Ein einzigartiger Sommer, der alles verändert.
Die alleinerziehende Bäckerin Joy betreibt auf Block Island ihr eigenes kleines Café. Die Frauen der Insel bewundern sie, weil sie es geschafft hat, sich und ihrer Tochter hier ein neues Leben aufzubauen. Doch insgeheim ist Joy am Ende mit ihren Kräften. Dann bekommt ihr Café auch noch unerwartet Konkurrenz, und ihre Tochter scheint sich immer mehr von ihr zu entfremden. Als sie Anthony begegnet, der den Sommer in einem Strandhaus auf Block Island verbringt, kehrt endlich ein wenig Leichtigkeit in Joys Leben zurück. Nur warum wird sie das Gefühl nicht los, dass auch Anthony ein Geheimnis verbirgt?
»Meg Mitchell Moore ist eine meiner Lieblingsautorinnen!« Elin Hilderbrand
Über Meg Mitchell Moore
Meg Mitchell Moore wuchs in Massachusetts auf, wo sie heute mit ihrem Mann, drei Töchtern und einem Border Collie in der schönen Küstenstadt Newburyport lebt. Bevor sie sich ganz auf das Schreiben von Romanen verlegte, arbeitete sie als Journalistin.
Christine Strüh übertrug u.a. Kristin Hannah, Gillian Flynn und Cecelia Ahern ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.
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Wir im Sommer
Roman
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Teil 1: August – BlockIsland
Prolog
Teil 2: Zwei Monate früher – Juni
Kapitel 1: Anthony
Kapitel 2: Joy
Kapitel 3: Lu
Kapitel 4: Anthony
Kapitel 5: Joy
Kapitel 6: Lu
Kapitel 7: Joy
Kapitel 8: Anthony
Kapitel 9: Lu
Kapitel 10: Anthony
Kapitel 11: Joy
Kapitel 12: Anthony
Kapitel 13: Joy
Kapitel 14: Lu
Kapitel 15: Anthony
Kapitel 16: Joy
Kapitel 17: Anthony
Kapitel 18: Lu
Kapitel 19: Anthony
Kapitel 20: Lu
Kapitel 21: Anthony
Teil 3: Juli
Kapitel 22: Joy
Kapitel 23: Anthony
Kapitel 24: Joy
Kapitel 25: Lu
Kapitel 26: Anthony
Kapitel 27: Lu
Kapitel 28: Joy
Kapitel 29: Lu
Kapitel 30: Joy
Kapitel 31: Anthony
Kapitel 32: Lu
Kapitel 33: Joy
Kapitel 34: Lu
Kapitel 35: Joy
Kapitel 36: Anthony
Kapitel 37: Joy
Kapitel 38: Lu
Kapitel 39: Anthony
Kapitel 40: Lu
Teil 4: August
Kapitel 41: Anthony
Kapitel 42: Lu
Kapitel 43: Joy
Kapitel 44: Anthony
Kapitel 45: Maggie
Kapitel 46: Lu
Kapitel 47: Joy
Kapitel 48: Lu
Kapitel 49: Joy
Kapitel 50: Anthony
Kapitel 51: Lu
Kapitel 52: Anthony
Kapitel 53: Lu
Kapitel 54: Anthony
Kapitel 55: Lu
Kapitel 56: Anthony
Kapitel 57: Lu
Kapitel 58: Joy
Kapitel 59: Lu
Kapitel 60: Maggie
Kapitel 61: Anthony
Kapitel 62: Maggie
Kapitel 63: Block Island
Kapitel 64: Joy
Kapitel 65: Lu
Kapitel 66: Joy
Kapitel 67: Anthony
Epilog
Chococoa Baking Company
Schoko-Whoopie-Pies mit Vanille-Buttercreme-Füllung
Vanille-Buttercreme-Füllung
Dank
Impressum
Für Brian und unsere Mädchen.
Addie, Violet und Josie – jede von euch dreien
ist meine Lieblingstochter.
»Es hat mich ganz aus der Fassung gebracht, einen Mann so weinen zu sehen«, sagte Bridget Fletcher.
»Ach, um Himmels willen«, sagte Pauline Morrison, die fand, dass Bridget manchmal etwas überempfindlich war. Wahrscheinlich, weil sie jung und im Gegensatz zu Pauline nicht auf Block Island aufgewachsen war. Auf einer Insel aufzuwachsen härtete ab. Das wusste jeder. »Warum soll ein Mann denn nicht weinen? In so einer Situation würde ich auch weinen. Das ist vollkommen normal.«
»Du bist aber kein Mann«, argumentierte Bridget. »Und genau deswegen war es ja so … so sonderbar. Als dürfte ich das eigentlich nicht mit ansehen. Er hat gewürgt und am ganzen Leib gezittert, wenn das Schluchzen ihn überwältigte.«
Pauline wusste, dass Bridget sich an der Boston University für ein Schreibseminar angemeldet hatte, das im Herbst beginnen sollte, aber ihrer Meinung nach redete Bridget jetzt schon, als rezitiere sie Zeilen aus einem Roman, den sie noch nicht geschrieben hatte. Pauline war eine etwas geradlinigere Art der Kommunikation gewohnt. Auch das war dem Leben auf der Insel zu verdanken: Man lernte, nichts zu verschwenden – kein Essen, kein Heizöl, keine Zeit, keine Worte.
»Kann man ihm kaum vorwerfen«, erwiderte sie mit Überzeugung.
»Das will ich auch nicht, natürlich nicht!«, rief Bridget.
Junge Leute waren immer gleich so eifrig, vor allem junge Frauen. Was Pauline nervig und erfrischend zugleich fand. Sie war gern mit Bridget befreundet, so seltsam das vielleicht war, denn durch sie blieb ihr der Kontakt zur Jugend erhalten. Eigentlich hatten sie sich nur kennengelernt, weil Pauline und Bridgets Tante Leona, der das Haus in der Payne gehörte, in dem Bridget wohnte – umsonst, die Glückliche –, vor langer Zeit am Vassar College befreundet gewesen waren. Leona, die die meiste Zeit des Jahres in Boston verbrachte und dort eine große Wohltätigkeitsorganisation leitete, hatte Pauline gebeten, Bridget »ein bisschen im Auge zu behalten«. Deshalb lud Pauline sie pflichtgetreu jede Woche zum Kaffee im Whoopie-Pie-Café in der Dodge Street ein.
Heute war ein wolkenloser Tag Mitte August, leichter Wind aus Südost, das Wasser glasklar. Am Fred Benson Beach waren schon fast alle Sonnenschirme und Boogiebretter verliehen. Erstaunlich, wie schnell die Leute den Sturm vergessen hatten.
