Zu wenig Zeit für die Patienten und immer gleich Antibiotika? „Schulmedizin“ hat keinen guten Ruf. Akupunktur, Osteopathie & Co. hingegen sind angesagt. Sie gelten als sanft und natürlich. Doch weder ist die Natur immer gut, noch jede alternative Heilmethode wirksam. Die Ärztin Natalie Grams hat den ultimativen Kompass durch die Welt der Medizin geschrieben. Sie klärt auf, welche Verfahren wirken, was die Gründe dafür sind – und wie eine ganzheitliche Heilkunst auf wissenschaftlicher Basis das Vertrauen der Patienten zurückgewinnen kann. Ein Buch, das endlich Orientierung im Dschungel medizinischer Mythen verschafft.
Natalie Grams, geboren 1978 in München, ist Ärztin, Autorin und bekannte Aufklärerin auf vielen Plattformen und in den Sozialen Medien. 2019 gewann sie den Goldener Blogger Award für den besten Twitter-Account Deutschlands. Im gleichen Jahr schlug der Versuch einer Abmahnung des Homöopathie-Konzerns Hevert gegen sie hohe Wellen. https://twitter.com/NatalieGrams
Natalie Grams-Nobmann
Was wirklich wirkt
Kompass durch die Welt der sanften Medizin

Ich freue mich sehr, dass dieses Buch nun in dritter Auflage, leicht überarbeitet und ergänzt, als Taschenbuch erscheint. Seit der ersten Auflage im Frühjahr 2020 ist viel geschehen: Die Corona-Pandemie mit ihren verschiedenen Wellen ist über uns hinweggerollt. Sie hat uns wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte gezeigt, wie wichtig es ist, gerade auch im Gesundheitsbereich Fakten von Meinungen oder gar »Fake News« zu unterscheiden. Genau dazu eine kleine Anleitung zu geben war und ist das Ziel dieses Buches. Es ist sicherlich nicht alles gut gelaufen in den letzten Monaten, aber das, was wir gemeinsam erreicht haben in dieser Pandemie, ist auf den Fortschritt der Wissenschaft und gute Medizin zurückzuführen. Doch beides wurde immer wieder torpediert durch Falschbehauptungen, überzogene Hoffnungen oder Halbwissen, das letztlich schlimmer als Unwissenheit sein kann. Und dieses Problem kennen wir schon aus der Vergangenheit von weit vor der Corona-Krise.
Schauen wir einmal auf die letzte Zeit: Ein wirkliches Highlight der Wissenschaft war die schnelle Entwicklung von Impfstoffen gegen COVID‑19, insbesondere die neue mRNA-Technologie. Das Misstrauen war groß, zunächst aufgrund der angeblich überhasteten Entwicklung, später gegenüber der mRNA-Methode an sich, die irgendwie diffus mit Genen oder Gentechnik assoziiert wurde. In alldem steckt neben gesunder Skepsis Neuem gegenüber auch viel unberechtigtes Misstrauen und bewusste Panikmache. Da wurde von »Notfallzulassung« gesprochen (die es in Deutschland definitiv nicht gab) oder gar von »gentechnischen Experimenten an Kindern«. Und obwohl es immer auch richtige Informationen, seriöse Informationsquellen und echte Expert:innen gab, liefen wir praktisch immer hinter der geschürten Panik aus Halb- und Unwahrheiten, ja manchmal richtiggehenden Verschwörungsmythen her.
Das hat mich einmal mehr darin bestätigt, wie wichtig die Aufklärung gerade auch in der Medizin ist. Wie wichtig es ist, zu verstehen, warum wir die Wissenschaft brauchen, um Wissen von Glauben zu unterscheiden, und wie Wissenschaft als Methode genau funktioniert. Ich erinnere mich mit etwas Schrecken daran zurück, wie in der Anfangszeit der COVID‑19‑Pandemie die Homöopathie mit ihren Globuli um die Ecke kam und das angepriesene Arsenicum Album C30 angeblich sogar kurzzeitig nicht mehr lieferbar war. Belege für eine Wirksamkeit gab es trotz steiler Behauptungen nicht. Warum die Homöopathie nicht über den Placeboeffekt hinaus wirkt, erfahren Sie auch in diesem Buch, aber das wussten wir auch schon vor der Pandemie.
