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PROF. DR. IAN HARRIS

SCHNIPPELN FÜR DEN PROFIT

PROF. DR. IAN HARRIS

SCHNIPPELN FÜR DEN PROFIT

Ein Chirurg deckt auf, warum zu häufig operiert wird und viele Operationen überflüssig sind

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright © Ian Harris 2016. First published 2016 by NewSouth, an imprint of University of NSW Press Ltd. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Rometsch

Redaktion: Silke Panten, Sarah Henter

Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer, München

Umschlagabbildung: Ivan Kmit/Alamy Stock Foto

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1197-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0855-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0856-3

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Haftungsausschluss

Diese Veröffentlichung ersetzt keine ärztliche Konsultation oder Untersuchung. Autor und Verlag übernehmen keine Haftung oder Verantwortung für mögliche Schäden aus der Benutzung dieser Informationen. Entscheidungen für oder gegen eine ärztliche Behandlung liegen in der Eigenverantwortung jedes Lesers. Dieses Buch hat nicht die Absicht, Sie von einem Arztbesuch abzuhalten oder Ihr Verhältnis zur Ärztin/zum Arzt Ihres Vertrauens zu belasten, wohl aber, dass Sie alle Informationen, die Sie dort erhalten, kritisch auf Sinn und Absicht hinterfragen.

Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft gilt die freie Meinungsäußerung, die nicht durch Wirtschaftsgruppen, Verbände oder Interessengruppen unterbunden werden darf.

Inhalt

Einführung

Der Aderlass, ein 3000 Jahre altes Placebo

Der Aufbau dieses Buches

1 Der Placeboeffekt

Was ist der Placeboeffekt und wie funktioniert er?

2 Wie wissenschaftlich ist die Medizin?

Was sind »gute Belege«?

Die besten Methoden, ein Bias zu minimieren

Statistische Signifikanz

Fehlende Reproduzierbarkeit

Die Lösung

Was hat das mit der Chirurgie zu tun?

3 Das perfekte Placebo

Was ist ein gutes Placebo?

Mehr ist besser

Der Absinkungseffekt

Der gesteigerte Placeboeffekt invasiver Verfahren

Die therapeutische Verpackung

4 Die Chirurgie im (Placebo-)Prüfstand

Studien, die Mogel-Chirurgie testen

Operationen bei Angina im Stil der 1950er-Jahre

Operationen bei Parkinson

Chirurgie bei der Menière-Krankheit

Operationen bei Migräne

Kniearthroskopie bei Arthrose

Kniearthroskopie bei Meniskusrissen

Keine sehr gute IDET

Tennisellbogen – will jemand operiert werden?

Vertebroplastie

Operationen bei Bluthochdruck

5 Der chirurgische Schrotthaufen

Operationen, die als nutzlos verworfen wurden

Aderlass

Radikale Mastektomie

Lobotomie

Extrakranielle und intrakranielle Bypass-Operationen

Das Plica-Syndrom

6 Placebochirurgie heute

Fragwürdige chirurgische Eingriffe

Wirbelsäulenfusionen

Operationen bei MS

Hysterektomie

Der Kaiserschnitt

Kniearthroskopie

Appendizitis

Koronare Stentimplantation

Venöse Gerinnselfilter

Operationen beim Impingement-Syndrom der Schulter

Wanderniere

Sehnenrisse

Laparoskopie bei Darmverwachsungen

Frakturoperationen

Was gibt es sonst noch?

Die Invasion der Roboter

Praxisvariation

7 Warum tun wir es noch immer?

Gründe für unwirksame Operationen

Die menschliche Natur

Trägheit und das Bedürfnis zu handeln

Diagnosen um jeden Preis

Finanzielle Interessen

Die Unlust, chirurgische Therapien gegen Placebos zu testen

Das wackelige Dreibein der chirurgischen Evidenz

Doppelmoral in der Medizinforschung

Bias in der Wissenschaft

8 Operationen haben einen Placeboeffekt – na und?

Was spricht dagegen, den Placeboeffekt zu nutzen?

Wem schadet das?

Was tun, wenn wir es nicht wissen?

9 Was können wir dagegen tun?

Als Patienten, Ärzte, Forscher, Kostenträger und Gesellschaft

Was können Patienten tun?

Was können Ärzte tun?

Was können Forscher tun?

Was können die Geldgeber tun?

Was kann die Gesellschaft tun?

Der Autor

Dank

Literaturhinweise

Einführung

Dieses Buch liefert Beweise für einen Placeboeffekt in der Chirurgie. Er wird oft unterschätzt, wenn von den Erfolgen chirurgischer Eingriffe die Rede ist. Der Placeboeffekt trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass die wahre Effektivität der Chirurgie überschätzt wird.

Dieses Buch will Mediziner und Laien darüber informieren, wie effektiv viele chirurgische Eingriffe, die seit vielen Jahren vorgenommen werden, tatsächlich sind, und es möchte den Thesen widersprechen, jede neue Operationstechnik müsse besser sein als die alte, die Komplexität der Chirurgie werde durch höhere Wirksamkeit belohnt und ein Arzt empfehle keine Operation, wenn sie nicht erfolgversprechend sei und dem Wohl des Patienten diene. Damit Sie diese Bemerkungen nicht falsch verstehen, sind allerdings einige Klarstellungen notwendig.