»Ich hab ja nicht gesagt, er hätte nicht weinen sollen«, erklärte Bridget. »Offensichtlich hat er sich verantwortlich gefühlt. Zu seinem Kummer kamen also noch die ganzen Schuldgefühle. Ich meine nur, dass es mir unangenehm war, es mit anzusehen. Weiter nichts. Es brach einfach so aus ihm heraus. Ich krieg es einfach nicht aus dem Kopf.«
In ihrem eigenen Kopf begann Pauline ihre nächste Mail an Leona zu formulieren. Hab mich mit Bridget getroffen!, würde sie schreiben. Scheint alles so weit in Ordnung zu sein bei ihr. Nach dem Sturm ist hier inzwischen auch fast alles wieder aufgeräumt.
»Na ja, dann solltest du es eben wieder vergessen«, sagte sie laut. »In einer halben Stunde musst du zur Arbeit, richtig?«
Doch Bridget schien sie nicht gehört zu haben. »Es ist grade mal eine Woche her. Kaum zu glauben, oder?« Sie drückte die Handflächen auf den Tisch und sah Pauline ernst an. »Das musst du zugeben, oder? Dass es kaum zu glauben ist?«
Pauline zuckte die Achseln. Außer dass die Corn Neck Road überschwemmt gewesen war, hätte der Sturm echt schlimmer sein können. Dabei war er praktisch aus heiterem Himmel gekommen. Er hatte in letzter Minute seine Richtung geändert und war auf die Insel zugerast. Trotzdem war er nichts im Vergleich zu Hurrikan Bob im Jahr 1991 gewesen. Das sagte Pauline jetzt auch zu Bridget.
Die kicherte und erwiderte: »Ich bin doch erst 1994 geboren!«
Pauline schnaubte. Die Tatsache, dass jemand 1994 geboren und trotzdem alt genug war, demnächst ein Studium zu beginnen und einem Job nachzugehen, erschien ihr einfach lächerlich. War sie selbst denn tatsächlich schon so alt?
Bridget wurde wieder ernst. »Es ist nur so, dass ich noch nie einen Toten gesehen habe«, erklärte sie. »Ich meine, bei Beerdigungen schon, klar, aber dass jemand praktisch vor meinen Augen stirbt, hab ich noch nie erlebt. Vermutlich kriege ich es deshalb nicht aus dem Kopf. Gerade hat er noch gelebt, und im nächsten Augenblick war das Leben weg, einfach weg.« Sie schauderte. »Man konnte nichts dagegen tun.«
Pauline biss in ihren Whoopie-Pie. Erdbeersahne. Sehr lecker, doch nun, im Spätsommer, freute Pauline sich schon auf den Herbst, denn da wurden die Geschmacksrichtungen deutlich interessanter. Pumpkin Spice, Lebkuchen, Apfel-Zimt. Ihrer Ansicht nach war im Herbst sowieso alles besser.
»Ich meine, Pauline, wer erwartet denn schon, in einem Urlaubsort zu sterben?«
Pauline musterte Bridget. Ihr Gesicht wirkte offen und unschuldig. So viel lag noch vor ihr, sie hatte noch einiges zu lernen.
»Wer rechnet denn überhaupt damit zu sterben?«, fragte sie.
Auf dem Oberdeck der Fähre von Point Judith nach Block Island beobachtete Anthony Puckett eine Gruppe junger Frauen, offensichtlich ein Junggesellinnenabschied, die beherzt aus Plastikbechern tranken. Alle trugen identische weiße hautenge Tanktops, auf denen ein Paar Cowboystiefel und darüber die Worte Reitet sie zu, Cowgirls! zu sehen waren. Darunter stand: Jennys letztes Rodeo. Auf jedem Plastikbecher stand in großen Druckbuchstaben der Name des Mädchens: ASHLIE, LEXIE, SADIE. (Anscheinend gab es eine Regel, dass die Namen auf ie enden mussten. Anthony wusste nicht, was deprimierender war – das oder die Tatsache, dass jede einen Cowboyhut auf dem Kopf hatte, hier in Rhode Island, fern von jedem Ort, an dem ein solcher Hut Sinn gehabt hätte. Oder vielleicht der Orangensaft in den klaren Plastikbechern, der bedeutete, dass sie Screwdrivers tranken, den phantasielosesten Drink der ganzen Welt.
Auf der anderen Seite des Decks, in sicherer Entfernung von den Junggesellinnen, saß ein kleiner Junge in Max’ Alter, an seine Mutter geschmiegt, die gedankenlos durch ihr Smartphone scrollte, ohne dem Jungen die geringste Beachtung zu schenken.
Denk nicht an Max, befahl Anthony sich streng. Nein, er würde jetzt nicht daran denken, was für ein Gesicht Max machte, bevor er eine seiner unlösbaren philosophischen Frage stellte. Zum Beispiel: Wenn Gott alles erschaffen hat, wer hat dann Gott erschaffen? Anthonys Eltern waren überzeugte Katholiken, und Cassie, Anthonys Noch-Ehefrau, war überzeugt, dass seine Mutter Dorothy ihren Enkel heimlich indoktrinierte, was ihren normalerweise yogaentspannten Blutdruck regelmäßig in die Höhe schnellen ließ.
Doch Anthony wollte weder an Max noch an Cassie und schon gar nicht an Cassies schmierigen Freund, den Kunsthändler Glen Manning, denken, mit dem sie garantiert ins Bett ging. Auch nicht an seine eigene Zukunft, die sowohl in finanzieller wie in beruflicher Hinsicht so trübe und abgründig war wie ein aufgewühlter Ozean. Und am allerallerwenigsten wollte er an Leonard Puckett, seinen Vater, denken.
Anthony schloss die Augen und versank in einen Dämmerschlaf. Erst als er spürte, dass die Fähre langsamer wurde, öffnete er die Augen wieder und sah, dass sie sich dem Festland näherten. Gebäude tauchten auf, ein Pier, ein gutes Dutzend vertäuter Segelboote. Sich auf dem Schiff einem Ort zu nähern, den man nie zuvor erblickt hatte – nun, er musste zugeben, dass dies einen gewissen Zauber in sich barg. In Gedanken schrieb Anthony diesen Satz auf, löschte ihn jedoch gleich wieder, weil er ihn nicht gut fand.
Er hatte niemandem erzählt, wohin er fuhr, und erwartete auch nicht, auf vertraute Gesichter zu treffen. Natürlich hatte auch Cassie sich nicht nach seinen Plänen erkundigt – sie wollte ihn nur loswerden. Von seinen Bekannten machte niemand auf Block Island Ferien, sondern sie fuhren nach Nantucket oder Martha’s Vineyard oder in die Hamptons. Eigentlich war es ein enormer Glücksfall, dass der uralte Onkel eines Collegefreunds auf Block Island ein Cottage besaß und jemanden brauchte, der es hütete.
»Könnte er es nicht vermieten?«, hatte Anthony gefragt. »Für Geld?«
»Das könnte er schon«, antwortete sein Freund Ryan Fitzsimmons, den sie im College nur Fitzy genannt hatten. »Aber weißt du, Mann, die Hütte ist echt alt. Sieht aus wie ein Häuschen, in dem vielleicht deine Ururururgroßmutter gern gewohnt hätte. Mein Onkel hat keinen Bock zu renovieren und möchte sie trotzdem nicht unbewohnt lassen. Ein Auto gehört übrigens auch dazu. Ein LeBaron, ebenfalls uralt.«
»Warum willst du nicht hin?«, fragte Anthony.
