Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel «Through a Window. My Thirty Years with the Chimpanzees of Gombe» bei Weidenfeld & Nicolson, London
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2020
Copyright © 1991, 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Through a Window. My Thirty Years with the Chimpanzees of Gombe» Copyright © 1990 Soko Publications Limited
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Alle Abbildungen, sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen von Jane Goodall.
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ISBN 978-3-644-00652-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00652-2
Ich wälzte mich herum und sah auf die Uhr – es war 5.44 Uhr. Lange Jahre des Frühaufstehens haben mich gelehrt, eben vor dem unangenehmen Schrillen des Weckers aufzuwachen. Wenig später saß ich auf den Stufen meines Hauses mit Blick über den Tanganjikasee. Der abnehmende Mond – im letzten Viertel – hing über dem Horizont, wo die gebirgige Küstenlinie von Zaire den Tanganjikasee säumt. Es war noch Nacht, und die Lichtbahn des Mondes tanzte und glitzerte über dem schwach bewegten Wasser auf mich zu. Ich hatte mein Frühstück – eine Banane und eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne – rasch verzehrt, zehn Minuten später kletterte ich den steilen Hang hinter dem Haus hinauf, in den Taschen Minifernglas, Kamera, Notizbuch und Bleistiftstummel sowie eine Handvoll Rosinen zum Lunch und Plastiktüten, damit ich im Falle eines Regens alles verstauen konnte. Das schwache Licht des Mondes erhellte das betaute Gras, sodass ich meinen Weg ohne Schwierigkeiten finden konnte. Bald erreichte ich die Stelle, wo ich am Abend vorher achtzehn Schimpansen hatte zur Ruhe gehen sehen. Ich setzte mich und wartete darauf, dass sie aufwachten.
Die Bäume um mich herum waren noch verhüllt von den geheimnisvollen Schleiern der träumenden Nacht. Es war sehr still und unglaublich friedlich. Die einzigen Geräusche waren das gelegentliche Zirpen eines Heimchens und das sanfte Murmeln der Wellen tief unten, wo der See die Kiesel am Ufer streichelte. Während ich so saß, fühlte ich die erwartungsvolle Erregung, die bei mir einem Tag mit den Schimpansen immer vorangeht, einem Tag, an dem ich durch die Wälder und Berge von Gombe streife, einem Tag für neue Entdeckungen und neue Einsichten.
Ganz plötzlich brach Gesang aus, das Duett eines Rötelpärchens, betörend schön. Ich wurde mir bewusst, dass sich die Lichtintensität geändert hatte: Unvermerkt war die Dämmerung angebrochen. Das nahende Leuchten der Sonne hatte die unbestimmt silbrige Beleuchtung ihres vom Mond reflektierten Lichts so gut wie ausgelöscht. Die Schimpansen schliefen noch.
Fünf Minuten später kam von oben Blätterrascheln. Ich schaute hinauf und sah vor dem heller werdenden Himmel Zweige sich bewegen. Es war die Stelle, an der Goblin, ranghöchstes Männchen der Gesellschaft, sein Schlafnest errichtet hatte. Dann wieder Stille. Goblin musste sich umgedreht und zu einem letzten Schläfchen zusammengerollt haben. Bald darauf bewegte sich etwas in einem anderen Schlafnest rechts von mir, dann in einem hinter mir, weiter hangaufwärts. Rascheln von Blättern, das Knacken eines Ästchens. Die Gruppe begann zu erwachen. Ich spähte durch mein Glas in den Baum, in dem Fifi für sich und ihre kleine Flossi ein Nest gemacht hatte, und sah die Umrisse eines Fußes. Einen Augenblick später kletterte Fanni, Fifis achtjährige Tochter, aus ihrem Nest in der Nähe und ließ sich etwas oberhalb ihrer Mutter nieder, nur ein kleiner dunkler Schatten gegen den Himmel. Fifis zwei andere Nachkommen, der erwachsene Freud und der heranwachsende Frodo, hatten ihre Schlafnester weiter oben am Hang gebaut.
Neun Minuten nach seinen ersten Bewegungen richtete sich Goblin plötzlich auf, verließ fast sofort sein Schlafnest und begann, wild durch den Baum zu turnen und heftig Zweige zu schütteln. Ein Höllenspektakel brach los. Die Schimpansen, die Goblin am nächsten waren, sprangen aus ihren Schlafnestern und stürzten fort, ihm aus dem Weg. Andere setzten sich auf und beobachteten nur, gespannt und zur Flucht bereit. Der frühmorgendliche Frieden war zerrissen von aufgeregtem Grunzen und Kreischen, als die im Rang unter Goblin Stehenden Respekt oder Angst zum Ausdruck brachten. Einige Augenblicke später war die Imponierveranstaltung im Baum vorüber. Goblin sprang herunter und stürmte an mir vorbei; er schlug und stampfte auf den feuchten Boden, richtete sich auf und schüttelte das Gesträuch, hob einen Felsbrocken auf und schleuderte ihn fort, dann ein altes Stück Holz und noch einen Felsbrocken. Endlich setzte er sich, mit gesträubtem Fell, keine fünf Meter entfernt nieder. Er atmete schwer. Mir selbst schlug das Herz bis zum Hals. Als er herunterkam, war ich aufgestanden und hatte mich an einen Baum geklammert und ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass er nicht auf mir herumtrommeln würde, wie er es manchmal tat. Zu meiner Erleichterung hatte er mich nicht beachtet, und ich setzte mich wieder.
Mit leisen Panting-grunts – freundlichen Grunzlauten – kletterte Goblins jüngerer Bruder Gimble herab und kam, um das ranghöchste oder Alpha-Männchen zu begrüßen, wobei er sein Gesicht mit den Lippen berührte. Als sich ein anderes erwachsenes Männchen näherte, sprang Gimble eilig aus dem Weg. Es war mein alter Freund Evered. Als er mit lauten, unterwürfigen Grunzern näher kam, hob Goblin langsam einen Arm zum Gruß, und Evered stürzte vor. Die beiden Männchen umarmten einander, sie grinsten breit in der Erregung dieses morgendlichen Wiedersehens, und ihre Zähne blitzten weiß im Dämmerlicht. Sie trieben einen Moment soziale Fellpflege – das bekannte Lausen oder Groomen –, dann zog sich Evered beruhigt zurück und ließ sich still in der Nähe nieder.
