Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020
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Lektorat Willi Winkler
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ISBN 978-3-644-00538-9
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ISBN 978-3-644-00538-9
Für meine Männer
und Hartmut Finkeldey
Do not go gentle into that good night,
Rage, rage against the dying of the light.
Dylan Thomas (1951)
If you are a woman, challenging patriarchy, and you’re bringing sex and sexuality to conversation, run for your life.
Leyla Hussein, Mitgründerin von Daughters of Eve (2018)
Dieses Buch ist sinnlos. Für eine lärmende Zeit zu leise, für die Lust am Hassen zu freundlich, zur allseitigen Selbstinszenierung ganz falsch gekleidet, vor allem aber zu wohlwollend für das erste Viertel eines Jahrhunderts, das wie schon so viele davor ganz der Konfrontation gewidmet ist. Sex ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nichts, worüber man spricht, es sei denn, man befindet sich auf dem Kriegspfad. Kann es wirklich sein, dass wir, kaum der Besorgnis vor dem Jahrtausendwechsel entronnen, schon wieder nichts Besseres zu tun wissen, als Schützengräben auszuheben? Frauen rüsten gegen Männer, Männer gegen Frauen, und wenn jemand nicht ganz nach Vorschrift liebt, verfolgen alle gemeinsam das, was für ihre Vorstellungskraft nicht eindeutig genug ist. Das größtmögliche Unglück besteht darin, mit seinem Begehren nicht in eine Schublade zu passen. Für alles einen Namen zu schaffen scheint der einzige Weg zu wenigstens etwas Akzeptanz. Anders sein vielleicht, aber doch keinesfalls individuell, bloß nicht allein. Denn noch die eigene Identität ist offenbar nur denkbar, solange sie unter einem Begriff steht, also einer Regel unterliegt. Sex, nur darin besteht offensichtlich Einigkeit, ist zu gefährlich, um unkontrolliert zu bleiben. Sex scheint die Negation all dessen, worum es uns – eigentlich – geht.
Der Gedanke, sich nicht vor der, sondern um die körperliche Begegnung zu sorgen, scheint so absurd zu sein, dass uns das noch nicht einmal dann in den Sinn kommt, wenn es um die Frage geht, wie konsequent man ein Virus wirklich an der Ausbreitung hindern möchte. Party und Geschäft, Schule und Reisen – wer schon zufrieden ist, wenn es dafür reicht, hält doch offenbar die Möglichkeit für entbehrlich, sich wieder ganz unbefangen zu berühren, ohne zu gefährden, was man begehrt? Erlebt so mancher «Social Distancing» vielleicht sogar als Erleichterung, als willkommenes Argument gegen körperliche Annäherung? Überraschend wäre es nicht.
In der europäischen Tradition gilt Sex als Gegenteil der Kultur, und Kultur ist das Bollwerk gegen das Tier, von dem es sich unbedingt abzuheben gilt. Schon das Christentum steht in einer Tradition der Körperangst, die dann zu seinem Grundton wird: Sex, das ist der Inbegriff unserer Natur und sonst gar nichts, erst als das Gegenteil des Göttlichen gesehen, viel später als das Andere der Vernunft. Natur ist ein ständiges Hindernis, sogar ein Widerstand, ein Feind. Sie ist das krumme Holz, das es uns so schwer macht, etwas Gerades zu werden. Wenn irgendetwas aus dem Menschen geworden ist, dann nur, weil der göttliche Funke hilft, diesen gefährlichen tierischen Teil auf das unbedingt Notwendige zu beschränken, also möglichst klein und am rechten Ort zu halten. Gefühle, das liest man in der westlichen Tradition häufiger, als man es zitieren könnte, sind immer irrational. Wer ihnen folgt, sie auch nur ernst nimmt, hat schon den Schritt vom Wege getan. Nur wenn wir das Tier besiegen, wenn wir uns beherrschen, können wir uns mit Höherem beschäftigen. Und nur dieses Höhere ist wertvoll, auf dass wir endlich doch ganz zu dem zurückkehren, was im Anfang war: nicht etwa die sinnliche Erfahrung, sondern das Wort.
Natürlich würden heute nur noch die wenigsten sagen, dass die Natur das Reich des Teufels und das Weib die Agentin Satans ist, das beste Werkzeug, den Menschen ständig in Versuchung zu führen, weil der Widersacher mit Gott um unsere Seele kämpft, oder doch um die Seele des Mannes. Aber das Misstrauen gegen den eigenen Körper ist nach wie vor gegenwärtig, ebenso wie die Angst vor der unkontrollierten Natur und besonders vor der entfesselten weiblichen Sinnlichkeit. Alte Geschichten wirken lang. Sexualisiert, ja, schon als sexuelles Wesen angesprochen zu werden zählt zu den schlimmsten Demütigungen, unfreiwillige Nacktheit gehört zu den effektivsten Methoden der Folter. Aller Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert und allen sexualpädagogischen Bemühungen zum Trotz scheint doch Sex im 21. Jahrhundert vor allem eines: ein Problem.
Wie soll man überhaupt davon reden? Entweder man gehört zu denen, die schon vorher krebsrot werden und sich zwischen Kichern, aufgesetzter Souveränität und ironischer Wegwitzelei hindurchmogeln müssen, wenn man nicht die ganz abgeklärte Pose vorzieht und jedes Thematisieren von Sex als unreifes Verhalten behandelt, das sich nicht gehört oder jedenfalls nicht mehr interessiert, weil man selbst längst über derlei hinaus sei. Oder man bringt Menschen in genau diese Verlegenheit, weil man zu den wenigen gehört, denen das Sprechen über Sex nicht so viel ausmacht. Kurz: Es ist ein einziger Krampf.