»Ich?« Fitzy lachte laut. »Kommt nicht in die Tüte. Charlottes Eltern haben uns für August ein cooles Ferienhaus in Nantucket besorgt. Außerdem kriege ich bei der Bank auch nicht so viel Urlaub. Ich muss ja das Geld ranschaffen.«
Reib es mir ruhig noch unter die Nase, dachte Anthony.
Eigentlich wäre er lieber auf eine weiter entfernte Insel gereist – Anguilla, Saint Martin, Barbados, irgendwohin, wo man sich unter die Reichen und Schönen mischen konnte. Doch damit war es ein für alle Mal vorbei.
Als die Fähre anlegte, ließ er den torkelnden Frauen mit ihren Wochenendrollköfferchen den Vortritt.
Zu heiraten ist die sicherste Methode, sich ein gebrochenes Herz einzuhandeln, wollte der in Ungnade gefallene einsame Mann der jungen Braut sagen, schrieb er in Gedanken. Lauf weg, solange du noch kannst. Egal, wohin. Nur weg.
Vor ihrer Hochzeit hatte Cassie sich mit ihren vier Brautjungfern zu einem Yoga-Retreat aufgemacht. Alles sehr zivilisiert und zenmäßig. Er dagegen war mit seinen Dartmouth-Kumpeln auf Sauftour gegangen. An die Details konnte er sich nur sehr vage erinnern.
Als er die Fährenrampe hinuntergegangen war, blieb er eine Weile reglos stehen. Ein Schwarm Sommermenschen wogte an ihm vorüber. Nein. Löschen.
Er stand vor einem großen Hotel aus der viktorianischen Ära; HARBORSIDE INN las er auf dem Schild. Daneben noch eines: NEW SHOREHAM HOUSE, daneben ein weiteres Hotel, und im gleichen Stil ging es weiter. Auf allen Terrassen herrschte Hochbetrieb, lachende Menschen mit Getränken, überall Kinder, Hunde, Eistüten und Sonne, Mopeds, Fahrräder und Jeeps. Und mittendrin Anthony Puckett mit seinem Rollkoffer, in der freien Hand einen Zettel mit einer Adresse in der Corn Neck Road.
Vermutlich würde er ein Taxi suchen müssen, um zu dem Cottage zu kommen. Ob es auf einer so kleinen Insel überhaupt Taxis gab? Uber? Irgendwas? Er fühlte, wie ihm der Schweiß über den Nacken lief, seine Jeans klebten an den Beinen.
So ließ er den Fährhafen hinter sich, schleppte sich den Hügel hinauf und überquerte oben die Straße. Dort blieb sein Blick an einem Schild auf einem kleinen Gebäude neben dem Postamt hängen, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
ISLAND BOUND BOOKS stand dort. Und im Schaufenster lag Leonard Pucketts neuestes Werk. Das Cover war feuerwehrrot, darauf nur die weißen Lettern des Titels Der Reiz der Jagd. Der neunte Band der Gabriel-Shelton-Reihe.
Sogar hierher verfolgte ihn sein Vater. Nein, das Buch war sogar vor ihm hier gewesen. Korrigiere das noch mal, Anthony. Lösch das. Überarbeite es. Wieder einmal war er seinem Vater gefolgt.
Corn Neck Road 27 war ein verwittertes kleines Cottage, zu dem eine lange, mit Muschelschalen bestreute Auffahrt führte. Neben der Veranda lag – wie von Fitzy angekündigt – ein großer Stein, unter dem Anthony den Schlüssel fand.
Von außen hätte man das Baujahr nicht schätzen können, aber im Innern war die Zeit zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stehengeblieben. Spitze, Brokat, Stühle mit gerader Rückenlehne, schwere dunkle Holzmöbel, die zu den dunklen Teppichen passten. In der kleinen Küche mit den antiken Silbergriffen an den Schubladen und einer hellgrün beschichteten Arbeitsfläche näherte man sich den vierziger Jahren. Die Kühlschranktür ließ sich nur schließen, wenn er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenwarf. Egal – er war sowieso leer, abgesehen von einem halb leeren Eiswürfelbehälter im Gefrierfach.
Oder war der Behälter vielleicht halb voll? Früher hätte Anthony diesen Witz vielleicht laut ausgesprochen, zurzeit jedoch war ihm nicht danach zumute.
Auf dem hölzernen Küchentisch lag ein Zettel von Fitzys Onkel. HAUSORDNUNG stand darauf.
1. Donnerstag ist Mülltag.
2. Keine Haustiere.
3. Keine Partys.
»Das ist alles?«, sagte Anthony laut. Na gut, drei Regeln würde er wahrscheinlich einhalten können.
Auf dem Sideboard im Wohnzimmer standen eine Kristallkaraffe und zwei Gläser. Ob die Sachen dekorativ oder als Einladung gemeint waren, konnte Anthony nicht sagen, auf jeden Fall passten sie zu der Stimmung, die ihn in dem Häuschen überkam, als wäre er soeben in Downton Abbey eingetroffen. In der Karaffe befand sich eine bernsteinfarbene Flüssigkeit. Brandy. Oder vielleicht auch Sherry. Der einsame Mann musste sich zurückhalten, sonst hätte er die Karaffe gepackt und ihren Inhalt hinuntergestürzt wie Limonade.
Klang nach einer ziemlich langweiligen Geschichte.
Anthony wandte sich ab und betrat eines der beiden Schlafzimmer. Dort empfing ihn ein Himmelbett mit Pfosten, die so spitz waren, dass er sich glatt damit aufspießen könnte. In seinem früheren Leben hatten er und Cassie auf einem gepolsterten Avery-Bett geschlafen. Natürlich von Cassie ausgewählt. Und von Anthony bezahlt.
Er gab sich alle Mühe, sich nicht vorzustellen, dass seine Frau jetzt in ebendiesem Avery-Bett lag – oder genauer gesagt, mit wem sie darinlag. Der Gedanke, dass er sich das Scheitern seiner Ehe selbst zuzuschreiben hatte, war grässlich. Wesentlich unangenehmer jedoch war die Überlegung, dass die Probleme schon viel früher begonnen haben mochten.
Was Max wohl gerade machte, jetzt, in dieser Sekunde? Ob man ihm wohl eine vernünftige Erklärung für die Abwesenheit seines Vaters gegeben hatte? Aber an Max zu denken tat zu weh, also rollte Anthony den Gedanken an seinen Sohn zusammen wie einen Schlafsack, stopfte ihn in die dazugehörige Hülle und verfrachtete ihn behutsam in eine Ecke seines Hinterkopfs, um ihn später jederzeit wieder hervorholen zu können.
Dann packte er den Koffer aus und ließ seine Sachen in den dunklen Nischen der Kommodenschubladen verschwinden.
