Wie Deutschland wieder glücklich wird
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
info@finanzbuchverlag.de
Originalausgabe, 1. Auflage 2020
© 2020 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Jordan Wegberg
Korrektorat: Bärbel Knill
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: Shutterstock/Lightstring
Satz: Bernadette Grohmann, Röser MEDIA, Karlsruhe
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-308-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-568-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-569-9
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.
Kapitel 1
Was ist eigentlich unser Problem? – Deutschland geht es gut, und die Gesellschaft ist unzufrieden
Kapitel 2
Wie gut geht es uns wirklich? – Haben wir ein Wachstums- oder ein Verteilungsproblem?
Aus dem Tal der Tränen zu einer der längsten Aufschwungphasen der bundesdeutschen Geschichte
War die Entwicklung wirklich so positiv?
Ist die Einkommensverteilung der Schlüssel?
Hat unser Steuersystem ein Gerechtigkeitsproblem?
Ist es etwa das Vermögen, nicht das Einkommen, Dummkopf?
Kapitel 3
Was hat uns in den letzten zehn Jahren beflügelt?
Wie Europa und die Welt uns geholfen haben
Wo uns Europa und die Welt gebremst haben
Was wir selbst in der Hand haben
Wir hatten viel Glück und hätten mehr daraus machen müssen
Kapitel 4
Sind wir gut auf die Zukunft vorbereitet?
Deutschland altert – kann man da nichts machen?
In der Produktivitätsfalle
Bilden wir die Jungen – und die Alten – richtig aus?
Wie gut hat der Finanzminister uns auf die Zukunft vorbereitet?
Den großen Herausforderungen haben wir uns noch nicht gestellt
Kapitel 5
Auf wen sollte die Politik hören?
Warum braucht die Politik eigentlich Beratung?
Die Politik bestimmt die Ziele
Seien Sie misstrauisch bei politischen Forderungen von Wissenschaftlern und Beratern
Böse Lobbyisten?
Wie Ereignisse selbst zu Beratern werden können
Kapitel 6
Was man nicht tun sollte: Beispiele für Politiken, die ihr Ziel verfehlen
Anhebung des Rentenniveaus zur Vermeidung von Altersarmut
Zuwanderung nach Deutschland unterbinden
Schutz vor der Globalisierung für eine »gerechtere« Verteilung
Digitalisierung verlangsamen – den Menschen mehr Zeit geben
Probleme ernst nehmen, aber richtig lösen
Kapitel 7
Wirtschafts- und Sozialpolitik aus einem Guss – ein Maßnahmenvorschlag
Unser Ziel ist ein »gutes Leben«
Die soziale Marktwirtschaft als Grundordnung
Lieber Staat, vertraue deinen Bürgern wieder
Liebe Bürger, vertraut eurem Staat wieder
Noch mehr Daseinsvorsorge: Infrastruktur
Wohnen – eines der wichtigsten Güter muss für alle erschwinglich sein
Eine Steuerpolitik für die Mittelschicht
Erbschaftsteuer zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit
Rentenpolitik – verlässliche soziale Absicherung ohne Geschenke
Anpassungshärten abfedern – die Menschen für Veränderungen gewinnen
Reicht das alles, damit es uns gut geht?
Epilog – Deutschland im Jahr 2030
Quellenverzeichnis
Meinem Vater
Im Jahr 2019 blickte Deutschland auf zehn Jahre eines ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs zurück. Zwar stand das Wachstum zuletzt unter dem schlechten Stern internationaler Handelskonflikte und hat sich vorübergehend abgeschwächt. Das Fazit der zurückliegenden Dekade bleibt aber ungetrübt: Nie seit den 1960er Jahren gab es in der Bundesrepublik eine so lange ununterbrochene Phase wirtschaftlichen Wachstums.
Folglich ist die Wirtschaftsleistung heute so hoch wie nie zuvor: annähernd 3,4 Billionen Euro, eine Zahl mit zehn Stellen. Im Durchschnitt erwirtschaftet jeder Einwohner in Deutschland mehr als 40.000 Euro pro Jahr. Das ist nicht wenig. – Wir sollten hier nicht, wie so häufig zu lesen, vom »Durchschnittseinkommen« sprechen. Von den 40.000 Euro gehen auch ein paar Euro in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen an den Staat. Auf dem eigenen Konto landen die 40.000 Euro also nicht – nicht mal im Durchschnitt.
Noch erstaunlicher und erfreulicher als die Höhe des Einkommens ist die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Dieser Aufschwung hat so viele neue Jobs mit sich gebracht wie noch nie zuvor in Deutschland. Mit fast 45 Millionen Erwerbstätigen befindet sich die Beschäftigungszahl auf einem historischen Höchststand.