Missstände zu thematisieren ist viel einfacher, denn Abwehren ist angenehmer als die gedankliche Zuwendung, zumal sich die Empörung auch noch aufs Schönste mit einem moralischen Anliegen befeuern lässt. Man würde ja lieber nicht darüber sprechen, aber die Zustände zwingen dazu. Me-too-Anlässe, Missbrauch, Vergewaltigung, Beziehungsdramen, Menschenhandel, Beschneidungswahnsinn, Pornosucht, Körperkult, Potenzangst, genitale Schönheitsoperationen – wenn es um Phänomene geht, die niemand vernünftigerweise wollen kann, spricht es sich sogar über das Unsagbare leichter. Wer sich von Ungerechtigkeit und Verbrechen distanziert, wiederholt zwar oftmals nur das Selbstverständliche, aber das negative Vorzeichen schützt verlässlich vor der Nähe. So bitte nicht! Weg damit! Weit weg.
Auch deshalb geht es zumeist um das, was wir nicht wollen, und auch das am liebsten dann, wenn es eine ganz theoretische Debatte ist. Ein Mann darf einer Frau seine Hand nicht ungefragt aufs Knie legen, eine Frau darf keine uneindeutigen Signale aussenden, und wenn es dennoch erstaunlicherweise zu Intimität kommt, dann möchte die Gesellschaft bestimmen, in welcher Form sie erlaubt ist und in welcher nicht. Der Regulierungswahn entfesselt eine ungeahnte Aggressivität, wenn jemand wagt, sich nicht normgerecht zu verhalten oder von ambivalenter Erscheinung zu sein. Es reicht der Hinweis, dass Biologen inzwischen weit über fünfzehn Geschlechter nachweisen können, die alle das gleiche Recht auf Glück und Familie haben könnten, um mehr Menschen zur Demonstration gegen diese Irrlehren mit Gefahr für Staat und Familie auf die Straße zu bekommen als für den Weltfrieden. Regeln, Verbote, Normen, Maßangaben … keine Rede von der schönsten Nebensache der Welt, wenn die Hauptsache Tradition und Ordnung ist.
Wenn Sex aber auch für den modernen Menschen noch ein einziger Abgrund ist, warum lassen wir es dann nicht einfach?
Nicht nur in den USA wird seit einigen Jahren ernsthaft darüber diskutiert, ob es uns und der Gesellschaft nicht besser erginge, wenn wir die leidige Peinlichkeit einfach ganz abschafften. Wir sind die erste Generation, die es wirklich könnte, ohne den Fortbestand der Art zu gefährden. Künstliche Befruchtung hier, künstliche Intelligenz da, und schon wären wir doch alle Probleme los. Dank Fortpflanzungstechniken wie der Haploidisierung braucht es nicht einmal mehr die Absprache zwischen den Geschlechtern. Keimzellen lassen sich längst aus jeder normalen Körperzelle herstellen. Der Mann ist schon heute nicht einmal mehr als Spermalieferant notwendig. Zwar geht es für die Geburt eines Kindes immer noch nicht ohne eine biologische Frau, einen Menschen mit einem Uterus, aber auch dafür werden wir in absehbarer Zeit zweifellos Ersatz schaffen können. Niemand müsste sich im harmonischen Familienleben durch einseitiges Begehren, absonderliche Begierden und so lästige Fragen wie Verhütung oder Schutz vor ansteckenden Krankheiten stören lassen, wenn man erst einmal begriffen hat, dass es sich letztlich auch hier nur um Ausscheidungen handelt, etwas also, das wir gewöhnlich allein und an dafür präparierten Orten verrichten, wo es bequemer und sauberer zugeht als im Busch. Wie man hört, hat die Corona-Pandemie den Absatz von «Sexpuppen» und anderem Körperersatz deutlich gesteigert. Was also scheint naheliegender, als wieder auf die Technik zu hoffen, wenn es darum geht, sich diskret Erleichterung von der überflüssig gewordenen Restlust zu verschaffen? Da ist nur eine Sache: Als man 2016 und 2018 in Amerika für wissenschaftliche Studien zur Interaktion mit humanoiden Robotern die Probanden auch danach fragte, wie ihr persönlicher Sexroboter zur gefahrlosen Triebabfuhr denn aussehen sollte, antwortete ein nicht ganz kleiner Teil: wie mein aktueller Lebenspartner.
Wenn vom Menschen die Rede ist, wird das Sprechen von Natur kompliziert. Für ein Wesen mit Bewusstsein gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Gegenstand und dem erlebten Ding, das man selbst ist. Bewusstsein und Selbstbewusstsein ändern alles. Reflexion, das bewusste Erleben des Denkens, bringt den Zweifel nicht nur in die Welt, sondern auch in den Einzelnen. Wir erfahren Geist und Körper als grundverschieden, obwohl es doch unser Geist und unser Körper ist. Es ist etwas ganz Unterschiedliches, Körper zu sein und zu wissen, dass man körperlich ist. Das macht die sexuelle Erfahrung zur Selbsterfahrung der denkbar komplexesten Art. Bei keiner anderen Gelegenheit kommt man dem Wesen des Menschen und sich selbst so nahe. Dennoch gehört das Nachdenken über Sex seltsamerweise nicht zur Lieblingsbeschäftigung der Denkenden, nicht einmal der Philosophen.
Versuchen Sie, sich die Frage zu beantworten, wie Autoerotik überhaupt möglich ist, also warum sich ein Mensch durch die Berührung seiner eigenen Hand überraschen lassen kann. Können Sie erklären, warum sich die Brille auf Ihrer Nase oder sogar das Handy in der Hand manchmal wie ein Teil des eigenen Körpers anfühlt, man aber die eigene Hand nicht erkennt, wenn eine erotische Phantasie es so will? Verstehen Sie, warum viele sich schon durch die sexuelle Neigung eines anderen bedroht fühlen, wenn sich derjenige, der sie offenbart hat, doch überhaupt nicht für einen interessiert? Und können Sie sich einen Reim darauf machen, warum wir einem Menschen ohne Zögern unser Leben und auch unser Herz anvertrauen, aber nichts auf der Welt mehr fürchten als seinen ersten Blick auf unseren unbekleideten Körper?
