Illustration

Andreas Neeser

Wie wir gehen

Roman

Und ich überlege noch immer, wie ich mich nach unserer ersten Umarmung fühle. Allein wie sich das anhört: unsere Umarmung. Vielleicht war es das gar nicht, vielleicht hast du es nur geschehen lassen.

Während deine Enkelin die Schokoladenmousse auf den Tellern arrangierte, gingst du um den Esstisch herum, den Blick auf die leeren Teller, Gläser und Schalen gerichtet. Dachtest du, was ich dachte? Wenn von einem nicht mehr bleibt als ein Rezept für Schokoladenmousse. Das denke ich immer, wenn Noëlle ihre Oma-Mousse macht. Oma, Mama, Verena – sie hat gefehlt, wie sie die Jahre zuvor gefehlt hat. Wenig ist das nicht, im Gegenteil, wenn man fehlt in den kleinen Dingen.

Dann bist du bei der Balkontür stehen geblieben.

Wie schnell die heute bauen, hast du gesagt. Ein paar Wochen noch und der Kasten steht. Direkt vor eurer Nase.

Ich bin aufgestanden und habe mich neben dich gestellt.

Du solltest endlich Vorhänge kaufen, hast du gesagt.

Das da drüben ist die Schlafzimmerseite, Vater. Wenn uns jemand im Pyjama beim Essen zusehen will – gerne.

Vor die Fenster gehören Vorhänge. Beim Balkon sowieso. Das hat dir auch Verena gesagt.

Du hast den Kopf geschüttelt und hörbar durch den Mund ausgeatmet, wie du es immer tust, wenn du genervt bist oder beleidigt.

Minergie, habe ich gesagt.

Großartig. Ein Klotz vor dem Kopf, aber immerhin Minergie.

Das spart Heizkosten. Und schont die Umwelt.

Wers glaubt. – Reine Geldmacherei ist das.

Und das Lamm? Wars wieder zu wenig durchgebraten?

Also das Gratin –

Immerhin, sagte ich.

Wie wir eben miteinander reden.

Aber dann habe ich noch etwas gesagt.

Und weißt du was, Geburtstagskind? Du kannst stolz sein, habe ich gesagt. Ehefrau, Tochter, Enkelkind. Ein eigenes Haus und ein langes Berufsleben. Ich finde, junger Mann, du hast einiges richtig gemacht in deinem Leben. Und das mit den Tierchen – das hast du jetzt auch im Griff.

Dann habe ich dich umarmt. Zum ersten Mal. An deinem dreiundachtzigsten Geburtstag, Vater.

Und jetzt weiß ich auch nicht weiter.

„Die Rechnung bitte“, sagte Mona und legte das Diktiergerät auf den Tisch. Sie trank den letzten Schluck Cappuccino, hielt nach Noëlle Ausschau, die eben noch auf der Schaukel gesessen und mit ihrem Smart-phone hantiert hatte.

Die zugige Gartenterrasse war spärlich besetzt, im Lauf des Tages hatte sich eine schmierige, bleischwarze Decke über den Himmel gezogen. Fernsicht gab es nur auf dem Prospekt der Gaststätte. Weit unten, in der Talsenke, war die Stadt zu erahnen, lebloses Betongrau: der mittelalterliche Kern, die Agglomerationssiedlung am Fluss, etwas weiter gegen Osten die Müllverbrennungsanlage, im Süden der mächtige Bettenturm des Krankenhauses.

In einem der Nebengebäude war Monas Vater vor sechs Jahren operiert worden; eine Routineuntersuchung hatte einen stark erhöhten PSA-Wert an den Tag gebracht. Die umgehend durchgeführte Biopsie der Prostata bestätigte die Befürchtungen, machte ihren Vater von einem Moment auf den andern zum Krebspatienten. Um die Hoffnung am Leben zu halten, wurden ein paar Wochen später Drüse und Samenbläschen komplett entfernt.