Ich behaupte nicht, dass jede Operation unnütz oder schädlich ist. Ich bin Chirurg und verbringe einen großen Teil meines Arbeitslebens am Operationstisch. Aber ich bin ein ziemlich konservativer Chirurg und neige dazu, nicht zu operieren, wenn der Nutzen im Verhältnis zu den Risiken eines Eingriffs zweifelhaft ist. Ich bereue es selten, Patienten von einer Operation abgeraten zu haben, und wundere mich oft darüber, wie gut der Körper sich ohne chirurgische Maßnahmen selbst regeneriert und anpasst. Ebenso oft treffe ich Patienten, bei denen fragwürdige Operationen misslungen sind und denen es nach dem Eingriff schlechter geht als vorher. Ich bin durchaus skeptisch gegenüber vielen Behauptungen von Chirurgen, einerseits weil dies meine Aufgabe als Wissenschaftler ist, und andererseits, weil wissenschaftliche Untersuchungen so oft belegen, dass der Nutzen vieler Operationen geringer ist, als zunächst behauptet wurde. Mit anderen Worten, ich bin skeptisch, weil das wissenschaftlich ist, aber auch, weil meine Skepsis so oft belohnt wird.

Ich behaupte auch nicht, dass Chirurgen Operationen empfehlen, obwohl sie wissen, dass die möglichen Risiken größer sind als der mögliche Nutzen. Die meisten Chirurgen glauben, dass sie das Richtige tun; doch sie sind sich der Stärke (oder Schwäche) des Beweismaterials oft nicht bewusst – oder, häufiger noch, es gibt keine oder keine überzeugenden wissenschaftlichen Belege, sodass sie sich auf Urteile verlassen müssen, die ihre eigene Auffassung widerspiegeln. Ohne gute wissenschaftliche Belege halten Chirurgen die Maßnahmen, die sie empfehlen, für effektiv oder sie nehmen an, dass sie wirksam sind – andernfalls würden ihre Kollegen sie ja nicht anwenden, oder? Einfach gesagt, fehlende Beweise ermöglichen es den Chirurgen, Eingriffe vorzunehmen, die schon immer vorgenommen wurden und die sie in der Ausbildung beigebracht bekommen haben. Sie können tun, was sie für richtig halten und was alle anderen auch tun. Man gerät fast nie in Schwierigkeiten, wenn man tut, was allgemein üblich ist und der Tradition entspricht. Mein Argument lautet: Die Berufung auf Traditionen und unbewiesene Annahmen führt oft dazu, dass die Effektivität der Behandlung falsch eingeschätzt wird, und daher ist sie unzulänglich.

Ich weiß das, weil ich es auf die harte Tour gelernt habe. Als ich mit meiner Ausbildung begann und dann als Chirurg arbeitete, war es ziemlich einfach, Entscheidungen zu treffen. Seltsamerweise wird es umso schwieriger, je mehr man weiß. Das liegt daran, dass zwischen dem, was man auf der Grundlage der wissenschaftlichen Forschung für richtig hält, und dem, was man beobachtet, was man gelernt hat und was alle anderen tun, Widersprüche auftreten.

Die wissenschaftliche Widerlegung unwissenschaftlicher Vorstellungen hat mich immer beeindruckt. Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung, in der zwei bekannte Skeptiker (James Randi und Dick Smith) nachwiesen, dass Rutengänger nur Zufallstreffer erzielten, als sie versuchten, in Leitungen, die für das Experiment verlegt worden waren, Wasser aufzuspüren. Die Rutengänger waren davon überzeugt, dass sie zu etwa 90 Prozent Recht hatten. In Wahrheit betrug ihre Trefferquote nur 10 Prozent, da sie nur in einer von zehn Leitungen Wasser entdeckten.

Auf der einen Seite gefiel mir die angewendete wissenschaftliche Methode und auf der anderen Seite faszinierte mich die Reaktion der Rutengänger: Sie behaupteten, unterirdische Magnete und andere Dinge hätten sie gestört und in früheren, »offenen« (nicht verblindeten) Tests sei es ihnen gelungen, Wasser in Leitungen zu »entdecken«. Rutengänger, die Astgabeln oder andere Instrumente verwendeten, hatten seit Generationen ziemlich erfolgreich Wasser gefunden und sich dabei auf die Tradition und auf Beobachtungen berufen, um zu begründen, was sie wussten: dass das Rutengehen eine gute Methode sei, Wasser zu finden. Die Tatsache, dass man fast überall auf Wasser stößt, wenn man tief genug gräbt, erwähnten sie nicht. Sie taten einfach, was sie immer getan hatten, und es klappte – sie fanden Wasser. Wenn die Wissenschaft nachwies, dass Rutengehen nutzlos war, dann war ihrer Meinung nach mit dem Experiment etwas nicht in Ordnung, dann hatte die Wissenschaft unrecht.

Ich begann meine berufliche Laufbahn wie die Rutengänger: Ich tat, was alle anderen taten und was man mir beigebracht hatte. Und ich war zufrieden. Ich dachte, auch meine Patienten wären zufrieden, und die meisten waren es wohl. Ich fand Wasser, und deshalb sah ich keinen großen Sinn darin, die Methoden zu hinterfragen.

Dann begann ich selbst ein wenig zu forschen. Um einige Lücken in der Beweisführung zu füllen, leitete ich kleine randomisierte, also nach dem Zufallsprinzip geordnete, Studien, die zwei Therapien miteinander verglichen. Doch bald merkte ich zu meiner Enttäuschung, dass ich mit der wissenschaftlichen Methode nicht hinreichend vertraut war. Ich beneidete Leute, die imstande waren, wissenschaftliche Studien kritisch zu beurteilen. Ich wusste nicht einmal, was »gute« und was »schlechte« Wissenschaft war, und ich war erst recht nicht in der Lage, zwischen beiden zu unterscheiden. Also beschloss ich, dieses Wissen zu erwerben. Bald wurde mir klar, dass die wissenschaftliche Methode (die sogenannte evidenzbasierte Medizin) die einzige Möglichkeit war, zuverlässiges Wissen zu erlangen – und dass es höchst bedenklich war, sich auf Beobachtungen und auf die Tradition zu verlassen.