Sex ist alles andere als selbstverständlich, sobald wir vom Menschen sprechen.
Ob es uns nun unheimlich ist oder nicht, nie sind sich unser Körper und unser Geist näher als in den seltsamen Höhenflügen unserer Lust. Nie ist die Macht unseres Denkens fühlbarer als in dieser Form des Denkens und Fühlens. Das war nicht zuletzt ein Grund für die vehementen Versuche, Menschen von der Selbstbefriedigung (ein interessantes Wort übrigens) abzuhalten: Das Verhältnis von Körper und Geist erleben Menschen nicht als statisch, so als wäre der Körper eine Puppe, die bleibt, was sie ist, wenn man mit ihr spielt. Gesuchte Selbsterfahrung, das wussten die Warner vor Onanie schon lange vor der Hirnforschung, ist immer schon eine Veränderung. Sexuelles Erleben ist kein isoliertes Ereignis. Es nutzt Erinnerung und hinterlässt Spuren, denn auch wenn man Körperteilen Namen geben und anatomische Modelle bauen kann: Der menschliche Körper ist plastisch, er wandelt sich ständig und ist auch durch unsere Gedanken substanziell beeinflussbar. Denken, Verhalten, Erleben, kurz: die bewusste Verwendung des eigenen Körpers verändert den Menschen in einem Ausmaß, das sich erfahrungsgemäß nicht lange unter der Bettdecke halten lässt.
Also, warum sprechen wir nicht ausführlicher über diese eigentümliche Selbstbildung? Warum sind wir nicht neugieriger darauf, was Sex überhaupt ist und sein kann, sondern sorgen uns nur wegen der vermeintlichen Gefahr? Wie kommen wir darauf, dass etwas nur ein Weg in den Abgrund sein kann, was so faszinierend und überwältigend ist? Warum sind wir so unwillig, die Lust zu respektieren? Stattdessen zelebriert ein großer Teil der Menschheit nicht ohne Stolz auf die eigene Prüderie das Gegenteil, lobt Jungfräulichkeit und Schamgefühle, preist Entsagung und Keuschheit als gottgefälligen Zustand, oder perfektioniert doch wenigstens die Heimlichtuerei, und erschrickt vor jedem, der es anders hält. Mit anderen Worten: Warum pflegen wir keine Sexkultur?
Wenn schon nicht aus Lust und Neugierde, dann vielleicht wenigstens aus Klugheit? Denn dass sich die meisten Debatten über Sex im Kreis drehen, ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern vor allem eine unerquickliche Erfahrung. Zumindest hat, wer sich nicht hauptberuflich mit Irrwegen des Denkens beschäftigt, irgendwann genug davon, jedes Mal aufs Neue von einem Kategorienfehler zum nächsten Fehlschluss zu stolpern, als wären wir nach ein paar Jahrtausenden bewusster Denkerfahrung nicht alle zu mehr in der Lage. Die meisten wissen inzwischen doch längst, dass es nicht damit getan ist, einfach nur zu beobachten und zu beschreiben, weil menschliche Wahrnehmung alles andere als einfach oder ein mechanischer Vorgang ist. Es muss doch möglich sein, danach zu fragen, was ein Dialog der Körper denn nun sein könnte, und jedenfalls freier über Sex nachzudenken, als das bisher getan wurde.
Aber darf man das?
Die Frage muss natürlich präziser formuliert werden: Wie kann ausgerechnet eine Frau sich erdreisten, heute noch ein Hohelied des Liebens anzustimmen? Weiß sie denn nicht, wie furchtbar Frauen und alle, die nicht nach Vorschrift männlich sind, nur darum so behandelt werden, wie sie behandelt werden, weil es immer nur um das Eine geht? Darf man so über Sex nachdenken, wenn doch alles versucht werden müsste, Frauen erst einmal in den Stand zu versetzen, herauszufinden, wie sich Unabhängigkeit überhaupt anfühlt und wie auch sie sich ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen können? Wer auch hier die einfachen Fragen stellt, also so fragt und denkt, als wäre man einfach ein Mensch, egal ob nun Mann oder Frau oder alles jenseits und dazwischen, kann doch nur naiv sein, nicht wahr? Oder wie ein Kollege es noch kürzlich in einem eigentlich ganz ordentlichen Verlag vordenken durfte: Wie können wir hoffen, dass eine Frau überhaupt etwas zu dem Thema beizutragen hat, wo alle Frauen doch noch so tief in ihrer von außen aufgenötigten Rolle steckten, dass sie noch gar nicht wissen können, wovon wirklich die Rede ist? Was zu erforschen der weise Mann natürlich nur zu gern befördern würde, weil das sicher auch den Männern hilft. Gar nicht zu reden von all den phantastischen Darstellungen sekundengenauen weiblichen Lustempfindens, offenbar vor allem verfasst, um Frauen beibringen zu können, wie und in welchem Zeitraum sie welches Lustsignal senden müssen, um nicht als Betrügerin aufzufliegen, oder vielleicht auch nur, um nicht mehr als nötig mit einer Frau zu sprechen, was ja wenig nützen würde. Wir Frauen verstehen ja leider noch nichts davon. Dass es vornehmlich die Frauen sind, die erst noch Lektionen zu lernen haben, bevor sie sich eventuell äußern dürfen, steht seltsamerweise nicht nur in den Lehrbüchern männlicher Frauenerzieher. Sogar hochengagierte Feministinnen, die den Sex gar nicht abschaffen wollen, sprechen nicht selten davon, dass Frauen erst einmal lernen müssten, was sexuelle Lust überhaupt bedeutet, weil die weibliche Lust insbesondere für uns selbst absolutes Neuland sei. Was uns dann wenigstens zum wichtigsten Einwand gegen ein Buch wie dieses führt: Warum versucht man überhaupt, öffentlich über Sex nachzudenken, wenn die Aussicht zu gering ist, Gesprächspartner, also auch Leser zu finden, die vor lauter ritterlicher Selbstermächtigung, blindem Aktionismus, ihrem eigenen Rollenverständnis und der Angst um das eigene Alleinstellungsmerkmal überhaupt noch wissen wollen, wie man geradeaus denkt?