Wie immer in Notzeiten haben viele von uns jedoch gerne nach jedem Strohhalm gegriffen. Am Anfang waren die Impfungen noch ziemlich weit weg, dann waren sie erstaunlich schnell da, und auch das erschien manchen wiederum unsicher, so dass man sich lieber auf, vermeintlich sanfte, Alternativversprechen verlegte wie auf das des Pferde-Entwurmungsmittels Ivermectin, das sich letztendlich und dank wissenschaftlicher Forschung jedoch als nicht wirklich hilfreich erwiesen hat. Und es kann sogar schaden! Trotzdem hält sich die Behauptung hartnäckig, dass es gegen COVID‑19 helfen würde. Der Fall Ivermectin illustriert insofern das Problem bei den sogenannten Alternativen sehr gut: Es ist nicht nur die steile Behauptung, die oft ohne Beleg daherkommt, sondern auch und vor allem der anhaltende, fast wahnhafte Glaube, dass doch etwas dran sein müsse, auch wenn die Behauptung längst als falsch widerlegt wurde. Das passiert, im negativen Sinne, aber auch bei »richtigen« Arzneimitteln wie den neuen mRNA-Impfstoffen. Da wird zum Beispiel unbeirrt behauptet, dass diese unfruchtbar machen würden, obwohl es dafür nach milliardenfach durchgeführten Impfungen keine Belege gibt – weder bei Männern noch Frauen. Dass jedoch die COVID‑19‑Infektion unfruchtbar machen kann, wird dagegen gerne geleugnet oder zumindest heruntergespielt.
Es glaubt sich intuitiv so einiges, und nicht immer kommt man mit Wissen dagegen an. Um Glauben von Wissen zu unterscheiden – und das musste ich auch erst lernen –, brauchen wir im Zweifel die Wissenschaft. Und zwar eine, die sich tatsächlich an wissenschaftliche Kriterien hält und nicht nur an den einen/die eine besondere/n Wissenschaftler:in mit der antagonistischen Einzelmeinung, mit der krampfhaft gegen den Strom der Wissenschaftsgemeinschaft geschwommen wird, weil er oder sie entweder wirklich dran glaubt oder man ein bisschen Ego‑PR braucht. Einsam forschende Genies sind eher Nostalgie; die komplexen Themen der heutigen Zeit erfordern meist internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit.
Schön wäre es, wenn diese unbelegten Dinge dann auch rasch wieder von der Bildfläche verschwinden und nicht durch das Prädikat ›Die Wahrheit wird doch nur verschwiegen‹ erst noch Bedeutung erlangen würden. Und das betrifft durchaus auch Mittel und Vorschläge aus der normalen Medizin, wie wir am Beispiel von Hydroxychloroquin und Remdesivir gesehen haben. Die zeigten kaum oder gar keine Wirkung – trotz intensiver Erforschung und trotz des großen Wunsches, es gäbe nicht nur die Impfung als Prävention gegen COVID‑19, sondern auch Medikamente zur direkten Behandlung. Andere wie Dexamethason oder ganz banales Aspirin, also billige Pharmaklassiker, zeigten, dass sie zumindest die Symptome lindern helfen können. Es geht also nicht darum, Neues oder Altes per se auszuschließen oder die Augen nicht nach Alternativen offen zu halten. Allerdings wollen wir alle doch sicherlich nur bessere Alternativen und nicht Unwirksames oder gar Schädliches! Es ist in der Wissenschaft nicht nur ganz normal, sondern sogar erwünscht, auch über haarsträubend verrückt klingende Möglichkeiten zu diskutieren. Aber dann muss man für solche Thesen eben auch überzeugende Daten vorlegen, keine entscheidenden Punkte weglassen oder gar beleidigt von dannen ziehen, wenn andere die Daten kritisch prüfen und Fehler oder Widersprüche darin finden. Eigentlich beginnt erst dann die wissenschaftliche Arbeit. Es gilt eben nicht, wer mehr fühlt, hat mehr recht. Recht hat vielmehr derjenige, der die besseren Daten und Ergebnisse vorlegen kann. Und wichtig ist dabei auch, zu akzeptieren, dass es meist nicht einzelne geniale Ideen oder Entdeckungen (und schon gar nicht Meinungen!) sind, die uns voranbringen, sondern das Zusammenwirken von vielen Menschen, die in guten Zeiten über Jahrzehnte viele gute Ideen zusammentragen, weiterentwickeln, verwerfen und neu anfangen. Damit schaffen wir etwas, was stabiler und komplexer ist als jede Idee, die im Kopf einer einzelnen Person entsteht. In schlechten Zeiten, so wie jetzt in der Corona-Krise, muss dieses Zusammenwirken schneller, stringenter, internationaler, innovativer und mutiger erfolgen als sonst, aber es darf nicht die wichtigsten Grundsätze des Wissen-schaffens vergessen: besser zweimal hinschauen, fest Geglaubtes lieber noch mal überprüfen, sich trauen, gutes Wissen durch besseres Wissen zu ersetzen und sich dabei nicht durch Geschäftsinteressen oder auch ideologische Verblendung korrumpieren zu lassen. Dann ist es auch ziemlich egal, woher dieses Wissen kommt, denn nicht, wo Wissen herkommt, ist interessant, sondern wohin es uns bringt.
