Der Verlag dankt Herrn Prof.Dr.Christian Vogel vom Anthropologischen Institut der Universität Kiel für seine wissenschaftliche Beratung in allen Fragen der biologischen und ethologischen Terminologie.
Die Originalausgabe erschien 1971 unter dem Titel «In the Shadow of Man» bei William Collins Sons & Co. Ltd., London
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2020
Copyright © 1971, 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«In the Shadow of Man» Copyright © 1971 by Hugo und Jane van Lawick-Goodall
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Alle Abbildungen, sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen von Hugo van Lawick.
Die Zeichnungen im Anhang wurden von David Bygott angefertigt.
Die Fotos der National Geographic Society entstammen der englischen Erstausgabe von 1990 (dt. 1996).
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung AF archiv - Alamy
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ISBN 978-3-644-00650-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00650-8
Die Texte in Anhang 1 bis Anhang 5 enthalten in Form einer Zusammenfassung die wichtigsten Erläuterungen und Forschungsergebnisse der Autorin. Zur Vermeidung terminologischer Missverständnisse wurden an verschiedenen Stellen die englischen Begriffe in Klammern dem deutschen Ausdruck beigefügt, der häufig nur als approximative Umschreibung aufzufassen ist. [Anm. d. Übers.]
Für Hugo, Vanne und Louis und dem Andenken an David Greybeard
Seit dem Morgengrauen war ich die steilen Berghänge hinauf- und hinabgestiegen, hatte ich mir meinen Weg durch die dichten Wälder des Tals gebahnt. Wieder und wieder war ich stehen geblieben, um zu horchen oder mit dem Feldstecher die Umgebung abzusuchen. Aber ich hatte nicht einen einzigen Schimpansen gehört oder gesehen, und inzwischen war es bereits fünf Uhr. In zwei Stunden würde die Dunkelheit über das zerklüftete Gelände des Gombe Stream Reserve hereinbrechen. In der Hoffnung, wenigstens einen Schimpansen zu entdecken, der sein Nest für die Nacht baute, ließ ich mich an dem Platz nieder, von dem aus ich am liebsten Ausschau hielt: auf meinem «Gipfel».
Ich beobachtete eben einen Trupp Paviane in dem bewaldeten Tal unter mir, als ich plötzlich das Geschrei eines jungen Schimpansen hörte. Schnell suchte ich mit meinem Feldstecher die Bäume ab. Doch bevor ich genau ausmachen konnte, woher der Lärm kam, war er bereits verstummt, und es kostete mich einige Minuten angestrengten Spähens, ehe ich vier Schimpansen entdeckte. Die kleine Streiterei war vorüber, und sie kauten friedlich gelbe, pflaumenähnliche Früchte.
Ich saß zu weit weg, als dass ich Einzelheiten hätte beobachten können. Deshalb entschloss ich mich zu dem Versuch, näher an sie heranzukommen. Vorsichtig suchte ich die Bäume ab, bei denen sich die Gruppe aufhielt: Wenn es mir gelänge, überlegte ich, den großen Feigenbaum zu erreichen, ohne die Schimpansen zu verscheuchen, dann könnte ich sie großartig beobachten. Ich brauchte etwa zehn Minuten, um zu dem Baum zu gelangen. Als ich behutsam um den dicken, knorrigen Stamm herumschlich, bemerkte ich, dass die Schimpansen verschwunden waren; die Äste des Baums mit den pflaumenartigen Früchten waren leer, und wieder stellte sich das inzwischen wohlvertraute Gefühl der Niedergeschlagenheit ein. Wieder einmal hatten mich die Schimpansen gesehen und waren lautlos geflohen.
Plötzlich blieb mein Herz einen Augenblick lang stehen.
Keine achtzehn Meter weit weg saßen zwei Schimpansenmännchen auf dem Boden und sahen mich forschend an. Ich wagte kaum zu atmen und wartete auf die panische Flucht, die für gewöhnlich das Ende solcher unerwarteten Begegnungen auf so knappe Distanz war. Aber nichts dergleichen geschah. Die beiden großen Schimpansen fuhren ganz einfach fort, mich anzustarren. Langsam ließ ich mich nieder, und wenig später fingen die beiden an, sich in aller Ruhe gegenseitig das Fell zu pflegen.
Während ich – immer noch ein wenig zweifelnd, ob ich meinen Augen trauen konnte – dasaß und ihnen zusah, entdeckte ich zwei weitere Schimpansen, die jenseits der kleinen Lichtung ihre Köpfe aus dem Gras hervorstreckten und zu mir herüberspähten: ein Weibchen und ein Jungtier. Als ich ihnen mein Gesicht zuwandte, zogen sie rasch die Köpfe ein, aber schon bald tauchte erst der eine, dann der andere in den unteren Zweigen eines Baumes, der knapp vierzig Meter von mir entfernt stand, wieder auf. Dort blieben sie fast regungslos sitzen und beobachteten mich.
Über ein halbes Jahr hatte ich versucht, die angeborene Furcht zu überwinden, die die Schimpansen vor mir hatten, jene Furcht, die sie veranlasste, im dichten Gestrüpp zu verschwinden, sobald ich mich ihnen näherte. Zuerst hatten sie schon die Flucht ergriffen, wenn mich noch 500 Meter und obendrein eine Schlucht von ihnen trennten. Jetzt saßen zwei Männchen so nahe bei mir, dass ich sie fast atmen hören konnte.
Kein Zweifel, es war der stolzeste Augenblick, den ich bis dahin erlebt hatte. Die beiden prachtvollen Geschöpfe, die sich da unmittelbar vor meinen Augen gegenseitig «lausten», hatten mich akzeptiert. Ich kannte sie beide: David Greybeard, der stets am wenigsten Furcht vor mir gezeigt hatte, war der eine; der andere war Goliath. Er war nicht der Gigant, den sein Name vermuten lässt, aber er hatte einen imponierenden Körperbau und war das ranghöchste aller Männchen. Das Fell der beiden schimmerte glänzend schwarz im Dämmerlicht des Abends.
Länger als zehn Minuten saßen David Greybeard und Goliath da und lausten sich. Dann, kurz bevor in meinem Rücken die Sonne hinter dem Horizont verschwand, stand David auf und starrte mich an. Und so geschah es, dass mein vom Abendlicht verlängerter Schatten über ihn fiel. Die Faszination des ersten engen Kontakts mit einem in Freiheit lebenden Schimpansen und der seltsame Zufall, der meinen Schatten über David warf, während er mir forschend in die Augen zu blicken schien: All das prägte sich tief in mein Gedächtnis ein. Später gewann dieser Augenblick eine fast allegorische Bedeutung für mich; denn unter allen Lebewesen, die heute die Erde bevölkern, ist es allein der Mensch mit seinem überlegenen Gehirn, seinem überlegenen Verstand, der den Schimpansen in den Schatten stellt. Allein der Mensch mit seinen Gewehren und seinem Siedlungs- und Zivilisierungsdrang wirft seinen verhängnisvollen Schatten über die Freiheit des Schimpansen in den Wäldern. In jenem Augenblick indessen kam mir dieser Gedanke nicht. Ich sah nur David und Goliath.