Ja, es ist eine Frau, die hier schreibt, eine Vertreterin der einzigen Menschengruppe also, die seit Jahrhunderten diskriminiert wird, obwohl sie die Mehrheit bildet, was schon für sich genommen ein bemerkenswertes Phänomen ist, das sich wesentlich von der Frage nach Minderheitsrechten unterscheidet. Dem Thema Sex wandten sich die Menschen unserer Zeit vor allem dann systematisch zu, wenn sie sich in den überkommenen Kategorien nicht wiederfinden konnten und darum den Platz für sich und ihre sexuelle Präferenz in eine Welt schreiben wollten, die schon ihre bloße Existenz bestreitet. Wer sich als anders als die Mehrheit erlebt, fürchtet Nachteile oder doch Unerfreuliches von der Mehrheit, hat also nicht nur den Wunsch, für sich Begriffe, sondern damit auch Akzeptanz und möglichst andere mit vergleichbaren Erfahrungen zu finden. Wenn die Menschen schon so große Probleme mit dem Verstehen haben, so lassen sie sich doch vielleicht wenigstens besser ordnen? Aber Diskriminierung, das jedenfalls können nicht nur Frauen bestätigen, ist keineswegs eine Frage der Zahl, sondern zuallererst und immer die Folge einer Anmaßung.
Glaubt ernsthaft noch irgendjemand, dass man einer Frau, die immerhin ein halbes Jahrhundert durchgestanden hat, erst erklären muss, was es heißt, fortwährend darauf reduziert zu werden, eine Frau und damit weniger zu sein als ein Mann, je nach Weltgegend auch weniger als das Lieblingspferd? Wer traut sich wirklich, irgendeiner Frau vorzuwerfen, sie verstünde gar nichts von geschlechtsspezifischer Unterdrückung oder von der bestenfalls ängstlichen Observierung jeder ihrer sexuellen Regungen? Nun ist es selbstverständlich ein glücklicher Zufall, wenn man in einer Gegend aufwachsen darf, wo ein Mädchen zumindest von Rechts wegen nicht verstümmelt oder mit vierzehn Jahren verheiratet werden darf. Es darf hier sogar zur Schule gehen, Rechnen und Lesen lernen, und kann so Fausts Gretchen, Luise Millerin, Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest kennenlernen, oder genauer: die großen Männer der letzten Jahrhunderte, die darum so große Dichter sind, weil sie das Elend fremder Frauen wieder und wieder so unvergesslich besungen haben, dass es ein wahrer Kulturgenuss ist, ohne den man sich das Leben kaum noch vorstellen kann. Auch an einer halbwegs sauberen Universität studieren zu können ist zweifellos eine Gnade, zumal dort in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zumindest theoretisch die Chancengleichheit galt. Dass sich die Bundesrepublik Deutschland seit der Aufnahme des Gleichheitsartikels ins deutsche Grundgesetz von 1949 langsam zu einer Gesetzes- und Rechtspraxis durchringt, die sich dem anzunähern scheint, ist zweifellos ein Fortschritt. Immerhin können sich Frauen hierzulande auch ohne männliche Erlaubnis noch nach einbrechender Dunkelheit in die Welt hinausbewegen und sogar ohne Geleit wieder nach Hause gehen. Aber wer darin einen Anlass sehen möchte, Diskriminierungserfahrungen zu relativieren, oder gar behaupten will, dass nur diejenige mitreden dürfe, die selber wenigstens Sexsklavin im fernöstlichen Kinderbordell, eine genitalverstümmelte Frau in Eritrea und osteuropäische Zwangsprostituierte in Budapest auf einmal ist, denkt in befremdlichen Kategorien. Anderslautenden Gerüchten zum Trotz benötigen auch Frauen keine gesonderte Mündigkeitsbescheinigung oder einen Lustkompetenzausweis und müssen auch nicht erst halb tot vergewaltigt worden sein, um zu verstehen, wovon die Rede ist. Vor allem aber ist ein Gespräch über Diskriminierungserfahrungen kein Quartettspiel. Wer Menschen in den Wettbewerb um die Miss Opfer drängt, schwächt sich selber oder betreibt Diskriminierung nur mit anderen Mitteln. Opferhierarchisierung ist bekanntlich eine der geschicktesten Waffen, um jemandem den Mund zu verbieten, vor allem aber die beste Technik, ein klar erkennbares großes Problem so weit zu differenzieren, dass viele kleine Einzelfälle daraus werden. Es gibt keinen geschickteren Weg, Solidarität zu sabotieren.