Dies und das ständige Checken des aktuellen Wissens ist das Grundprinzip der Wissenschaft. Und deshalb ist sie auch ständig in Bewegung. Das ist ihr von vielen Seiten in der Pandemie vorgehalten worden (»die Wissenschaft sagt heute so, morgen so«), ohne dass erkannt wurde, dass hierin eben die Stärke der Wissenschaft liegt. Auch darüber möchte dieses Buch weiterhin aufklären. Natürlich war vieles verwirrend, natürlich war die Kommunikation nicht immer die beste. Ganz zu schweigen von den Kolleg:innen, die in dieser Pandemie das ärztliche Ethos unterminiert haben, indem sie falsche Impf- und Testbestätigungen oder falsche Maskenatteste ausgestellt, mit Kochsalz »geimpft« oder Missinformation verbreitet haben!
Und genau deshalb ist es nach wie vor das Kernanliegen dieses Buches, eine Handreichung dafür anzubieten, wie es gelingen kann, dem (wunderbaren und faszinierenden) Pfad der Vernunft und der Wissenschaft zu folgen, ohne auf die – oftmals verlockenden – Irrwege der Pseudomedizin zu geraten. Dies wird in Zukunft immer wichtiger werden; die Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, wie wichtig eine Orientierung im Dschungel von Behauptungen und Falschinterpretationen sein kann. Und die nächste Pandemie kommt bestimmt.
Aber in diesem Buch geht es darüber hinaus auch um das große Thema der »guten Medizin«. Völlig klar ist, dass nicht alles in der etablierten Medizin eitel Sonnenschein ist. Diese Seite der Medaille war – unabhängig von der expliziten Kritik an Pseudomedizin – schon immer ein Teil meiner Aufklärungsarbeit. Und auch hier hat die Pandemie uns gezeigt, was alles im Argen liegt. Gute Wissenschaft macht sich selbst unwert, wenn sie Menschen schlecht behandelt, sei es im Einzelfall im ärztlichen Gespräch oder als Gesundheitssystem. Auch hier gilt es, über grundlegende Dinge Wissen zu erlangen. Ob Impfen, Medikamente, die Grundlagen unseres Gesundheitswesens und einiges mehr. Auch die Verschleuderung von Krankenkassen-Beitragsgeldern für unwirksame Mittel und Methoden mit dem Segen des Gesetzgebers gehört hier erklärt – und kritisiert. Unser Gesundheitssystem kann sich »Goodies« in diesem Sinne einfach nicht leisten. Es ist nämlich ein längst rationiertes Mangelsystem. Und den Mangel bekommen nicht zuletzt Sie als Patient:innen zu spüren. Auch um diesen Missstand möchte sich das Buch kümmern.
Gute Humanmedizin kann auf moderne wissenschaftsbasierte Medizin nicht verzichten, sie darf aber ebenso wenig das Menschliche, Humane aus dem Fokus verlieren. Beides muss sinnvoll ineinandergreifen. Hierzu will dieses Buch einen kleinen Teil beitragen.