Nie erfreuten sich die Deutschen eines so großen Wohlstands wie heute. Und nach allen Prognosen werden wir auch in den kommenden Jahren unseren Wohlstand weiter mehren können. Ob mit der gleichen Konstanz und der gleichen Geschwindigkeit, darüber gehen die Vorhersagen auseinander. Und auch die Arbeit wird uns dabei nicht ausgehen.1
Das sind die nackten Zahlen der Statistik. Unbestechlich. Ist also alles gut? Vielleicht doch nicht ganz: Wenn wir neben Statistiken auch Zeitungen lesen, Talkshows schauen, Debatten im Deutschen Bundestag verfolgen, politische Diskussionen in den Kommunen miterleben, bekommen wir den Eindruck: Die Deutschen freuen sich gar nicht über die gute Entwicklung der zurückliegenden zehn Jahre. Mehr noch: Den großen Wohlstand, dessen man sich erfreuen könnte, gibt es gar nicht.
Vielmehr debattieren wir über Altersarmut und geringe Renten, niedrige Lohnsteigerungen für eine große Zahl von Beschäftigten, einen zu geringen Mindestlohn und die Frage, ob Hartz IV die große Armutsfalle für Millionen von Menschen ist.
Die Wirtschaft wächst – unser Wohlstand nicht. Was ist da los?
Den Verlautbarungen der großen Wirtschaftsverbände zufolge strotzt die deutsche Wirtschaft vor Kraft wie noch nie. Beschäftigungsboom, Export(vize)weltmeister, »schwarze Null«, Wachstumslokomotive Europas über viele Jahre!
Folgen wir hingegen den Mahnungen aus dem linken politischen Spektrum oder verschiedener Wohlfahrtsverbände, ist für Deutschland der Weg in die Massenarmut kaum noch aufzuhalten. Die Rente reicht nicht, der Mindestlohn muss steigen, Wohnungen werden unbezahlbar, der Staat spart sich kaputt! Diese Verbände, z. B. der Paritätische Wohlfahrtsverband oder der Sozialverband VdK, nehmen für sich in Anspruch, Millionen Menschen in Deutschland zu vertreten. Nur wissen viele dieser Menschen nicht, dass sie vertreten werden, und wurden auch gar nicht gefragt, ob sie das wollen.
Kann man dieselbe Wirklichkeit so unterschiedlich wahrnehmen? Lesen die einen nur die einen, die anderen nur die anderen Statistiken? Kann man dieselben Zahlen so unterschiedlich interpretieren?
Sicher, unterschiedliche Interessengruppen2 transportieren unterschiedliche Ausschnitte der Wirklichkeit. Dies führt dann zu unterschiedlichen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Jeder setzt andere Prioritäten. Es gibt ja nicht nur das eine, alle glücklich machende Ziel in einer Volkswirtschaft und in einer Gesellschaft.
Für den einen sind viele Jobs immer ein Erfolg, für den anderen kommt es darauf an, wie sich dabei die Löhne entwickeln, vor allem im unteren Einkommensbereich. Man mag ein hohes Durchschnittseinkommen für ein Zeichen wirtschaftlicher Stärke halten, man kann die Stärke einer Gesellschaft aber auch daran messen, wie wenig weit Einkommen (und Vermögen) auseinandergehen.
Ist eine »schwarze Null« in den öffentlichen Haushalten ein Ausweis solider Haushaltsführung, oder sprudeln die Einnahmen gewissermaßen von alleine so stark, dass man mehr ausgeben kann als vorher, und trotzdem noch ein paar Milliarden Euro in der Kasse bleiben? Wie müssen wir es eigentlich interpretieren, wenn in einem Jahr die Renten einmal stark steigen? Haben wir das der guten Lage am Arbeitsmarkt zu verdanken, von der dann alle etwas haben, oder ist das ein Zeichen für Umverteilung von den Jungen zu den Alten?
Diese Beispiele verdeutlichen: Wir sprechen immer von Zahlen, aber wir sprechen immer auch von Menschen. Die Zahlen fassen das zusammen, was wir beobachten und messen können. Sie sind ein Teil der Wirklichkeit. Sie sagen aber wenig darüber aus, wie dieser Teil der Realität auf die Menschen wirkt. Sind sie zufrieden oder unglücklich, fühlen sie sich gerecht behandelt oder benachteiligt, partizipieren sie an den guten Zahlen oder sind sie abgehängt? Das ist der andere Teil der Wirklichkeit.
Damit sind wir beim Kern: Wenn wir darüber sprechen, wie gut es Deutschland heute wirtschaftlich geht, müssen wir eben über Wirtschaft und Gesellschaft sprechen. Und wir müssen über beide gemeinsam sprechen, in einem Atemzug. Die Ökonomie ist für den Menschen da. Sie hat eine dienende Funktion. Deshalb ist eine leistungsfähige Wirtschaft wichtig für die Gesellschaft. Ein hohes materielles Wohlstandsniveau – erreicht durch eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und gut qualifizierte Beschäftigte – stellt eine sehr gute Voraussetzung für gesellschaftliche Zufriedenheit dar.