Die Niedergeschlagenheit und die Verzweiflung, die mich während der vorausgegangenen Monate so oft überkommen hatten, waren nichts im Vergleich zu dem Gefühl des Triumphs, das mich erfüllte, als ich, nachdem die Gruppe schließlich davongezogen war, in der hereinbrechenden Dunkelheit den Berghang hinunter zu meinem Zelt am Seeufer hastete.
Begonnen hatte alles drei Jahre zuvor, als ich in Nairobi den berühmten Anthropologen und Paläontologen Louis Leakey kennenlernte. Vielleicht hatte es auch schon in meiner frühesten Kindheit begonnen. Ich war kaum mehr als ein Jahr alt, als mir meine Mutter einen von den großen, zottigen Spielzeugschimpansen schenkte, mit denen die Geburt des ersten Schimpansenbabys im Londoner Zoo gefeiert wurde. Die meisten Freunde meiner Mutter waren entsetzt und prophezeiten, dass die scheußliche Kreatur ihrer kleinen Tochter Albträume bescheren werde. Aber Jubilee (so hieß das gefeierte Affenbaby) wurde zu meinem kostbarsten Besitz, den ich während meiner ganzen Kindheit mit mir herumschleppte. Und noch heute zählt der Veteran zu meinen Besitztümern.
Aber auch lebende Tiere haben mich seit meinen ersten Kriechversuchen fasziniert. Ja, zu meinen frühesten Erinnerungen gehört der Tag, an dem ich mich in einem kleinen muffigen Hühnerstall versteckte, um herauszufinden, wie ein Huhn es fertigbrachte, ein Ei zu legen. Als ich an die fünf Stunden später stolz wieder zum Vorschein kam, erfuhr ich, dass der gesamte Haushalt stundenlang nach mir gesucht hatte und dass meine Mutter sogar die Polizei angerufen hatte, um mein Verschwinden zu melden.
Es muss etwa vier Jahre nach diesem denkwürdigen Tag gewesen sein, als ich den Entschluss fasste, sobald ich erwachsen wäre, nach Afrika zu reisen und mit wilden Tieren zu leben. Und wenn ich auch, nachdem ich mit achtzehn die Schule verlassen hatte, einen Sekretärinnenkurs besuchte und dann zwei verschiedene Arbeitsstellen übernahm, war meine Sehnsucht nach Afrika immer noch so groß, dass ich, als ich die Einladung erhielt, mit einer Schulfreundin nach Kenia zu fahren und dort auf der Farm ihrer Eltern zu leben, noch am gleichen Tag meine Kündigung einreichte. Ich gab einen interessanten, wenn auch schlecht bezahlten Posten in einem Dokumentarfilmstudio auf, um während der Sommersaison in meiner Heimatstadt Bournemouth als Serviererin mein Geld für die Überfahrt nach Afrika zu verdienen.
«Wenn du dich für Tiere interessierst», sagte irgendjemand etwa einen Monat nach meiner Ankunft in Afrika zu mir, «dann musst du Dr. Leakey kennenlernen.» Ich hatte damals bereits einen ziemlich trostlosen Bürojob angenommen, weil ich die Gastfreundschaft der Eltern meiner Freundin nicht allzu sehr hatte strapazieren wollen. Ich sehnte mich danach, endlich den wilden Tieren zu begegnen. Denn Tiere, wilde Tiere – das war für mich Afrika.
Ich suchte Leakey im Museum für Naturgeschichte auf, dessen Kurator er zu jener Zeit war. Irgendwie muss er gespürt haben, dass mein Interesse für Tiere nicht nur eine vorübergehende Vorliebe war, sondern etwas, das tiefer ging. Jedenfalls, er engagierte mich vom Fleck weg als Assistentin und Sekretärin.
Ich lernte eine Menge, während ich am Museum arbeitete: Die Mitarbeiter waren ohne Ausnahme begeisterte Naturforscher, die nur zu gern bereit waren, etwas von ihrem ungeheuren Wissen mit mir zu teilen. Das Beste aber war, dass mir die Gelegenheit geboten wurde, zusammen mit einem anderen Mädchen Leakey und seine Frau Mary auf einer ihrer jährlichen paläontologischen Expeditionen zur Oldowayschlucht in der Serengeti zu begleiten. In jenen Tagen vor der Erschließung der Serengeti für die Touristen, vor der Entdeckung des Zinjanthropus, des «Nussknacker-Menschen» und des Homo habilis in der Oldowayschlucht war dieses Gebiet noch absolut unwegsam. An die Straßen, Reisebusse und Flugzeuge, die heute die Serengeti zugänglich machen, dachte damals noch kein Mensch. Was wir unternahmen, war eine echte Expedition ins «tiefste Afrika», wie ich sie mir seit meiner Kindheit erträumt hatte.
Die Ausgrabungsarbeiten waren an sich schon faszinierend. Wenn ich Stunden um Stunden den uralten Lehm oder das Gestein des Oldowaybruchs mit der Hacke bearbeitete, um die Überreste von Kreaturen ans Licht zu bringen, die vor Millionen von Jahren gelebt hatten, so war das reine Routinearbeit. Von Zeit zu Zeit aber erfüllte mich der Anblick oder der Tasteindruck eines Knochens, den ich in meiner Hand hielt, mit tiefer Ehrfurcht. Dieser Knochen war einmal Teil eines lebenden, atmenden Tiers gewesen, das sich fortbewegt, geschlafen, sich fortgepflanzt hatte. Wie hatte es tatsächlich ausgesehen? Welche Haarfarbe hatte es gehabt? Was für einen Körpergeruch? Solche und ähnliche Fragen gingen mir durch den Kopf – Fragen, die die Wissenschaft vermutlich niemals wird beantworten können.