Kurz gesagt erkannte ich, dass die Tests, denen die Rutengänger unterzogen worden waren – einwandfreie wissenschaftliche Experimente –, auch in der Chirurgie angewandt werden müssen. Wir müssen unsere Denkweise so ändern, dass wir nicht wie die Rutengänger reagieren, wenn man uns die Befunde vorlegt. Wenn ich ein Rutengänger wäre, würde ich meine Rute an den Nagel hängen.

Ich habe nicht die Absicht, die fehlenden Wirkungen von Operationen reißerisch darzustellen, und ich werde auch keinen übertriebenen Fall präsentieren, damit meine Leser verblüfft nach Luft schnappen (und dieses Buch deshalb Freunden empfehlen). Das soll aber nicht heißen, dass Sie nicht erstaunt sein werden (und es bedeutet hoffentlich auch nicht, dass Sie mein Buch nicht weiterempfehlen). Es bedeutet lediglich, dass die ungeschminkte Wahrheit in diesem Fall interessant und überraschend genug ist. Ich muss die Tatsachen nicht aufbauschen. Meiner Meinung nach sind sie ohnehin sensationell.

Nun wissen Sie, was ich nicht behaupte. Was ich behaupte, lässt sich so zusammenfassen: Bei vielen Beschwerden und Krankheiten ist die wahre Wirkung von Operationen geringer und das Risiko größer, als Sie oder Ihr Chirurg glauben. Es besteht ein Unterschied zwischen einer realen, unmittelbaren Wirkung der Chirurgie und unserer Wahrnehmung ihrer Wirksamkeit. Dieser Unterschied, den wir Placeboeffekt nennen, ist der Grund dafür, dass wir die wahre Wirkung von Operationen häufig überschätzen.

Das führt uns zu einer wichtigen Unterscheidung, die ich jetzt schon anführen möchte, weil sie im Mittelpunkt meiner Botschaft steht. Es handelt sich um den Unterschied zwischen Beobachtung und Experiment oder zwischen Wahrnehmung und Realität. Wir neigen dazu, unseren Beobachtungen (unserer Wahrnehmung) zu glauben, selbst wenn wissenschaftliche Experimente das Gegenteil beweisen. Ich beobachte beispielsweise (ich nehme wahr), dass die Sonne sich um die Erde dreht. Für mich ist das eindeutig. Doch eine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt das nicht – das Gegenteil ist richtig. Und wie viele andere Beispiele, die ich in diesem Buch vorstelle, dauerte es lange, bis diese Überzeugung erschüttert wurde.

Was sollen wir glauben, wenn die Ergebnisse von Beobachtungen und Traditionen den Ergebnissen eines Experiments widersprechen? Die meisten Menschen vertrauen ihren Augen – genau das hat uns Menschen seit der Zeit, als wir die Wissenschaft noch nicht einmal erfunden hatten, so weit gebracht. Wir brauchten keine randomisierten Studien oder toxikologischen Tests, um zu wissen, was wir essen durften und was wir meiden mussten. Das fanden wir durch Beobachtungen und überliefertes Wissen heraus. Doch jeder Magier, Illusionist oder Gedankenleser wird Ihnen bestätigen, dass wir uns ziemlich leicht narren lassen. Wir alle fallen auf falsche Ansichten herein.

Der Aderlass, ein 3000 Jahre altes Placebo

Der Aderlass ist eine gute Einführung in die Welt der chirurgischen Placebos, weil er ganz am Anfang der Chirurgie als Handwerk stand. Außerdem zeigt er uns, wie überzeugt Praktiker sein können, wenn es um die Wirkung ihrer Verfahren geht. Die Gründe für die Anwendung des Aderlassens als Therapie – trotz seiner Unwirksamkeit – gelten für viele andere chirurgische Verfahren, die ich in diesem Buch bespreche. Allerdings hielt sich der Aderlass länger als alle anderen Verfahren zusammen.

Seine Geschichte reicht wahrscheinlich bis zu den Mesopotamiern und Ägyptern zurück, auf jeden Fall bis zu den Griechen und Römern. Man wollte den Körper von schlechten Säften befreien oder diese harmonisieren – so ungefähr. (Die »Säfte« galten als Grundsubstanzen des Körpers und Krankheiten führte man auf ein Ungleichgewicht zwischen diesen Säften zurück.) Obwohl die Gründe anfangs etwas nebulös waren, wurde die »Wissenschaft« des Aderlassens bis zum Mittelalter sehr ausgeklügelt: Welchem Körperteil sollte man Blut entnehmen, an welchem Wochentag, in welcher Woche, in welcher Jahreszeit, bei welchem Wetter? Und natürlich: Wie viel Blut war erforderlich (dabei stützte man sich auf zusätzliche lächerliche Variablen)?