Damals hatte Mona sich das Diktiergerät gekauft. Kaum war ihr Vater wieder zu Hause, brachte sie es ihm vorbei. „Erzähl“, sagte sie. „Erzähl mir deine Kindheit, deine Jugend. Du bist mein Vater, und ich weiß so wenig über dich, am wenigsten von früher. Stichwörter, die ich irgendwann aufgeschnappt habe, mehr nicht.“ – Der Vater hob abwehrend die Hände. „Ach was. Kommt nicht in Frage. – Das Gute am Leben ist ja, dass es jeden Tag ein bisschen mehr vorbei ist. Nicht, dass du mich falsch verstehst: Ich habe nicht vor, schon jetzt abzutreten. So schnell bringt mich dieser Krebs nicht um.“

Über Wochen sprach Mona ihren Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Jugenderzählung an, machte ihm klar, dass es ihr bloß um die Fakten gehe, darum, von seiner Kindheit, die sie nur aus Andeutungen und Nebensätzen kenne, ein konkretes Bild zu bekommen. Immerhin sei er ihr Vater und sie würde gerne wissen, wie er das geworden sei.

„Verstehst du“, sagte Mona, „wir sind ja nicht, wir werden, jeden Tag ein bisschen mehr. So ist es doch. Ohne Vergangenheit gäbe es uns nicht. Klar, die Krankheit, sie verändert die Gegenwart, auch meine. Und die Zukunft. Gerade deshalb ist die Vergangenheit wichtig. Wertfrei. Als Wegstrecke von hinter dem Mond bis hier, als Abfolge von Momenten und Ereignissen. Keine Psychologie, Vater, bloß nicht. Ich will die Geschichte.“

„Die ist schnell erzählt“, sagte er. „Viel ist da nicht hängen geblieben.“

„Du tust es?“

„Wenn es sein muss.“

„Es muss sein“, sagte sie.

Monas Vater ließ sich Zeit mit seiner Geschichte. Dann aber brachte er ihr das Diktiergerät zurück. Ohne sichtbare Regung drückte er es ihr in die Hand: „Siebenundvierzig Minuten für vierundzwanzig Jahre“, sagte er, „mehr ist mir nicht eingefallen. Hab ich dir ja gesagt. Viel Gestotter, viele Pausen, man muss auch mal nachdenken beim Reden. So bleibt am Ende wenig von einem Leben. Sehr wenig.“

Er hatte den Kopf gehoben und über die Tochter hinweg in seine eigene Ferne geschaut.

Mona bezahlte, ließ das Rückgeld ins Portemonnaie des Kellners fallen. Sie sah sich erneut nach Noëlle um, ihr schweifender Blick blieb hängen am Bettentrakt des Krankenhauses. Er stand da wie ein grauer Legostein, den jemand in eine Spielzeuglandschaft gestellt und dann vergessen hatte.

Sie fuhr über die silberne Oberfläche des Diktiergeräts. Seit dem Tag, als der Vater es ihr wieder in die Hand gedrückt hatte, war es ihr ständiger Begleiter. Sie steckte es in die Handtasche, wenn sie aus dem Haus ging, und nachts lag es auf dem Nachttisch. Wann immer sie wollte, konnte sie auf Wiedergabe drücken, das gespeicherte Leben des Vaters abrufen, zum Eigenen machen, was ohnehin zu ihr gehörte.

Über all die Jahre hatte es dafür keine Notwendigkeit gegeben. Sie hatte die Geschichte ihres Vaters mit sich getragen wie ein Vermächtnis. Das hatte genügt. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich das Band auch wirklich angehört. Aber sie mochte die Vorstellung, dass in diesem kleinen Gerät nicht nur Vaters Erzählung abgelegt war, sondern dass es da auch unendlich viel Platz gab für das Gespräch mit ihm. Irgendwann, dessen war sie sich sicher, würde sie damit anfangen. Alles, was ihr zu diesem Leben einfiel, auf das virtuelle Band sprechen. Jeder so gebannte Gedanke, jede Mitteilung an den Vater wäre ein digitales Gräblein, jede Aufnahmesequenz ein virtueller Friedhof, von ihr selbst anzulegen und nach Belieben zu erweitern. Ein Ort, von dem ihr Vater nie erfahren würde, und einer, den sie zu seinen Lebzeiten nicht begehen würde. So hatte sie sich das gedacht, all die Jahre.