Es waren die Abende, die jenen wenigen Monaten für mich ihren besonderen Zauber gaben. Wenn gegen sechs Uhr die harte Tagesarbeit beendet war, konnten meine Mitassistentin Gillian und ich über die ausgedörrte Ebene oberhalb der Schlucht, in der wir den ganzen Tag geschwitzt hatten, zum Camp zurückgehen. In der Trockenzeit wird Oldoway fast zur Wüste, aber wenn wir an den niedrigen Dornbüschen vorbeigingen, sahen wir nicht selten Dikdiks, jene anmutigen Zwergantilopen, die kaum größer sind als ein Hase. Manchmal lief uns auch eine kleine Herde von Gazellen oder Giraffen über den Weg, und gelegentlich hatten wir sogar das Glück, ein schwarzes Rhinozeros unten in der Schlucht dahinstampfen zu sehen. Einmal begegneten wir einem jungen männlichen Löwen: Kaum fünfzehn Schritt trennten uns von ihm, als wir sein leises Knurren hörten, vorsichtig den Kopf wendeten und ihn hinter einem kleinen Gebüsch entdeckten. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir die volle Bedeutung des Ausdrucks «Mein Herz stand still» bewusst. Wir waren unten auf dem Grund der Schlucht, wo die Vegetation streckenweise verhältnismäßig dicht ist. Als wir uns langsam zurückzogen, beobachtete er uns, wobei sein Schwanz ruckartig hin und her zuckte. Als wir dann behutsam durch die Schlucht gingen, um auf die offene, baumlose Ebene auf der anderen Seite zu gelangen, setzte er sich in Bewegung, um uns – vermutlich aus Neugier – zu folgen. Als wir aufzusteigen begannen, verschwand er im Busch, und wir sahen ihn nicht wieder.
In dieser Zeit muss Leakey zu dem Schluss gekommen sein, in mir den Menschen gefunden zu haben, nach dem er beinahe zwanzig Jahre gesucht hatte: jemand, der zutiefst fasziniert war von Tieren und ihrem Verhalten; jemand, der ohne die geringsten Schwierigkeiten über längere Zeiträume hinweg auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichten konnte. Denn gegen Ende der Ausgrabungsperiode in der Oldowayschlucht zog er mich in ein Gespräch über eine Gruppe von wilden Schimpansen, die am Ufer des Tanganjikasees lebte.
Wilde Schimpansen kommen nur in Afrika vor. Ihr Lebensraum ist der tropische Regenwald am Äquator von der Küste Westafrikas bis zu einem Punkt am Ostufer des Tanganjikasees. Die Gruppe, von der mir Louis erzählte, gehört zu der östlichen oder langhaarigen Form der Schimpansengattung. In der zoologischen Systematik hat diese Unterart den wissenschaftlichen Namen Pan troglodytes schweinfurthi bekommen. Louis beschrieb ihr Wohngebiet als bergig, schroff und völlig abgeschnitten von der Zivilisation, und er wies nachdrücklich darauf hin, welche Hingabe und Geduld jeder Versuch erfordern würde, die Lebensgewohnheiten dieser wilden Schimpansen zu erforschen.
Erst ein einziger Mensch, so erfuhr ich von Louis, hatte bis dahin ernsthaft versucht, das Verhalten der Schimpansen in freier Wildbahn zu studieren. Und Henry Nissen, der diese Pionierarbeit unternahm, hatte im damals französischen Guinea die Schimpansen nur zweieinhalb Monate lang in ihrer natürlichen Umgebung beobachten können. Louis meinte, dass in so kurzer Zeit niemand befriedigende Aufschlüsse erwarten könne – um wirkliche Ergebnisse zu erzielen, brauche man mindestens zwei Jahre. Besonders interessant sei für ihn, erklärte Louis mir damals bei unserem ersten langen Gespräch darüber, das Verhalten einer Gruppe wilder Schimpansen, die nahe an einem See lebt; denn an Seeufern hätten sich vielfach die Überreste von vorgeschichtlichen Menschen gefunden, und so könne vielleicht die Erforschung des Verhaltens heutiger Schimpansen einiges Licht bringen in die Frage nach dem Verhalten unserer steinzeitlichen Vorfahren.
Während er so sprach, ahnte ich wahrscheinlich schon, was kommen würde, und doch konnte ich einfach nicht glauben, dass er es ernst meinte, als er mich nach einer Pause fragte, ob ich bereit sei, die Aufgabe zu übernehmen. Denn obwohl eine solche Aufgabe genau das war, was ich mir immer am meisten gewünscht hatte, war mir natürlich klar, dass ich völlig unqualifiziert war für die wissenschaftliche Verhaltensforschung an Tieren.
Louis jedoch wusste genau, was er tat. Er war der Meinung, dass ein Universitätsstudium nicht nur unnötig war, sondern in mancher Hinsicht sogar von Nachteil sein konnte. Er brauchte jemand, dessen Verstand nicht von Theorien verwirrt und voreingenommen war, jemand, der die Aufgabe einzig und allein aus einem echten Wissensdrang heraus anging und der außerdem ein einfühlsames Verständnis für Tiere mitbrachte.
Nachdem ich mich vorbehaltlos und begeistert bereit erklärt hatte, die Arbeit zu übernehmen, machte sich Louis an die schwierige Aufgabe, die nötigen Geldmittel zu beschaffen. Er musste jemanden finden, der sich zum einen von der Notwendigkeit des Forschungsvorhabens an sich überzeugen ließ und zum anderen davon, dass ausgerechnet ein junges Mädchen ohne jede fachliche Vorbildung die richtige Person für dieses Unternehmen war. Schließlich jedoch erklärte sich die Wilkie Foundation in Illinois bereit, eine Summe zur Verfügung zu stellen, von der die Kosten für ein kleines Boot, ein Zelt, Flugtickets und die ersten sechs Monate meiner Feldstudien bestritten werden konnten. Ich werde Mr. Leighton Wilkie stets dankbar sein dafür, dass er mir, nur im Vertrauen auf Louis’ Urteilsfähigkeit, die Chance gab, mich zu bewähren.
Ich war inzwischen wieder in England, aber sobald ich die Nachricht erhielt, bereitete ich mich auf meine Rückkehr nach Afrika vor. Die Regierungsbeamten in Kigoma, in deren Gebiet ich arbeiten wollte, hatten sich mit meinem Forschungsprojekt einverstanden erklärt. In einem Punkt jedoch waren sie unerbittlich: Sie wollten nichts davon hören, dass ein junges englisches Mädchen ohne europäische Begleitung allein im Busch leben wollte. So erklärte sich meine Mutter, Vanne Goodall, die schon einmal für ein paar Monate in Afrika gewesen war, bereit, mich bei meinem neuen Unternehmen zu begleiten.