Aber es ist nicht hinreichend. In keinem Fall. Ein hohes materielles Wohlstandsniveau hat hierfür keinen Wert an sich. Anderenfalls müsste die gesellschaftliche Zufriedenheit mit steigender Wirtschaftsleistung permanent zunehmen. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Formel »Mehr Geld – mehr Glück« funktioniert für ein Land nicht.
Das gilt auch für den Einzelnen: Selbst wenn es uns materiell besser geht, steigt nicht automatisch und vor allem nicht dauerhaft unsere Zufriedenheit. Wie lange haben Sie sich über Ihre letzte Lohnerhöhung gefreut, geht es Ihnen damit nun besser als vorher?3 Lottomillionäre sind nicht glücklicher als vor ihrem großen Los.
Wir haben es also mit zwei Phänomenen zu tun: Gesamtwirtschaftliche Entwicklungen kommen möglicherweise gar nicht beim Einzelnen an, und falls doch, ist die Freude darüber oftmals nur von kurzer Dauer. Letzteres kann die Psychologie gut erklären. Die Partizipation an wirtschaftlichem Fortschritt – messbar oder nur gefühlt – ist aber ganz entscheidend für die eigene Zufriedenheit.
Wenn trotz toller Wirtschaftszahlen weite Teile der Bevölkerung dauerhaft das Gefühl haben, bei ihnen komme vom Wachstum nichts an und es gehe in der Gesellschaft ungerecht zu, stellt dies eine ernsthafte Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Wahrnehmung für andere nachvollziehbar ist, ob sie sich an Einkommensverteilung, Bildungschancen oder anderen Aspekten festmacht oder nur ein diffuses Gefühl ist. Wenn dieser Zusammenhalt nicht da ist, drohen wir unseren Grundkonsens an gemeinsamen Werten, an demokratischen Spielregeln, an Solidarität und Verbundenheit untereinander und an das Vertrauen in unsere Institutionen zu verlieren.
In ihrem »Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt« ermittelte die Bertelsmann Stiftung 2017, dass drei Viertel der Befragten den Eindruck haben, der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland sei zumindest teilweise gefährdet. Und nur eine deutliche Minderheit der Befragten ist der Meinung, dass es bei der Verteilung wirtschaftlicher Güter gerecht zugehe.
Ähnliches förderte eine Befragung der Initiative »More in Common« aus dem Jahr 2019 zutage: Demnach fühlt sich etwa die Hälfte der Menschen in Deutschland als Bürger zweiter Klasse. Zwei Drittel der Befragten geben an, dass bei ihnen vom wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands nicht genug ankomme. Die Mehrheit findet, dass sich die gesellschaftliche Lage in den letzten fünf Jahren verschlechtert hat, während nur 5 Prozent erwarten, dass sie sich in den kommenden Jahren verbessern wird. 70 Prozent sind der Meinung, dass sich Deutschland in die falsche Richtung bewege.
Dabei strebt ein großer Teil der Bevölkerung nach einem starken sozialen Zusammenhalt. 70 Prozent der Menschen wünschen sich, dass die Gesellschaft trotz der Unterschiede zwischen den Menschen zusammenfindet. Jedoch glaubt die Mehrheit nicht, dass das gelingen kann.
Diese Einschätzungen spiegeln sich auch in der Haltung der Bürger zu unseren politischen Institutionen. 30 Prozent der durch die Initiative Befragten empfinden eine große Distanz zum politischen System; jeder Zweite ist unzufrieden damit, wie die deutsche Demokratie funktioniert.
Mit einem solchen Bild steht Deutschland nicht alleine. Die politischen Folgen können wir an vielen Orten der Welt beobachten. In den Vereinigten Staaten kann sich ein Präsident, dessen Wahl im Jahr 2016 hierzulande kaum jemand für möglich gehalten hätte, berechtigte Hoffnungen auf eine zweite Amtszeit machen.
Das knappe Votum für den Brexit, ebenfalls im Jahr 2016, war kein Unfall. »Remain« konnte während all der unfassbaren Turbulenzen, die dem Referendum folgten, zu keinem Zeitpunkt eine klare Mehrheit erreichen.
Bei der Wahl des französischen Staatspräsidenten im Jahr 2017 war es alles andere als ausgeschlossen, dass erstmals eine Kandidatin einer rechtspopulistischen Partei ins höchste Staatsamt der V. Republik gewählt würde. In der Stichwahl erhielt sie 34 Prozent der Stimmen.
In Italien regierten 2018 und 2019 Rechtspopulisten ohne jegliche Maskerade. Ihre Beliebtheit in der Bevölkerung nahm während der Regierungszeit sogar noch zu.
Und in Deutschland hat eine rechtsgerichtete Partei, die das bürgerliche Spektrum längst verlassen hat und den Anspruch erhebt, eine Alternative anzubieten, binnen kürzester Zeit in alle 16 Landesparlamente Einzug gehalten und stellt zudem die stärkste Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag.