Das einzige andere erwachsene Tier, das jetzt herunterkam, war Fifi; Flossi hing an ihren Bauch geklammert. Sie umging Goblin, näherte sich aber Evered; leise grunzend streckte sie die Hand aus und berührte ihn am Arm. Dann begann sie, ihm das Fell zu pflegen. Flossi kletterte Evered auf den Schoß und sah ihm von unten ins Gesicht. Er schaute auf sie hinab, groomte sie einen Augenblick sehr aufmerksam am Kopf und wandte sich dann Fifi zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erwidern. Flossi hüpfte halb bis zu Goblin, aber sein Fell war noch gesträubt, deshalb überlegte sie es sich anders und kletterte auf einen Baum in Fifis Nähe. Gleich darauf begann sie, mit ihrer Schwester Fanni zu spielen.
Der Frieden war wieder eingekehrt, wenn auch nicht die Stille der Dämmerung. Oben in den Bäumen bewegten sich die anderen Schimpansen und bereiteten sich auf einen neuen Tag vor. Einige begannen zu fressen, und ich hörte gelegentlich das leise Plumpsen von herabfallenden Feigenschalen oder -kernen. Ich saß da und war sehr zufrieden, dass ich nach einer ungewöhnlich langen Zeit – drei Monate mit Vorlesungen, Tagungen und «Lobbying» in den USA und Europa – endlich wieder in Gombe war. Dies war mein erster Tag mit den Schimpansen, und ich hatte vor, ihn nur zu genießen, einfach indem ich mich wieder mit den alten Freunden bekannt machte, fotografierte, meine Kletterbeine übte.
Evered war es, der dann dreißig Minuten später die Gruppe fortführte, wobei er zweimal anhielt und sich umsah, um sich zu überzeugen, dass Goblin mitkäme. Fifi ging mit, Flossi auf dem Rücken wie einen kleinen Jockey, Fanni gleich dahinter. Nun kletterten die anderen Schimpansen herunter und wanderten hinter uns her. Freud und Frodo, die erwachsenen Männer Atlas und Beethoven, der prachtvolle Jugendliche Wilkie und zwei Weibchen, Patti und Kidevu, mit ihren Kleinkindern. Es waren noch mehr da, aber die wanderten weiter oben am Hang entlang, und ich konnte sie in diesem Augenblick nicht sehen. Wir zogen nordwärts, parallel zum Strand unten, tauchten dann ins Kasakelatal hinab und stiegen schließlich, nach etlichen Fresspausen, auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf. Der Himmel im Osten wurde strahlend hell, aber erst um 8.30 Uhr schaute die Sonne selbst endlich über die Höhen an der Abbruchkante des Zentralafrikanischen Grabens. Wir waren zu dieser Zeit hoch über dem See. Die Schimpansen hielten an, pflegten sich eine Weile gegenseitig das Fell und genossen die Wärme der Morgensonne.
Etwa zwanzig Minuten später ertönten plötzlich weiter vor uns Schimpansenrufe – ein Gemisch von Panthoots, wie wir die lauten, weit tragenden Rufe nennen, und Kreischen. Ich konnte deutlich die Stimme der großen, unfruchtbaren Gigi mitten in dem Gewirr der Laute von Weibchen und Kindern ausmachen. Goblin und Evered unterbrachen ihre Fellpflegesitzung, und alle Schimpansen spähten in Richtung des Lärms. Dann brach, jetzt unter Goblins Führung, der größte Teil der Gruppe dorthin auf.
Fifi jedoch blieb und fuhr fort, Fanni zu groomen, während Flossi allein spielte und in der Nähe ihrer Mutter und der älteren Schwester an einem herabhängenden Zweig schaukelte. Ich beschloss auch zu bleiben, froh, dass Frodo mit den anderen weitergezogen war, denn er ärgert mich oft. Er möchte, dass ich mit ihm spiele, und wird aggressiv, weil ich nicht will. Mit seinen zwölf Jahren ist er viel stärker als ich, und sein Verhalten ist gefährlich. Einmal trampelte er mir so heftig auf den Kopf, dass er mir fast das Genick gebrochen hätte. Und ein anderes Mal stieß er mich einen steilen Hang hinab. Ich kann nur hoffen, dass er mit der Zeit reifer wird, seine Kindheit hinter sich lässt und diese lästigen Angewohnheiten ablegt.
Ich verbrachte den Rest des Morgens friedlich mit Fifi und ihren Töchtern, die von einem Nahrungsbaum zum nächsten zogen. Sie fraßen mehrere verschiedene Arten von Früchten und einmal junge Triebe. Fünfundvierzig Minuten lang zogen sie an niedrigen Büschen die zu Röhren gerollten und mit klebrigen Fäden zusammengehaltenen Blätter auseinander und fraßen schmatzend die Raupen, die sich darin wanden. Einmal kamen wir an einem anderen Weibchen vorbei – Gremlin mit ihrem Säugling Galahad. Fanni und Flossi liefen hinüber, um sie zu begrüßen, aber Fifi warf kaum einen Blick in ihre Richtung.
Wir stiegen immer höher hinauf. Schließlich stießen wir an einem baumlosen grasbewachsenen Kamm auf eine andere kleine Gruppe von Schimpansen: den erwachsenen Prof, seinen jüngeren Bruder Pax und zwei ziemlich scheue Weibchen mit ihren Kleinkindern. Sie fraßen von den Blättern eines wuchtigen Mbula-Baums. Es gab ein paar leise Grunzer zur Begrüßung, als sich Fifi und ihre Kinder der Gruppe anschlossen, dann begannen sie, ebenfalls zu fressen. Schließlich zogen die anderen weiter und Fanni mit ihnen. Aber Fifi blieb, richtete sich ein Schlafnest her und legte sich zu einer mittäglichen Siesta nieder. Flossi blieb auch, kletterte, schaukelte und spielte in der Nähe ihrer Mutter. Und dann stieg sie zu Fifi ins Nest, kuschelte sich an sie und trank ein bisschen.
Von da, wo ich saß, unterhalb von Fifi, konnte ich das ganze Kasakelatal überblicken. Gegenüber, im Süden, lag der Gipfel. Eine Flut von warmen Erinnerungen durchströmte mich, als ich ihn sah: eine runde Schulter über dem langen grasbewachsenen Kamm, der das Kasakelatal von unserem Kakombetal trennt. In den Anfangszeiten meiner Forschungen in Gombe, 1960 und 1961, hatte ich die Schimpansen Tag für Tag von diesem großartigen Aussichtspunkt aus durchs Glas beobachtet. Ich hatte meistens einen kleinen Blechkoffer mit einem Kessel, Kaffee und Zucker und einer Decke mitgebracht. Manchmal, wenn die Schimpansen in der Nähe übernachtet hatten, war ich da oben bei ihnen geblieben, gegen die kühle Nachtluft in meine Decke gewickelt. Nach und nach hatte ich mir eine Vorstellung von ihrem täglichen Leben aus den Einzelteilen zusammengesetzt, hatte etwas über ihr Fressverhalten und ihre Wanderwege erfahren und angefangen, ihre einzigartige soziale Struktur zu begreifen – kleine Gruppen, die sich zu größeren zusammenschließen, große Gruppen, die sich zu kleineren aufspalten, einzelne Schimpansen, die eine Weile für sich allein herumstreifen.