Nach unserer Ankunft in Nairobi verlief zunächst alles planmäßig. Das Gombe Stream Chimpanzee Reserve (heute Gombe National Park), die Heimat meiner Schimpansengruppe, fiel unter die Zuständigkeit des Tanganyika Game Department, und der Chief Game Warden war überaus hilfsbereit. Er schickte mir die Genehmigung für meine Arbeit im Reservat und dazu mancherlei nützliche Informationen über die Bedingungen, die dort herrschten – über die Höhenlage und die Temperatur, über die Bodenbeschaffenheit und die Vegetation und über die Tiere, denen ich dort begegnen konnte. Inzwischen hatten wir die Nachricht erhalten, dass das kleine Aluminiumboot, das Louis gekauft hatte, sicher in Kigoma angekommen war. Und Bernard Verdcourt, der Direktor des East African Herbarium, erklärte sich bereit, Vanne und mich nach Kigoma zu fahren: Er könne unterwegs Pflanzen sammeln und auch in dem botanisch so gut wie unerforschten Gebiet um Kigoma.
Unsere Vorbereitungen für den Aufbruch waren gerade abgeschlossen, als der erste Rückschlag kam. Der Distriktkommissar des Kigoma-Gebietes teilte uns mit, dass am Ufer des Tanganjikasees, dort, wo das Schimpansenreservat war, Streitigkeiten zwischen den afrikanischen Fischern ausgebrochen seien. Der für das Gebiet zuständige europäische Game Ranger sei hingefahren, um die Sache in Ordnung zu bringen. Bevor die Ruhe nicht wiederhergestellt sei, könne ich unmöglich mit meiner Arbeit beginnen.
Zum Glück für meinen inneren Frieden machte Louis sofort den Vorschlag, ich solle zunächst für kurze Zeit probeweise das Verhalten der Meerkatzen auf einer Insel im Viktoriasee beobachten. Eine Woche später schon tuckerten Vanne und ich gemächlich in seinem Motorboot durch das flache trübe Wasser des Sees zum unbewohnten Lolue Island. Bei uns waren Hassan, der Kapitän der kleinen Barkasse, und sein Helfer, beides Afrikaner vom Kakamega-Stamm. Hassan, der später auch mit mir ins Schimpansenreservat zog, ist ein prachtvoller Kerl. Er ist nie aus der Ruhe zu bringen, strahlt stets eine gewisse Würde aus, ist absolut zuverlässig und ehrlich, hat einen ausgeprägten Sinn für Humor und ist intelligent – alles Eigenschaften, die ihn zu einem großartigen Weggefährten machen. Er hatte damals schon fast dreißig Jahre für Louis gearbeitet.
Drei Wochen vergingen, ehe man uns über Funk nach Nairobi zurückrief, und diese drei Wochen waren voller Zauber. Die Nächte verbrachten wir auf dem Boot, das dicht am Strand vor Anker lag, und die sanften Wellen des Sees wiegten uns in den Schlaf. Jeden Morgen kurz vor Sonnenaufgang ruderte mich Hassan in dem kleinen Dingi an Land, und ich blieb bis zum Abend – bei hellem Mondlicht sogar bis in die Nacht hinein – auf der Insel und beobachtete die Affen. Dann traf ich mich mit Hassan am Strand, und er ruderte mich zum Boot zurück. Bei einem bescheidenen Abendessen, das gewöhnlich aus gebackenen Bohnen, Eiern oder Würstchen aus Dosen bestand, tauschten Vanne und ich die Neuigkeiten vom Tage aus.
Da ich ein Buch über Schimpansen schreiben will, ist hier nicht der rechte Ort, von den sechzehn Affen meiner kleinen Horde und ihrem faszinierenden Verhalten zu berichten. Immerhin lernte ich während meines kurzen Aufenthalts auf der Insel unter anderem eine ganze Menge darüber, wie man im Freiland Notizen macht, welche Kleidung am zweckmäßigsten ist, welche Bewegungen ein in Freiheit lebender Affe bei einem Menschen, der ihn beobachtet, toleriert und welche nicht. Wenn auch die Schimpansen in vieler Hinsicht ganz anders reagierten, so kamen mir doch die Kenntnisse, die ich auf Lolue sammeln konnte, sehr zustatten, als ich mit meiner Arbeit am Gombe begann.
Irgendwie tat es mir doch leid, als eines Abends die ersehnte Nachricht kam; denn sie bedeutete, dass ich die Meerkatzen gerade in dem Augenblick verlassen musste, als mir die einzelnen Tiere der Gruppe vertraut geworden waren und ich begann, etwas über ihr Verhalten zu lernen. Es ist nie erfreulich, eine Arbeit unvollendet beiseitezulegen. Als wir jedoch erst in Nairobi waren, dachte ich an nichts anderes mehr als an das Abenteuer der Reise über 1200 Kilometer nach Kigoma – und an die Schimpansen. Da schon vor unserer Abfahrt nach Lolue fast alles vorbereitet gewesen war, dauerte es nur wenige Tage, bis wir uns mit Bernard Verdcourt auf den Weg nach Kigoma machen konnten.
Die Reise selbst verlief ohne besondere Zwischenfälle, wenn man von drei kleineren Pannen absieht und davon, dass der Landrover mit unserer Ausrüstung so überladen war, dass er bei schneller Fahrt gefährlich ins Schlingern geriet. Als wir jedoch nach drei Tagen auf staubigen Straßen in Kigoma ankamen, herrschte in der ganzen Stadt das Chaos: Seit unserer Abfahrt in Nairobi war es im Kongo, dessen Grenze keine vierzig Kilometer westlich von Kigoma, am gegenüberliegenden Ufer des Tanganjikasees, verläuft, zu Gewalttätigkeiten und Blutvergießen gekommen, sodass ganze Schiffsladungen von belgischen Flüchtlingen in Kigoma Zuflucht suchten. Es war Sonntag, als wir zum ersten Mal die von Schatten spendenden Mangobäumen gesäumte einzige große Straße der Stadt hinunterfuhren. Alles war geschlossen, und kein Vertreter der Behörden, der uns hätte helfen können, war aufzutrei ben.
Schließlich aber machten wir den Distriktkommissar ausfindig, der uns nachdrücklich, wenn auch mit Bedauern, erklärte, dass vorerst keinerlei Aussicht für mich bestünde, ins Schimpansenreservat vorzudringen. Man müsse zunächst abwarten und herausfinden, wie die Afrikaner im Kigoma-Distrikt auf die Nachricht von den Unruhen im Kongo reagieren würden. Das war ein harter Schlag, aber wir hatten keine Zeit, Trübsal zu blasen.