Anschließend stieg er in den alten LeBaron und folgte der Wegbeschreibung auf seinem Smartphone zur Block Island Grocery, einem Lebensmittelladen in einem grau geschindelten Gebäude, in dem es nach Seeluft und Tourismus roch. Die Gemüseabteilung war winzig, für vier Produkte musste er gefühlte dreitausend Dollar hinblättern, und dafür sollte er sich noch durch die Schlange an der Feinkosttheke kämpfen, die auf ihre Sandwiches für den Strand wartete. Glückliche Menschen, unbeschwert und sandig! Nicht auszuhalten.
Bevor er den Laden verließ, überflog er noch die Zettel am Schwarzen Brett. Jemand verkaufte einen Minikühlschrank, sieben andere ein Surfbrett. Eine Gruppe von Frauen suchte eine Unterkunft für den Sommer. Hatte vielleicht auch jemand einen festen Wohnort, einen Job im Angebot?
Er fuhr zum Ende der Corn Neck Road, vorbei an drei etwas wackligen Radfahrern. Vielleicht brachten ihre großen mit Strandtüchern vollgestopften Weidenkörbe am Lenker sie aus dem Gleichgewicht. Am Ende der Straße war ein kleiner Parkplatz, dahinter ein Stück Felsenküste mit einem Leuchtturm, auf den eine kleine Menschengruppe zuwanderte.
Anthony wendete den LeBaron. War das alles, was diese Insel zu bieten hatte? Im Ernst? Was sollte er jetzt machen? Er konnte zurück nach Downtown gehen. In Gedanken setzte er das Wort in Anführungszeichen, eine Straße machte schließlich noch keine Downtown. Er hätte sich ein Eis kaufen können, hatte aber nicht den geringsten Appetit. Oder ein T-Shirt – wenn er nicht ohnehin vorsorglich sieben seiner grauen Lieblingsshirts eingepackt hätte. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass bei solchen Beschäftigungen ein Lächeln von ihm erwartet würde. Ein Mindestmaß an sozialer Interaktion. Und auf jeden Fall Geld. Nein, danke. Auf nichts davon hatte er Lust.
Langsam schlenderte er die Corn Neck Road hinunter. In null Komma nichts gelangte er wieder zu der Muschelauffahrt vor seinem Cottage.
Anthony war auf die Insel gekommen, um sich zu verstecken. Doch nun war hier alles so winzig, dass er überhaupt nicht wusste, wo er sich verstecken sollte.
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Vielleicht fragt ihr euch jetzt: Chili im Sommer? Ich weiß. Aber vertraut mir. Dieses Gericht hat selbst für den längsten Tag des Jahres genug zarte Aromen und Sommergemüse (hallo, gelber Kürbis!). Und apropos lange Tage – wenn Jacqui nach einem langen Tag im Gericht nach Hause kommt, warten Charlie, Sammy und ich am liebsten mit einem fabelhaften Eintopf auf sie. Aufräumen ist danach ein Klacks, wir können sofort nach draußen und den Feierabend genießen. Auf den Sommer muss man in dieser Gegend lange warten, und wenn er endlich da ist, wollen wir natürlich keine Minute verpassen!
Jemand hatte in zweiter Reihe geparkt und blockierte Joys Platz mit einem abgewrackten Chrysler LeBaron. Mitte der Neunziger, vermutete sie.
»Das geht gar nicht, Mister«, sagte sie laut. Fing das jetzt schon im Juni an? Unmöglich! Sie hielt doch den langen, oft einsamen Winter hier nicht durch – wenn der Wind direkt von der Bucht kam und sie manchmal außer ihrer Tochter und dem Hund kein Lebewesen sah –, damit sich dann irgendein Sommergast ihres Parkplatzes bemächtigte. Joy drückte kräftig auf die Hupe.
Der Typ hing am Handy, natürlich, und drehte sich nicht mal um.
Joy hatte fünfundzwanzig Pfund Mehl hinten in ihrem Jeep, die arbeitsreichste Zeit des Jahres stand ihr bevor. Nichts in der Welt würde sie dazu bringen, irgendwo anders zu parken als auf ihrem angestammten Platz. »Komm schon, Pisser«, sagte sie. Das Leben als alleinerziehende Mutter und Besitzerin eines kleinen Geschäfts auf einer saisonalen Insel hatte sie ordentlich abgehärtet.
Ihr Handy summte. Eine Nachricht von ihrer Tochter Maggie. Möchtest du, dass ich Abendessen mache? Joy wurde warm ums Herz, nicht nur wegen Maggies Angebot, sondern auch, weil sie vor halb elf auf war, was bedeutete, dass sie sich noch nicht gänzlich wie ein Teenager verhielt. Joy war selbst ein wilder Teenager gewesen, mit der Tendenz zu dramatischen Stimmungsschwankungen und unpassenden Schwärmereien, die sie gelegentlich auf den Straßen von Fall Rivers ausgelebt hatte. Zum Glück waren ihre vier Brüder so voller Energie, dass es leicht gewesen war für Joy, unter dem Radar zu fliegen.
Maggie war dreizehn und kam demnächst in die achte Klasse der winzigen Schule von Block Island, in der sie acht Klassenkameraden haben würde. Vorausgesetzt, es zog nicht noch jemand in Maggies Alter in die Stadt, was höchst unwahrscheinlich war.
Da der Pisser immer noch am Handy war, nahm Joy sich eine Sekunde, um ihrer Tochter zu antworten. Heute ist alles geregelt, ich mache Veggie-Chili. Sie achtete auf die korrekte Zeichensetzung, sie konnte nicht anders, und außerdem schüttelte Maggie immer streng den Kopf, wenn Joy zu viele Abkürzungen benutzte. Abkürzungen waren der Jugend vorbehalten.
Dinner by Dad?, schrieb Maggie.
Dinner by Dad war Joys liebster Koch-Blog. Auch heute hatte sie zwischendurch ihren Laptop hochgefahren, um den neuesten Post zu lesen. Auf Dinner by Dad hielt Leo, der Hausmann, immer eine frische Kanne Kaffee für seine Frau Jacqui bereit, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit in die Stadt machte. Manchmal verließ sie das Haus schon vor der Morgendämmerung, wenn sie zum Beispiel an einem wichtigen Fall arbeitete, und trotzdem hatte Leo Kaffee für sie gemacht. Überhaupt leistete Leo Erstaunliches. Wenn die Sonne aufging, joggte er vier Meilen, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und eine Scheibe Vollkorntoast im Toaster. Joy hoffte, dass seine Frau ihn angemessen zu schätzen wusste.
Genau, antwortete sie.
Chili im Sommer?
Ich weiß, simste Joy zurück. Jede Menge Sommergemüse. Ich vertraue ihm. Ach wirklich. Sie war geradezu verknallt in Leo. Gestern war sie auf dem Bauernmarkt hinter dem Spring House Hotel gewesen, der immer mittwochs stattfand, und hatte Unmengen Gemüse gekauft. Den Rest des Chilis konnte sie ja einfrieren.