Beim Aderlass schnitt man oft in eine Vene, aber es gab auch andere Methoden, zum Beispiel Schnitte in Arterien oder den Einsatz von Blutegeln. (In den 1830er-Jahren importierte Frankreich etwa 40 Millionen Blutegel im Jahr für medizinische Behandlungen.) Er war für den Aufstieg des Berufs des Chirurgen verantwortlich, genauer gesagt für den Aufstieg des Baders (der mit Messern arbeitete). Zunächst waren Barbiere und Chirurgen dafür verantwortlich, das Haar zu schneiden, zu rasieren, Geschwüre zu öffnen und zu operieren. Als Ärzte zu wichtig wurden, um selbst den Aderlass durchzuführen, verordneten sie Aderlässe durch Bader. Diese benutzten eine Lanzette (der die berühmte medizinische Zeitschrift Lancet ihren Namen verdankt). Die roten und weißen Stangen vor Barbiergeschäften symbolisierten die blutigen Bandagen, die man als Aderpresse verwendete, um die Venen zu erweitern. Später wurden die Chirurgen zu wichtig für die Barbiere; sie spalteten sich von ihnen ab und fanden neue Therapien (oft Placebos), für die sie ihre Messer benutzen konnten.

Als die Diagnosen genauer wurden – zum Beispiel: Lungenentzündung, Krebs, Diabetes und Gelbsucht –, wurde der Aderlass zur Therapie für alle, zum Teil deshalb, weil es kaum etwas anderes gab. Wie Sie später noch sehen werden, war der Aderlass zudem ein gutes Placebo, da er invasiv, schmerzhaft und drastisch war und in (Pseudo-)Wissenschaft gehüllt wurde.

Irgendwann begannen die Menschen, an der Wirksamkeit des Aderlasses zu zweifeln und im 19. Jahrhundert veröffentlichte Pierre Charles Alexandre Louis, ein französischer Arzt, einen Artikel, in dem er anhand wissenschaftlicher Methoden nachwies, dass der Aderlass bei Lungenentzündung unwirksam war. Bei Ärzten, die »wussten«, dass er wirkte, löste das Proteste aus. In einem entlarvenden Artikel der American Academy of Sciences hieß es 1858, Ärzte seien »nicht bereit, auf Therapien zu verzichten, die sowohl von der Tradition als auch von ihrer eigenen Erfahrung bestätigt werden, und stattdessen den Zahlen anderer zu glauben«. So etwa argumentieren Ärzte heute noch, wenn man ihnen nachweist, dass ihre Behandlung nicht wirkt. Sie verlassen sich lieber auf die Tradition und ihre eigenen (subjektiven) Beobachtungen und vermuten selbst dann Ursachen und Wirkungen, wenn diese nicht existieren (genau das taten die Rutengänger angesichts der Beweislage).

Im 19. Jahrhundert fiel der Aderlass allmählich in Ungnade, teils wegen der zunehmenden Skepsis (und der wissenschaftlichen Belege für seine Unwirksamkeit), teils weil alternative Placebos entwickelt wurden, etwa Mesmerismus und Elektrizität. Elektrischer Strom wurde durch Körperteile geleitet und verursachte meist Krämpfe. Auch für Chirurgen gab es nun eine Reihe von neuen Verfahren. Das verschaffte den Ärzten einen Ausweg; denn wie Sie sehen werden, ist der Verzicht auf eine Behandlung selten eine Option.

Es überrascht, dass der Aderlass in Lehrbüchern des 20. Jahrhunderts immer noch für bestimmte Beschwerden empfohlen wurde, unter anderem (es ist kaum zu glauben) als Therapie bei einem Schock, dessen Ursache ein Blutverlust bei der Entbindung war, und bei Lungenentzündung. Das zeigt, wie schwer es ist, eine Tradition zu überwinden.

Der Aufbau dieses Buches

Kapitel 1 ist eine Einführung in die Welt der Placebos. Wir erörtern, was der Placeboeffekt ist, wie und warum er funktioniert und warum unsere Interpretation von Ursachen und Wirkungen bisweilen falsch und dennoch tief verwurzelt ist. Menschen denken nicht unbedingt wissenschaftlich. Dieses Thema behandeln wir in Kapitel 2, wo es um einige logische Irrtümer und um wissenschaftliche Regeln der Beweisführung geht. Das ist notwendig, um zu demonstrieren, dass es »gute« und »schlechte« Beweise gibt und dass die Mediziner oft mit zweierlei Maß messen, wenn sie kritisiert werden oder wenn sie die alternative Medizin kritisieren.

In Kapitel 3 lockere ich die Stimmung auf. Wir verwenden alle Fakten zu Placebos, um das ultimative Placebo zu entwickeln und zu untersuchen, wie die Chirurgie ins Bild passt.

In Kapitel 4 unterziehen wir die Chirurgie einem Test, und zwar mit Beispielen für Operationen, die mit Placebos verglichen wurden. Sie werden sehen, dass häufig vorgenommene Eingriffe sich oft als nutzlos oder schädlich herausstellen, wenn man sie genau unter die Lupe nimmt.

In Kapitel 5 geht es um Geschichte, von den Anfängen der Chirurgie bis zu den heutigen Operationen. Wir schauen uns Operationen an, die sich nicht bewährt haben. Alle diese Operationen wurden irgendwann häufig vorgenommen und Sie werden sehen, wie schwierig es sein kann, die medizinische Praxis zu ändern, wenn sie erst einmal in die »derzeit anerkannte Praxis« integriert wurde. Das gilt vor allem dann, wenn eine Operation nicht den rigorosen (placebokontrollierten) Tests unterzogen wurde wie diejenigen, die ich in Kapitel 4 erwähne.

In Kapitel 6 gehe ich bedächtig vor. Angesichts der gescheiterten Operationen, die einst gang und gäbe waren, untersuche ich, welche der heute üblichen Operationen möglicherweise in Zukunft verworfen werden, weil ihre Wirkung nicht erwiesen ist.