Und dann war die Zeit für den Anfang gekommen, an seinem dreiundachtzigsten Geburtstag. Sie hatte dem Vater noch etwas Schokoladenmousse mitgegeben, das Geschirr gespült und sich dann allein an den Esstisch gesetzt. Kurz vor Mitternacht drückte sie die Wiedergabetaste. Siebenundvierzig Minuten Kindheit und Jugendzeit ihres Vaters Johannes. Danach holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank, legte das silberne Kästchen vor sich auf die Tischplatte.

„Lieber Vater“, sagte sie probehalber.

Dann hatte sie Aufnahme gedrückt.

Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte sich Monas Vater erstaunlich schnell von der schweren Operation erholt. Er gewöhnte sich an die Einlagen in der Unterhose, trainierte verbissen die Stellvertretermuskulatur, um „das Leck da unten“, wie er sagte, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie bewunderte ihn für die Kraft, mit der er kämpfte für seine Würde als Mann, für seine Selbstachtung als Mensch.

Dann stieg das prostataspezifische Antigen erneut. Die „Tierchen“, wie sie die Tumorzellen halb im Scherz, halb aus Verzweiflung nannte, waren wieder da, rotteten sich in ihrem Vater zusammen, um zu Ende zu bringen, was sie vor fünf Jahren angefangen hatten. Und erneut legte ihnen die Medizin das Handwerk. Dreißig Bestrahlungseinheiten und mehrere Hormonspritzen später waren sie definitiv eliminiert oder ließen ihn wenigstens unbehelligt. Seit Monaten waren seine Werte unauffällig, der PSA-Wert praktisch bei null.

So hatte Monas Vater seinen dreiundachtzigsten Geburtstag gefeiert, müde und abgekämpft, gezeichnet von der zugleich lebenserhaltenden und zerstörerischen Tortur. So war er nach dem Essen bei der Balkontür gestanden, ein sehr alter Mann.

„Mama – die Wuschels!“, rief Noëlle.

Mona verstaute das Diktiergerät in der Handtasche, ging der Stimme ihrer Tochter nach, die beim Außenstall des angrenzenden Bauernhofs auf ihre Lieblingstiere gewartet hatte.

Bei ihrem ersten Besuch in der hoch über der Stadt gelegenen Gaststätte, es war ein Ausflug mit Oma und Opa gewesen, hatte Noëlle die schottischen Hochlandrinder wegen ihres zotteligen Stirnhaars „Wuschels“ genannt und sie war dabei geblieben, obwohl die Tiere von damals längst geschlachtet waren.

Als Mona beim Stall ankam, war Noëlle bereits dabei, die zutrauliche, rotbraune Alte zu füttern, die ihre ausladenden Hörner durch die Holzstäbe der Futterkrippe streckte und nicht genug zu bekommen schien vom frischen Gras, das Noëlle büschelweise herangetragen hatte.

„Danach müssen wir aber los“, sagte Mona. „Du hast die Hausaufgaben noch nicht gemacht. Und der Kühlschrank ist leer.“

„Hausaufgaben? – Mama, du lernst es nie.“

„Ich weiß. Und einkaufen soll ich allein.“

„Genau“, sagte Noëlle. „Weil ich ja mit Dana ins Kino gehe. Hast du sicher nicht vergessen. – Und die andern hier wollen übrigens auch“, sagte sie und wedelte so lange mit einem weiteren Grasbüschel, bis auch die beiden Kälber sich auf die Futterkrippe zu bewegten.