Von früheren Posts wusste Joy, dass Leo mit seiner Familie irgendwo im Mittleren Westen lebte und dass sie Zugang zu einem See hatten. Manchmal fing Leo nämlich einen Fisch zum Abendessen, entgrätete ihn direkt auf dem Boot und so weiter. Vielleicht Michigans Upper Peninsula? Joy wusste es nicht genau – mit persönlichen Details war Leo äußerst sparsam. Mit den Rezepten nicht.
Ich auch, schrieb Maggie zurück. Es lebe DBD! Das war eine untypisch euphorische Reaktion, deshalb ließ Joy es dabei bewenden und drückte stattdessen noch einmal auf die Hupe, und der LeBaron setzte sich tatsächlich in Bewegung.
Während Joy auf ihren Parkplatz wartete, reckte sie dem Fahrer den Stinkefinger entgegen, denn die Sommergäste mussten lernen, sich zu benehmen. Doch der Typ war immer noch am Telefon und sah nicht mal in ihre Richtung.
»Hey!«, knurrte sie, hupte erneut, und jetzt drehte er sich endlich um. Als er zu ihr herübersah, verließ sie jedoch der Mut, sie zog den Finger ein und deutete nur wütend auf das Schild PRIVATPARKPLATZ: WIDERRECHTLICH GEPARKTE FAHRZEUGE WERDEN KOSTENPFLICHTIG ABGESCHLEPPT.
Er winkte ihr mit der freien Hand zu, aber es war nicht klar, ob es ein Gruß, eine Entschuldigung oder einfach allgemeines Pissertum war. »Pisser«, brummte Joy noch einmal. Der Parksünder kam ihr eindeutig wie ein New Yorker vor, obwohl sein Auto ein Rhode-Island-Nummernschild hatte und überhaupt nicht aussah, als würde ein New Yorker es fahren wollen. Ein uralter LeBaron, schätzungsweise aus dem Jahr 1995. Joys Vater hatte eine Autowerkstatt, in der Joy in ihrer Highschool- und Collegezeit hin und wieder ausgeholfen hatte, daher verfügte sie über eine gewisse Erfahrung in der Materie.
Sie beobachtete, wie der LeBaron in der Dodge Street parkte. Gut, das waren öffentliche Stellplätze.
Langsam stieg sie aus dem Jeep, öffnete die hintere Tür, um an das Mehl zu kommen, behielt den Mann in dem LeBaron jedoch sicherheitshalber im Auge und sah, wie er die Arme aufs Lenkrad und den Kopf auf die Handrücken legte. Lachte er? Schlief er? Oder weinte er womöglich?
Neugierig geworden, ließ sie das Mehl im Auto und näherte sich dem Wagen. Tatsächlich, der Typ weinte, seine Schultern zuckten. Unwillkürlich wich Joy zurück.
Doch dann hielt sie inne. Wie er da ins Lenkrad schluchzte, sah er aus wie ein armer Kerl, und einem armen Kerl hatte sie noch nie widerstehen können. In der vierten Klasse war sie als Einzige freundlich gewesen zu Oliver Wheeler mit seinem Pferdegebiss, seinen X-Beinen und der dicken Brille, die ihm jedes Mal von der Nase gehauen wurde, wenn er Four Square spielte. In der Highschool hatte sie einmal pro Woche ehrenamtlich im Tierheim Forever Paws in der Lynnwood Street in Fall River gearbeitet, nachdem sie hinter einer verlassenen Lagerhalle einen Boxermischling gefunden und auf der Stelle ins Herz geschlossen hatte. Ihre Mutter erlaubte nicht, dass sie den Hund behielt – fünf Kinder in der Wohnung waren genug! –, also brachte Joy ihn ins Tierheim und kam mit einem unbezahlten Job zurück. Und heute brachte sie ihre ehemalige Nachbarin Mrs Simmons einmal im Jahr zum Friedhof, damit sie am Todestag ihres geliebten Ehemannes sein Grab besuchen konnte.
Doch diesmal würde sie nicht auf die Mitleidstour hereinfallen. Sie hatte eine Tochter, einen Hund und ein Geschäft. Das reichte. Zwar hatte sie viele Fehler gemacht – dabei dachte sie natürlich vor allem an Dustin, ihren Exmann –, aber Joy Sousa war überzeugt, dass sie gelernt hatte, solcher Art von Ärger aus dem Weg zu gehen.
Als sie sich umwandte und zu ihrem Jeep zurückkehren wollte, wäre sie fast mit ihrer besten Freundin Holly Baxter zusammengestoßen, die wahrscheinlich zu ihrer Arbeitsstelle bei der Handelskammer von Block Island unterwegs war.
»Wir prüfen gerade eine neue Bewerbung«, erklärte Holly ohne weitere Einleitung. »Einen Imbisswagen.«
»Ooooh!«, rief Joy. »Hoffentlich einer mit Tacos.«
Aber Holly schüttelte den Kopf. »Nein, keine Tacos. Ich wollte das mit dir persönlich besprechen«, meinte sie mit einem vielsagenden Blick zu »JOY BOMBS«, ihrem kleinen Café.
»Warum? Was verkaufen sie denn?« In den letzten Jahren hatten auf der Insel verschiedene Imbisswagen ihr Glück versucht.
Zwischen Hollys Augen erschien eine Sorgenfalte. »Kaffee«, sagte sie »Salate. Verschiedenes.«
»Na und?«, entgegnete Joy. »Kaffee verkauft doch jeder. Und Salate auch.« Aber es sah ganz danach aus, als wolle noch ein anderes Wort aus Hollys Mund kommen.
»Und«, sagte sie, »Macarons.«
»Macarons?«
»Na, du weißt doch, diese kleinen französischen Plätzchen mit einer Unmenge verschiedener Geschmacksrichtungen, es gibt sogar …«
»Ich weiß, was Macarons sind«, sagte Joy.
»Ich habe versucht, mir etwas einfallen zu lassen, um es zu verhindern«, fuhr Holly fort und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Dir zuliebe, weißt du.«
»Mir zuliebe?«
»Ja. Aber ich hab es nicht geschafft, also bedank dich lieber nicht.«
»Wieso hast du es denn zu verhindern versucht?«
»Denk mal drüber nach, du Genie«, sagte Holly. »Du möchtest doch nicht, dass ein Imbisswagen praktisch gegenüber von deinem Laden irgendwelches Gebäck verkauft, oder?«
»Gegenüber von meinem Geschäft ist sowieso kein Platz für einen Imbisswagen«, erwiderte Joy und gestikulierte zur anderen Straßenseite.
»Mal rein hypothetisch«, meinte Holly. »Dieser Wagen wird von irgendeinem hippen New Yorker Unternehmen gesponsert, die anscheinend Tonnen von Geld für das Marketing ausgeben. Ich weiß nicht, aber ich hab irgendwie ein schlechtes Gefühl bei der Sache …« Sie sog die Luft ein und kniff die Augen zusammen.
Joy erwiderte den verkniffenen Blick und wandte sich ihrem Mehl zu.