Um das Phänomen, das ich in diesem Buch beschreibe, besser zu verstehen, erforscht Kapitel 7, warum das System so ist, wie es ist – warum ständig neue, aber unwirksame Verfahren aufkommen, warum wir an sie glauben und warum sie so schwer abzuschaffen sind. Ich gebe einen Überblick über die Fehler der wissenschaftlichen Medizin und zeige, wie Ethik und Wissenschaft verzerrt werden, damit wir unsere Placebos behalten können und nicht testen müssen. Ich werde einige mögliche Gründe dafür besprechen, unter anderem die gute alte Natur des Menschen.

Kapitel 8 wurde als Reaktion auf eine Frage hinzugefügt, die mir oft gestellt wird: »Na und?« Ärzte nutzen den Placeboeffekt, seit es Ärzte gibt, und warum sollte man den Schwindel offenlegen, solange es den Patienten besser geht? Vieles spricht dagegen, in der Chirurgie auf den Placeboeffekt zu setzen, und zwar nicht nur die Kosten für die Patienten und Krankenkassen und der mögliche Schaden.

Im letzten Kapitel biete ich unter dem Titel »Was können wir dagegen tun?« einige Lösungen an. Das »wir« ist gewagt; denn ich schließe Patienten, Angehörige, Chirurgen, Allgemeinärzte, Behörden, Versicherungen, Politiker und die Gesellschaft ein.

Um meine Argumente zu stützen, ziehe ich oft Beispiele heran. Einige von ihnen und andere erwähnenswerte Themen behandle ich separat in Kästen. Ich empfehle Ihnen, sie an Ort und Stelle zu lesen, da sie die wichtigen Punkte im benachbarten Text erläutern.

Außerdem habe ich unter dem Titel »Der Blickwinkel des Patienten« einige separate Abschnitte hinzugefügt, die verbreitete Meinungen der Patienten und der Allgemeinheit über die Chirurgie beleuchten. Ich habe viele Patienten behandelt und dabei festgestellt, dass sie einige Themen immer wieder ansprechen. Ich behandle diese Themen in der Hoffnung, dass sie meiner Botschaft in den Augen der Leser mehr Bedeutung verleihen.

Manche Leser werden vielleicht feststellen, dass die orthopädische Chirurgie in diesem Buch überrepräsentiert ist. Das liegt nicht daran, dass sie schlimmer ist als andere Bereiche der Chirurgie, sondern allein daran, dass ich mich auf diesem Gebiet am besten auskenne. Ich höre und lese von vielen fragwürdigen Verfahren in anderen Fachgebieten. Einige haben Eingang in dieses Buch gefunden, andere habe ich nicht behandelt, vor allem weil es mir an detailliertem Wissen fehlt.

Ich habe versucht, möglichst wenige medizinische und statistische Fachbegriffe zu verwenden; aber einige sind notwendig, damit mein Anliegen klar wird. Wenn solche Begriffe vorkommen, erkläre ich sie.

Es gehört zu meinem Beruf, wissenschaftliche Manuskripte zu schreiben, zu lektorieren und zu besprechen. Dabei muss jede Behauptung durch die Literatur oder durch Studien gestützt werden. Es gehört nicht zu meinem Beruf, dieses Buch zu schreiben – das ist mein Hobby. Ich habe in Flugzeugen und Hotels und am späten Abend zu Hause daran geschrieben. Im Hauptteil dieses Buches finden Sie keine Literaturangaben, weil das in einem Buch für das allgemeine Publikum ablenken und stören würde. Wer an Literaturhinweisen interessiert ist oder sich genauer mit meinem Thema beschäftigen will, findet am Ende des Buches viele nach Kapiteln geordnete Hinweise. Alle wichtigen Studien, die ich erwähne, sind in diesem Abschnitt enthalten, sodass Sie die Beweise selbst nachprüfen können.

Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass ich dieses Buch nicht als Vertreter irgendwelcher Organisationen schreibe, mit denen ich zusammenarbeite. Dazu gehören meine Universität, die drei öffentlichen und die zwei privaten Kliniken, in denen ich arbeite, die regionalen und überregionalen Ausschüsse, deren Mitglied ich bin, sowie die Berufsverbände und deren Ausschüsse und Gremien, denen ich angehöre. Das heißt nicht unbedingt, dass diese anderer Meinung sind als ich (einige Mitglieder sind es schon); aber sie waren an der Produktion dieses Buches nicht beteiligt und haben es nicht vorab zu Gesicht bekommen.

Ich hoffe, es macht Ihnen Spaß, dieses Buch zu lesen, und ich hoffe vor allem, dass Sie nach der Lektüre über die Medizin und die Chirurgie anders denken. Möge das Buch Ihnen helfen, die richtigen Fragen zu stellen und objektiver (und daher auch weniger menschlich) zu sein, wenn Sie das Risiko und den Nutzen eines vorgeschlagenen chirurgischen Eingriffs abwägen.

1 Der Placeboeffekt

Was ist der Placeboeffekt und wie funktioniert er?

Fast jeder weiß, was ein Placebo ist. Die Idee dahinter ist ziemlich leicht zu verstehen. Der Placeboeffekt ist jedoch eine völlig andere Geschichte, die einer Erläuterung bedarf.