Mona schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde würde Noëlle zurück sein. Unter der Woche nie später als halb elf, das war die Abmachung. Mona warf einen Blick in Noëlles Zimmer, schaute ein paar Augenblicke den bunten Fischchen zu, die über den Bildschirm schwammen. Dann ging sie in die Küche, machte sich einen Tee und stellte sich an die Balkontür.

Der Rohbau, der aus der riesigen Grube gewachsen war und noch weiter wuchs, erschien im gedämpften Licht der Quartierbeleuchtung noch klotziger als bei Tag, die Aussparungen für die Fenster waren schwarze Löcher, die Monas Blick in eine kalte Leere hineinzogen. – Die erste Umarmung, und du bist dreiundachtzig, dachte sie. Eine Umarmung zwischen Lammfilet und Schokomousse. Und was bedeutete das jetzt? Ein spontaner Ausdruck von Zugehörigkeit, vielleicht. Dankbarkeit, Rührung – alles zusammen. Liebe, ja, das auch. Aber die erste Umarmung? Wohl kaum. Die erste, bestimmt, seit sie kein Kind mehr war, denn Vater war nicht leicht zu umarmen gewesen – leicht zu umarmen bist du nicht. Nicht, weil du mein Vater bist, nicht, weil ich deine Tochter bin. Sondern weil du so ein Vater bist. Aber was weiß ich schon! Was weiß ich von dir?

Johannes Elias Haller,

aufgewachsen mit drei älteren Schwestern,

bis zum Ende der Schulzeit teilzeitverdingt auf dem

Bauernhof des Onkels,

Tuberkulose,

Schlosserlehre,

Tuberkulose, halbseitige Lähmung,

Ausbildung zum Rollladenmonteur,

mit vierundzwanzig: Heirat mit Verena Müller,

ein Jahr später ein Kind: Monika,

fünfzehn Jahre später ein Nachzügler: Martin, tot zur

Welt gekommen,

Umschulung zum Busfahrer,

Arbeit bei den Städtischen Verkehrsbetrieben bis zur

Pensionierung,

sieben Jahre später: Tod der Ehefrau Verena, Hirnschlag,

Prostatakrebs mit siebenundsiebzig, operiert,

Rückfall mit zweiundachtzig, bestrahlt, geheilt,
seit gestern dreiundachtzig.

Das bist du, den ich nicht kenne. Daran ändern auch die siebenundvierzig Minuten über den jungen Johannes nichts. Denn wie man so einen Vater aushält, eine Kindheit als Verdingter, was das mit einem macht, was so ein Junge für ein Vater wird. Dass mich das kümmern muss, weil es auch mich betrifft, alles das, was wir einander sind und nicht – so richtig ist mir das erst gestern bewusst geworden.

Deshalb die Umarmung.

Deshalb die Umarmung?

Ich weiß es nicht.

Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos ließen die etagenhohe Metalltafel gegenüber aufblitzen, die das Baukonsortium zu Informations- und Werbezwecken am Gerüst befestigt hatte. Sekundenlang leuchtete die frühe Nacht, dann war der Spuk vorbei. Mona nippte an der Tasse, setzte sich an den Esstisch.

Gewiss, ich habe mir oft Gedanken gemacht über dein Leben, soviel ich eben davon wusste. Und ich habe ziemlich früh begriffen, wer für dieses Leben verantwortlich war, von Anfang an. Dass ich deinen Vater schon früh aus meinem Leben gestrichen hatte, hast du nie verstanden. Dass ich mich als Studentin weigerte, den Todkranken noch einmal zu besuchen, hat dich getroffen; richtig übelgenommen hast du es mir allerdings nicht. – Damals schon hätte ich weiterforschen sollen, mehr wissen wollen. Ich habe es nicht getan. Denn ich habe mir dich nie anders vorstellen können als so, wie ich dich vor mir gesehen habe. Nie bist du mir etwas anderes gewesen als Gegenwart. Mehr habe ich nicht gewollt. Und mehr hättest du mir auch nicht sein können. Denn da war diese Leerstelle. Seit ich aufgehört hatte, Kind zu sein, spätestens seit meinem Übertritt ans Gymnasium, gab es so etwas wie eine Nullspanne zwischen uns, und sie wuchs. Nicht, dass etwas zwischen uns gestanden wäre, im Gegenteil: Getrennt hat uns das, was trotz aller Liebe nicht da war. Ich habe das hingenommen, mich arrangiert mit dem, was da war.