Von jenem Gipfel aus hatte ich zum ersten Mal einen Schimpansen Fleisch fressen sehen: David Greybeard. Ich hatte gesehen, wie er in einen Baum geklettert war, den toten Körper eines ganz jungen Buschschweins unter dem Arm, den er dann mit einem Weibchen teilte, während die ausgewachsenen Buschschweine unter ihnen tobten. Und keine hundert Meter vom Gipfel entfernt hatte ich an einem unvergesslichen Tag im Oktober 1960 David Greybeard und seinen guten Freund Goliath beobachtet, wie sie mit Grashalmen Termiten angelten. Ich spürte jetzt, als ich an diese ferne Zeit zurückdachte, noch einmal die Erregung, die ich gefühlt hatte, als ich sah, wie David mit der Hand einen starken Halm abriss und ihn sorgfältig zurechtstutzte, damit er ihn leichter durch den engen Eingang zu einem Termitenbau schieben konnte. Nicht nur, dass er den Grashalm als Werkzeug benutzte – er zeigte, als er ihn so veränderte, dass er sich für diesen speziellen Zweck eignete, tatsächlich die einfachen Anfänge der Werkzeugherstellung. Was für begeisterte Telegramme hatte ich an Louis Leakey geschickt, den weitblickenden, genialen Mann, der die Forschung in Gombe angeregt hatte. Also waren Menschen doch nicht die einzigen Tiere, die Werkzeug herstellten. Und Schimpansen nicht die friedlichen Vegetarier, die wir in ihnen gesehen hatten.
Das war gewesen, kurz nachdem meine Mutter Vanne abgereist war, um sich wieder ihren anderen Pflichten in England zu widmen. Sie hatte während ihres viermonatigen Aufenthalts hier einen unschätzbaren Beitrag für den Erfolg des Unternehmens geleistet: Sie hatte eine Klinik aufgebaut – vier Pfähle und ein Rohrdach –, wo sie an die Menschen der Umgegend, meist Fischer und ihre Familien, Medikamente ausgab. Ihre Heilmittel waren zwar schlicht gewesen – Aspirin, Bittersalz, Jod, Verbandstoff und so weiter –, aber ihre Anteilnahme und ihre Geduld waren grenzenlos und ihre Behandlung oft erfolgreich. Viel später erfuhren wir, dass viele Leute geglaubt hatten, sie besäße magische Heilungskräfte. So hatte sie mir das Wohlwollen der hiesigen menschlichen Population verschafft.
Über mir regte sich Fifi; sie fasste Flossi besser, während sie sie stillte. Dann schlossen sich ihre Augen wieder. Die Kleine trank noch eine Weile, dann glitt ihr die Brustwarze aus dem Mund, als auch sie einschlief. Ich überließ mich wieder meinen Tagträumen und erlebte im Geist einige der denkwürdigsten Ereignisse der Vergangenheit noch einmal.
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem David Greybeard zum ersten Mal mein Lager am Seeufer besucht hatte. Er war gekommen, um die reifen Früchte einer Ölpalme zu fressen, die dort wuchs, hatte ein paar Bananen auf dem Tisch vor meinem Zelt erspäht und sie mitgenommen, um sie im Busch zu verzehren. Nachdem er einmal Bananen entdeckt hatte, kam er wieder, und nach und nach waren ihm andere Schimpansen zu meinem Lager gefolgt.
Eine der Schimpansinnen, die 1963 regelmäßige Besucherin wurde, war Fifis Mutter gewesen, die alte Flo mit ihren ausgefransten Ohren und der Knubbelnase. Was für ein aufregender Tag, als sie, nach fünf Jahren mütterlicher Beschäftigung mit ihrer kleinen Tochter, wieder sexuell attraktiv wurde. Stolz hatte sie ihre blassrote Brunstschwellung zur Schau getragen und ein ganzes Gefolge von Freiern angezogen. Viele von ihnen waren bis dahin noch nicht im Lager gewesen, aber sie folgten Flo dorthin: Die Leidenschaft überwand die natürliche Vorsicht. Und als sie einmal Bananen entdeckt hatten, gehörten sie bald zu der schnell wachsenden Gruppe regelmäßiger Besucher. Und so war ich immer vertrauter mit der ganzen Schar unvergesslicher Schimpansenpersönlichkeiten geworden, die ich in meinem ersten Buch, Wilde Schimpansen, beschrieben habe.
Fifi, die jetzt so friedlich über mir ruhte, gehörte zu den wenigen Überlebenden jener frühen Zeit. Sie war ein Kleinkind gewesen, als ich sie 1961 kennenlernte. Sie hatte die schreckliche Epidemie von Kinderlähmung überstanden, die 1966 durch die Populationen – von Schimpansen wie von Menschen – gefahren war. Zehn Schimpansen aus der von uns erforschten Gesellschaft waren gestorben oder verschwunden. Weitere fünf waren behindert geblieben, unter ihnen Fifis älterer Bruder Faben, der einen Arm nicht mehr benutzen konnte.
Zur Zeit jener Epidemie steckte das Gombe Stream Research Center noch in den Kinderschuhen. Zwei erste Assistenten halfen, Kenntnisse über das Verhalten von Schimpansen zu sammeln und zu tippen. Rund fünfundzwanzig Schimpansen besuchten das Lager inzwischen regelmäßig, und so hatte es mehr als genug Arbeit für uns alle gegeben. Nachdem wir die Schimpansen den ganzen Tag beobachtet hatten, mussten wir unsere Protokolle oft bis spät in die Nacht von den Tonbandgeräten übertragen.
Meine Mutter Vanne war in den sechziger Jahren noch zweimal zu Besuch nach Gombe gekommen. Das eine Mal, als die National Geographic Society Hugo van Lawick schickte, um unsere Forschungsarbeit zu filmen – die sie inzwischen finanzierte. Louis Leakey hatte Fahrgeld und Spesen auch für Vanne organisiert, mit dem beharrlichen Hinweis, dass es nicht richtig wäre, mich im Busch mit einem jungen Mann alleinzulassen. Wie anders die moralischen Maßstäbe vor einem Vierteljahrhundert noch waren! Hugo und ich heirateten trotzdem, und Vannes dritter Besuch 1967 fand statt, weil sie mir ein paar Monate bei der Aufgabe beistehen wollte, meinen Sohn Grub (sein richtiger Name lautet Hugo Eric Louis) im Busch aufzuziehen.