Wir besorgten uns Einzelzimmer in einem der beiden Hotels, aber mit diesem Luxus sollte es schon bald ein Ende haben. Am Abend traf ein weiteres Schiff voller Flüchtlinge ein, und jeder Quadratzentimeter Raum wurde gebraucht. Vanne und ich zogen zusammen und begnügten uns mit dem bisschen Platz, das noch übrig war, nachdem wir unsere gesamte Ausrüstung vom Landrover abgeladen und in unsere Unterkunft gebracht hatten. Bernard teilte sein Zimmer mit ein paar heimatlosen Belgiern, und wir holten sogar unsere drei Zeltbetten heraus und liehen sie dem bedrängten Hotelbesitzer. Sämtliche Zimmer waren überbelegt, aber die Flüchtlinge, die in ihnen auf engstem Raum hausten, waren geradezu im Paradies, verglichen mit jenen, die vorübergehend in dem riesigen Lagerhaus untergebracht wurden, in dem sich für gewöhnlich die Schiffsfracht stapelte, die über den See zum Kongo gebracht werden sollte oder die vom Kongo herüberkam. In diesem Speicher schliefen sie in langen Reihen auf Matratzen oder, in Bettlaken gehüllt, auf dem Zementboden und standen zu Hunderten Schlange, um die dürftigen Mahlzeiten entgegenzunehmen, die Kigoma für sie bereitstellen konnte.
Sehr bald schon hatten Vanne, Bernard und ich mit einigen Einwohnern der Stadt Bekanntschaft geschlossen. Es versteht sich von selbst, dass wir uns erboten, beim Heranschaffen und Verteilen der Lebensmittel behilflich zu sein, und man war nur zu gerne bereit, unsere Hilfe anzunehmen. Am zweiten Abend in Kigoma belegten wir drei, zusammen mit ein paar anderen Helfern, zweitausend Sandwiches mit Büchsenfleisch. Die Sandwiches wurden stapelweise sorgfältig in feuchte Tücher gewickelt und in großen Weißblechkisten verstaut, die dann auf Karren zum Lagerhaus transportiert wurden. Später halfen wir dabei, sie zusammen mit Suppe, Früchten, Schokolade, Zigaretten und Getränken an die Flüchtlinge zu verteilen. Seit jenem Tag habe ich eine unüberwindliche Abneigung gegen Büchsenfleisch.
Zwei Abende später waren die meisten der Flüchtlinge wieder fort; in Sonderzügen hatte man sie in die Hauptstadt von Tanganjika, nach Daressalam, gebracht. Das hektische Treiben war vorüber, aber man erlaubte uns immer noch nicht, zum Schimpansenreservat aufzubrechen. Die Situation begann für uns alle ein wenig deprimierend zu werden. Meine Geldmittel waren zu knapp bemessen, als dass Vanne und ich auch weiterhin im Hotel hätten wohnen können. Deshalb entschlossen wir uns, irgendwo zu zelten. Als wir uns erkundigten, wo wir ein Zelt aufschlagen könnten, wies man uns das Gelände des Gefängnisses von Kigoma an! Das war freilich keineswegs so schlecht, wie es zunächst klingt; denn dieses Gebäude bestand aus herrlich gepflegten Anlagen mit Blick über den See, und überall standen Zitrusbäume, deren Zweige zu dieser Jahreszeit unter dem Gewicht süß duftender Orangen und Mandarinen ächzten. Nur die Moskitos am Abend waren eine Plage.
Während dieser Zeit der erzwungenen Untätigkeit lernten wir die kleine Stadt Kigoma – nach europäischen oder amerikanischen Maßstäben eher ein Dorf – recht gut kennen. Das Zentrum lag unten am Seeufer, wo der natürliche Hafen den Schiffen nach Burundi, Sambia, Malavi und dem Kongo Ankerplätze bietet. Auch die Verwaltungsgebäude, der Bahnhof und die Post liegen nahe am See.
Das reizvollste Schauspiel aller kleinen Städte Afrikas ist der farbenprächtige Obst- und Gemüsemarkt, auf dem die Ware in kleinen Haufen genau abgezählt und, mit Preisen versehen, feilgeboten wird. In Kigoma verfügten die wohlhabenderen Händler über ansehnliche, durch ein Zeltdach geschützte Verkaufsstände aus massiven Steinmauern, während die andern auf der roten Erde des Hauptmarktes saßen und ihre Waren säuberlich auf Sackleinen ausgebreitet hatten oder auf dem nackten Boden. Bananen, grüne und gelbe Orangen und die dunkelroten, runzligen Beeren der Passionsblume wurden in verschwenderischer Fülle angeboten. Daneben reihten sich Flaschen und Krüge mit rot schimmerndem Speiseöl, das aus den Früchten der Ölpalme gewonnen wird.
Der Stolz Kigomas ist die Hauptstraße, die vom Verwaltungszentrum am See hinauf mitten durch die Stadt führt und zu beiden Seiten von großen, schattigen Mangobäumen und zahllosen winzigen Läden flankiert wird, die man in Ostafrika dukhas nennt. Als wir durch Kigoma bummelten, fragten wir uns immer wieder, wie so viele Läden existieren konnten, wo doch alle das Gleiche verkauften. Überall sahen wir Kessel und Töpferwaren, Turnschuhe und Hemden, Taschenlampen und Wecker. Und in den meisten Läden leuchteten jene quadratischen farbenprächtigen Tücher, die kangas genannt und von den afrikanischen Frauen paarweise gekauft wurden. Das eine Quadrat wird unter den Armen um den Körper gewickelt und hängt so weit herab, dass es eben die Knie bedeckt; das zweite wird turbanartig um den Kopf geschlungen. Vor einigen dukhas arbeiteten Schneider an Nähmaschinen mit Fußantrieb. Vor einem winzigen Laden saß ein alter Inder, der Schuhe nähte, klebte und besohlte und dabei mit den Füßen wie mit einem zusätzlichen Händepaar das Leder festhielt. Er war so geschickt, dass es ein Vergnügen war, ihm zuzusehen.
Der unfreiwillige Aufenthalt in Kigoma bot uns Gelegenheit, einige der Bewohner der Stadt näher kennenzulernen. Es waren vorwiegend Regierungsbeamte und ihre Frauen, die sich durch große Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft auszeichneten.
Ich werde nie vergessen, wie Vanne, die keinen unserer neuen Freunde kränken wollte, gleich zwei Einladungen zu einem heißen Bad für ein und denselben Abend annahm. Bernard, überzeugt, dass wir beide ein wenig verrückt waren, fuhr sie mit stoischer Miene von einem Haus zum anderen, damit sie ihre Verabredungen einhalten konnte, ohne das Gesicht zu verlieren.