Machen wir uns also auf die Reise durch den Dschungel der Halbwahrheiten in der Medizin, der leider durch Corona noch dichter geworden ist.
Ihre Natalie Grams, die mittlerweile Natalie Grams-Nobmann heißt
Heidelberg, im Oktober 2021
Auf der Suche nach einer echten Alternative
Vielleicht geht es Ihnen wie vielen anderen Menschen auch, die enttäuscht sind von der modernen Medizin: Sie fühlen sich nicht gut behandelt. Nicht unbedingt weil die verschriebenen Medikamente nicht wirken, sondern vor allem weil es uns Ärzt:innen an Zeit fehlt, wir Ihnen nicht gut genug zuhören. Viele haben den Eindruck, für den Arzt oder die Ärztin nur noch ein »Fall« zu sein. Andere befürchten schädliche Nebenwirkungen, unnötige Operationen oder zu viele Antibiotika. Und wieder andere bemängeln, dass sich Medizin nur um Symptome kümmere, nicht um die »wahren« Ursachen der Beschwerden. Insbesondere die Hochleistungs- und Apparatemedizin wirkt auf viele Patient:innen kühl, distanziert und unverständlich; man fühlt sich ihr regelrecht ausgeliefert. Diese Enttäuschungen führen mitunter zu einer generellen Skepsis gegenüber der »Schulmedizin« und zu einer anhaltenden Suche nach sanften Alternativen. Verständlich – eine sanfte, behutsame Medizin, die uns ganzheitlich behandelt und vielleicht auch noch ohne Nebenwirkungen auskommt: Wer wünschte sich das nicht?
Als Ärztin und Mutter begegne ich täglich einer großen Verunsicherung bei Gesundheitsfragen. In Klinik und Praxis habe ich die oft harte Realität der Medizin erlebt. Diese weiß in vielen Fällen zwar Antwort auf Fragen nach körperlichen Beschwerden – im Umgang mit Patienten als Menschen hinterlässt sie jedoch oft Fragezeichen und Ohnmachtsgefühle. In Kindergarten und Schule wiederum treffe ich auf besorgte Eltern auf der Suche nach möglichst einfachen Antworten, die niemandem wehtun, vor allem nicht den eigenen Kindern. Auch Freund:innen und Bekannte wenden sich mit solchen oder ähnlichen Fragen und Sorgen an mich. Das Erstaunliche dabei: Insbesondere gut gebildete Menschen, die mitten im Leben stehen, die Beruf, Haushalt und Familie meistern, finden sich im Dickicht aus medizinischem Halb-, Schein- und Unwissen oft nicht mehr zurecht. Die ständig verfügbare Flut aus Informationen, Ratschlägen, Gesundheits- und Ernährungstipps führt nicht etwa zu mündigen Patient:innen, sondern im Gegenteil zu einer zunehmenden Überforderung oder gar Misstrauen gegenüber Ärzt:innen und der Medizin im Allgemeinen. Dabei spielen Google, YouTube, Soziale Medien oder Messenger-Elterngruppen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht zuletzt, weil neben wertvollen Informationen auch Lügen und Mythen kursieren, die Verwirrung stiften und Ängste schüren.
Diese Mythen und Halbwahrheiten möchte ich benennen – genau so, wie sie uns allen im Alltag begegnen – und unter die Lupe nehmen. Ich formuliere sie deshalb in den Kapitelüberschriften so, wie wir sie oft hören – von Kolleg:innen bei der Arbeit, von Eltern im Kindergarten, im Familien- und Freund:innenkreis, gerne als persönliche Anekdoten oder spektakuläre Geschichten, die sich auf Facebook in Windeseile verbreiten. Dabei wird es immer schwerer, einen klaren Blick zu bewahren: was stimmt, was stimmt nicht, was ist harmlos, wo lauern Gefahren? Wem kann ich überhaupt noch vertrauen? Und woher soll ich bitte schön die Zeit nehmen, das alles selbst zu überprüfen?