Ich bemerkte eine leichte Bewegung in Fifis Nest und sah, dass sie sich umgedreht hatte und auf mich heruntersah. Woran dachte sie? Wie viel wusste sie noch von der Vergangenheit? Dachte sie je an ihre alte Mutter Flo? Hatte sie das verbissene Ringen ihres Bruders Figan beobachtet, als er ranghöchster oder Alpha-Mann werden wollte? War sie sich in jenen bösen Jahren bewusst gewesen, dass die Männchen ihrer Gruppe, oft unter Figans Leitung, eine Art primitiven Krieg gegen ihre Nachbarn führten, indem sie ein Tier nach dem anderen mit erschreckender Brutalität überfielen? Hatte sie etwas von den grauenvollen kannibalistischen Angriffen von Passion und ihrer erwachsenen Tochter Pom auf die Neugeborenen der eigenen Gesellschaft gewusst?
Abermals wurde meine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückgerissen, diesmal durch ein Schimpansenweinen. Ich lächelte. Das musste Fanni sein. Sie hatte das unternehmungslustige Alter erreicht, wo ein Weibchen sich immer mal von seiner Mutter trennt, um mit anderen Erwachsenen zu wandern. Ganz plötzlich sehnt es sich dann schrecklich nach Mami, verlässt die Gruppe und macht sich auf die Suche nach ihr. Das Weinen wurde lauter, und bald kam Fanni in Sicht. Fifi schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, aber Flossi sprang aus dem Schlafnest, kletterte hinab und umarmte ihre ältere Schwester. Und Fanni ließ, als sie Fifi gefunden hatte, wo sie sie verlassen hatte, von ihrem kindlichen Weinen ab.
Offenbar hatte Fifi auf Fanni gewartet – sie kam jetzt auch herunter und brach auf, und die Kinder folgten ihr, wobei sie miteinander spielten. Die Familie zog schnell den steilen Hang hinab in Richtung Süden. Ich kletterte hinter ihnen her, aber jeder Zweig schien sich in meinen Haaren oder meinem Hemd zu verfangen. Mühsam schob und wand ich mich durch ein grässliches Gewirr von Unterholz. Der Abstand zwischen uns nahm zu. Ranken legten sich um die Schnallen meiner Schuhe und den Riemen meiner Kamera, Dornen verhakten sich im Fleisch meiner Arme, meine Augen brannten, bis mir die Tränen in die Augen traten, als ich mein Haar von all den Hindernissen befreite, die ringsum nach mir griffen. Nach zehn Minuten war ich in Schweiß gebadet, mein Hemd zerrissen, meine Knie waren vom Kriechen über den steinigen Boden aufgescheuert – und die Schimpansen verschwunden. Ich verhielt mich ganz still und versuchte, über das Hämmern meines Herzens hinweg zu lauschen, wobei ich durch das Dickicht um mich herum in alle Richtungen spähte. Aber ich hörte nichts.
Die folgenden fünfunddreißig Minuten wanderte ich am felsigen Bett des Kasakelaflusses entlang; ab und zu hielt ich an, um zu lauschen und das Geäst über mir abzusuchen. Ich kam unter einem Trupp von Roten Kolobusaffen vorbei, die durch die Wipfel der Bäume turnten und ihre seltsamen hohen Zwitscherlaute ausstießen. Ich traf ein paar Paviane vom Trupp D, darunter Old Fred mit seinem einen blinden Auge und dem zweifachen Knick im Schwanz. Und dann, als ich wirklich überlegte, wohin ich mich jetzt wenden sollte, hörte ich das Kreischen eines jungen Schimpansen weiter oben im Tal. Zehn Minuten später hatte ich Gremlin mit dem kleinen Galahad und dem Jugendlichen Gimble gefunden, dazu Gigi und Gombes zwei jüngste Waisenkinder Mel und Darbee, die beide ihre Mütter verloren hatten, als sie gerade erst gut drei Jahre alt waren. Gigi «betantete» die zwei, wie sie es in der letzten Zeit mehrfach gemacht hat. Sie saßen alle fressend in einem großen Baum über dem fast ausgetrockneten Fluss, und ich legte mich auf die Steine, um ihnen zuzusehen. Während meiner Kletterei hinter Fifi her war die Sonne verschwunden, und als ich jetzt durch das Blätterdach nach oben schaute, war der Himmel grau und regenschwer. Mit zunehmender Finsternis kam die Stille, die Lautlosigkeit, die heftigem Regen so oft vorausgeht. Nur das Grollen des Donners, der immer näher kam, unterbrach die Stille; der Donner und die raschelnden Bewegungen der Schimpansen.
Als es anfing zu regnen, kletterte Galahad, der neben seiner Mutter geschaukelt und mit seinen Zehen gespielt hatte, schnell in den Schutz ihrer Arme. Und die beiden Waisenkinder eilten zu Gigi, um sich an sie zu kuscheln. Aber Gimble begann in den Wipfeln herumzuturnen, er schwang sich lebhaft von einem Ast zum nächsten, kletterte höher und sprang dann hinab, um sich an einem Zweig weiter unten zu fangen. Je dichter der Regen fiel und je mehr Tropfen ihren Weg durch das dichte Blätterdach fanden, desto wilder und gewagter wurden seine Sprünge; er schüttelte die Zweige immer temperamentvoller. Dieses Verhalten würde, wenn er ein bisschen älter war, zu der prächtigen Regenschau oder dem Regentanz des erwachsenen Männchens werden.
Von einem blendenden Blitz und einem Donnerschlag angekündigt, der die Berge erschütterte und fort und fort rollte und von Gipfel zu Gipfel sprang, ließen die grauschwarzen Wolken plötzlich, kurz nach drei Uhr, solche Regenfluten los, dass Himmel und Erde wie von dem strömenden Wasser miteinander verbunden schienen. Jetzt hörte Gimble auf zu spielen und hockte, wie die anderen, still an den Stamm des Baumes geschmiegt da. Ich drückte mich an eine Palme und suchte so gut wie möglich Schutz unter ihren überhängenden Wedeln. Während der Regen endlos niederströmte, wurde ich kälter und kälter. Ganz nach innen gekehrt, verlor ich bald jedes Zeitgefühl. Ich registrierte nichts mehr – es gab nichts zu vermerken, es gab nur das schweigende, geduldige, klaglose Durchhalten.
Es muss eine Stunde gedauert haben, ehe der Regen nachzulassen begann, als das Zentrum des Unwetters nach Süden abzog. Um 16.30 Uhr kletterten die Schimpansen herunter und brachen auf, durch die patschnasse, tropfende Vegetation. Ich folgte ihnen, aber meine Bewegungen waren unbeholfen, meine nassen Sachen behinderten mich. Wir wanderten ein Stück am Fluss entlang, dann auf der anderen Seite des Tals bergauf in Richtung Süden. Bald kamen wir auf einen grasbewachsenen Kamm mit Blick auf den See. Eine blasse, wässrige Sonne war erschienen, und ihr Licht fing sich in den Regentropfen, sodass die Welt wie mit Diamanten besetzt aussah, die auf jedem Blatt, jedem Grashalm blitzten. Ich bückte mich tief, um ein juwelengeschmücktes Spinnennetz nicht zu zerstören, das in gefährdeter Vollkommenheit über meinen Weg gespannt war.