Politische Strömungen, die die Gesellschaft bewusst trennen, statt sie zu einen, die das Gegen betonen und nicht das Mit, gewinnen an Bedeutung. Der Nährboden für diese Entwicklungen ist groß, und er ist vielfältig. Es gibt soziologische und politologische Erklärungsansätze. Aber unzweifelhaft spielen die ökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre eine spürbare Rolle dabei, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft zunehmend in Gefahr gerät.
Politik und Wissenschaft haben gute Vorschläge, wie wir die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands stärken, unser Bruttoinlandsprodukt erhöhen und die Beschäftigung auf einem hohen Stand halten oder sogar weiter ausbauen können. Ebenso gibt es gute oder mindestens gut gemeinte Vorschläge, wie wir erwirtschaftetes Einkommen und Vermögen anders umverteilen können, um damit subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten zu korrigieren oder Armutsrisiken zu vermeiden.
Beide Ansätze machen aber in aller Regel Gegensätze auf zwischen – lassen Sie es uns für den Moment vereinfacht ausdrücken – Wachstum und Verteilung. Sie polarisieren.
Die einen sagen: Will man mehr verteilen, geht das zulasten der Anreize für diejenigen, die viel erwirtschaften können, und der Kuchen wird kleiner. Mit diesem Argument werden etwa Steuererhöhungen zum Tabu erklärt. Die anderen sagen: Setzt man in erster Linie auf Wachstum, bleiben die Schwachen zurück. Wer nicht so leistungsfähig ist, wie die Wirtschaft es erwartet, hat keine Chance zu bestehen und wird abgehängt. Mit diesem Argument werden Kürzungen im Sozialbereich zum Tabu erklärt.
Bestenfalls können sich dann beide Seiten auf einen Mittelweg zwischen Wachstum und Verteilung verständigen. Auf einen Kompromiss, der beiden Interessen gerecht wird. Aber es ist oftmals ein fauler Kompromiss und kein verbindender.
Nach einer Dekade des Aufschwungs sind Wohlstand und Beschäftigung nicht unsere vordringlichen Probleme in Deutschland. Selbstverständlich müssen wir uns anstrengen, beides weiter zu fördern. Das geht nicht von alleine. Aber beides befindet sich heute nicht nur auf einem historisch hohen Stand. Auch ist das Potenzial unserer Volkswirtschaft an Menschen, an klugen und kreativen Köpfen, an neuen Lösungen, an privaten und öffentlichen Investitionen so hoch, dass Wachstum und Beschäftigung künftig nicht gefährdet sein müssen.
Bei allen Herausforderungen, wettbewerbsfähig zu bleiben: Wenn die Wirtschaftspolitik nicht deutlich ungeschickter agiert als in den vergangenen siebzig Jahren, wird sie es nicht schaffen, unsere Volkswirtschaft zum kompletten Sanierungsfall zu machen. Das ist kein Appell an die Politik, sich zurückzulehnen, sie muss weiter wach und aktiv sein.
Über die wichtigsten Weichenstellungen besteht ja Einigkeit. Niemand negiert die massiven Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Wirtschaft und den Wandel in der Beschäftigung. Niemand streitet das Ziel ab, dass Deutschland durch entsprechende Investitionen in Köpfe und Maschinen bei der Digitalisierung eine gute und erfolgreiche Rolle in der Welt spielen soll. Auch die großen Herausforderungen, die sich aus Demografie und Klimawandel ergeben, sind weitgehend unstrittig. Viele Lösungsansätze liegen gar nicht so weit auseinander.
Wir benötigen sicher noch eine größere Dynamik im Handeln, mehr Zug zum Tor. Aber wir können in allen plausiblen Szenarien erwarten, dass die deutsche Volkswirtschaft auch in Zukunft wachsen und uns genug Arbeit machen wird. Mit einer richtig guten Wirtschaftspolitik wird sie sogar noch ein wenig mehr und beschäftigungsintensiver wachsen. Das wäre erfreulich.
Auch ein kräftiges Wachstum könnte allerdings die wirkliche Gefahr, vor der wir stehen, nicht bannen: einen schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Dabei wäre auch eine verstärkte Umverteilungspolitik als heilende Therapie zum Scheitern verurteilt. Die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt, liegt heute bei fast 30 Prozent. Was versprechen wir uns von einer noch höheren Dosis? Können wir von mehr Umverteilung wirklich mehr Zufriedenheit in der Gesellschaft erwarten?
Schauen wir uns die letzten Jahre und Jahrzehnte an: Wir sind stark gewachsen und wir haben viel umverteilt. Dabei ist das Land nicht glücklicher geworden. Die Lehre daraus muss lauten, dass die alten Ansätze von Wachstum und Verteilung nicht mehr funktionieren, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Hier Wachstumspolitik, da Sozialklimbim – das kann nicht der richtige Weg sein.
Wir müssen die Sache anders betrachten und die Dinge miteinander verbinden: Welchen Beitrag kann die Ökonomie, kann die Wirtschaftspolitik leisten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland wieder zu stärken? Nicht erst wachsen und dann das Erwirtschaftete an die Bedürftigen verteilen, sondern eine Wirtschaftspolitik, die inhärent Sozialpolitik ist. Eine Wirtschaftspolitik für die Gesellschaft. Wie können wir wieder zu einer gleichzeitig prosperierenden und zufriedenen Gesellschaft werden? Wie können wir als Gesellschaft in Wohlstand und Glück leben?