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alles zu wissen. Und das ist auch gar nicht nötig. Es genügt vollkommen, die richtigen Fragen zu stellen, zum Beispiel: Gibt es nachprüfbare Beweise für die Aussage, oder ist es nur eine Behauptung? Oder: Von wem kommt die Information, und welche Interessen könnten dahinterstehen? Nach der Lektüre der einzelnen Kapitel, so hoffe ich, haben Sie neue Perspektiven und nützliche Gegenfragen an der Hand, die Ihnen helfen, sich besser orientieren zu können. Dieses Buch soll Ihnen ein Kompass sein: durch den Dschungel der Halbwahrheiten der sogenannten Alternativmedizin. Und gleichzeitig ein kleiner Leitfaden für grundsätzliche Gesundheitsfragen.
Wenn uns eine Krankheit ans Bett fesselt, uns Schmerzen plagen oder wir Mitmenschen krank und leidend sehen, bleibt manchmal erschreckend wenig Raum für sachliche Argumente und einen kühlen Kopf, gerade auch, wenn in Extrem- und Akutsituationen Eile geboten ist. Wenn etwa das eigene Kind hohes Fieber entwickelt, eine Krebsdiagnose gestellt wurde, der COVID‑19‑PCR-Test positiv oder ein akuter Zusammenbruch erfolgt ist, ist einfach jeder Strohhalm der Hoffnung recht.
Ich weiß, wovon ich rede. Als Medizinstudentin hatte ich bei einem Autounfall großes Glück, nicht ums Leben gekommen zu sein. Auf einer Landstraße war mir plötzlich ein Auto entgegengekommen, der Fahrer hatte die Kurve geschnitten und steuerte auf meiner Fahrbahnseite direkt auf mich zu. Um einen frontalen Crash zu vermeiden, wich ich aus, doch direkt neben der Fahrbahn befand sich eine Böschung, und ich verlor sofort die Kontrolle über meinen Wagen. Während der Unfallverursacher weiterfuhr, überschlug ich mich mehrfach und krachte in die Bäume. Das Auto erlitt einen Totalschaden, doch ich selbst blieb durch unglaubliches Glück bis auf ein leichtes Schleudertrauma und ein paar Schrammen unverletzt. Zumindest dachte ich das und widmete mich schon kurz nach dem Unfall wieder meinem Studium.
Als ich ein paar Wochen später immer wieder ohnmächtig wurde und unter Herzrasen litt, konnte ich mir das nicht erklären. Ich ging zu Fachärzten, doch auch die konnten keine körperlichen Ursachen finden, weder am Herzen noch in der Schilddrüse noch sonst irgendwo. Auf die Idee, einen Zusammenhang mit dem Autounfall herzustellen, kam niemand, auch ich nicht, und mit jedem ergebnislosen Praxisbesuch nahm meine Ratlosigkeit zu. Eine Kommilitonin überredete mich schließlich, eine Heilpraktikerin und Homöopathin aufzusuchen. Ich überlegte ein paar Tage – und ging dann hin. Was hatte ich schon zu verlieren?
Im Gegensatz zu vielen Ärzten nahm sich die Heilpraktikerin Zeit, um über mich und meine Krankengeschichte zu reden. Sie war es auch, die mir half, meine aktuellen Probleme als verspätete Reaktion auf den Verkehrsunfall zu erkennen. Zur Behandlung verschrieb sie mir Globuli und riet mir zu einer Psychotherapie, um die Folgen des Unfalls aufzuarbeiten. Ganz ehrlich, vorher wäre ich nicht auf die Idee gekommen, die Hilfe eines/r Psychotherapeut:in in Anspruch zu nehmen. Ich litt unter der leider weit verbreiteten Auffassung, dass man da nur hinging, wenn man ernsthaft verrückt war. Doch nach dem ausgiebigen Gespräch mit der Heilpraktikerin, die mir das Gefühl gab, mich selbst wieder besser zu verstehen, ließ ich mich sowohl auf die Globuli als auch die Psychotherapie ein. Und tatsächlich verschwanden die Ohnmachtsanfälle und das Herzrasen. Ich war unglaublich erleichtert, und im Überschwang der Gefühle hegte ich keinerlei Zweifel daran, was mich gerettet hatte. Es war meine homöopathische Erweckung. Die Heilpraktikerin behandelte mich zwar auch noch mit traditioneller chinesischer Heilmassage, Akupunktur und Schröpfköpfen sowie einem Gerät, das positive Schwingungen in meinen Körper bringen sollte, aber in mir stand ganz klar fest: Es war die Homöopathie, die mich geheilt hatte.