»Ich hab keine Angst vor irgendeinem Macaron-Karren, Holly. Ich glaube, es ist eine total bescheuerte Idee. Wer will denn Macarons bei einem Imbisswagen kaufen? Die sind noch vor dem vierten Juli wieder weg.« Manchmal hatten die Imbisswagen Erfolg, manchmal auch nicht. Diesmal wahrscheinlich Letzteres. In der Regel waren die Leute von Block Island nicht verrückt nach französischem Essen, und Joy bezweifelte auch, dass die Touristen es darauf abgesehen hatten.
»Ganz bestimmt«, lenkte Holly dann auch ein, obwohl ihr Gesicht immer noch einen seltsam unergründlichen Ausdruck hatte.
»Und selbst wenn nicht, ist die Insel groß genug für uns beide. Oder etwa nicht?« Joy hievte einen der Mehlsäcke hoch und überlegte, ob sie beide auf einmal tragen konnte.
Sie hatte es eilig, das Mehl war schwer, und Holly musste zur Arbeit. Deshalb realisierte Joy erst später, dass Holly ihr nicht geantwortet hatte.
Jeremy kam so plötzlich ins Zimmer, dass Lu nur noch erschrocken den Laptop zuklappen konnte und sich dabei vorkam, als hätte sie ein Verbrechen begangen.
Hatte sie ja auch irgendwie – jemanden ständig hinters Licht zu führen war schließlich eine Art Verbrechen.
Diese Küche war ihr nicht vertraut, sie kannte ihre Besonderheiten nicht, weder die Delle im Griff des Pfannenwenders noch, dass es keinen richtigen Schmortopf gab. Doch sie lernte ständig dazu.
»Hallo Baby«, sagte Jeremy. »Hast du Kaffee für mich?« Er war unterwegs zur Fähre und hatte mehrere Schichten vor sich – wahrscheinlich würden sie ihn vor dem Wochenende nicht mehr sehen.
Gibt es Kaffee? war Code für Hältst du deinen Teil der Abmachung wirklich ein?, auch wenn das keiner von ihnen je so gesagt hatte, denn die Abmachung an sich bestand ja unausgesprochen.
»Ich mache dir schnell einen«, sagte Lu und stand auf. »Zimt?«
»O ja, gern!« antwortete Jeremy und sah Lu liebevoll an, als wäre sie ein Kind, das zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand hielt und versuchte, ein paar Töne herauszubringen. Lu versuchte, den Blick genauso liebevoll zu erwidern, aber manchmal, wenn sie Jeremy in Arbeitskleidung sah, glattrasiert und nach frischem, männlichem Duschzeug duftend, hätte sie am liebsten laut geschrien.
Als Lu ihrem Mann den Kaffee servierte, hätte sie sich selbst auch einen eingeschenkt, doch das wäre schon ihr dritter gewesen, und mehr als zwei machten sie zittrig.
Mit einer Kopfbewegung zu Lus Laptop fragte Jeremy: »Was machst du da eigentlich?« Hatte er vielleicht Angst, dass sie nach einem Job Ausschau hielt? Jeremy war in Simsbury aufgewachsen, und seine Mutter hatte nie »außerhalb von zu Hause gearbeitet«, wie er sich ausdrückte. Sie hatten ein Bataillon von Haushaltshilfen gehabt, und nach Lus Meinung hatte Jeremys Mutter auch »innerhalb von zu Hause« nie wirklich gearbeitet. Aber es war zwecklos, darüber zu diskutieren.
»Ach nichts, ich hab nach einer Idee fürs Abendessen gesucht«, antwortete Lu, und die Lüge kam ihr leicht über die Lippen. Das Problem war nicht, dass Jeremy nicht wollte, dass sie arbeiten ging – obwohl es im Grunde darauf hinauslief. Ihm war es am liebsten, wenn sie zu Hause blieb und sich voll auf ihre beiden Söhne konzentrierte, während er zu den Onkologiestationen davonsegelte, wo er in von ihr frisch gewaschener OP-Kleidung die Krebsdämonen bekämpfte.
Es war einfach nicht fair. Lu hob Sebastians Abschlepptruck vom Boden auf, wo er ihn am Abend zuvor hatte stehen lassen, stellte ihn auf die Anrichte und spielte eine Weile damit, wobei sie es vermied, auf die Uhr zu schauen.
Jeremy lehnte sich aus dem Fenster und seufzte zufrieden. »Riechst du die Seeluft?«
»Ja«, antwortete Lu. »Ich liebe den Geruch.«
Jeremys Eltern verbrachten den Sommer seit Jahr und Tag auf Block Island. In den siebziger Jahren hatten sie ein Haus in der Cooneymus Road gekauft, und Lu war schon oft dort gewesen, vor allem in der Zeit, als Jeremy ihr »den Hof gemacht hatte«, wie seine Mutter das nannte – ein Anachronismus, den Lu gern zitierte.
Dieses Jahr hatte sich Jeremy zum ersten Mal überreden lassen, ebenfalls den Sommer hier zu verbringen, obwohl seine Eltern ihm schon seit Chase’ Geburt damit in den Ohren lagen. Anfangs hatte Lu sich dagegen gewehrt, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, den Sommer mit ihrer Schwiegermutter zu verbringen – und schon gar nicht, eine Küche mit ihr zu teilen. Doch als klar wurde, dass sie nicht im Haus der älteren Trusdales, sondern im Osten der Insel in der Corn Neck Road wohnen würden, hatte sie schließlich eingewilligt.
»Auf unsere Rechnung, ihr seid eingeladen«, hatte Nancy im April verkündet. »Obwohl ich natürlich weiß, dass du deine Freunde vermissen wirst, Lu.«
Zwar hatte Lu zurzeit kaum Freunde und blieb, wenn die Jungs im Kindergarten waren, am liebsten mit ihrem Computer allein, trotzdem nickte sie bedauernd und sagte: »Tja, vermutlich schon.«
Eigentlich war es gar nicht so schlecht. Natürlich würde Jeremy öfter weg sein, weil jetzt zum normalen Pendeln auch noch die Fahrt mit der Fähre kam und er, wenn er mehrere Schichten arbeitete, im Krankenhaus übernachten musste. Doch auf der Insel gab es ein Sommercamp, und wenn die Jungs dort waren, konnte Lu behaupten, sie ginge währenddessen ins Fitnesscenter. Sie freute sich, endlich einmal einen richtigen Inselsommer zu verbringen, denn in Connecticut wohnten sie nicht an der Küste, und sie selbst war mitten in Pennsylvania groß geworden. Außerdem gingen die Jungs früh genug ins Bett, so dass sie, wenn Jeremy weg war, sogar abends noch arbeiten konnte.
»Koch nichts zu Leckeres, wenn ich nicht da bin, okay?«, fügte Jeremy jetzt noch hinzu. »Du weißt, wie sehr ich deine Kochkunst vermissen werde.«
»Natürlich nicht!«, versicherte Lu ihm freundlich.