Placebos haben ihrer Definition nach keine Wirkung. Sie können unterschiedliche Formen annehmen, von Zuckertabletten bis zu komplizierten Prozeduren. Solange eine Maßnahme keine bestimmte therapeutische Wirkung hat, handelt es sich um ein Placebo. Placebos verändern eine bestimmte Person nicht direkt und verbessern auch nicht unmittelbar ihren Zustand. Das Abtöten von Bakterien mit Antibiotika ist eine spezifische therapeutische Wirkung, ebenso die Senkung des Blutzuckerspiegels durch Insulin. Das ist leicht zu verstehen; doch wie Sie später sehen werden, vermuten oder behaupten wir bisweilen theoretische therapeutische Wirkungen, um die wahrgenommene Reaktion auf ein Medikament zu erklären. Diese theoretischen Wirkungen müssen wir prüfen, indem wir die Behandlung mit einem Placebo vergleichen. Es ist ein einfaches Konzept und das Verfahren ist oft notwendig, um echte Wirkungen nachzuweisen. Trotz der Einfachheit und offenkundigen Notwendigkeit von Placebotests zögern manche Leute immer noch, medizinische Behandlungen einem solchen zu unterziehen, unabhängig davon, wie häufig Behandlungen den Test nicht bestehen.

Placebos können Injektionen, Operationen und andere körperliche Behandlungen sein, die keinerlei therapeutische Wirkung haben. Aktive Placebos werden ebenfalls verwendet, doch auch sie sind und bleiben Placebos. Sie haben eine feststellbare Wirkung auf den Patienten, aber wenn der »aktive« Bestandteil die Krankheit nicht unmittelbar beeinflusst, handelt es sich eben trotzdem um ein Placebo. Man kann beispielsweise eine Placebotablette benutzen, die ein Prickeln auf der Zunge hervorruft, weil das untersuchte Medikament ebenfalls eine solche Wirkung hat. Das hilft, den Patienten zu »verblinden« – er weiß nicht, ob er ein Placebo bekommen hat oder nicht. Wichtig ist, dass auch aktive Placebos keine direkte Wirkung auf die Krankheit haben.

Wenn ein Placebo also inaktiv ist und keine Wirkung auf die zu behandelnde Krankheit hat, warum gibt es dann so etwas wie den »Placeboeffekt«? Die Antwort lautet: Was mit unserem Körper geschieht, entspricht nicht unserer Wahrnehmung – unserem Gefühl. Wir wissen dank einiger sehr interessanter Beobachtungen und Experimente, dass unser Schmerzempfinden, unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit und unser Glücksgefühl kaum etwas mit unserem objektiven Zustand zu tun haben. Manchmal geht es uns schon besser, wenn uns jemand tröstet und sich um uns kümmert, selbst wenn die Tablette, die wir soeben bekommen haben, keine aktiven Bestandteile hat. Doch das Problem ist tiefgründiger. Menschen können fest davon überzeugt sein, dass die Krankheit, wegen der man sie behandelt, sich gebessert hat, obwohl wir wissen, dass die Behandlung unwirksam ist. Es gibt viele mögliche Gründe dafür, dass wir uns besser fühlen. Ich werde später darauf eingehen.

Der Placeboeffekt tritt somit auf, weil das, was tatsächlich geschieht, nicht unserer Selbstwahrnehmung entspricht. Das Objektive unterscheidet sich vom Subjektiven; die spezifische therapeutische Wirkung unterscheidet sich von der wahrgenommenen therapeutischen Wirkung.

Doch es ist nicht alles Schwarz oder Weiß. Eine Behandlung kann eine spezifische therapeutische Wirkung haben (sie beeinflusst vielleicht sogar die Krankheit und verändert den Patienten körperlich) und zusätzlich einen Placeboeffekt aufweisen, der dazu führt, dass die vom Patienten wahrgenommene Gesamtwirkung größer ist als die echte oder spezifische Wirkung.

Wie Sie sehen, ist der Placeboeffekt im Grunde die wahrgenommene therapeutische Wirkung minus die spezifische therapeutische Wirkung (die gleich null sein kann). Der Placeboeffekt ist der zusätzliche Nutzen als Folge der wahrgenommenen Besserung. Mathematisch lässt sich das so darstellen:

spezifische therapeutische Wirkung + Placeboeffekt = wahrgenommene therapeutische Wirkung

Wenn ein Medikament (oder eine andere Behandlung) also ein reines Placebo ist (ohne spezifische therapeutische Wirkung), dann entspricht die wahrgenommene Gesamtwirkung dem Placeboeffekt. Die Formel dafür sähe so aus:

null (spezifische Wirkung) + Placeboeffekt = wahrgenommene therapeutische Wirkung

oder

wahrgenommene therapeutische Wirkung = Placeboeffekt

Hat ein Medikament eine reale (spezifische) Wirkung auf den Patienten und wird es beispielsweise verabreicht, während der Patient bewusstlos ist oder nichts davon merkt (sodass kein Placeboeffekt möglich ist), dann ist die spezifische Wirkung des Medikaments gleich der wahrgenommenen Wirkung (nach dem Aufwachen). In diesem Fall lautet die Formel:

spezifische therapeutische Wirkung + null (Placeboeffekt) = wahrgenommene therapeutische Wirkung

oder

wahrgenommene therapeutische Wirkung = spezifische therapeutische Wirkung

Diese Regel gilt für jede Therapie, sei es eine Tablette, eine Creme, eine Injektion, eine körperliche Behandlung, eine psychologische Behandlung oder eine Operation. Wenn wir den Placeboeffekt herausarbeiten, den Unterschied zwischen der spezifischen realen, physischen, pathologischen Wirkung und der wahrgenommenen Wirkung einer Therapie, dann haben wir erreicht, was wir erreichen wollten: das, was tatsächlich wirkt, von dem, was wir für wirksam halten, zu trennen.