Das hat mir genügt. – Falsch. Ich habe mich damit zufriedengegeben. Bis gestern.

Im Flur war die Wohnungstür zu hören. Noëlle drehte von innen den Schlüssel und schlüpfte in die Hausschuhe. Ohne ihre Mutter zu beachten, ging sie in die Küche, öffnete den Vorratsschrank.

„Es hat noch einen Teller Suppe“, sagte Mona.

„Die Schokolade hast du gegessen?“

„Und wie wars?“, sagte Mona.

„Wie immer.“

„Jungs waren auch dabei?“

„Mama!“, sagte Noëlle, huschte mit leeren Händen am Esstisch vorbei und verschwand in ihrem Zimmer.

Die Straßenbahn hatte an der letzten Haltestelle gestoppt. Ein älteres Paar stieg aus, eine sehr junge Mutter mühte sich mit Kind und Wagen. Mona erhob sich, klemmte sich die Studentenmappe unter den Arm und stieg aus.

Sie wartete, bis die Bahn wieder zurückfuhr, versuchte sich zu orientieren. Über die Jahre war die Stadt in die alte Einfamilienhaussiedlung hinausgewuchert, die damals noch ein Dorf gewesen war. Auf den ausgedehnten Grünflächen zwischen den Häuschen aus den Vierzigerjahren waren Wohnblocks gebaut worden, Kinderspielplätze, billiger Wohn- und Lebensraum. Satellitenschüsseln hingen wie kosmische Gewächse neben Balkongeranien.

Erlenweg. Die Haltestelle hieß noch, wie sie damals geheißen hatte. Erlen hingegen hatte es da draußen auch früher nicht gegeben, als die Leute vom Dorf noch mit dem Bus in die Stadt gefahren waren, über das offene Feld.

Alles, was Mona von der Haltestelle aus sah, war ihr fremd. Während sie sich aufs Geratewohl in Bewegung setzte, flackerten Erinnerungen an das Haus ihrer Großeltern auf. Die roten Fensterläden, der Kaninchenstall, der Zaun, der das Grundstück einhegte, das am verwitterten Briefkasten angebrachte Schild. Die Warnung vor dem Hunde war allerdings schon damals überflüssig gewesen, den Spaniel hatte es längst nicht mehr gegeben.

Mona überquerte die Straße, ging auf einen der Blocks zu, hinter dem sie das Haus ihrer Großeltern vermutete. Das Gewicht der alten Bilder, Sätze und Gerüche, das sie schon während der Fahrt vom Hauptbahnhof in den Sitz gedrückt hatte, verlangsamte zunehmend ihren Schritt. – Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Sieben Jahre? Acht? Und nichts vermisst. Am allerwenigstens den säuerlichen, leicht ranzigen Geruch, der aus Großvaters Kragen gestiegen war und ihr jede freiwillige Annäherung verunmöglicht hatte.

Mona schwitzte. Ein regnerischer Apriltag war angekündigt gewesen, doch schon während der letzten Vorlesung an der Uni hatten sich die Wolken verzogen, eine drückende Hitze hatte sich über den Asphalt gelegt. Sie beschloss, die Einladung der Leuchtreklame schräg gegenüber anzunehmen und sich in das angenehme Klima des orientalischen Restaurants zurückzuziehen. Für den ersten Besuch bei den Großeltern seit so langer Zeit brauchte sie einen kühlen Kopf. Zwar hatte sie sich aus freien Stücken auf das Unterfangen eingelassen, das änderte aber nichts daran, dass sie es immer mehr als Zumutung empfand.