»Leider weiß ich noch nicht genau, wann ich am Donnerstag zurückkomme, ich bin im OP.«
»Verstehe.« An OP-Tagen verschoben sich die Termine fast immer nach hinten, es ging ja nie ohne Komplikationen. Das gehörte zum Berufsrisiko, darüber konnte und wollte sich niemand beklagen, schließlich standen Menschenleben auf dem Spiel. »Egal, was ich koche, ich hebe was für dich auf, Schatz, oder friere es direkt ein.«
Schatz. Ach Gott. Das sagte sie doch nie. Wer war diese Fremde, die hier im Bademantel Kaffee trank? An die Anrichte gelehnt, nippte Jeremy an seinem Kaffee. Eine gemeine, nervöse Stimme in Lus Kopf sagte: Jetzt verschwinde doch endlich.
Aber er machte keinerlei Anstalten. »Gehst du heute ins Fitnessstudio? Wenn die Jungs im Sommerlager sind?«
»Wahrscheinlich«, antwortete sie fröhlich. »Um halb zehn ist Pilates.« In ihrem ganzen Leben hatte Lu noch nie einen Pilateskurs besucht, sie wusste nicht einmal, was da eigentlich vor sich ging. Irgendeine magische Stärkung der Körpermitte, hatte sie gehört. »Ein paar von den Kursleiterinnen hier mag ich echt gern«, fügte sie hinzu. Trieb sie es zu weit? Sie nahm sich vor, genau herauszufinden, welche Kurse in dem einzigen saisonalen Fitnessstudio angeboten wurden. Und sich vielleicht auch nach ein paar Namen zu erkundigen.
Auf einer kleinen Insel würde das Schwindeln wesentlich schwieriger werden als zu Hause in Connecticut. Was jedoch nicht hieß, dass es unmöglich war.
»Großartig, Baby«, sagte Jeremy. »Ich wette, du findest hier schnell Kontakt.«
»Mhmmm«, antwortete Lu etwas unkonzentriert. Ob die Krankenschwestern Jeremy wohl attraktiv fanden? Wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich gab es auch ein paar Pfleger und Chirurginnen, die Jeremys Grübchen und seinen schlanken Körper zur Kenntnis nahmen.
Lu trommelte nervös mit den Fingern auf den Deckel ihres Laptops, bemühte sich um ein möglichst einnehmendes Lächeln und dachte noch einmal: Bitte verschwinde doch! Zwar war der Fährhafen über eine Meile entfernt, aber Jeremy mochte frische Luft und Bewegung, und da er einen Teil des Wegs am Strand zurücklegen konnte, ging er gern zu Fuß, ehe er für den Rest des Tages im Krankenhaus eingesperrt war. Für einen Menschen, der so oft vom Tod umgeben war, hatte Jeremy eine sehr gesunde, unkomplizierte Einstellung zum Leben.
»Wenn ich zurückkomme, können wir ja vielleicht anfangen, uns um unser nächstes Baby zu kümmern …«, sagte er. Zum Glück piepte im gleichen Moment sein Handy. Eine Textnachricht. Jeremy sah kurz darauf und sagte: »Bloß meine Mom. Sie möchte wissen, was wir am Wochenende vorhaben.«
»Ah«, sagte Lu und hoffte, dass sie sich nicht zu einem bestimmten Plan verpflichten musste.
»Sie haben am Samstag Freunde zum Essen eingeladen«, erklärte Jeremy, »und würden sich freuen, wenn wir auch kämen.« Er warf Lu einen Blick zu. »Aber ich kann ihnen auch sagen, dass wir schon etwas vorhaben.« Zugegebenermaßen war es schwierig, so zu tun, als hätte man etwas vor, wenn man auf derselben kleinen Insel wohnte wie die Schwiegereltern, und das auch noch auf deren Kosten. Schwierig, jedoch nicht unmöglich.
Für die Anzahlung ihres Hauses in Connecticut hatten Lu und Jeremy sich eine horrende Summe von seinen Eltern geliehen, achtzehn von den benötigten zwanzig Prozent des Kaufpreises. Wenn Lu daran dachte, wurde ihr schlecht. Die paar Hundert Dollar, die sie pro Monat übrig hatten, um ihre Schulden zurückzuzahlen – damit würden sie nie ans Ziel kommen. Jedenfalls nicht ohne Lu.
»Lass uns darüber reden«, sagte sie und meinte damit: Es gibt nichts, was ich mir weniger wünsche.
Jeremy schaute noch einmal auf sein Telefon, scrollte durch seine Mails und nippte an seinem Kaffee, bis Lu schließlich sagte: »Musst du nicht los? Du willst doch die Fähre nicht verpassen.« Sie stand auf, um ihm das Weggehen zu erleichtern. Im Sommer schliefen die Jungs oft lange, jetzt war es gerade mal sechs Uhr. »Schau mal auf die Uhr.« Ganz die treusorgende Ehefrau, streckte sie die Hand nach der leeren Kaffeetasse aus und sagte: »Du hast einen langen Tag vor dir, Liebling, ich nehme das.«
Vor Chase’ Geburt hatte Lu als Prozessanwältin gearbeitet, und auch danach noch, bis sie hochschwanger mit Sebastian gewesen war. Sie hatten eine hervorragende Kinderfrau aus El Salvador gehabt, die jeden Morgen mit dem Bus aus der City kam. Gegen Ende von Lus zweiter Schwangerschaft hatte es Komplikationen gegeben, die vier Wochen Bettruhe erforderten. In diesen vier Wochen war Chase manchmal zu ihr ins Bett gekommen, hatte seinen perfekten kleinen Kopf auf das Kissen neben ihrem gelegt, auf ihren Bauch gezeigt und gesagt: »Baby da drin?« In solchen Momenten flachte Lus juristisches Feuer plötzlich ab. Als Sebastian dann geboren wurde, hatte die Kinderfrau eine andere Stelle näher bei sich zu Hause gefunden, und Lu hatte ihren Mann angesehen und gesagt: »Ich bleibe bei den Kindern.«
Jeremy hatte kein Hehl aus seiner Freude darüber gemacht, sie quoll ihm praktisch aus den Poren. Jemand Fremden für die Kinderbetreuung zu engagieren hatte ihm nie gefallen. Zwar würden sie sich ohne Lus Gehalt, während er seine Assistenzarztzeit in der chirurgischen Onkologie und die anschließende Facharztausbildung zu Ende brachte, noch mehr Geld von seinen Eltern leihen müssen, aber die würden ihnen gerne aushelfen, damit Lu bei den Kindern bleiben konnte. Denn ganz gleich, was man über Feminismus oder Gleichberechtigung in der Ehe dachte, hatte Jeremy jetzt genau das, was sich alle im Innersten wirklich gewünscht hatten: eine Hausfrau.
Als Jeremy endlich weg war, schlenderte sie langsam auf die hintere Terrasse des Cottage, von der aus man gerade noch Scotch Beach sehen konnte. Direkt am Rand des Wassers ging ein Mann entlang, mit eingezogenem Kopf, die Hände tief in den Taschen vergraben. Dieser Mann sieht aus wie der einsamste Mensch des Universums, dachte Lu.