Die Schimpansen stiegen in einen niedrigen Baum, um frische junge Blätter zu fressen. Ich ging an eine Stelle, an der ich stehen und sie beobachten konnte, während sie die letzte Mahlzeit des Tages genossen. Die Szene war von atemberaubender Schönheit. Die Blätter glänzten in hellem, intensivem Grün im weichen Sonnenlicht; der nasse Stamm und die Äste waren wie aus Ebenholz; im schwarzen Fell der Schimpansen flammten kupferbraune Blitze auf. Und hinter diesem farbenfrohen Bild der dramatische Hintergrund des blauschwarzen Himmels, in dem es noch immer wetterleuchtete und blitzte und ferner Donner rollte.
Es gibt viele Fenster, durch die wir die Welt betrachten und nach Sinn und Bedeutung suchen können. Da gibt es die von der Wissenschaft geöffneten Fenster, deren Scheiben blank poliert wurden von einer Folge brillanter, scharfsinniger Geister. Durch sie sehen wir immer weiter, immer deutlicher in Gebiete, die einst außerhalb menschlichen Wissens lagen. Durch solch ein Fenster schauend, habe ich im Laufe der Jahre viel über das Verhalten der Schimpansen und ihren Platz in der Natur der Dinge gelernt. Und das wiederum hat uns geholfen, Verständnis für gewisse Aspekte im menschlichen Verhalten sowie für unseren Platz in der Natur zu entwickeln.
Aber es gibt noch andere Fenster, Fenster, die von der Logik der Philosophen aufgestoßen wurden, Fenster, durch die Mystiker ihre Vision von Wahrheit suchen, Fenster, aus denen die Führer der großen Religionen gespäht haben, als sie nach Sinn und Zweck nicht nur in der staunenswerten Schönheit der Welt, sondern auch in ihrer Dunkelheit und Hässlichkeit gesucht haben. Die meisten von uns spähen, wenn sie über das Mysterium unserer Existenz grübeln, durch nur eins dieser Fenster auf die Welt. Und selbst das ist oft beschlagen vom Atem der Begrenztheit unserer menschlichen Natur. Wir putzen uns ein kleines Guckloch und starren hindurch. Kein Wunder, dass wir verwirrt sind von dem winzigen Ausschnitt des Ganzen, den wir sehen. Es ist, als suchten wir mit einem Blick durch eine gerollte Zeitung, einen vollständigen Überblick über die Wüste oder den Ozean zu gewinnen.
Während ich still in dem blassen Sonnenschein stand, ein Teil des vom Regen gewaschenen Waldes und der in ihm lebenden Geschöpfe, sah ich für einen Augenblick durch ein anderes Fenster, mit einer anderen Vision. Es ist ein Erlebnis, das manchen von uns, die wir viel Zeit allein in der Natur verbringen, ganz unverhofft begegnet. Die Luft war erfüllt von den Klängen eines gefiederten Chors, dem Abendlied der Vögel. Ich hörte ganz neue Frequenzen in ihrer Musik und auch in dem Gesang der Insektenstimmen, so hohe und süße Töne, dass ich voller Verwunderung war. Ich wurde mir sehr deutlich der Form, der Farbe einzelner Blätter bewusst, der verschiedenen Muster von Adern, die jedes von ihnen einzigartig machen. Die Gerüche waren deutlich und leicht zu identifizieren – gärende überreife Früchte, von Wasser getränkte Erde, kalte, nasse Rinde; der feuchte Fellgeruch von den Schimpansen und, ja, von mir selbst auch. Und der aromatische Duft von zerquetschten jungen Blättern war beinahe überwältigend. Ich spürte die Gegenwart eines Buschbocks, dann sah ich ihn, gegen den Wind, still grasend, seine spiraligen Hörner schwarz vom Regen. Und ich war erfüllt von dem Frieden, «welcher höher ist denn alle Vernunft».
Dann drangen ferne Panthoots von einer Gruppe Schimpansen weiter nördlich herüber. Die Trance zerbrach. Gigi und Gremlin und Gimble antworteten mit eigenen Panthoots. Mel, Darbee und der kleine Galahad stimmten in den Chor ein.
Ich blieb bei den Schimpansen, bis sie ihr Nachtlager errichteten – früh, nach dem Regen. Und als sie zur Ruhe gekommen waren, Galahad an seine Mutter gekuschelt, Gimble etwas höher, Mel und Darbee je in einem eigenen kleinen Nest nahe bei dem großen von Tante Gigi, verließ ich sie und wanderte über den Bergpfad zum Seeufer. Ich kam wieder an den Pavianen des Trupps D vorbei. Sie hatten sich um ihre Schlafbäume versammelt, rauften, spielten und groomten einander im weichen Abendlicht. Meine Schritte knirschten auf dem Kies am Strand, und die Sonne stand als riesiger roter Ball über dem See. Als sie die Wolken zu einem neuen prächtigen Schauspiel entzündete, färbte sich das Wasser golden, gesprenkelt mit leuchtend violetten und roten Kräuselwellen unter dem flammenden Himmel.
Später, als ich über dem kleinen Holzfeuer vor dem Haus kauerte, an dem ich Bohnen und Tomaten und ein Ei gebraten und dann gegessen hatte, war ich noch immer in das Wunder der Erlebnisse dieses Nachmittags versunken. Mir war, als hätte ich einen Blick auf die Welt durch ein Fenster getan, wie es vielleicht die Schimpansen kennen. Träumend starrte ich in die flackernden Flammen. Wenn wir nur einmal, ganz kurz nur, die Welt mit den Augen eines Schimpansen sehen könnten, was würden wir da alles lernen!
Noch eine letzte Tasse Kaffee, dann wollte ich hineingehen, die Sturmlaterne anzünden und die Notizen dieses Tages, dieses wunderbaren Tages übertragen. Denn da wir nun mal nicht mit dem Geist eines Schimpansen denken können, müssen wir uns mühsam voranarbeiten und peinlich genau vorgehen, wie ich es seit so vielen Jahren tue. Wir müssen weiterhin Anekdotisches sammeln und nach und nach Lebensgeschichten zusammenstellen. Wir müssen weiterhin über Jahre beobachten, protokollieren und interpretieren. Wir haben schon viel gelernt. Nach und nach, während das Wissen zunimmt, während mehr und mehr Menschen zusammenarbeiten und ihre Informationen austauschen, ziehen wir die Jalousie an dem Fenster hoch, durch das wir eines Tages noch deutlicher in die Seele der Schimpansen sehen können.