Sie bestellte ein helles Bier, und nach ein paar Schlucken fühlte sie sich besser.

Seit drei Wochen fuhr Mona nun schon in die Stadt, besuchte täglich Vorlesungen, ging ins Kino, ins Kunstmuseum oder las an der Seepromenade französische und arabische Dichter. Sie genoss die Freiheit fern von zu Hause und sie freute sich darauf, sich mit dem Geld, das sie in den Semesterferien verdienen würde, in eine Studenten-WG einzumieten.

Noch immer hatte Mona den säuerlichen Großvatergeruch in der Nase. Sie verlangte nach einem zweiten Bier. Schluckweise bekamen ihre Gedanken die Schärfe, die sie von ihnen erwartete: Was sie hier tat, was ihr bevorstand – ein Zeichen des guten Willens, eine Geste der Dankbarkeit an die Adresse der Eltern. Trotz allem. Denn sie hatten es immer zu gut gemeint mit dem Alten. „Mona – er ist doch dein Großvater.“ „Mona – sei doch nicht so streng mit ihm.“ „Mona – er kann doch auch nicht aus seiner Haut.“ Zu gut meinten sie es noch immer, und sie würden nie damit aufhören können. Weil sie es mit allen zu gut meinten, außer mit sich selbst. Fürsorge ohne Ende. Mit Betonung auf Sorge. Viel zu viel hatte sie über die Jahre davon abbekommen. Immerhin, nie war sie dazu gezwungen worden, den Respekt vor ihnen zu verlieren. Auch deshalb hatte sie sich zu diesem letzten Besuch bei Großvater durchgerungen.

„In diesem Sinne“, sagte Mona halblaut und winkte mit der Flasche in Richtung Tresen, bevor sie sie in einem Zug leertrank.

Draußen nahm der Feierabendverkehr zu, die Sonne leuchtete das spärlich mit Billigmöbeln eingerichtete Lokal aus und warf bizarre, lange Schatten über die Tische. Die Erinnerungen, die Mona während der Fahrt eingeholt hatten, wurden deutlicher, die einzelnen Bruchstücke fügten sich nach und nach zu einem bis in die Einzelheiten präzisen Eindruck. Mona fühlte sich leicht und hell.

Sie sah sich an jenem Ostersonntag, elf war sie damals gewesen. Ein Großfamilientreffen hätte es werden sollen, wie immer an den hohen Feiertagen. Meistens kamen alle vier Kinder der Großeltern; die aus verschiedenen Landesteilen angereisten Familien brachten Kuchen und Torten und andere Süßigkeiten mit. An jenem Sonntag aber hatten sie alle wichtigere Termine gehabt.

Für einmal wimmelte es im großelterlichen Wohnzimmer nicht von Verwandten. Von der Türschwelle aus blickte die kleine Mona in eine tranige Düsterkeit. – Die schweren, blickdichten Vorhänge sind fast über die ganze Fensterbreite gezogen, Schimmer von Licht liegen wie zäher Nebel über dem Boden, der Geschirrkommode und dem Tisch, der mit einem orangebraunen Tuch überzogen ist. Großmutter sitzt auf einem der sechs Stühle, das Kreuzworträtsel ist noch längst nicht gelöst. „Sieh an, wie hübsch das Kind wieder angezogen ist. Und diese Zöpfchen“, sagt sie zur Begrüßung. „Aber das Wetter, Verena, nicht wahr. Drückt einem fast den Schädel ein.“ Schräg gegenüber sitzt der Großvater im Ohrensessel, starrt an die Wohnzimmer-decke. Als Mona zu ihm hintritt, wie es von ihr verlangt ist, wendet er den Kopf, öffnet die Lippen. Dann versinkt er noch ein wenig tiefer im Polster. Die kleine Mona bleibt einen Augenblick bei ihm stehen, die Hand zum Gruß ausgestreckt, als erwarte sie, dass es diesmal anders ist, dass sich etwas in diesem Menschen regt, der ihr Großvater ist, doch einzig die Nachrichtenbilder aus irgendeinem Krieg blitzen stroboskopisch über sein mürbes Gesicht.