Davon handelt dieses Buch. Es analysiert, es fördert Aspekte zutage, die in der öffentlichen Diskussion noch sehr kurz kommen, es ordnet ein, es warnt vor dem Rat von Experten, es zeigt, was man nicht tun sollte, auch wenn es verführerisch ist, und unterbreitet einige Vorschläge, wie gute Politik für Wirtschaft und Gesellschaft aussehen kann. Manche Vorschläge werden Sie eher »links« verorten, manche eher »rechts« – und dabei bemerken, dass diese voreingenommene wirtschaftspolitische Topografie ausgedient hat.
Dieses Buch liefert keinen Masterplan für die einzig richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es möchte mit seinen Argumenten und Vorschlägen vor allem einen Anstoß dazu geben, den betrachteten Herausforderungen mit einer offenen Haltung, frei von zementierten Überzeugungen und jenseits von vermeintlichen Gegensätzen zu begegnen. Und es soll Ihnen eine informative und unterhaltsame Lektüre sein, die Ihr eigenes Bild über die Wirtschaft und die Gesellschaft in Deutschland um einige Facetten bereichert.
14. März 2003, Deutscher Bundestag, Berlin. Bundeskanzler Gerhard Schröder schreitet zum Rednerpult, um eine Regierungserklärung abzugeben. Sie trägt den Titel »Mut zum Frieden – Mut zur Veränderung«. In seiner knapp siebenjährigen Amtszeit hat Schröder viele Regierungserklärungen abgeben. Diese ist jedoch nicht irgendeine, sie ist die Wichtigste, sie wird das Land verändern. In dieser Rede skizziert der Bundeskanzler die großen Linien seiner Wirtschaftsund Sozialpolitik, der Agenda 2010.
Pate für die zentralen Punkte der Agenda 2010 stand der damalige VW-Personalvorstand Peter Hartz, der im Auftrag der Bundesregierung gemeinsam mit einer Kommission unter seiner Leitung entsprechende Vorschläge erarbeitete und diese bereits 2002 vorstellte.
Zahlreiche Ökonomen in Deutschland beanspruchten ebenfalls mindestens einen Teil der Urheberschaft der Agenda 2010, am prominentesten hier sicher der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die »Wirtschaftsweisen«). Tatsächlich zeigen sich Überschneidungen mit dem zuvor erschienenen Jahresgutachten 2002/2003 »20 Punkte für Beschäftigung und Wachstum«. Prägend in der öffentlichen Diskussion waren vor allem die sogenannten Hartz-Gesetze, darunter insbesondere »Hartz IV«, auch wenn die Ansätze der Agenda 2010 deutlich darüber hinausgingen.
Die Agenda 2010 sollte einen Befreiungsschlag darstellen und die entscheidenden Weichen dafür stellen, dass Deutschland wieder auf einen steileren Wachstumspfad gelangt und die hohe Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das war auch nötig, denn in den Jahren vor 2003 sah die wirtschaftliche Lage in Deutschland alles andere als rosig aus.
Schon 1999 hatte das britische Wirtschaftsmagazin Economist in einer Analyse Deutschland als »kranken Mann Europas« bezeichnet. Im Jahr 2002 stagnierte die Wirtschaft in Deutschland, 2003 schrumpfte sie dann sogar um 0,7 Prozent.
Deutschland riss zudem das Defizitkriterium des Vertrages von Maastricht und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes1, es drohten weitere Verfehlungen in den Folgejahren, im Bundeshaushalt gab es kaum Spielräume. Bundesfinanzminister Hans Eichel wurde als »blanker Hans« verspottet.
Am dramatischsten aber: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland stieg und stieg. Zum Zeitpunkt von Schröders Regierungserklärung näherte sich die Zahl der Arbeitslosen bedrohlich der Marke von 5 Millionen. Die größte Volkswirtschaft Europas hatte die »rote Laterne«2 in der Europäischen Union übernommen.
Die späten 1990er Jahre und die frühen 2000er Jahre markierten also eine Phase der wirtschaftlichen Schwäche in Deutschland, aus der es sich zu befreien galt. Sogenannte Strukturreformen auf den verkrusteten Arbeits- und Gütermärkten waren angezeigt, nicht nur kurzfristige konjunkturelle Strohfeuer. So ist unsere Wahrnehmung dieser Zeit, so geht die Geschichtsschreibung.
Heute fallen Regierungserklärungen nüchterner aus, obwohl die Bundeskanzlerin fast in jedem Jahr seit 2010 Grund gehabt hätte, über gute Zahlen zu jubeln. Denn um wie vieles besser geht es der deutschen Volkswirtschaft doch heute!