Ich habe bis heute von keiner einzigen Frau auf der Welt gehört, die nicht immer wieder Männern begegnet wäre, die sich und noch ihr abwegigstes Freizeitvergnügen ohne nachvollziehbaren Grund für etwas Besseres und Wichtigeres hielten, das keinen Aufschub duldet, weil alles im Vergleich dazu nur Weiberkram sein kann. Schon wer am Timmendorfer Strand aufgewachsen ist, hätte mit Geschichten über das Strandleben mehr Fallbeispiele für Missbrauch, Nötigung, körperliche Machtspiele und jedwede sexuell motivierte Übergriffigkeit in petto, als es für eine ganze Forscherkarriere bräuchte. In meiner Studienzeit dachten sich die meisten Professoren nichts dabei, wenn sie Frauen bei Stellenbewerbungen lieber aussortierten, weil wir ja eh bald Kinder bekämen oder weil man sich durch eine Frau im Büro zur Unbequemlichkeit genötigt fühlen würde, auf sein Erscheinungsbild zu achten. Zu Studentinnen, so ein gern gegebener Rat, passte etwas mit Ethik sowieso viel besser, vielleicht studierten sie doch lieber gleich auf Lehramt? Aus dem Mund so manchen Lehrers hatte die weibliche Endung, an der Universität in den neunziger Jahren in bester Absicht vorgeschrieben, sogleich einen unverhohlen abwertenden Klang. «Philosophin» – das war amüsant, nicht ernst zu nehmen. Oder war das nur eine geschickte Lektion dafür, dass sich mit Wörtern beliebig an Ideen vorbeidenken lässt? Überhaupt: Verriet nicht eine Frau ihr Frausein, wenn sie sich allzu sehr für das selbstverständlich männlichste aller Prinzipien, für die Vernunft interessierte? Ohne Vernunft kam sie doch auch voran? Es war kein großes Geheimnis, wer körperlichen Einsatz erwartete, wenn eine Frau halbwegs gerechte Bewertungen für ihre Studienleistung wollte. Entsprechende Wünsche wurden ebenso selbstverständlich geäußert, wie man auch in der Gegenwart von Studentinnen herzhaft über einen Vertreter des Lehrkörpers aus einem anderen Fachbereich lachen konnte, der in einer Prüfung seine Studentin vor den anwesenden Kollegen gefragt hatte, ob ihre Argumentation immer so labberig sei wie ihr Busen. Die damals bereits lebendige Feminismusdebatte brachte dabei offensichtlich niemanden in Verlegenheit, denn wer die Episode zum Besten gab, ging selbstverständlich davon aus, dass auch die eigenen Schülerinnen sie nur lustig finden konnten.
Das Talent so manchen Mannes, sich allein durch die Existenz einer Frau gekränkt zu fühlen, ist schwer zu überschätzen. Um sich den Glauben daran zu erhalten, dass blanker Sexismus einfach eine Frage mangelnder Bildung sei, sollte eine intellektuelle Frau besser nicht das Haus verlassen. Es ist nicht einmal eine Frage der Machtverhältnisse, denn noch als sogenannte gestandene Frau sammelt man die absonderlichsten Erlebnisse und findet sich nicht selten in einer Kollegenrunde, in der Frauen vornehmlich danach taxiert werden, ob sie einem vielleicht noch ein Glas Wein holen könnten, wenn das Gespräch so spannend wird, dass ein Mann unmöglich fehlen darf. Das Spektrum reicht von adoptivväterlicher Fürsorge bis zur aggressiven Oberlehrerei, vom mitfühlenden Journalisten, der im Interview fragt, wie man denn «als Frau» bloß die Forschung zu einem Massenmörder aushalten konnte und ob man nichts Schöneres wisse, das doch viel besser zu einem passe, bis hin zum intelligenten und hochgebildeten Kollegen, der sich in einem gutbesuchten Restaurant wutschäumend von seinem Platz erhebt, um mit donnernder Stimme etwas zu fordern, das man drucktauglich als den verzweifelt vorgetragenen Wunsch beschreiben könnte, dass ich gefälligst endlich die blöde Klappe halten solle, und das möglichst zu allem, weil ich rein gar nichts von der Opfernatur der Frau und meiner Abhängigkeit von der mich nur großzügig duldenden männlichen Kultur verstünde – ein Zustand der Naivität, den er mit Hilfe meiner Massenvergewaltigung durch eine nordafrikanische Horde zu beheben wünschte. Die Rechtfertigung von Gewaltverbrechen als Mittel zur Aufklärung ist nun natürlich ebenso alt wie die Furcht romantischer Ritter, in einer Welt ohne Geschändete und Drachen zur traurigen Gestalt zu werden. Aber auch eine Frau, die über so einen armen Tropf nur schallend lachen kann, wundert sich nicht selten, dass sich dieser Schmarrn im 21. Jahrhundert noch immer nicht erledigt hat. Keine Frau wird als Feministin geboren, aber irgendwann wird sie dazu gemacht.
Ja, es stimmt, es macht müde. Es wäre so leicht, endlos weiter zu berichten und zu schimpfen. Mit den Jahren wird es immer verlockender, einfach aufzugeben, sich stillschweigend am privaten Glück zu erfreuen, vielleicht über Schillers Ästhetik zu räsonieren und nur gelegentlich darüber zu ironisieren, dass im besten Fall eben jeder die Freiheit habe, auf seine Weise am eigenen Unglück selig zu werden. Der kluge Mensch, legt der Manuskripte wie dieses nicht doch besser neben das Testament, damit nur der treue Erbe über derlei Überbleibsel noch pflichtschuldig erröten kann, bevor er sie diskret verschwinden lässt? Ja, vielleicht wäre das klüger, wäre da nicht der Verdacht, dabei genau den gleichen Fehler zu begehen, der so müde macht, nämlich selber ein wichtiges philosophisches Thema mit einem persönlichen lebensweltlichen Zufall zu verwechseln.
