabt, als über die Kleiderordnung bei so einer Veranstaltung nachzudenken. Also sei er einfach als er selbst erschienen. Die Empörung, die er mit seinen Turnschuhen auslöste, fand er völlig hysterisch. Aber ein »Dresscode«, also eine Kleiderordnung, das ist immer ein symbolischer, hochemotionaler Gesellschaftsvertrag. Insbesondere bei Preisverleihungen, deren Existenzberechtigung darin besteht, dass sich ein sozial-kulturelles Soziotop versammelt, um Wertigkeiten zu definieren. Wer diesen Vertrag ignoriert, wird vom System bestraft. Doch die Erinnyen der Presse konnten Bernd nicht abschrecken. Er machte die Turnschuhe zu seinem Markenzeichen, dem er treu blieb.
Seitdem hat sich viel verändert. In den letzten zehn Jahren hat das Streetwear-Genre eine Explosion erlebt. 2017 wurde der Wert des New Yorker Streetwear-Labels Supreme mit einer Milliarde Dollar beziffert. Eine unfassliche Summe, wenn man bedenkt, wo die Ursprünge dieses Labels angesiedelt sind. Als eines der ersten Streetwear-Labels griff Supreme einen Trend auf, den der Kalifornier Shawn Stussy erstmals 1981 gesetzt hatte. Stussy gilt als Erfinder und Pionier der Streetwear. Der Mann, der nachhaltig beeinflusste, was wir heute immer noch tragen.
Stussy war Teil der kalifornischen Surf- und Skateboard-Szene und verdiente sein Geld, indem er Surfbretter baute und verkaufte. Damit gehörte er einer Anti-Establishment-Subkultur an, die sich durch Freiheit als Lebensgefühl und durch die Ablehnung der Kommerzfetischisierung der Reagan-Ära definierte. 1980 soll er zum ersten Mal seinen Namen mit zwei Umlautzeichen über dem »u« auf eins seiner Bretter gekritzelt haben. Als er im Jahr darauf zum ersten Mal seine Surfbretter auf einer Surfmesse verkaufte, ließ er vorher schwarze T-Shirts mit seinem Logo bedrucken. Am Ende der Messe hatte er weniger als 30 Surfbretter verkauft, aber Bestellungen für etwa 1000 T-Shirts entgegengenommen. Damit stieg Stussy ins Modegeschäft ein. Auf T-Shirts, Baseballkappen und Sweatshirts verarbeitete er visuelle Einflüsse aus der Hip-Hop-Szene, der Punk-Ästhetik von Bands wie den Sex Pistols oder The Clash, Reggae, dem Pop-Art Künstler Keith Haring, aber auch Haute Couture, wie zum Beispiel das Chanel-Logo, in seinen Designs. Plakative Schriftzüge und Graphik entwickelten sich zu Erkennungsmerkmalen der Streetwear. Auch wenn Geld nie Stussys Hauptmotivation zu sein schien, so verbuchte die Marke Ende der achtziger Jahre doch einen zweistelligen Millionenumsatz.
Gleichzeitig wurde Stussys Stil von der New Yorker Hip Hop- und Skateboarding-Szene aufgegriffen. Run DMC und die Beastie Boys gehörten zu den Pionieren des Streetwear-Stils. James Jebbia hatte 1991 den ersten Stussy-Laden in New York eröffnet. 1994 gründete er sein eigenes Label Supreme und eröffnete einen Laden auf der Lafayette Street in SoHo. Neben Keith Harings Pop-Up-Store war es der einzige Laden in der Gegend. SoHo war damals heruntergekommen und leer. Der ideale Ort für Skater. Während Stussy 1996 aus seinem Unternehmen ausstieg, um nach eigenen Angaben »mehr Zeit auf Hawaii« zu verbringen, begann Supreme mit Marken wie Nike, Fila und North Face zusammenzuarbeiten.
Ich lebte damals in London. Skater waren mir egal. Es drehte sich alles um Musik. Und ob nun bei Bands wie den Stone Roses oder den Happy Mondays, Drum ’n’ Bass oder Techno Clubs – Streetwear war überall. Raves, Musikfestivals und die Clubkultur der Neunziger forderten Kleidung, in der man tanzen, in Autos oder auf Sofas übernachten konnte. Streetwear war dafür ideal. Heute schließen die Clubs, und ironischerweise werden stattdessen Streetwear-Läden eröffnet, in London ebenso wie in New York. SoHo, die Heimat von Supreme, ist mittlerweile ein Epizentrum des Konsums. Der Stadtteil ist zu einer riesigen Shopping-Mall mutiert. Eine globale Marke reiht sich an die nächste. Jebbias Unternehmen folgte einer ähnlichen Entwicklung. 2017 verkaufte Jebbia fünfzig Prozent von Supreme für 500 Millionen Dollar an die Equity-Firma The Carlyle Group. Trotzdem hat es Supreme geschafft, nach außen hin das Erscheinungsbild der authentischen Indie-Marke zu wahren. Supreme produziert Kleidungsartikel in geringer Auflage und informiert treue Kunden per E-Mail über deren Verkauf. Dadurch entstehen lange Schlangen vor den Geschäften, die Begehrlichkeit wecken. Der Supreme-Shop ist kein strahlender Konsumtempel, sondern weiterhin ein Nischenort für die Gemeinschaft der Supreme-Fans. So positioniert sich Supreme erfolgreich als Alternative zum kapitalistischen Mainstream. Das Image von Authentizität und Rebellion wird trotz des Massenerfolgs aufrechterhalten.