Kaum ein anderes Land hat die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 so gut überstanden wie Deutschland, hat all ihre Fährnisse durch kluge Politik und ein starkes wirtschaftliches Fundament umschifft. Einem scharfen Einbruch im Jahr 2009 folgte ein fast ebenso starker Wiederanstieg der Wirtschaftsleistung im Jahr darauf. Bereits im Jahr 2011 hatte unsere Volkswirtschaft das Vorkrisenniveau wieder erreicht.
Andere europäische Länder benötigten viele Jahre, um sich von der Krise zu erholen – oder haben es bis heute nicht geschafft. Griechenland verlor in den Jahren nach 2007 insgesamt mehr als 25 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, bevor es erst 2017 wieder auf einen Wachstumskurs zurückkehren konnte. Dem Autor ist nur ein einziger Fall in der Wirtschaftsgeschichte bekannt, in dem ein Land einen ähnlich großen oder noch größeren Einbruch der Wirtschaftsleistung erlitt: Deutschland zwischen 1929 und 1932. Hier schrumpfte die Wirtschaft sogar um etwa ein Drittel. Daran gemessen sind die politischen Verhältnisse in Griechenland ausgesprochen stabil geblieben.
Im Unterschied zu anderen Ländern also blicken wir seit 2010 auf ungebrochenes Wirtschaftswachstum zurück. Heute gelten wir als die Wachstumslokomotive Europas, auf die unsere Nachbarn mit einer Mischung aus Anerkennung und Skepsis blicken. Der Economist der bei uns zwei Dekaden zuvor Multimorbidität diagnostiziert hatte, findet uns in einer Titelgeschichte aus dem Jahr 2018 nun sogar cool (»Cool Germany«).
Es ist mittlerweile schon fast zur Gewohnheit geworden, dass der Bundeshaushalt Überschüsse aufweist – zuletzt hatte es das in den 1960er Jahren gegeben. Die mittlerweile im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse wird geradezu spielend eingehalten. Die europäische Defizitgrenze mögen andere Länder noch reißen, für Deutschland ist das kein Thema mehr.
Und besonders erfreulich ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Während wir uns also 2003 der Marke von 5 Millionen Arbeitslosen näherten, ist nun die Marke von 2 Millionen in Reichweite.
Arbeitslosigkeit kann für jeden Einzelnen immer noch sehr bitter sein, trotzdem: Welch ein Fortschritt! In zahlreichen Regionen liegt die offiziell gemessene Arbeitslosenquote bei 3 Prozent oder darunter. Vollbeschäftigung. Fachkräftemangel statt Arbeitslosigkeit. Viele Arbeitnehmer können sich heute ihren Arbeitgeber aussuchen. Und auch in den Regionen, die lange unter sehr hoher Arbeitslosigkeit gelitten hatten, hat sich über die Jahre die Lage spürbar verbessert. Arbeitslosigkeit ist auch dort nicht mehr die alles dominierende Sorge der Menschen und der Politik.
Deutschland in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts: eine Volkswirtschaft der Glückseligen. Das ist unsere weit verbreitete gegenwärtige Wahrnehmung. Ob die Geschichtsschreibung sie dereinst teilt, wird sich noch erweisen.
Denn wir möchten ja der Frage auf den Grund gehen, warum trotz der bemerkenswerten und außergewöhnlichen wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre so große Teile der Bevölkerung gerade in wirtschaftlicher Hinsicht so unzufrieden sind. Häufig heißt es: Die positive Entwicklung ist bei vielen Menschen nicht angekommen, sie konnten nicht teilhaben. Dieser These wird noch nachzugehen sein. Davor steht aber eine Frage:
Mit wirtschaftlichen Vergleichen über die Zeit ist das immer so eine Sache. Mit einer »geschickten« Auswahl der Vergleichszeiträume und einer ebensolchen Selektion der Indikatoren lassen sich in vielen Fällen gewünschte Aussagen belegen. Wenn Sie Ihre Betrachtung am Tiefpunkt einer Entwicklung starten, werden Sie ein stärkeres Wachstum nachweisen können als mit jedem anderen Startdatum.
Und auch die Wahl der Messreihen hat einen Einfluss auf die Aussage. Mal entwickelt sich das Bruttoinlandsprodukt besonders gut, mal der private Konsum, die Investitionen können dann zurückbleiben, während der Export boomt.
Auch für unsere Betrachtung stellt sich die Frage, welche Größen wir für welche Zeiträume betrachten, um eine Antwort darauf geben zu können, wie positiv die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland in den vergangenen Jahren wirklich war. Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch, auch unsere Auswahl ist letztlich subjektiv, aber wir wollen sie gut begründen.
Der idealtypische Konjunkturverlauf, den wir in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern finden, gleicht einer Sinuskurve. Vom Tiefpunkt der Wirtschaftsleistung aus steigt sie zunächst steil an, wird dann flacher, bevor sie vom Höhepunkt aus erst steiler, dann wieder flacher zurückgeht und schließlich einen nächsten Tiefpunkt erreicht.