Anstatt zu fragen, ob und, wenn ja, was da auf welche Art tatsächlich gewirkt hatte, entschloss ich mich, parallel zu meinem Medizinstudium eine Ausbildung zur Homöopathin und TCM-Ärztin (Traditionelle Chinesische Medizin) anzufangen. Wie viele meiner Kommilitonen stand ich den angeblichen Alternativen – von denen die Homöopathie nur die bekannteste und beliebteste war und bis heute ist – einigermaßen aufgeschlossen gegenüber, immerhin gab es zu der Zeit in Deutschland neben Tausenden von Heilpraktiker:innen und weit verbreiteter Selbstbehandlung auch rund 7000 aktive Ärzt:innen mit einer Zusatzausbildung (nach den aktuellen Statistiken der Bundesärztekammer waren es Ende 2000 noch rund 5200). Und nach meiner positiven persönlichen Erfahrung mit der Homöopathie stellte ich im Grunde keine kritischen Fragen mehr. Es fühlte sich gut an, mir ging es besser, fertig. Wie im Medizinstudium gab es auch hier massig Stoff auswendig zu lernen – viel Zeit für kritisches Hinterfragen war also eh nicht –, und so kam mir die Homöopathie eher wie ein Parallelwissen vor, das sich den gängigen wissenschaftlichen Methoden entzog. Nicht etwa, weil eine Wirkung wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte, sondern weil die wissenschaftlichen Methoden einfach noch nicht gut genug waren, um die Wirkweise zu erklären. Diese vollkommene Umkehr der Beweislast ist mir heute peinlich, obwohl ich weiß, dass es sich dabei um einen der typischen Denkfehler handelt, dem Anhänger:innen vermeintlicher Alternativen aufsitzen. Damals aber ließ ich Zweifel nicht aufkommen, zu überzeugt war ich von Samuel Hahnemanns über zweihundert Jahre alter Lehre und dem 2000 Jahre alten chinesischen Heilwissen – und der Vorstellung, in Zukunft als Homöopathin und TCMlerin anderen Menschen helfen zu können.
Ich promovierte über die Sicherheit von Traditionellen Chinesischen Heilkräutern, besuchte Student:innenkurse zu Homöopathie und TCM und machte Praktika in Naturheilkunde-Kliniken. Neben meiner Ausbildung als »ganz normale« Ärztin im Krankenhaus und auch in Praxen niedergelassener Ärzt:innen sammelte ich am Wochenende weiter Erfahrungen als »Alternativheilerin«. Dabei wurde mir insbesondere die Bedeutung des Faktors Zeit bewusst. Während wir bei der Visite in der Klinik selten eine volle Minute am Bett der Patient:innen verbrachten und es auch in der Praxis immer möglichst schnell gehen musste, um überhaupt das Pensum bewältigen zu können, erschien mir die Arbeit als Homöopathin im Vergleich dazu wie ein Meer aus Zeit. Erstgespräche von ein bis drei Stunden waren hier normal (so sieht es die Homöopathie als Lehre vor, und man kann sie als Homöopath:in auch gut abrechnen), im Klinik- und Praxisalltag waren und sind solche Dimensionen unvorstellbar (mit Ausnahme vielleicht bei der Psychotherapie), Akupunktursitzungen dauerten eine halbe Stunde. Und die Behandlungserfolge schienen den »sanften Alternativen« recht zu geben; die Patient:innen waren ganz überwiegend dankbar und glaubten fest an die Heilkraft. So wie ich selbst ja auch. Als sich mir die Möglichkeit bot, eine Praxis für Homöopathie zu übernehmen, brach ich meine Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin ab und konzentrierte mich mit Herz und Seele auf die Homöopathie. Ohne es zu merken, bewegte ich mich über etliche Jahre in einer Blase: Die Praxis lief gut, ich hatte viele zufriedene Patient:innen, die mir jahrelang die Treue hielten und teilweise extra aus dem Ausland anreisten. Kritik von außen ignorierte ich oder wehrte sie mit eingeübten Reflexen ab. Auch darin hatte man als Homöopath:in schließlich die Erfahrung von mehr als zweihundert Jahren.