Es ist erstaunlich, wie oft es Menschen schon als ein Zeichen von Freundschaft erscheint, wenn sie einmal mit jemandem über Sex diskutiert haben. Überraschend viele halten schon das bloße Sprechen darüber für etwas, das naturgemäß nur hochvertraulich gewesen sein kann, in jedem Fall aber durch eine Art Beichtgeheimnis geschützt. Als wäre jedes Gespräch über Sex unumgänglich privat oder doch nichts anderes als der Versuch, ein privates Vertrauensverhältnis zu begründen, mit dem man aber keinesfalls ins Gerede kommen möchte. Als könnte man bei diesem Thema nicht einmal den Mund auftun, ohne zugleich alle Hüllen fallen zu lassen und vom Thema unkontrollierbar mitgerissen zu werden wie von einem wilden Strom. Wenn sich aber je etwas ändern soll, dann braucht es nun einmal das gemeinsame Nachdenken über etwas, das alle angeht, weil damit zusammenhängende Probleme auch von allen verstanden werden müssen. Ohne Stellungnahme oder doch wenigstens den Mut zum eigenen Problembewusstsein wird das ja wohl kaum gehen.
Es ist ganz einfach: Wer Sex unbedingt im Dunkeln halten will, bekommt nichts Besseres als Dunkelheit. Wer Dunkelheit überwinden will, muss über Licht sprechen. Statt einem Teil der Menschheit ständig Vorhaltungen zu machen, dass er sich nicht unter Kontrolle habe, und einen anderen zu etwas herabzuwürdigen, das erst noch befreit werden müsse, um die Begegnung mit einem Mann durchzustehen, braucht es mehr denn je eine positive Vorstellung von dem, was wir eigentlich miteinander wollen. Wenn wir aus dem leidigen Kreislauf von Tabu und Verbrechen, Denk- und Wahrnehmungsfallen, Versprechungen und Enttäuschungen je herauskommen wollen, dann werden wir das mit Verboten jedenfalls garantiert nicht schaffen. Kein Mensch kann aus Negationen leben, man wird schon gar nicht glücklich dabei. Und wer sich ernsthaft damit zufriedengeben will, dass moderne Sexkultur sich in Hashtags, Sexshops, Fifty Shades of Grey, Xhamster oder Tinder erschöpft, ist um seine Aussicht auf mehr Selbsterkenntnis auch nicht zu beneiden.
Es geht doch um viel mehr: Wie sollen wir sinnvoll über Vergewaltigung, Nötigung, Instrumentalisierung der Körper und sexuell motivierte Gewalt sprechen, wenn wir nicht positiv über Sex sprechen? Noch das lauteste «Nein!» markiert nur eine Grenze, aber es macht nicht wehrhaft, weil nur der kraftvoll ist, der weiß, worum es sich zu kämpfen lohnt. Wer nicht über Sex spricht, kann auch nicht wissen, was das Gegenteil ist. Vor allem aber gelangt man so nicht einmal zur Frage, ob und warum Sex eine erhellende Erfahrung sein könnte, die besonderen Respekt verdient. Auch wenn man es kaum glauben mag: Was uns fehlt, ist tatsächlich schon das Nachdenken darüber, was Sex überhaupt ist.
Wer wissen möchte, was etwas nun genau ist, wendet sich mit einer vorsichtigen Hoffnung an die Philosophie. Im Unterschied zum Gelegenheitsdenken leistet sie sich eine andere Perspektive auf alles, womit wir es zu tun haben. Philosophen wollen wissen, was das Böse, die Lüge und das Hässliche ist, etwa im Unterschied zu einem Apfel. Existiert es? Wie spricht man klar darüber? Was kann man darüber wissen, was denken wir uns nur so zurecht, und was glauben wir nur zu wissen, weil wir bestimmte Gedanken und Strukturen gewöhnt sind oder sie liebgewonnen haben? Anders als die hemdsärmelige Pragmatik des Alltagsdenkens ist Philosophie kein Reparaturunternehmen, das man nur im Notfall anruft, damit sich jemand mal eben der drängendsten Probleme annimmt und ein paar bunte Pflaster anbringt, weil der allgemeine Betrieb schnell störungsfrei weiterlaufen soll. Aber es ist nicht nur die drohende Betriebsblindheit: Was vor allem zu den grundsätzlichen Fragen treibt, ist das unbehagliche Gefühl, dass schon mit den traditionellen Kategorien etwas nicht mehr stimmen könnte. Frau und Mann, weiblich und männlich, hetero- und homosexuell, Geschlecht und Körper … wenn die vertrauten Ordnungsbegriffe nicht mehr zuverlässig ordnen, gerät mehr ins Wanken als ein paar Wörter in einer Sprache, die doch nur zufällig die eigene ist. Und es reicht offenbar auch nicht, schnell ein paar neue Wörter zu lernen, um sich wieder zurechtzufinden. So sehr es einen auch nach der einfachen Lösung verlangt, so wenig glaubt man selber noch daran.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass zur gleichen Zeit weltweit ein Problem sichtbar wird, ein grundlegender Orientierungsmangel also, der offensichtlich nicht mit regionalen Sprachkonventionen, sondern viel tiefgreifender mit dem Denken und der Orientierung überhaupt zu tun hat. Wenn die Unsicherheit zunimmt, der Widerstand gegen das Vertraute wächst und der Streit das Gespräch übertönt, ist die Veränderung längst real. Wer dann immer noch auf die selbstverschuldete oder gar taktische Unmündigkeit vertraut, hat längst verloren, denn Machtverlust lässt sich nicht aussitzen, wenn Traditionsbestände fragwürdig werden. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: sich in den Kampf zu stürzen, um im Durcheinander so viel Gelände zu sichern, wie man kann, oder noch einmal die grundlegenden Fragen zu stellen, weil sich das geändert hat, was lange für eine sichere Grundlage gehalten wurde. Auch wenn die Vertreter beider Fraktionen den eigenen Weg selbstverständlich gern als den einzigen bewerben, versprechen beide Wege einigen Erfolg. Es gilt nur, das Grundsätzliche bei allem Schlachtengetümmel nicht aus den Augen zu verlieren. Um an einen Meilenstein der Frauenemanzipation zu erinnern: Natürlich war es ein heute kaum noch zu ermessender Fortschritt, als Frauen das Recht erstritten, auch Hosen tragen zu dürfen. Nur leider übersieht man im Rückblick allzu gern, dass es nie der Rock gewesen ist, der Frauen daran hindert, alles zu tun, was sie wollen, sondern allein die dazugehörige Regelung, wie weit eine Frau ihren Rock im Zweifel anheben darf. Wer ein Hindernis beseitigt, schafft etwas mehr Bewegungsfreiheit, aber nur wer auch die grundsätzlichen Fragen angeht, gibt sich nicht schon mit «etwas mehr» zufrieden.