Dabei können die einzelnen Wachstumsraten durchaus immer oberhalb von 0 Prozent liegen, es muss also im Konjunkturverlauf nicht zwingend eine Rezession, einen absoluten Rückgang der Wirtschaftsleistung geben. Die gesamte Kurve befindet sich dann weit genug von der Nulllinie entfernt.
Genau so läuft es in der Realität natürlich nicht ab. Aber wenn man messen möchte, was eine Volkswirtschaft grundsätzlich zu leisten imstande ist, erscheint es nicht besonders sinnvoll, nur die Phase vom Tiefpunkt bis zum Höhepunkt zu messen. Damit würde man einen wichtigen Teil des ganz normalen Konjunkturverlaufs ausblenden. Das gilt vor allem deshalb, weil sich ein Aufschwung immer auch aus dem zurückliegenden Abschwung erklärt.
Deshalb wäre es wenig aussagkräftig – nein, sogar unredlich –, nur auf die Zahlen seit 2010 zu schauen, also seit dem Beginn des Aufschwungs. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in jenem Jahr um bemerkenswerte 4,1 Prozent, im Jahr 2011 nochmals um 3,7 Prozent. Wachstumsraten, die man in Deutschland lange nicht gesehen hatte.
Aber 2009 war die Wirtschaftsleistung eben auch um 5,6 Prozent eingebrochen – was absolut einmalig ist in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte. Und auch 2008, als die dunklen Wolken der Wirtschafts- und Finanzkrise schon mächtig am Himmel standen, war das Wachstum bereits auf nur noch gut 1 Prozent zurückgegangen.
Wenn wir uns für die hohen Wachstumsraten der Jahre 2010 und 2011 auf die eigene Schulter klopfen, begehen wir einen Denkfehler. Sicher, die konjunkturpolitische Stabilisierung der damaligen Bundesregierung hat ihren Beitrag geleistet.3 Aber wir waren 2010 und 2011 nicht so stark, genau wie wir 2009 nicht so schwach waren. Was wir hier beobachtet haben, war schlicht das, was man »Regression zur Mitte« nennt.
Die Wirtschaftsleistung schwankt nun einmal um einen Mittelwert, den langfristigen Trend. Da geht es der Wirtschaft nicht anders als dem Wetter oder Ihrem persönlichen Wohlbefinden. Wenn es an einem Augusttag nur 10 Grad Celsius warm ist, wird die Temperatur aller Wahrscheinlichkeit in den Folgetagen steigen. Sind Sie heute besonders euphorisch oder schlecht gelaunt, dürfte sich das in den kommenden Tagen in Richtung Ihres üblichen Gemütszustands legen. Genau wegen des Phänomens der Regression zur Mitte sollten Sie auch grundsätzlich Unternehmensberatern misstrauen. Geht es Ihrem Unternehmen nicht gut und Sie konsultieren Berater, wird es dem Unternehmen vermutlich in den Folgejahren besser gehen. Verzichten Sie auf die klugen Tipps der teuren Berater, dann vermutlich auch. Je stärker die Abweichung vom Trend in die eine Richtung, desto stärker fällt aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Rückwärtsbewegung in die andere Richtung aus.
Und ab hier müssen wir uns etwas näher mit der Statistik befassen.
Vor dem genannten Hintergrund wollen wir, um die tatsächliche Stärke der deutschen Wirtschaft zu beurteilen, die Periode ab dem Jahr 2008 betrachten, die Abschwung und Aufschwung, Rezession und Boom umfasst. Bis zum Jahr 2018 können wir uns so einen Zeitraum von elf Jahren anschauen. In Anlehnung an den erwähnten Economist-Titel ist dies die »coole Periode«. Dem stellen wir einen ebenso langen Zeitraum bis 2007 gegenüber.4 Auch hier kann uns der Economist für die Bezeichnung Pate stehen: die »kranke Periode«.
Schauen wir uns zunächst ganz übergreifend das Bruttoinlandsprodukt an, bemerken wir etwas Erstaunliches: Deutschland ist in der »kranken Periode« stärker gewachsen als in der »coolen Periode«! Beim Vergleich der jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten steht es 1,7 Prozent zu 1,2 Prozent – eine ganz erhebliche Differenz.
Hinzu kommt, dass Deutschland um die Jahrtausendwende leicht an Bevölkerung verloren hat, zwischen 1996 und 2007 insgesamt um immerhin fast 500.000 Personen. In der Dekade nach 2010 war es aber genau umgekehrt. Schon vor der starken Flüchtlingszuwanderung ab dem Jahr 2015 war die Bevölkerungszahl gestiegen. Insgesamt leben heute in Deutschland etwa 1,9 Millionen Menschen mehr als 2007. Schwächere Wachstumsraten der Wirtschaft also, die sich auf mehr Menschen verteilen.
Bei der Betrachtung je Einwohner geht damit die Schere noch weiter auseinander. In der »kranken Periode« hat jeder Einwohner im Durchschnitt jedes Jahr 1,7 Prozent mehr erwirtschaftet als im Jahr zuvor, in der »coolen Periode« jedoch nur 1,0 Prozent.