Doch um es an dieser Stelle kurz zu machen: Die Fassade der schönen, sanften Medizin bekam mit der Zeit Risse. Die unbeantworteten Fragen, vor allem zur Wirkweise und zu grundlegenden Dingen wie der von Hahnemann behaupteten »Lebenskraft«, ließen mich irgendwann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ich brauchte ehrliche Antworten. Sonst konnte ich meine Patient:innen nicht länger guten Gewissens behandeln, ganz zu schweigen von meinen eigenen Kindern. Ich ging daher vielen Studien und Quellen auf den Grund – wohlgemerkt in der Hoffnung, die Homöopathie besser verstehen und verteidigen zu können. Doch meine zweite homöopathische Erweckung ließ die Blase, in der ich lebte, platzen.
Viele Versprechen der Homöopathie und anderer angeblicher Alternativen sind nicht aufrechtzuerhalten, wenn man sich um Ehrlichkeit und Transparenz bemüht. Einzelne Ansätze, Herangehensweisen und Methoden »alternativer Medizin« können Menschen jedoch tatsächlich helfen. Wichtig für das ganze Buch wird sein, dass ich generell über Mittel und Methoden urteile, nicht über einzelne Anwender:innen oder Therapeut:innen. Auf zwischenmenschliche Weise können viele Alternativtherapeut:innen unzweifelhaft Hilfe anbieten, Trost spenden und Hoffnung schenken, doch ihre Mittel und Methoden macht dies nicht automatisch besser oder wirklich wirksam. Als Laie, zumal als Betroffene:r und auf die Schnelle, ist es kaum möglich, hier echte Hilfe, die auf überprüfbaren Fakten basiert, von leeren Versprechen zu unterscheiden. Dabei möchte dieses Buch helfen.
Diese Verwirrung wird nicht von der wissenschaftlichen Medizin gestiftet, sondern von den angeblichen Alternativen, die sich gegen die nötige Aufrichtigkeit wehren. Wollen sie als Medizin gelten, müssen sie sich mit deren Methoden messen lassen und die Ergebnisse wissenschaftlicher Überprüfung anerkennen. Für große Teile der »sanften Medizin« wäre das nicht weniger als eine Revolution!
Wieso denn gleich eine Revolution? Gilt denn nicht einfach »Wer heilt, hat recht«? Nein, so einfach ist es nicht. Wie wir gleich sehen werden, steckt hinter diesem Satz mehr als nur eine Aussage über den Einzelfall. Und sie führt schlimmstenfalls dazu, dass Scharlatanen und Trittbrettfahrer:innen Tür und Tor geöffnet werden. Das kann weder im Sinne einer guten Gesundheitspolitik sein noch der Kammern, Krankenkassen und Verbände und besonders nicht der Patient:innen. Vor allem nicht im Sinne derjenigen, die sich auf der Suche nach einer echten Alternative von der modernen Medizin abwenden.
Die Corona-Krise in all ihren Facetten, die wieder vermehrt aufflammenden Masernherde der letzten Jahre sind genauso ein Anzeichen dafür wie die immer wieder schockierenden Fälle von Wunderheiler:innen. Anfang 2019 geriet etwa ein Heilpraktiker in die Schlagzeilen, der im nordrhein-westfälischen Brüggen-Bracht verzweifelte Krebspatienten in seinem »Biologischen Krebszentrum« mit einem nicht zugelassenen Mittel behandelt hatte, woraufhin drei Menschen starben. Ebenfalls im Frühjahr 2019 stand ein Unternehmer aus Altdorf bei Nürnberg vor Gericht, der ein angebliches Krebsmedikament (aus Fischöl und Vitamin D) vertrieb und damit für viel Geld nichts als falsche Hoffnungen weckte. Er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt; außerdem wurde angeordnet, den erzielten Gewinn von 4,5 Millionen Euro einzuziehen. Der Heilpraktiker bekam dagegen nur zwei Jahre auf Bewährung, was nicht nur für die Angehörigen der drei Verstorbenen kaum zu fassen war. Er erfuhr deshalb so viel Milde, weil allein der Einsatz einer ungeeigneten Waage für die Dosierung überhaupt justiziabel war – nicht jedoch, dass er außerhalb von Qualifikation und damit außerhalb der Kompetenz, die Risiken abschätzen zu können, mit hochgefährlichen Substanzen an Krebspatienten herumhantiert hatte. Und auch in der Corona-Krise machten unhaltbare Heilsversprechen die Runde – und der Aufklärung das Leben schwer.