Während ihre Eltern mit der Großmutter verwandtschaftliche Neuigkeiten auszutauschen beginnen, zieht sich Mona wieder auf die Türschwelle zurück, betrachtet den Großvater, dem immer wieder die Augenlider zufallen. Langsam schieben sie sich über die Augäpfel, bis eine unerwartete Kraft sie wieder für einen Moment aufreißt.

„Hallo?!“, sagte Mona. Ohne aufzuschauen, streckte sie die leere Flasche in die Luft.

Diesmal brachte der Kellner zwei Bier.

„Zimmerstunde“, sagte er. „Darf ich mittrinken?“

Er warf seine Rastalocken lässig über die Schulter, schaute Mona an wie einer, der sich seiner Sache sicher war.

„Stunde der Wahrheit“, sagte Mona, legte einen Geldschein auf den Tisch, klemmte sich die Mappe unter den Arm und eilte aus dem Lokal.

Jeder Schritt, der sie näher zu ihrem Großvater brachte, machte sie trotziger. – Und wie hatte man sich einen vorzustellen, dem die Ärzte nur noch eine Nacht gaben? Wie viel toter als damals würde Großvater sein? Wie viel weniger tot als einer, der das Sterben bereits hinter sich hatte? Das war doch alles sinnlos. Die Besichtigung eines Sterbenden; etwas anderes würde der letzte Besuch bei Großvater nicht sein. Und überhaupt: Auch wenn sie nach jenem Ostersonntag vor sieben Jahren noch einige Familientreffen hatte über sich ergehen lassen müssen – genau genommen war sie schon damals mit Großvater fertig gewesen. Für immer.

Mittlerweile hatte sich Mona in den Gassen zurechtgefunden, bog um eine weitere Ecke und erkannte das Haus der Großeltern. Die roten Fensterläden waren verwittert, glänzten matt in der Sonne. Mona blieb stehen, betrachtete aus einiger Distanz das Haus, in dem ihr Großvater gerade die letzten Atemzüge tat. In der Hauseinfahrt standen die Autos von Vaters Schwestern. – Brav angerollt, die Verwandtschaft. Fehlten nur noch die Eltern, aber die würden auch noch kommen. Gestorben wurde hier so schnell nicht wieder; zu gut war die alte Rosa noch beisammen. Abschied nehmen. Wovon denn eigentlich? Was war das, was da irgendwo hinter den Fensterläden und den Vorhängen lag? Ein elendes Häufchen Leben, das diesen Abschied nicht verdient hatte. – Deshalb, Gottlieb, bin ich die Einzige, die nicht an deinem Bett stehen wird. Und ich fahre mit gutem Gewissen wieder nach Hause. Aber denk nicht, ich verzeih dir. Du sollst alles mitnehmen, was du meinem Vater angetan hast. Alles. Du erinnerst dich natürlich nicht mehr an jenen Ostersonntag, als wir die einzigen Besucher bei euch waren. Egal. Jedenfalls wollte ich danach wissen, was du für einer seist. Alt seist du halt geworden, habest kein schönes Leben gehabt, sagte Vater. Dann habe man es eben mit dem Gemüt, aber das sei alles nicht so schlimm, mein Großvater seist du dennoch, noch immer. Vater schützte dich, und auch sich selbst. Ich ließ nicht locker, wollte mehr wissen von diesem angeblich unschönen Leben. Widerwillig gab Vater das eine oder andere preis – aus deinem Leben und aus seinem. Was ich damals erfahren habe, war nicht viel, aber ich habe es mit mir mitgeschleppt, das Unfassbare in mir verstaut, da, wo der kindliche Schmerz erträglich war. Dabei war mir immer klar, was ich über dich weiß, reicht aus, dich voller Verachtung abtreten zu lassen, wenn es soweit sein wird. Jetzt ist alles wieder da. Ich fasse es noch immer nicht. Zu einem Knecht hast du meinen Vater gemacht. Ihn für Unterkunft und Verpflegung auf dem Bauernhof deines Bruders schuften lassen. Weil du zu viel gebumst und zu wenig über das Haushaltsbudget nachgedacht hast. Ziemlich gottlos, Gottlieb. Einen Dreck hast du dich um deinen Johannes gekümmert, den Sohn, der zu viel war. Dein Fleisch und Blut. Du hast nie darüber gesprochen, auch nicht mit Vater, natürlich nicht. Dazu warst du zu feige. Der Rückzug in die Schwermut, das Abtauchen in die innere Leere war der einfachere Weg. Wie jämmerlich. – So stirb. Ich gehe jetzt. Gleichgültig, so, wie ich mir das heute Morgen vorgenommen habe, fahre ich zurück. Vollkommen gleichgültig. Leichtes Gepäck.