Wie oft habe ich einem Schimpansen in die Augen geblickt und mich gefragt, was hinter ihnen vorging! Flo sah ich immer in die Augen, sie war so alt, so weise. An was erinnerte sie sich aus ihrer Jugend? David Greybeard hatte die schönsten Augen von ihnen allen, groß und glänzend und weit auseinanderstehend. Sie drückten irgendwie seine ganze Persönlichkeit aus, seine heitere Selbstsicherheit, seine angeborene Würde – und von Zeit zu Zeit die eiserne Entschlossenheit, seinen Willen durchzusetzen. Lange Zeit hatte ich einem Schimpansen nicht direkt in die Augen zu sehen gewagt – ich nahm an, dass das, wie bei den meisten Primaten, als Drohung oder zumindest als schlechtes Benehmen aufgefasst werden würde. Aber nein. Wenn man freundlich und ohne Arroganz schaut, wird ein Schimpanse den Blick schon verstehen und vielleicht sogar erwidern. Und dann – diese Vorstellung habe ich jedenfalls – ist es, als wären die Augen Fenster zu seiner Seele. Allerdings ist das Glas nicht durchsichtig, deshalb kann der Schleier des Geheimnisses nie ganz gelüftet werden.
Ich werde nie meine erste Begegnung mit Lucy vergessen, einer achtjährigen, bei Menschen aufgewachsenen Schimpansin. Sie kam und setzte sich zu mir aufs Sofa und suchte, ihr Gesicht ganz nahe an meinem, in meinen Augen – wonach? Vielleicht suchte sie nach Anzeichen von Argwohn, Abneigung oder Angst, denn viele Leute dürften ein bisschen verunsichert reagiert haben, als sie zum ersten Mal einer großen Schimpansin so von Angesicht zu Angesicht gegenübertraten. Was immer Lucy in meinen Augen las, befriedigte sie offensichtlich, denn plötzlich legte sie mir einen Arm um den Hals und gab mir einen dicken, sehr schimpansigen Kuss, den weit offenen Mund über meinen gelegt. Ich war akzeptiert.
Noch lange nach dieser Begegnung war ich tief verstört. Ich war zu der Zeit schon fünfzehn Jahre in Gombe gewesen und ganz vertraut mit wild lebenden Schimpansen. Aber Lucy, die wie ein menschliches Kind aufgewachsen war, wirkte wie ein Wechselbalg; das wesentlich Schimpansenhafte an ihr war überdeckt von den verschiedenen menschlichen Verhaltensweisen, die sie im Lauf der Jahre angenommen hatte. Nicht mehr nur Schimpansin und doch Ewigkeiten entfernt vom Menschsein, von Menschen gemacht, eine andere Art von Geschöpf. Ich sah ihr staunend zu, als sie den Kühlschrank und mehrere Schränke öffnete, Flaschen und ein Glas hervorholte und sich einen Gin mit Tonic einschenkte. Sie ging mit dem Glas zum Fernseher, knipste das Gerät an, schaltete von einem Kanal auf den anderen und stellte es dann wie angewidert wieder aus. Sie holte eine reich bebilderte Zeitschrift unter dem Tisch hervor und setzte sich, immer noch das volle Glas in der Hand, in einen bequemen Sessel. Als sie die Zeitschrift durchblätterte, erkannte und benannte sie mehrmals Dinge, wobei sie die Zeichen der amerikanischen Taubstummensprache ASL (American Sign Language) benutzte. Die verstand ich natürlich nicht, aber die Gastgeberin, Jane Temerlin (die Lucys «Mutter» war), übersetzte: «Der Hund», erklärte Lucy bei dem Foto von einem kleinen weißen Pudel. Sie blätterte um. «Blau», stellte sie fest, nachdem sie auf das Bild einer Frau in einem leuchtendblauen Kleid gezeigt hatte, die für irgendein Waschpulver warb. Und schließlich, nach einigen unbestimmten Handbewegungen – vielleicht einem Brummeln in Zeichen? –: «Das Lucys, das meins», und sie schloss die Zeitschrift und legte sie in den Schoß. Jane erzählte mir, dass Lucy in dem dreimal wöchentlich stattfindenden ASL-Unterricht gerade den Gebrauch von Possessivpronomina gelernt hätte.
Das von Lucys menschlichem «Vater», Maury Temerlin, geschriebene Buch hat den Titel: Lucy, Growing Up Human (Lucy. Aufwachsen wie ein Mensch). Tatsächlich sind uns die Schimpansen ähnlicher als irgendein anderes Lebewesen. Physiologisch sind sich die beiden Arten sehr ähnlich, und genetisch, in der Struktur der DNS, unterscheiden sich Menschen und Schimpansen nur in gut einem Prozent. Darum benutzt die medizinische Forschung Schimpansen als Versuchstiere, wenn sie bei der Prüfung eines Arzneimittels oder Impfstoffs Ersatz für Menschen braucht. Schimpansen können mit so ziemlich allen bekannten ansteckenden Krankheiten der Menschen infiziert werden, einschließlich solcher wie Hepatitis B und Aids, gegen die andere nichtmenschliche Tiere (außer Gorillas, Orang-Utans und Gibbons) immun sind. Ebenso gibt es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Schimpansen in der Anatomie und in der Vernetzung von Gehirn und Nervensystem sowie – obwohl viele Wissenschaftler das nur ungern zugeben – in sozialem Verhalten, intellektuellen Fähigkeiten und Emotionen. Die Vorstellung von der evolutionären Kontinuität der physischen Struktur vom vormenschlichen Affen bis zum heutigen Menschen können die meisten Wissenschaftler längst akzeptieren. Dass für Geist und Seele das Gleiche gelten könnte, wurde im Allgemeinen als absurde Hypothese angesehen – vor allem von denjenigen, die in den Laboratorien Tiere gebrauchten und oft missbrauchten. Schließlich ist es bequem zu glauben, dass das Geschöpf, das du da benutzt, in Wirklichkeit nur ein geistloses und vor allem fühlloses «dummes» Tier ist, auch wenn es auf beunruhigend menschliche Weise reagiert.