Nachdem wir etwas über eine Woche in Kigoma verbracht hatten, kam David Anstey, der Game Ranger, der sich um eine Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Fischern im Gombe Stream Reserve bemüht hatte, von seiner Mission zurück. Er hatte eine lange Besprechung mit dem Distriktkommissar, deren Ergebnis war, dass ich die offizielle Erlaubnis erhielt, zum Gombe weiterzufahren. Ich hatte inzwischen schon fast die Hoffnung aufgegeben, einen Schimpansen auch nur zu Gesicht zu bekommen; denn ich war ständig darauf gefasst gewesen, dass man uns nach Nairobi zurückschicken werde. Deshalb kam es mir fast schon wie ein Traum vor, als ich endlich in dem Motorboot saß, das uns die Regierung für den Transport unserer Ausrüstung, darunter unser dreieinhalb Meter langes Dingi, zur Verfügung gestellt hatte.
Als die Maschine ansprang und der Anker gelichtet wurde, winkten wir Bernard noch einmal zum Abschied, verließen den Hafen und fuhren in Richtung Norden am Ostufer des Sees entlang. Ich erinnere mich noch, wie ich in das unglaublich klare Wasser hinunterschaute und bei mir dachte: «Entweder sinkt das Boot, oder ich falle über Bord und werde von einem Krokodil gefressen.» Aber nichts dergleichen geschah.
Während der ganzen Fahrt über die achtzehn Kilometer von Kigoma bis zu unserem Zeltplatz im Gombe Stream Reserve hatte ich das seltsame Gefühl, in einer Traumwelt zu leben. Wir befanden uns mitten in der Trockenzeit, und das kongolesische Ufer an der Westseite des langgestreckten, schmalen Tanganjikasees war, obwohl nur dreißig Kilometer entfernt, nicht einmal andeutungsweise zu erkennen. Die frische Brise und das tiefe Blau des Wassers, das von kleinen Wellen aufgeraut und von weißem Schaum gefleckt war, vermittelten uns das Gefühl, auf hoher See zu sein.
Ich richtete die Augen starr auf das Ostufer. Zwischen Kigoma und der Grenze des Schutzgebiets der Schimpansen sind die jähen Hänge des Steilabbruchs, die bis zu einer Höhe von 750 Metern über dem See aufragen, an vielen Stellen infolge jahrelanger Abholzung nackt und abgetragen. Dazwischen schmiegen sich kleine Waldflächen in Engtäler, durch die reißende Bergflüsse zum See hinunterrauschen. Die Uferlinie gliedert sich in eine Kette von länglichen Buchten, die häufig durch felsige Landzungen voneinander getrennt sind, die weit in den See hineinragen. Wir steuerten einen geraden Kurs, der uns von Landzunge zu Landzunge führte, aber wir sahen, dass die kleinen Kanus der Fischer sich dicht am Ufer hielten. David Anstey, der mit uns fuhr, um uns mit den afrikanischen Bewohnern des Gebietes bekannt zu machen, erklärte, dass der See manchmal ganz plötzlich zu toben beginnt; ein rauer Wind fährt dann durch die Täler herab und peitscht das Wasser zu gischtenden Wellen auf.
Überall am Ufer lehnten sich kleine Fischerdörfer an die Berghänge oder säumten die Mündungen der Täler. Ihre Bewohner lebten zumeist in einfachen Hütten aus Schlick und Gras, wenn wir auch schon damals hier und da größere Gebäude sahen, die mit glitzerndem Wellblech bedeckt waren – mit jenem Material, das für alle, die die Schönheit der Natur lieben, der Fluch der heutigen afrikanischen Landschaft ist.
Als wir ungefähr zehn Kilometer gefahren waren, deutete David auf den mächtigen Felsvorsprung, der die Südgrenze des Schimpansenreservats markiert. Sobald wir diese Grenzlinie passiert hatten, merkten wir, dass die Landschaft sich unvermittelt und dramatisch veränderte: Die Berge waren jetzt dicht bewachsen, und die Täler waren mit tropischen Wäldern bedeckt. Selbst hier sahen wir immer wieder Fischerhütten, die vereinzelt am weißen Strand standen. David erklärte uns, dass sie nur zeitweilig bewohnt seien. Die Afrikaner hatten die Erlaubnis, während der Trockenzeit zu fischen und ihren Fang an dem zum Reservat gehörenden Ufer zu trocknen. Wenn die Regenzeit begann, kehrten die Fischer in ihre Heimatdörfer außerhalb des Schimpansenreservats zurück. Diese Männer waren es, zwischen denen es kurz zuvor zu Streitigkeiten gekommen war; die Fischer zweier Dörfer hatten sich nicht einigen können, wer von ihnen das Recht auf einen bestimmten Strandabschnitt hatte.
Ich habe mich oft gefragt, was ich während dieser Bootsfahrt gefühlt haben mag, als ich wie gebannt die wilde Landschaft betrachtete, in der ich so bald schon umherstreifen sollte. Vanne gab später zu, dass der Anblick der steilen Hänge und der schier undurchdringlichen Wälder in den Tälern sie insgeheim zutiefst erschreckt habe, und David Anstey verriet mir ein paar Monate später, er sei völlig überzeugt gewesen, dass ich nach spätestens sechs Wochen aufgeben würde. Ich erinnere mich, dass ich weder Erregung noch Angst verspürte, sondern ein seltsames Gefühl der Gleichgültigkeit. Was hatte ich, das Mädchen, das da in Jeans auf dem Motorboot der Regierung stand, zu tun mit dem Mädchen, das wenige Tage später auf ebendiesen Bergen nach wilden Schimpansen suchen würde? Doch als ich mich in jener Nacht schlafen legte, hatte sich die Verwandlung bereits vollzogen.
Nach zweistündiger Fahrt ging das Motorboot in Kasakela, wo die beiden Game Scouts der Regierung ihr Standquartier hatten, vor Anker. David Anstey hatte uns geraten, dass wir wenigstens so lange, bis uns das Gebiet vertraut sei, unser Camp in der Nähe ihrer Hütten aufschlagen sollten. Als unser Dingi sich dem weißen Sandstrand näherte, sahen wir, dass sich eine ansehnliche Gruppe von Menschen versammelt hatte, um unsere Ankunft zu beobachten: die beiden Scouts, die wenigen Afrikaner, die die Erlaubnis hatten, ständig im Reservat zu leben, damit die Scouts nicht völlig isoliert waren, und einige Fischer aus den nahegelegenen Hütten. Wir wateten durch das seichte Wasser mit seinen glitzernden kleinen Wellen an Land und wurden zuerst von den Scouts und dann mit großem Zeremoniell von dem Ehrenhäuptling des Dorfes, dem alten Iddi Matata, begrüßt. Mit seinem roten Turban, seinem roten, europäisch geschnittenen Rock, den er über einem fließenden weißen Gewand trug, seinen Holzschuhen und seinem weißen Bart bot er einen farbenprächtigen Anblick. Er hielt eine lange Willkommensrede in Kisuaheli, von der ich nur Bruchstücke verstand, und wir übergaben ihm ein kleines Geschenk, das wir, auf Davids Anraten, für ihn gekauft hatten.