Mona drehte sich um, ging den Weg, den sie gekommen war.

Vor dem orientalischen Restaurant fiel ihr Jerry ein. Den Spaniel der Großeltern hatte sie immer gemocht. Ein so fröhlicher Hund, dachte Mona, und so verspielt. Sie schmunzelte, als sie die Tür aufstieß.

Zielstrebig ging sie durchs Lokal, setzte sich an den Bartresen.

„Noch eins?“, fragte der Rastamann, kniff die Augen zusammen und lächelte.

„Zwei“, sagte Mona.

Siebenundvierzig Minuten. – Du hast deinen Job getan; ich taste mich an meinen heran. Leicht ist es nicht, aber ich werde eine Sprache finden.

Das bin ich uns beiden schuldig.

Eine Umarmung zwischen Lammfilet und Schokomousse. So alt also haben wir werden müssen.

Ich spreche in dieses elektronische Kästchen, und ich werde es immer wieder tun, weil es keinen Sinn hat, miteinander reden zu wollen. Das sage ich ohne Bitterkeit. Es hat keinen Sinn, jetzt das Gespräch zu beginnen, das wir ein halbes Leben lang nicht geführt haben. Aber ich hoffe, es wird uns beiden helfen, wenn ich von mir zu dir rede, und mit mir selbst. Denn ich werde es so lange tun, bis du mir geworden bist, was du zu lange nicht warst.

Die beiden Rolltreppen spülten eine Welle von Zugreisenden in die Bahnhofshalle. Pendler zumeist, die sich in die Innenstadt verloren oder zum Busbahnhof eilten. Mona stand seit geraumer Zeit bei einem der Imbissstände und ließ die Rolltreppen nicht aus den Augen, die noch immer einzelne Reisende in die Halle förderten.

Sie presste die Lippen zusammen und hängte sich die Tasche um. Der Mann, auf den sie gewartet hatte, sah sie nun ebenfalls, lachte ein offenes und zugleich verlegenes Lachen, als er auf sie zukam.

„Schön, dich zu sehen, Salim“, sagte Mona. „Alles gut?“

„Alles gut“, sagte er. „Mund nicht gut“.

Mona zog die Brauen hoch, forderte ihn auf, ihr ins Bahnhofsbistro zu folgen.

„Na dann lass dich mal anschauen“, sagte sie, als sie sich gegenübersaßen. „Von außen sieht man nichts, keine Schwellung.“

„Ja, nicht gut.“

„Warst du denn nicht beim Zahnarzt? Das hatten wir doch so vereinbart.“

„Gestern Zahn ist weg. Heute viele Schmerz.“

„Das wird jetzt besser. Ich wünsch es dir, Salim. Dann wirst du den Kopf wieder freihaben.“

„Frei, gut.“

„Dann kannst du wieder denken.“

„Ich bedanke Ihnen, Mona.“