Als ich 1960 meine Forschungen in Gombe begann, war es nicht zulässig – jedenfalls nicht unter Ethologen (Verhaltensforschern) –, über Geist und Seele bei Tieren zu sprechen. So etwas hatten nur Menschen. Es gehörte sich auch nicht, von der Persönlichkeit eines Tieres zu sprechen. Natürlich wussten alle, dass die Tiere jedes ihren eigenen einzigartigen Charakter hatten – jeder, der einmal einen Hund oder sonst ein Haustier gehabt hatte, war sich darüber im Klaren. Aber Ethologen, die noch darum kämpften, ihre Wissenschaft zu einer «echten» Wissenschaft zu machen, scheuten die schwierige Aufgabe, solche Dinge erklären zu müssen. Ein geachteter Ethologe gab zwar zu, dass es eine «Variabilität zwischen einzelnen Tieren» gäbe, schrieb aber, es sei am besten, wenn diese Tatsache «unter den Teppich gekehrt» würde. Zu der Zeit beulten sich Ethologenteppiche geradezu von all den Dingen, die darunter versteckt wurden.
Wie naiv ich war! Da ich kein naturwissenschaftliches Grundstudium hatte, machte ich mir gar nicht klar, dass Tiere keine Persönlichkeit haben oder denken oder fühlen und Kummer empfinden durften. Ich hatte keine Ahnung, dass es angemessener gewesen wäre, jedem der Schimpansen eine Nummer statt eines Namens zuzuteilen, als ich ihm (oder ihr) zum ersten Mal begegnete. Ich wusste nicht, dass es unwissenschaftlich war, ihr Verhalten mit den Ausdrücken der Motivation und Zielbewusstheit zu beschreiben. Und niemand hatte mir gesagt, dass Wörter wie Kindheit und Adoleszenz ausschließlich menschliche Phasen des Lebenszyklus waren, kulturell determiniert und nicht auf junge Schimpansen anzuwenden. Da ich das nicht ahnte, benutzte ich all diese verbotenen Termini und Begriffe ganz ungeniert bei meinem ersten Versuch, nach bestem Wissen die wunderbaren Dinge zu beschreiben, die ich in Gombe beobachtet hatte.
Ich werde nie vergessen, wie eine Gruppe von Ethologen bei einem gelehrten Kongress auf einige Bemerkungen von mir reagierten. Ich beschrieb, wie Figan als Heranwachsender gelernt hatte, im Lager zurückzubleiben, wenn die älteren Männchen aufbrachen, damit wir ihm ein paar Bananen zustecken konnten. Beim ersten Mal hatte er, als er die Früchte sah, einen lauten, begeisterten Futterschrei losgelassen. Daraufhin waren ein paar erwachsene Männchen umgekehrt, hatten Jagd auf Figan gemacht und ihm seine Bananen abgenommen. Dann kam ich zu dem wesentlichen Punkt und berichtete, wie beim nächsten Mal Figan seine Rufe tatsächlich unterdrückt hatte. Wir hörten winzige Geräusche in seiner Kehle, aber sie waren so leise, dass keiner der anderen sie hätte hören können. Andere junge Schimpansen, denen wir ohne Wissen ihrer Ältesten Obst zuzuschanzen versuchten, lernten solche Selbstbeherrschung nicht. Mit Freudenschreien griffen sie zu – und wurden gleich darauf von den umkehrenden älteren Männchen ihrer Beute beraubt. Ich hatte erwartet, dass meine Zuhörer genauso fasziniert und beeindruckt sein würden wie ich. Ich hatte einen Gedankenaustausch über die zweifellose Intelligenz dieses Schimpansen erhofft. Stattdessen: Eisiges Schweigen, und der Vorsitzende wechselte schnell das Thema. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass ich, nachdem man mich so hatte auflaufen lassen, lange Zeit wenig Lust hatte, bei irgendwelchen wissenschaftlichen Konferenzen Weiteres beizutragen. Wenn ich heute zurückschaue, vermute ich, dass damals jeder interessiert war, aber es war eben nicht statthaft, eine bloße «Anekdote» als Beweis für irgendetwas beizubringen.
In seinen Anmerkungen zu dem ersten Aufsatz, der von mir veröffentlicht werden sollte, forderte der Herausgeber, dass jedes he (er) und she (sie) durch it (es) und jedes who (wer) durch which (was) ersetzt werden müsste. Ergrimmt strich ich all die its und whichs durch und kritzelte die originalen Pronomina wieder hinein. Da ich keine Nische in der Welt der Wissenschaft für mich konstruieren, sondern nur weiterhin bei den Schimpansen leben und etwas über sie erfahren wollte, machte mir die mögliche Reaktion des Herausgebers dieser gelehrten Zeitschrift keine Sorgen. Tatsächlich gewann ich diese Runde: Als der Aufsatz schließlich erschien, verlieh er den Schimpansen die Würde des ihnen zukommenden Geschlechts und stufte sie von bloßen «Dingen» herauf zu wirklichen Lebewesen.
Trotz meiner etwas widerspenstigen Haltung wollte ich jedoch etwas lernen und war durchaus empfänglich für das unglaubliche Glück einer Zulassung für Cambridge. Ich wollte meinen Doktor machen, und wäre es auch nur Louis Leakey und den anderen Menschen zuliebe, die Briefe zur Unterstützung meiner Zulassung geschrieben hatten. Und was für ein Glück auch, dass ich als Fachbereichsleiter Robert Hinde hatte. Nicht nur, weil ich von seinem brillanten Geist und logischen Denken profitierte, sondern auch, weil ich wohl kaum einen für meine speziellen Bedürfnisse und meine persönliche Eigenart geeigneteren Lehrer hätte finden können. Nach und nach gelang es ihm, mich mit wenigstens ein paar von den Zierraten eines Wissenschaftlers auszustatten. Und obwohl ich an den meisten meiner Überzeugungen weiterhin festhielt – dass Tiere Persönlichkeiten haben, dass sie glücklich oder traurig oder ängstlich sein und Kummer fühlen können, dass sie auf ein vorbedachtes Ziel hin handeln und größeren Erfolg erzielen können, wenn sie hoch motiviert sind –, wurde mir doch bald deutlich, dass diese Überzeugungen tatsächlich schwer zu beweisen waren. Es war besser, vorsichtig vorzugehen – jedenfalls so lange, bis ich einiges Vertrauen und Glaubwürdigkeit gewonnen hatte. Und Robert gab mir wunderbare Ratschläge, wie ich meine rebellischeren Vorstellungen mit wissenschaftlichem Faden verpacken sollte. «Sie können nicht wissen, dass Fifi eifersüchtig war», mahnte er einmal. Wir diskutierten eine Weile. Dann: «Sagen Sie doch einfach, wenn Fifi ein menschliches Kind wäre, würden wir sagen, sie war eifersüchtig!» Das tat ich.