Als die Formalitäten vorüber waren, folgten Vanne und ich David auf einem schmalen Pfad von etwa dreißig Schritt Länge, der vom Strand durch ein Dickicht zu einer natürlichen Lichtung führte. Mit Unterstützung Davids und der afrikanischen Scouts hatten wir das große Zelt, das für Vanne und mich bestimmt war, in kurzer Zeit aufgeschlagen. Hinter dem Zelt floss ein kleiner gurgelnder Bach vorbei, und hohe Ölpalmen spendeten Schatten. Es war ein idealer Zeltplatz. Etwa fünfzig Schritt entfernt, unter ein paar Bäumen am Strand, schlugen wir ein zweites, kleineres Zelt auf, das unserem Koch Dominic, den wir vor unserer Abfahrt aus Kigoma angeheuert hatten, als Unterkunft dienen sollte.
Als unser Camp eingerichtet war, machte ich mich auf einen Erkundigungsgang. Das hohe Gras auf den unteren Hängen war kurz zuvor einem Buschfeuer zum Opfer gefallen, und die Aschenschicht, die sich dabei gebildet hatte, machte den Boden schlüpfrig. Es war ungefähr vier Uhr, aber die Sonne brannte immer noch erbarmungslos herab, und ich war schweißbedeckt, als ich endlich hoch genug gestiegen war, um den See und das breite Tal überblicken zu können, das sich üppig und grün von dem geschwärzten Berghang abhob, auf dem ich stand.
Ich saß schwitzend auf einem großen flachen Felsen und konnte fühlen, wie ich, nach der Niedergeschlagenheit der Woche in Kigoma und dem trancehaften Zustand, in dem ich seit unserer Abfahrt gewesen war, wieder zum Leben erwachte. Eine Horde von etwa sechzig Pavianen, die den versengten Boden nach gebratenen Insekten absuchten, zog vorüber. Einige der Tiere kletterten auf Bäume, als sie mich sahen, und schüttelten die Zweige mit ruckartigen, drohenden Bewegungen; zwei der großen Männchen stießen ihren lauten, bellenden Warnruf aus. Im Großen und Ganzen jedoch fühlte sich die Horde wenig beunruhigt durch meine Gegenwart und zog, mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, langsam weiter. Auch einen Buschbock sah ich, ein graziöses, kastanienbraunes Tier, kaum größer als eine Ziege, mit kräftigen, schraubig gedrehten Hörnern. Er sah mich regungslos an, machte dann plötzlich eine Wendung und sprang, den Wedel aufgestellt und wie ein Hund bellend, in weiten Sprüngen davon.
Ich blieb nicht länger als eine Dreiviertelstunde auf dem Berg, aber als ich – fast ebenso schwarz wie die Hänge, auf denen ich herumgekrochen war – zurückkehrte, fühlte ich mich nicht mehr wie ein Eindringling. In jener Nacht zog ich mein Feldbett ins Freie und schlief unter den Sternen, die durch die raschelnden Wedel einer Palme herabblinkten.
Am nächsten Morgen brannte ich natürlich darauf, mich auf die Suche nach Schimpansen zu machen, aber ich fand sehr bald heraus, dass ich, jedenfalls für den Anfang, keineswegs mein eigener Herr sein würde. David Anstey hatte mit einer Reihe von Afrikanern aus der Umgehung abgesprochen, dass sie kommen und Vanne und mich kennenlernen sollten. Er erklärte uns, dass sie alle besorgt und aufgebracht seien. Sie konnten einfach nicht glauben, dass ein junges Mädchen die lange Reise von England bis zu ihnen unternommen hatte, bloß um sich Affen anzuschauen, und so lief das Gerücht um, ich sei ein Spitzel der Regierung. Ich war David natürlich sehr dankbar dafür, dass er gleich zu Anfang alles für mich regelte, aber ich verlor mehr und mehr den Mut, als ich von den Plänen hörte, die er für mich gemacht hatte.
Zunächst kamen wir überein, dass der Sohn des Häuptlings von Mwamgongo, einem großen Fischerdorf im Norden des Schimpansenreservats, mich begleiten sollte. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass ich nicht in mein Buch schrieb, ich hätte zehn oder zwanzig Schimpansen gesehen, wenn es nur ein einziger gewesen war. Später begriff ich, dass die Afrikaner immer noch darauf hofften, die vierzig Quadratkilometer des Reservats wieder zurückzuerhalten. Wenn ich daher vorgab, mehr Schimpansen gesehen zu haben, als es in diesem Bereich tatsächlich gab, so lieferte ich damit nach Meinung der Afrikaner der Regierung Argumente, auf die sie sich berufen konnte, wenn sie das Gebiet auch künftig zum geschützten Reservat erklären wollte. Darüber hinaus war David der Ansicht, dass ich aus Prestigegründen einen Afrikaner anstellen sollte, der meine Provianttasche trug.
Da ich überzeugt war, dass es mir nur dann gelingen würde, einen Kontakt mit den scheuen Tieren herzustellen, wenn ich allein war, brachte mich der Gedanke, ständig von zwei Begleitern behelligt zu sein, ziemlich aus der Fassung. Aber das war noch nicht alles: Ich musste obendrein noch einen der Game Scouts mitnehmen. Ich war deprimiert und unglücklich, als ich am Abend jenes Tages ins Bett ging.
Am nächsten Morgen jedoch war alles neu und aufregend, und meine gedrückte Stimmung war bald verflogen. Wir hatten verabredet, dass ich mich mit dem Sohn des Häuptlings in einem Tal in der Nähe der Nordgrenze des Reservats treffen sollte, da mein Game Scout Adolf dort am Tag zuvor bei einem Patrouillengang Schimpansen gesichtet hatte. David Anstey hatte etwas in Mwamgongo zu erledigen; so ergab es sich, dass er Adolf, meinen «Träger» Raschidi und mich in seinem Boot mitnahm und uns am verabredeten Treffpunkt absetzte.
Der Sohn des Häuptlings kam, gefolgt von fünf oder sechs anderen Afrikanern, auf uns zu, und ich erstarrte bei dem Gedanken, dass sie alle darauf bestehen könnten, mit mir zu kommen. Aber meine Befürchtungen erwiesen sich rasch als unbegründet. Der junge Mann erkundigte sich, wohin ich gehen wolle, und ich deutete in die Richtung der steilen, dichtbewaldeten Hänge am Rand des Tales. Er wirkte ziemlich bestürzt und sprach in Kiha, der Sprache des Ha-Stammes, ruhig und ernst mit seinen Freunden. Wenig später trat er wieder auf uns zu und sagte mir, er fühle sich nicht besonders wohl und werde mich an diesem Tag nicht begleiten. Später fand ich heraus, dass er geglaubt hatte, ich würde lediglich am Ufer auf und ab fahren und die Schimpansen zählen, die ich vom Boot aus sehen konnte. Die Aussicht, in den Bergen herumklettern zu müssen, gefiel ihm ganz und gar nicht, und ich sah ihn nie wieder.