Vielleicht war gar nicht alles so cool in den letzten Jahren.
Hinzu kommt eine weitere Entwicklung, die bei den Menschen die Wahrnehmung einer guten wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren getrübt haben dürfte. Das Bruttoinlandsprodukt fasst zunächst einmal den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft zusammen. Diese Güter erfüllen unterschiedliche Zwecke, man kann unterschiedliche Dinge mit ihnen tun.
Private Haushalte können konsumieren, indem sie Kleidung kaufen oder in den Urlaub fahren.5 Der Staat tätigt ebenfalls Konsumausgaben, was er vor allem in Form von Personalausgaben tut. Zudem umfasst das Bruttoinlandsprodukt Investitionsgüter, klassischerweise Maschinen, Straßen oder Gebäude. Schließlich exportieren wir einen Teil unserer Produktion in das Ausland.
In den volkswirtschaftlichen Bilanzen kann man sagen, dass wir für die Exporte »im Gegenzug« Importe aus dem Ausland beziehen. Für jeden einzelnen Exporteur stimmt das natürlich nicht, er wird – hoffentlich – mit Geld oder Forderungen bezahlt, aber für die Volkswirtschaft als Ganzes ist das ein sinnvolles Bild.
Da sich die Summen von Importen und Exporten aus Millionen individuellen Entscheidungen ergeben, stimmen beide Größen am Ende des Jahres in aller Regel nicht überein. Es gibt zwar Mechanismen, die tendenziell in Richtung eines Ausgleichs wirken, aber die funktionieren im Lehrbuch leider besser als in der Realität. So auch in Deutschland.
Wir haben über viele Jahre unsere Exporte massiv gesteigert, ohne dass das Wachstum der Importe Schritt gehalten hätte. Im Ergebnis weist Deutschland seit vielen Jahren einen erheblichen sogenannten Leistungsbilanzüberschuss auf. Eine Entwicklung, für die wir ebenfalls seit geraumer Zeit international von unterschiedlichen Institutionen aus ebenso unterschiedlichen Motiven kritisiert werden: von der Europäischen Kommission über den Internationalen Währungsfonds bis zum US-amerikanischen Präsidenten.
Neben allen dort angeführten Argumenten aus internationaler Perspektive bedeutet ein Leistungsbilanzüberschuss für das Inland, also für uns, aber etwas ganz Einfaches: Wir produzieren mehr, als wir selbst verwenden. Einen Teil unserer Wirtschaftsleistung stellen wir dem Ausland zur Verfügung. Dabei verteilen wir keine Geschenke, denn jeder Exportüberschuss entspricht einer Forderung, wir geben dem Ausland einen Kredit. Das mag nicht gerade intuitiv klingen. Betriebswirtschaftlich liegt kein Kreditgeschäft vor, wenn die Ware vom ausländischen Besteller bezahlt ist. Volkswirtschaftlich hingegen müssen wir einem Land, das selbst mehr verbraucht als produziert, Kapital zur Verfügung stellen, damit es unsere Waren wieder bezahlen kann. Das ist unsere Ersparnis, die wir zum Beispiel in ausländischen Wertpapieren anlegen. Insgesamt aber verzichten wir aktuell als Land darauf, uns mehr Urlaub zu gönnen oder mehr Straßen oder Breitbandanschlüsse zu bauen, als wir eigentlich könnten.
Die Zahlen zeigen, dass das keine theoretische Diskussion ist. Zwar weist Deutschland bereits seit Mitte der 1990er Jahre, seit Ende des Booms im Zuge der deutschen Vereinigung, kontinuierlich Exportüberschüsse auf. Aber in den letzten Jahren sind diese Überschüsse nochmals deutlich angewachsen.
Während etwa bis zum Jahr 2000 Exporte und Importe in nominaler Rechnung noch auf ähnlichem Niveau gelegen hatten, ging die Schere zwischen beiden Größen in den Folgejahren tendenziell immer weiter auseinander. In den Jahren 2016 und 2017 lag unser Exportüberschuss annähernd bei beachtlichen 250 Milliarden Euro. Das ist mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt Portugals.
Stellt man diese Exportüberschüsse in Relation zur gesamten Wirtschaftsleistung, markierten ebenfalls die genannten Jahre die größten Auswüchse. Auf 8 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt beliefen sich unsere Exportüberschüsse.
Vergleichen wir auch hier längere Phasen, lässt sich der Trend nicht leugnen: In der »kranken Phase« lag unser Exportüberschuss im Durchschnitt bei 3,2 Prozent in Relation zur jeweiligen Wirtschaftsleistung, in der »coolen Phase« im Durchschnitt bei 6,4 Prozent. Also mehr als doppelt so hoch, und zwar Jahr für Jahr. Mehr als sechs von 100 erwirtschafteten Euro haben wir folglich gar nicht für uns selbst genutzt.