Welche Placebos gibt es? Dinge, die »Placebo« genannt werden, sind natürlich Placebos. Dabei handelt es sich um Medikamente oder Geräte, die sorgfältig so hergestellt wurden, dass sie keinen bedeutsamen Einfluss auf den Körper haben und von denen jeder weiß, dass sie Placebos sind. In Wirklichkeit kann jedoch fast jede Behandlung einen Placeboeffekt haben. Therapien, die nicht als Placebos bekannt sind, können sogar einen viel stärkeren Placeboeffekt haben. Das ergibt Sinn: Wenn Sie eine geschmacklose Tablette bekommen und hören, dass sie ein Placebo ist, also keine Wirkung haben kann, fühlen Sie sich nach der Einnahme wahrscheinlich nicht viel besser.

Die Homöopathie ist ein gutes Beispiel für ein reines Placebo. Sie verwendet Zutaten in derart starker Verdünnung, dass es höchst unwahrscheinlich ist, darin noch ein Molekül der ursprünglichen Substanz zu finden. Wissenschaftlich betrachtet kann das Endprodukt keine aktiven Bestandteile haben. Dennoch wird die Homöopathie nach so vielen Jahren immer noch angewandt – offensichtlich, weil sie eine wahrgenommene Wirkung hat. Sie wirkt vielleicht nicht bei jedem; aber manche Menschen schwören darauf – nicht nur die Homöopathen. Sie glauben, dass die Präparate wirken, obwohl sie keine spezifische therapeutische Wirkung haben.

In den folgenden Kapiteln erfahren Sie, dass für viele chirurgische Eingriffe das Gleiche gilt. Der Unterschied ist, dass die Befürworter einer Operation meist eine wissenschaftliche Erklärung haben, die die Behandlung rechtfertigen soll – eine, die wir nicht so leicht ablehnen können wie die Homöopathie. Aber Sie werden auch sehen, dass eine wissenschaftlich plausible Erklärung keine Garantie für eine Wirkung ist; sie sagt uns nur, wie ein Mittel wirken könnte.

Warum glauben die Menschen dann, dass ihr Zustand sich gebessert hat, obwohl auf der physischen Ebene nichts mit ihnen passiert ist? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die bisweilen zusammenwirken.

Logisch betrachtet gibt es nur drei Gründe dafür, dass der Zustand eines Patienten sich bessert, obwohl eine Behandlung keine spezifische Wirkung hatte:

  1. Es geht ihm besser, aber nicht wegen der Behandlung.

  2. Es geht ihm nicht besser; wir glauben nur, dass es ihm besser geht.

  3. Es geht ihm nicht besser; er glaubt nur, dass es ihm besser geht.

Für die erste Variante – es geht dem Patienten tatsächlich besser – gibt es mehrere Erklärungen. Die einfachste lautet: Die meisten Krankheiten heilen von selbst. Der menschliche Körper hat im Laufe einer ziemlich langen Zeit gelernt, mit den meisten Krankheiten fertig zu werden. Das ist der Zweck der Evolution. Es überrascht, wie sehr die Menschen den natürlichen Heilungsprozess unterschätzen. Meine Haustiere leben ziemlich lange und fröhlich, ohne dass ein Tierarzt sie betreut – aber Menschen müssen anscheinend ständig betreut werden. Ich glaube das nicht. Diese Erklärung bezieht sich auf den »natürlichen Verlauf« der Krankheit: Was geschieht, wenn wir ihn ignorieren? Die meisten Menschen, die wegen einer hartnäckigen Erkältung Antibiotika einnehmen und denen es dann besser geht, fallen in diese Gruppe. Schon Voltaire sagte: »Die Kunst der Medizin besteht darin, den Patienten zu unterhalten, während die Natur die Krankheit heilt.«

Erfahrene Ärzte wissen den oft günstigen natürlichen Verlauf vieler Krankheiten zu schätzen, weil sie gesehen haben, was mit den wenigen Patienten geschieht, die nicht behandelt wurden oder eine Behandlung ablehnten. Wir sind oft überrascht, wie schnell sie genesen.

Einer der frühen Befürworter der evidenzbasierten Medizin, der Behandlungen aufs Geratewohl kritisierte, also solche ohne korrekte wissenschaftliche Studien, war Archibald Cochrane, nach dem die Cochrane Collaboration benannt wurde, die »Hüterin« der evidenzbasierten Medizin. Als Kriegsgefangener in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs betreute Cochrane 20 000 Gefangene, die alle an Durchfall, Typhus, Diphterie oder anderen Infektionen litten. Da er keine Medikamente außer Aspirin und Säurehemmern hatte, rechnete er damit, dass Hunderte sterben würden. Er erinnert sich an die Antwort, die ihm einer seiner Bewacher gab, als er um Ärzte bat: »Ärzte sind überflüssig.« Während seiner sechs Monate im Lager starben nur vier Gefangene; drei von ihnen wurden von den Wärtern erschossen.

Nachdem Cochrane wieder in Großbritannien war, begann er viele der damaligen medizinischen Standardverfahren zu hinterfragen. Später erwiesen sich diese Therapien als unwirksam (zum Beispiel Bettruhe nach einem Herzanfall). Seine Beobachtung, dass viele Therapien nur »den Patienten unterhielten, während die Natur die Krankheit heilte«, veranlassten ihn, mehr randomisierte Studien zu fordern (die sich erst damals in der Medizin allmählich durchsetzten). »Standardtherapien« müssten angemessenen (wissenschaftlichen) Tests unterzogen werden.