Als wir gerade aufbrechen wollten, kamen zwei Fischer herbeigelaufen und fragten uns, ob wir einen Augenblick Zeit hätten. Sie führten uns zu einem Baum unmittelbar hinter einer der provisorischen Illitten, dessen Rinde wohl an hundert Stellen abgestoßen war. Am Abend zuvor hatte hier ein Büffelbulle, einer der gefährlichen Einzelgänger, einen der Fischer angegriffen. Der Mann hatte es fertiggebracht, auf den Baum zu klettern und sich so in Sicherheit zu bringen, aber der Büffel hatte wieder und wieder den schlanken Stamm attackiert. Ich weiß nicht, ob die Männer lediglich dem Game Scout Bericht erstatten wollten oder ob sie versuchten, mir die Gefahren, die in ihrem Land auf mich lauerten, vor Augen zu führen, aber die Erinnerung an den zerschundenen Baum verfolgte mich noch wochenlang, sooft ich in dem dichten Unterholz der Talwälder umherkroch.
Nach dem kleinen Ausflug zu dem Baum, den der Büffel berannt hatte, zogen wir durch das Mitumba-Tal, und wenig später schon befanden wir uns mitten im afrikanischen Urwald, wie ich ihn mir stets erträumt hatte. Ringsum standen riesenhafte mit Lianen behangene Bäume, und immer wieder schimmerten leuchtend rote oder weiße Blüten durch das dichte Laubwerk. Wir gingen an einem rasch dahinfließenden seichten Bach entlang und wateten durch das Wasser, sooft das andere Ufer ein leichteres Vorankommen versprach. Dann und wann schoss ein bunter Rakenvogel oder irgendein anderer Waldvogel an uns vorüber, und einmal sahen wir, wie eine Horde von kleineren Affen, deren Schwänze kupferfarben leuchteten, über eine Lücke im Blätterdach sprang. Der dichte Dom des Waldes, der sich in einer Höhe von mehr als dreißig Metern über uns wölbte, ließ nur wenig Sonnenlicht durchdringen. Und auf der Talsohle gab es kaum Unterholz, das uns den Weg hätte versperren können.
Nachdem wir etwa zwanzig Minuten gegangen waren, führte uns Adolf vom Flussbett weg und den Hang hinauf, der das Tal begrenzte. Fast im gleichen Augenblick wurde das Gehen sehr viel schwieriger: Die Bäume waren kleiner, und das Unterholz war dicht und von Schlingpflanzen durchzogen, sodass wir zumeist auf allen vieren kriechen mussten, um voranzukommen. Unter einem riesigen Baum blieb Adolf stehen. Ich schaute hinauf und sah, dass er mit kleinen orangefarbenen und roten Früchten beladen war: Der Boden ringsum war besät mit abgebrochenen Zweigen und angebissenen Früchten. Wir standen unter einem Msulula-Baum, in dem sich am Tag zuvor die Schimpansen gelabt hatten.
Es war nicht meine Absicht gewesen, dicht an den Baum heranzugehen, und in der Hoffnung, dass wir noch keine Schimpansen gestört hätten, erklärte ich rasch meinen Führern, dass ich den Baum aus einiger Entfernung – von der anderen Seite des Tals aus – beobachten wolle.
Zehn Minuten später hatten wir uns auf einer kleinen, grasbewachsenen Lichtung unmittelbar gegenüber dem Msulula-Baum und etwa auf der gleichen Höhe niedergelassen. Später machte ich die Entdeckung, dass wir in der Tat die einzige wirklich günstige Stelle erwischt hatten, von der aus man den Baum beobachten konnte. Raschidis geübte Augen hatten den Platz sofort entdeckt. Ich selber hätte ihn zu jener Zeit niemals bemerkt. Es schien ein sehr stiller und friedlicher Platz, zu dem das Rauschen des Flusses nicht hinaufdrang. Nur ein paar Zikaden ließen unentwegt ihr schrilles Zirpen hören, hier und da sang ein Vogel, und gelegentlich drang das Bellen oder Kreischen eines Pavians zu uns herüber.
Plötzlich erstarrte ich vor Erregung; denn unten im Tal hörte ich die Rufe einer Gruppe von Schimpansen. Natürlich hatte ich Schimpansen im Zoo gehört, aber hier draußen, im afrikanischen Urwald, war der Klang ihrer Stimmen unbeschreiblich aufregend. Zuerst ließ einer der Schimpansen seine tiefen, widerhallenden pant-hoots vernehmen, laute, tutende Rufe, auf die jeweils ein hörbares Einsaugen der Luft folgt. Diese Rufe wurden lauter und lauter, bis sie schließlich beinahe zu einem Kreischen wurden. Nachdem die ersten Rufe verhallt waren, fiel ein zweites Tier ein, dann ein drittes. In dem Bericht von Nissen hatte ich von Schimpansen gelesen, die auf Baumstämme trommeln: Jetzt hörte ich mit meinen eigenen Ohren das seltsame, hallende Geräusch, dessen Echo das ganze Tal erfüllte und in das sich der wilde Chor der pant-hoots mischte.
Die Gruppe befand sich ganz dicht bei dem Msulula-Baum, und ich saß, alle Sinne angespannt, wartend da, den Blick starr auf den gegenüberliegenden Wald gerichtet. Trotzdem war es Raschidi, der die erste Bewegung sah: Ein Schimpanse kletterte auf einen Palmenstamm und von dort in die Zweige des riesigen Baums. Ein zweiter folgte ihm, dann ein dritter, ein vierter – alle in geordneter Reihe. Ich zählte insgesamt sechzehn Tiere; einige davon waren groß, einige viel kleiner. Auch eine Schimpansenmutter war darunter, deren winziges Baby sich an ihrem Bauch festklammerte.
Bei aller Erregung war ich dennoch zugleich ein wenig enttäuscht; denn obwohl die Schimpansen zwei Stunden lang in dem Baum blieben, sah ich nicht viel mehr als dann und wann einen schwarzen Arm, der aus dem Blattwerk herauslangte und mit einer Handvoll Früchten wieder verschwand. Schließlich kletterten die Tiere eines nach dem anderen lautlos die Palmenleiter, über die sie vorher hinaufgelangt waren, wieder hinunter und verschwanden im Wald.