Der Erfolg von Supreme ist emblematisch für die zunehmende Durchdringung der Modewelt durch Streetwear. Der Trend zu einer weniger formellen Mode, die Kunden größere Bewegungsfreiheit bietet, hat schon in den zwanziger Jahren mit Coco Chanels »flapper dress« begonnen. Chanels Mode war bequem und praktisch. Ihr Einfluss ist besonders bei amerikanischen Designern wie Ralph Lauren, Donna Karen und Calvin Klein spürbar, die die Betonung auf Funktionalität legen. Doch als das Pariser Design-Kollektiv Vetements 2015 so weit ging und mit übergroßen Sweatshirts und klobigen Turnschuhen (die sogenannten »Ugly Sneakers«) die Streetwear-Ästhetik in seine Herbst/Winter-Kollektion integrierte, war das eine Sensation. Was Vetements da tat, war elektrisierend, und ihre Modeschauen waren hochantizipierte Zeitgeistmomente. Der Turnschuh hielt nun auch bei anderen Labels auf dem Catwalk Einzug. Vetements-Designer Demna Gvasalia wurde noch im selben Jahr zum Chefdesigner des Luxuslabels Balenciaga ernannt. Auch hier verwendete Gvasalia Zitate aus der Freizeitmode des Proletariats. Die karierten Tragetaschen, wie man sie aus deprimierenden Waschsalons kennt, ebenso wie die »Bum Bag« oder Gürteltasche, bisher modisches Erkennungsmerkmal von Straßendealern, wurden mit Balenciaga-Logo versehen und für horrende Preise verkauft. Mit großem Erfolg. Der Umsatz Balenciagas ging durch die Decke. Louis Vuitton, ein Label, das durch seine große Logo-Präsenz schon vorher eine Affinität zur »Bling«-Kultur der Rap-Szene hatte, zog nach und ernannte Virgil Abloh zum Designer der Louis Vuitton-Männerkollektion. Abloh hatte 2013 das Design Label Off-White gegründet, das bewusst Streetwear mit Zitaten aus Kunst, Haute Couture, Musik, und Architektur verbindet (Abloh studierte Ingenieurswesen und Architektur). Abloh zählt den Objektkünstler Marcel Duchamp und dessen readymade-Skulpturen zu seinen wichtigsten Einflüssen und wurde gleichzeitig durch seine Kollaborationen mit den Rappern Jay-Z und Kanye West berühmt. Abloh, der auch als DJ auflegt, sieht sein kulturelles Zuhause in der sample culture, dem freien Spiel der Einflüsse, zwischen Exklusivität und Massenware, zwischen traditionellen Vorstellungen von Kunst und Kommerz. Der Aufschrei war groß, als Abloh mit seiner ersten Louis Vuitton-Schau nicht so sehr die Streetwear zitierte, sondern sie zur Basis seiner Kollektion machte. Ähnlich wie 1966, als Yves Saint Laurent als erster Pariser Couturier mit Yves Saint Laurent Rive Gauche ein Prêt-à-Porter-Label ins Leben rief und dabei ein jüngeres, weniger exklusives Publikum ansprach, wurde Abloh beschuldigt, den »Untergang der Mode« herbeizuführen. Wie von Balenciagas Waschsalon-Taschen vorgeführt, hatte sich mit Ablohs Kollektion die Fahrtrichtung von Einflüssen verkehrt: War es bisher so gewesen, dass die Ideen der Haute Couture langsam nach unten in den Massenmarkt sickerten, filterte Abloh den Massenmarkt nach oben. Das Vulgäre wurde zum guten Geschmack erhoben. Als »vulgär« wird von den Hütern des guten Geschmacks das bezeichnet, was exzessiv, übertrieben, ausufernd, was zu populär ist. »Vulgär« ist immer auch ein Begriff der sozialen Ausgrenzung, besagt er doch, dass ein vulgärer Mensch nicht das kulturelle Wissen besitzt, um Einlass in höhere sozio-ökonomische Schichten zu erhalten. Indem Abloh die exzessive Ikonographie von Rap, Streetwear und Massenmarkt in die Luxusmode einführte, verband er Popularität mit Exklusivität und damit auch die modischen Zeichen verschiedener sozio-ökonomischer Klassen.