Die Leser seien also gewarnt: Das langsame Denken, das seit je die Aufgabe der Philosophie ist, mag leise und freundlich daherkommen und auch mit den vertrauten Wörtern beginnen. Aber es will eben auch denkbar weit hinaus und gibt sich garantiert nicht mit einer weiteren Modevorschrift zufrieden. Philosophie ist eine Wissenschaft, spricht also wie alle Wissenschaften von dem, was alle angeht. Vermutlich ist das überhaupt der subversivste Gedanke, den Menschen je hatten: dass es die Menschheit gibt, die Einheit der Menschen mit folglich gleichen Rechten für alle, dass man sich also auch als Mensch verteidigen muss, wenn man in seinem Menschsein angegriffen wird. Warum sollte dann aber jemand sich damit begnügen, für Frauen- und Minderheitenrechte zu kämpfen, solange damit doch nur Menschenrechte zweiter Klasse gemeint sind? Niemand ist berechtigt, für ausgewählte Gruppen den Anspruch herunterzudefinieren, nur weil er unbequem sein könnte. Wer also Beweise dafür zu finden hofft, dass es hier darum gehe, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu festigen und gar der Diskriminierung das Wort zu reden oder schreiendes Unrecht zu beschönigen, sollte sich die Zeit sparen und gleich etwas anderes lesen. Für böswilliges Missverstehen ist das Leben zu kurz, und es ist auch nicht lang genug, um abermals Seiten mit der Vorführung unsäglicher Dummheiten zu füllen, die nicht nur eigentlich kluge Männer zur Männer-, Frauen- und Geschlechterfrage geäußert haben. Ohnehin sollte man viel öfter auf Kurt Tucholsky hören und seinen Gegner nicht im Bett aufsuchen.
Dieses Buch ist keine Streitschrift. Es ist einfach das Buch eines Menschen für Menschen, in der festen Überzeugung, dass es uns gibt.
Natürlich ist das Schreiben über Sexkultur immer schon genau das: Sex-Kultur. Und weil ein Text erst im Lesen entsteht, gilt das auch für das Lesen. Es ist eine bewusste Entscheidung dafür, etwas zu tun, was die wenigsten für richtig halten: Es bedeutet, sichtbar und gegen die eigene Angst darüber nachzudenken, was Sex ist und was wir daraus machen können. Was auch immer wir uns einreden oder einreden lassen: Natürlich gibt es und gab es immer schon Menschen, die man nicht erst «zu ihrer Sexualität befreien» musste. Es gab und gibt sogar freie Frauen, die nie viel auf das allgemeine Gerede und die Rollenvorschriften gegeben und entsprechend eigene Erfahrungen haben. Allein, man hört ihnen selten zu. Könnte das nicht am Ende ansteckend sein? Genau die Frage, wohin wir dann kämen, halte ich aber nun einmal für eine der spannendsten. Wo kommen wir also hin?
Offen gesagt, denn was sollte man seinen Lesern in einem Buch wie diesem sonst zu tun versprechen, also offen gesagt habe ich nie verstanden, warum etwas nur ganz furchtbar problematisch enden kann, was ich von Anfang an so faszinierend fand und ohne das ich nie hätte denken und schreiben können, wie ich es tue. Ich habe schon als junge Frau nicht begriffen, warum die Menschen, die auch nur einmal eine entsprechende Erfahrung gemacht haben, die Lust und ihr unerschöpfliches Vermögen dazu nicht feiern oder doch ehren wollen – zumindest die Menschen nicht, die ich damals kannte oder im Fernsehen sah. Natürlich habe ich jedes verbotene Buch gelesen, das mir in die Finger kam, und jeden Skandalfilm angeschaut. Die meisten werden auch von dem einen oder anderen Titel gehört haben, obwohl sie selten in der ersten Regalreihe zu finden sind. Ich weiß nicht, ob man sich meine Verwunderung vorstellen kann, als ich am anderen Ende der Welt unvermutet vor einer vergoldeten und kostbar verzierten Bronzefigur stand, die zwei Menschen zeigte, die sich aufs Schönste ineinander verhakt hatten. Jemand hatte das sogar ganz selbstverständlich in ein geweihtes Haus gestellt. Und das mir, die ich doch religiös völlig unbegabt bin. Wo, wollte ich wissen, sind vergleichbare Dinge bei uns? Was gibt es da noch? Meine systematische Suche nach Zeugnissen der Sexkultur begann in Hongkong 1994. Ich bekam etliches ausgerechnet aus Ländern, denen man den Vorsprung, den sie in diesen Dingen doch hatten, nicht mehr ohne weiteres ansieht. Darum kann ich nicht nur auf unzählige Gespräche mit Menschen aus den meisten Teilen der Welt zurückgreifen, sondern auch auf eine umfangreiche Sammlung von überraschend eindeutigen Objekten. Die Wissenschaft hält sie mit dem ihr eigenen Sinn für Schicklichkeit selten für Kunst, sondern nennt sie lieber «sexologische Artefakte», nicht selten versehen mit dem Hinweis, dass es sich um Exotisches handelt, Fremdes also.