Ein weiterer Grund dafür, dass es Patienten ohne Behandlung besser geht, ist ein Phänomen, das als Regression zur Mitte bekannt ist. Wir können beispielsweise messen, wie häufig Menschen in ihrem Leben im Durchschnitt (das ist die »Mitte«) an unterschiedlich starken Rückenschmerzen leiden. Wenn wir aus einer Population durchschnittlicher Menschen Patienten auswählen, die zurzeit Rückenschmerzen haben, um eine neue Therapie zu testen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass viele von ihnen in (sagen wir) sechs Wochen keine Beschwerden mehr haben, weil sie sich »zur Mitte hinbewegen«. Rückenschmerzen fluktuieren, und wenn wir Patienten aussuchen, die zurzeit alle an solchen Schmerzen leiden, werden die Ergebnisse gut ausfallen, einerlei, wie wir sie behandeln. Es ist nämlich sehr unwahrscheinlich, dass 100 Prozent von ihnen bei einer späteren Untersuchung noch Beschwerden haben. Wenn wir Menschen aussuchen, die zurzeit an Bluthochdruck leiden, wird ihr Blutdruck bei einer späteren Untersuchung (nach der Behandlung) im Durchschnitt näher am Mittelwert liegen (also niedriger sein als zuvor), weil der Blutdruck bei jeder Messung anders ist. Wie Sie sehen, kann jede Therapie dank dieses Phänomens ziemlich gut aussehen. Das ist vor allem in der klinischen Forschung ein Problem.

Daniel Kahneman geht in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken auf dieses Phänomen ein. Er berichtet darin von einem Fluglehrer, der glaubte, es wäre besonders wirksam, Piloten wegen schlechter Leistungen zu schelten, weil sie dann beim nächsten Mal ein wenig besser abschnitten. Er hielt diese Methode für wirksamer als ein Lob für gute Leistungen, weil gelobte Piloten beim nächsten Mal oft schlechter waren. Aber das geschieht nur deshalb, weil in einer Gruppe von Menschen, die wiederholt geprüft werden, natürliche zufällige Abweichungen vorkommen, sodass die Leistung dieser Menschen nicht immer gleich ist. Wenn Sie irgendwann Teilnehmer am Ende des Spektrums auswählen, bleiben diese bei einer späteren Prüfung wahrscheinlich nicht alle am Ende des Spektrums (unter den Besten oder Schlechtesten). Es ist trügerisch, wenn wir Extreme herauspicken und dann ihren Rückfall zum Durchschnitt auf eine Behandlung zurückführen. Das ist kein Beweis für Ursache und Wirkung. Das ist das gleiche Phänomen wie bei Sportlern, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere auf dem Cover der Sports Illustrated abgebildet wurden: anschließend zeigen sie eine Leistung, die hinter den Erwartungen zurückbleibt. Das ist keine Kausalitätskette, sondern eine Regression zum Mittelwert.

Die Regression zur Mitte ist einer der vielen Gründe dafür, dass wissenschaftliche Studien über Therapien immer eine »Kontrollgruppe« enthalten sollten, eine Gruppe von Patienten, denen die getestete Therapie nicht zuteilwurde. Den Patienten in der Kontrollgruppe kann man ein Placebo geben oder man kann sie einfach nicht behandeln; aber das Vorhandensein einer Kontrollgruppe ist bei jedem Test einer Therapie der wichtigste Aspekt. Jahrelang haben Ärzte beobachtet, dass es ihren Patienten besser ging, und haben die Besserung auf ihre Therapie zurückgeführt. Nur die Einführung einer Kontrollgruppe kann die Wirkung einer Therapie (im wissenschaftlichen Sinne) zuverlässig prüfen. Placebos sind die besten »Kontrollen«.

Ein weiterer Grund dafür, dass es Menschen nach einer inaktiven Behandlung besser geht, sind andere Therapien, die ihnen zur gleichen Zeit verabreicht werden. Das wird überraschend oft übersehen, weil wir jeder Beziehung, die wir entdecken, zu eilfertig eine Ursache und eine Wirkung beimessen.

In einer wissenschaftlichen Studie über ein teures, neues, gentechnisch erzeugtes Hightech-Medikament wurde BMP (ein Protein, das die Knochenbildung anregt) mit der altmodischen Knochentransplantation (bei der man Knochen aus dem eigenen Becken entnimmt) verglichen. Die Patienten litten an nicht verheilten Frakturen des Schienbeins. Die Ergebnisse zeigten, dass beide Methoden gleich wirksam waren, sofern man sie zwischen den nicht verheilten Enden des Knochens anwandte. Das freute den BMP-Hersteller sehr, denn es sah so aus, als könnte BMP die schmerzhafte und zeitaufwendige Knochentransplantation ersetzen. Aber die Patienten in beiden Gruppen wurden auch operiert, um ihre Fraktur zu fixieren. Ihr Schienbein wurde aufgebohrt und man führte einen Metallstab in den Hohlraum ein, um die Knochenenden zu stabilisieren. Das ist ein anerkanntes Verfahren bei nicht heilenden Frakturen. Ohne eine Patientengruppe, die keine zusätzliche Behandlung erhielt (oder, besser noch, die ein Placebo-BMP erhielt), wissen wir nicht, ob eines der beiden Verfahren (BMP oder Knochentransplantation) die Genesung beschleunigte. Es könnte sein, dass nur die zusätzliche Behandlung etwas bewirkte. Raffiniert? Ich denke schon. Doch die meisten Leute achten kaum darauf; sie sehen nur, dass ein wissenschaftliches Experiment durchgeführt und in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde und dass die Ergebnisse des BMP und der Knochentransplantation ähnlich waren. Das genügte jedenfalls der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration), die das Medikament zuließ. Eine Weile war es ein Verkaufsschlager; doch inzwischen ist es in Ungnade gefallen.