Eigentlich wäre von Anthonys Cottage der nächste Strand – Scotch Beach – in knapp einer halben Minute zu erreichen gewesen, aber er brauchte vier Tage, bis er sich zum ersten Mal auf den Weg dorthin machte.
Die ersten drei Tage auf Block Island wagte er sich nur selten nach draußen, und wenn er es versuchte, ging es meistens nicht gut. Er probierte es mit einem Ausflug in die Stadt. Gerade als er parken wollte, rief seine Mutter an und beschrieb ihm ihren letzten Nachmittag mit Max so detailgenau, dass es Anthony fast das Herz brach. Als wäre das nicht schlimm genug, wurde er auch noch öffentlich von einer wütenden Frau beschimpft, die ihm, weil er ihren Parkplatz versperrte, den Stinkefinger zeigte. Als er den LeBaron umgeparkt hatte, legte er den Kopf aufs Lenkrad und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Am nächsten Tag ging er noch einmal ins Lebensmittelgeschäft. Acht Dollar für Zahnpasta, sieben fünfzig für Butter! Das war entmutigend, und noch schlimmer trafen ihn die bei der Kasse ausgestellten Taschenbücher. Während er in der Schlange stand, hatte er mehrere Exemplare von »Downtown Train« und »Child’s Play« vor sich, beide von Leonard Puckett.
Im Cottage musste er die Vorhänge geschlossen halten, denn die erbarmungslose Sonne ärgerte ihn am meisten. An einem Ort, wo jeder fröhlich und braun gebrannt herumlief, würde er sich wahrscheinlich noch Rachitis zuziehen. Wieder starrte er auf die Karaffe mit der geheimnisvollen goldenen Flüssigkeit und stellte sich vor, sie zu trinken und damit allen quälenden Gedanken zu entfliehen. Er probierte ein rezeptfreies Schlafmittel, erst normal, dann doppelt dosiert, doch das Medikament machte ihn nachts nur noch ruheloser, und morgens war er benebelt. Seine Beine zitterten, als rüttle eine unsichtbare Hand an seinen Knöcheln.
Wäre er noch Autor gewesen, hätte er seine missliche Verfassung ungefähr so beschrieben: Anthony wohnte dreißig Sekunden vom Strand entfernt, und doch wurde er immer blasser. Er schien auszutrocknen, der Wind drohte ihn wegzublasen wie ein welkes Blatt.
Da die Geschichte jedoch keinerlei Dynamik besaß und obendrein völlig uninteressant war, hörte er auf damit.
Am vierten Tag machte er sich dann doch auf den Weg durchs Unterholz und erreichte einen sandigen Pfad, gesäumt von wehenden Strandgräsern und gelben Blumen, die vermutlich typisch für die Gegend waren. Die Karibik des Ostens! Bereits am Tag seiner Ankunft hatte Anthony den Slogan auf allen Touristeninfos gesehen. Ja, genau, hatte er ironisch gedacht, denn von der Fähre aus unterschied sich die Küste nicht von jeder anderen in New England – ein bisschen grau, ein bisschen unheilschwanger, voller Yankee-Stolz. Aber als der sandige Weg in ein breiteres Stück Strand mündete, musste er zugeben, dass das Marketing gar nicht so danebenlag. Hier schimmerte das Wasser in hellem Türkis, mit nur ein paar schaumgekrönten kleinen Wellen in der Ferne. Der Sand war zart, frei von Seetang oder sonstigem Müll und umspülte seine Füße auf eine Art, die selbst Anthony als tröstlich empfand.
Er war schon früh losgegangen, und erst jetzt begann der Strand sich allmählich zu füllen. Rechts sah er einen Vater, der mit einer aufklappbaren Sonnen-Cabana kämpfte, während seine beiden kleinen Kinder unbeobachtet zum Wasser rannten. Links fand sich eine Clique von Teenagern zusammen. Die Jungen mit nackten Oberkörpern, schlank und braun gebrannt, legeren Hugh-Grant-Frisuren. Die Mädchen in Bikinis und mit langen, seidigen Shampoo-Werbung-Haaren.
Anthonys Smartphone klingelte, und der Name Shelly Salazar erschien auf dem Display. Ohne nachzudenken, nahm er das Gespräch an.
»Wo bist du denn abgeblieben, Anthony Puckett?«
»Shelly?« antwortete er. Shelly Salazar war die freiberufliche PR-Agentin, die Cassie für ihn angeheuert hatte, bevor es mit seiner Karriere schneller bergab ging, als selbst ein deutscher Bobfahrer es schaffte. Shelly Salazar war Ende zwanzig und besaß eine leicht verwegene Furchtlosigkeit, die Anthony einschüchternd und zugleich beneidenswert fand.
»Wo zum Henker warst du denn? Ich hab dich angerufen, ich hab Cassie angerufen, alle hab ich angerufen. Niemand ist drangegangen! Hast du meine SMS nicht gekriegt?«
»Doch, hab ich«, gestand Anthony.
»Wir haben an der PR-Front eine Menge Arbeit zu erledigen, Anthony.«
Vor seinen Augen ruckelte eines der Mädchen sich gerade aus ihren Shorts und watete ins Wasser. Eigentlich hätte es dafür so früh in der Saison zu kühl sein müssen, doch sie zuckte nicht einmal zusammen. Vielleicht befand man sich hier wirklich an der Karibik des Ostens.
»Ich nehme eine kleine Auszeit«, erklärte er und schaute mit zusammengekniffenen Augen hinauf zu den Wolkenfetzen am Himmel. »Und überlege, dann mit etwas Neuem anzufangen.«
»Ja«, meinte Shelly Salazar, »genau das solltest du auch. Schreib was Neues, was Besseres, und fang am besten gleich mit einer Entschuldigung an.« Auf einmal hatte ihre Stimme ein ganz anderes Timbre, klang tief und voll. »Wenn du vorneweg eine Entschuldigung bringst und das dann der große Wurf wird, dann werden wir dich in jede Zeitschrift, auf jede Leseliste kriegen. Bustle, LitHub, Lenny Letter! Die Times!«
Bei der Erwähnung der Times schauderte Anthony.
»Na ja«, sagte er, »ich weiß nicht, ob ich was Besseres schreiben kann.« »Simons Fels« war gut gewesen, richtig gut. Er hatte alles reingepackt, bis … »Aber etwas Neues wird gehen. Glaube ich.«
»Muss ja auch nicht unbedingt besser sein. Auf die Entschuldigung kommt es an. Wenn die Leute die Entschuldigung kaufen, dann kaufen sie auch das Buch. Also solltest du dafür sorgen, dass sie ein verdammtes Kunstwerk ist.«
»Richtig«, sagte Anthony und seufzte. »Okay.«
»Heilige Scheiße«, rief Shelly plötzlich. »Ich hatte gerade die beste Idee meines Lebens. Meinst du, wir könnten ein Foto von dir und deinem Vater kriegen?«
»Ich weiß nicht …« Anthony zögerte. »Wir machen zurzeit eine eher schwierige Phase durch, und ich möchte nichts forcieren …«