Auch ein philosophischer Text erlaubt ein paar Abbildungen, die keinem anderen Zweck dienen als dem, Defizite unserer Kultur sichtbar zu machen, also die eigenen Denkgewohnheiten herauszufordern. Denn auch wenn Johann Wolfgang von Goethe fürchtete, dass der Mensch nur erblickt, was er schon weiß und versteht, wusste doch auch dieser Sammler exquisiten erotischen Schnitzwerks das Überraschende daran offenbar sehr zu schätzen. Nur eines der abgebildeten Kunstwerke ist nicht aus meiner Sammlung. Phryne vor den Richtern (Phryné devant l'Aréopage) von Jean-Léon Gérôme war 1986 der Anlass, das erste Mal an ein eigenes Buch über Sex zu denken. Dieses Buch wurde tatsächlich zu einem großen Teil mit dem Blick auf Gérômes 1861 gemalte Phryne und ihren Anwalt in der Hamburger Kunsthalle geschrieben. Aber mein besonderer Dank gilt nicht nur der Kunsthalle für die Gastfreundlichkeit und den Hunderten von Museumsbesuchern, die sich in all den Wochen von mir beim Betrachten beobachten, manchmal auch befragen lassen mussten, sondern Willi Winkler, der sich auf den Gedanken eingelassen hat, für mich über ein Bild zu schreiben, das ich zu oft studiert habe, um mir das Schreiben darüber noch zuzutrauen. Ab einem bestimmten Stadium der Vertrautheit gelingt die Unterscheidung zwischen Sehen, Denken und Sein nicht mehr verlässlich. Darin liegt das besondere Geschenk der Versenkung ebenso wie des Vertrauens. In der Tradition der westlichen Philosophie gilt es als Kennzeichen der Meisterschaft, irgendwann tatsächlich ohne die Leitung eines anderen philosophieren zu können. Aber so selbstverständlich es uns auch erscheinen mag, heißt das eben nicht, dass der Gewinn für die Wissenschaft und insbesondere die Philosophie wesentlich darin bestünde, sich im Denken auch durch nichts und niemanden mehr berühren zu lassen. Der einsame Spaziergang war lange genug das Ideal der Philosophie.
Der Maler oder die Malerin des Ölgemäldes auf dem Buchumschlag hingegen wollte nicht erkannt sein. Dieses Bild aus Frankreich, gemalt vermutlich 1910, hängt seit vielen Jahren in meiner Bibliothek, aber ich trage auch ein Foto davon mit mir herum und belästige jeden Menschen, der nicht schnell genug flüchtet, mit der Frage, was wohl darauf zu sehen sein könnte. Allein mit den Interpretationen, die ich gehört habe, ließe sich ein deutlich umfangreicheres Buch schreiben. Zu den besonders lustigen (oder trostlosen) Erkenntnissen gehört nämlich diese: Niemand hat die geringsten Probleme, bei dem Schwanzende der nackten Schönheit sofort an einen Penis zu denken. Dass jedoch der sehr viel größere Schwanz des Vogels zu den wenigen Darstellungen einer Vulva gehört, die es in unserer Kunstgeschichte überhaupt gibt, fällt in Europa nur den wenigsten auf, bevor man sie auf diesen Gedanken bringt. Kultur, so sagt man, beginnt damit, zu wissen, wovon die Rede ist. Sexkultur beginnt mit der Frage, warum wir nicht sehen können, was wir doch besser kennen könnten als alles andere: unsere lustfähigen Körper. Aufklärung, die es ernst meint, sollte auch zum Mut auffordern, sich seiner eigenen Sinnlichkeit ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Wenn dieses Buch aber nur dazu verhilft, dass man sich beim Sprechen über Sex nicht mehr so fühlt wie mit fünfzehn und ohne erledigte Hausaufgaben, wär’s auch schon nicht schlecht.
«Gott verdamme den Frühling!», sagte er in seinem aggressiven Stil. «Er ist und bleibt die gräßlichste Jahreszeit! Können Sie einen vernünftigen Gedanken fassen (…), wenn es Ihnen auf eine unanständige Weise im Blute kribbelt und eine Menge von unzugehörigen Sensationen Sie beunruhigt, die, sobald Sie sie prüfen, sich als ausgemacht triviales und gänzlich unbrauchbares Zeug entpuppen? Was mich betrifft, so gehe ich nun ins Café. Das ist neutrales, vom Wechsel der Jahreszeiten unberührtes Gebiet …»
Thomas Mann, Tonio Kröger (1903)
Sexkultur? Wer wollte sich ausgerechnet an das Denken wenden, wenn es um Sex geht? Entstehen unsere Probleme nicht erst dadurch, dass man dem Natürlichsten der Welt mit künstlichen Überlegungen zu Leibe rückt oder es endlich durch Rationalisierung zerstört? Und überhaupt, was glaubt denn Vernunft mit ihrer leisen Stimme ausrichten zu können, wenn doch ihr größter Gegner die Natur mit ihren mächtigen Gesetzen ist?
Wenn die Kultur, von der man sich umgeben findet, einen nicht sein lässt, wie man sein will oder wie man sich nun einmal empfindet, dann hält man sich doch besser nur an die Empfindung, also an den eigenen Körper? Insbesondere in einer Tradition, die vor allem Seele und Geist gegen den Körper ausspielt, kann es nicht wundern, dass jemand den Versuch unternimmt, sich auf die andere Seite zu retten, also die Natur anruft, weil es einem die eigene Kultur schwermacht, sich in ihr auch nur geduldet zu fühlen. Denn war nicht alles von Natur aus gut und verkam erst unter den Händen der Menschen? So klingt es durchaus plausibel, sich Mutter Natur als das Andere der strengen Moral zu erhoffen, weil sie außerdem das ältere Recht hat.