Klar mögen das Extremfälle sein, doch sie zeigen überdeutlich, wie wichtig es ist, die größtmögliche Sicherheit bei der Behandlung von Erkrankungen zu gewährleisten. Nicht einzelne Medikamente, Operations- oder Behandlungsmethoden, sondern der Patient:innenschutz ist die wahrscheinlich größte Errungenschaft der modernen Medizin. Im Überangebot auf dem »Markt der Medizin« das zu erkennen, was wirklich wirksam ist, wird auf mehrere Weisen erschwert. In erster Linie durch die aktuelle Gesetzeslage, die viele dieser Angebote erst möglich und Deutschland zu einem »Mekka der Alternativmedizin« macht. Nicht zuletzt aber dadurch, dass es auch an Ehrlichkeit, Transparenz und Aufklärung, an wirklichem Patient:innenschutz, mangelt.
Blindes Vertrauen ist genauso fehl am Platz wie falsche Toleranz und hohe Emotionen. Gerade wenn Gesundheitsdebatten hochemotional geführt werden, ist es ratsam, Fakten von »Fake News« zu trennen, eindeutige Wirkungen von gefühlten Wahrheiten zu unterscheiden und Mythen als solche zu entlarven. Nur das bringt uns weiter, als individuelle Patient:innen und als Solidargemeinschaft. Wenn wir diese Debatten stattdessen weiterhin so moralisch aufladen, verschwenden wir Zeit und Geld.
Als Homöopathin musste ich mir irgendwann eingestehen, viele dieser haltlosen, aber teilweise verlockend und plausibel klingenden Mythen an meine Patient:innen weitergetragen zu haben. Aber es müssen nicht gleich Gedankengebäude einstürzen wie damals bei mir. Es können beim kritischen Hinterfragen auch neue Alternativen entstehen, die diesen Namen wirklich verdienen, weil sie auf einem soliden Fundament stehen. So kann schon das Wissen um den Unterschied von Homöopathie und Naturheilkunde, zum Beispiel in Form von einigen wirklich wirksamen pflanzlichen Mitteln, einen ganz neuen Blick ermöglichen. Wir kommen noch darauf zurück.
In meiner Patientinnenkarriere, aber auch als Ärztin habe ich so einiges ausprobiert und kennengelernt: von Dorn-Therapie über Reiki bis hin zu Geistigem Heilen. Ich habe Schüßler-Salze (»die heiße Sieben«), Bach-Blüten und Spagyrika (mit alchemistischen Methoden hergestellte Mittel) eingenommen und in bestem Glauben bis zum Erbrechen chinesische Heiltees getrunken. Ich habe mich durchakupunktieren und schröpfen lassen, habe Yoga, Tai Chi und Qigong gemacht, Meditationskurse absolviert und Progressive Muskelrelaxation, Biofeedback sowie Feldenkrais ausprobiert. Ich war in früheren Zeiten deutlich impfkritischer eingestellt und besaß keine Mikrowelle aus Angst vor Strahlung. Manches hat mir gutgetan, wirklich geholfen, anderes geschadet, aber allem ist gemein, dass ich eine neue Haltung dazu entwickelt habe, als ich den Hintergründen der Methoden, Mittel und Einstellungen nachgegangen bin. Heute finde ich, dass auf dem Boden der Tatsachen oft zwar viel zu wenig Glitzer liegt, er aber immerhin einen festen Stand bietet – und ehrliche Antworten auf viele Fragen und Sorgen, die uns alle bewegen.
Fangen wir also mit dem Entlarven der Mythen an, indem wir ehrliche Antworten einfordern. Ich bin davon überzeugt, dass die allermeisten Patient:innen vor allem eines suchen und wollen: eine ehrliche Medizin, der sie (wieder) ihr ganzes Vertrauen schenken können.