Emotionen zu erforschen, ist nicht leicht, selbst wenn es um Menschen geht. Ich weiß, wie ich mich fühle, wenn ich traurig oder glücklich oder ärgerlich bin, und wenn mir ein Freund erzählt, er sei traurig oder glücklich oder ärgerlich, nehme ich an, dass seine Gefühle den meinen ähneln. Aber wissen kann ich es natürlich nicht. Wenn wir uns mit den Gefühlen anderer Geschöpfe auseinanderzusetzen versuchen, wird die Aufgabe offensichtlich immer schwieriger, je unähnlicher sie uns sind. Wenn wir nichtmenschlichen Tieren menschliche Emotionen zuschreiben, wirft man uns Anthropomorphismus vor – die Sünde in der Verhaltensforschung. Aber ist das so schlimm? Wenn wir die Wirkung von Arzneimitteln an Schimpansen testen, weil sie uns biologisch so ähnlich sind, wenn wir davon ausgehen, dass es eine überwältigende Ähnlichkeit im Gehirn und Nervensystem von Schimpansen und Menschen gibt, ist es dann nicht logisch anzunehmen, dass es zumindest in den fundamentalen Gefühlen, Emotionen, Launen der beiden Arten Ähnlichkeiten gibt?
Tatsächlich zögern all jene, die lange eng mit Schimpansen zusammengearbeitet haben, nicht, zu versichern, dass Schimpansen ähnliche Emotionen durchmachen wie die, die wir als Vergnügen, Freude, Trauer, Ärger, Langeweile und so weiter kennen. Manchmal ist der Gemütszustand von Schimpansen unserem so deutlich ähnlich, dass selbst ein unerfahrener Beobachter versteht, was da vor sich geht. Ein Kind, das sich schreiend zu Boden wirft und mit verzerrtem Gesicht nach allem schlägt, was in seiner Reichweite ist, und den Kopf auf den Boden haut, hat offensichtlich einen Wutanfall. Ein anderes Jungtier, das um seine Mutter herumhüpft und Purzelbäume schlägt und Pirouetten tanzt und zwischendurch immer wieder sich in ihren Schoß stürzt und sie tätschelt oder ihre Hand zu sich zieht, damit sie es kitzelt, ist offenbar voller Lebensfreude. Wenige Beobachter würden sein Verhalten nicht ohne Weiteres einem fröhlichen, sorgenfreien Zustand des Wohlgefühls zuschreiben. Und man kann Schimpansenkinder nicht lange beobachten, ohne sich darüber klarzuwerden, dass sie das gleiche emotionale Bedürfnis nach Liebe und Sicherheit haben wie Menschenkinder. Ein erwachsener Schimpanse, der sich nach einem guten Mahl im Schatten zurücklehnt und wohlwollend eine Hand ausstreckt, um mit einem Kleinkind zu spielen oder ein erwachsenes Weibchen träge zu groomen, ist offensichtlich guter Laune. Wenn er aber mit gesträubtem Fell dahockt und die Nachrangigen durchdringend anstarrt und mit gereizten Gesten bedroht, sobald sie ihm zu nahe kommen, ist er offenbar schlecht gelaunt und verdrießlich. Wir urteilen so, weil die Ähnlichkeit so vieler Verhaltensweisen der Schimpansen mit unseren es uns gestattet, uns einzufühlen.
Es ist schwer, Emotionen nachzufühlen, die wir nicht selbst kennen. Ich kann in gewisser Weise das Vergnügen einer Schimpansin beim Geschlechtsakt nachfühlen. Die Gefühle ihres männlichen Partners liegen außerhalb meines Wissens – wie die der menschlichen Männer in dem gleichen Zusammenhang. Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, Interaktionen von Schimpansenmüttern und ihren Kindern zu beobachten. Aber erst als ich selbst ein kleines Kind hatte, begann ich, die fundamentalen, mächtigen Instinkte der Mutterliebe zu verstehen. Wenn jemand versehentlich etwas tat, was Grub erschreckte oder sein Wohlbefinden irgendwie bedrohte, fühlte ich eine Aufwallung von ganz irrationalem Ärger. Wie viel besser verstand ich da die Gefühle der Schimpansenmutter, die wütend die Arme schwenkt und drohend ein anderes Tier anblafft, das ihrem kleinen Kind zu nahe kommt, oder einen Spielkameraden, der ihrem Kind versehentlich weh tut. Und erst als ich den betäubenden Schmerz kennengelernt hatte, der mich beim Tod meines zweiten Mannes packte, konnte ich andeutungsweise die Verzweiflung und das Verlustgefühl erfassen, das junge Schimpansen dahinwelken und sterben lässt, wenn sie ihre Mutter verloren haben.
Einfühlung und Intuition können von ungeheurem Wert sein, wenn wir bestimmte komplexe soziale Interaktionen zu verstehen versuchen, vorausgesetzt, das Verhalten wird präzise und objektiv registriert, so wie es sich abspielt. Zum Glück habe ich selten Schwierigkeiten gehabt, Fakten systematisch aufzuzeichnen, selbst in Zeiten mächtiger emotionaler Verwicklungen. Und intuitiv zu «wissen», was ein Schimpanse empfindet – etwa nach einem Angriff –, kann einem helfen zu verstehen, was als nächstes geschieht. Wir sollten uns nicht scheuen, wenigstens zu versuchen, unsere nahe evolutionäre Verwandtschaft mit den Schimpansen bei der Interpretation komplexer Verhaltensweisen zu nutzen.
Heute ist es wie zu Darwins Zeit wieder «in», von Geist und Seele der Tiere zu sprechen und sie zu erforschen. Die Wende vollzog sich allmählich und war, wenigstens teilweise, auf Informationen zurückzuführen, die bei der sorgfältigen Feldforschung über Tiergesellschaften gesammelt wurde. Da diese Beobachtungen weithin bekannt wurden, konnte man die Komplexität des sozialen Verhaltens, die bei einer Spezies nach der anderen nachgewiesen wurde, nicht mehr beiseiteschieben. Das unordentliche Durcheinander unter Ethologenteppichen wurde ans Licht geholt und Stück für Stück untersucht. Allmählich erkannte man, dass dürftige Erklärungen für offenbar intelligentes Verhalten oft irrig waren. Das führte zu einer Folge von Experimenten, die, zusammengenommen, klar bewiesen, dass viele intellektuelle Fähigkeiten, von denen man bis dahin angenommen hatte, sie seien ausschließlich den Menschen eigen, tatsächlich auch bei anderen, nichtmenschlichen Geschöpfen zu finden waren, wenn auch in weniger hoch entwickelter Form. Vor allem natürlich bei den nichtmenschlichen Primaten und ganz besonders bei Schimpansen.
Als ich anfing, mich über die Entwicklung des Menschen zu informieren, lernte ich, dass eines der Kennzeichen unserer Spezies sei, dass wir, und nur wir, in der Lage seien, Werkzeug herzustellen. Der Mensch als WerkzeugmacherIntelligenzprüfungen an Menschenaffen