ELAINE N. ARON
Zwischen Empathie und Reizüberflutung – wie Sie Ihrem Kind und sich selbst gerecht werden
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1. Auflage 2020
© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 bei Citadel unter dem Titel The Highly Sensitive Parent. © Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK, NY 10018 USA. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Elisabeth Liebl
Redaktion: Caroline Draeger
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: shutterstock/TAW4
Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7474-0149-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-509-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-510-2
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Für alle schwer arbeitenden Eltern:
Ohne Sie würde es uns nicht geben.
Vor allem aber für die Hochsensiblen unter Ihnen:
Sie verleihen dem Elterndasein eine neue Tiefe.
Einige Worte vorab
Sind Sie hochsensibel?
Ein Selbsttest
1. Was es für Eltern bedeutet, hochsensibel zu sein
Forschung: »Meine Sensibilität ist ja toll, aber ...«
Wie sich Reizüberflutung auf Ihr Elternsein auswirkt
Forschung, die auf alle Hochsensiblen zutrifft
Tiefe der Wahrnehmungsverarbeitung: der innige Wunsch, Einsichten zu gewinnen, und die Fähigkeit zur Reflexion
Ihre starken emotionalen Reaktionen, Ihr Einfühlungsvermögen und Ihr Verständnis für andere
Ihr klares Gespür für Feinheiten
Das Puzzle zusammensetzen: Sie und Ihr Kind haben Glück
Hochsensibilität als entwicklungsgeschichtliche Überlebensstrategie
Warum Sie anders sind
2. Wie Sie mit Reizüberflutung umgehen
Gerade hochsensible Eltern müssen gut für sich sorgen
Forschungsergebnisse über HS-Eltern in einer chaotischen häuslichen Umgebung
Andere Quellen der Reizüberflutung bei HS-Eltern
Was passiert beim elterlichen Burn-out?
Bindungsorientierte Erziehung (Attachment Parenting)
Wie man mit Reizüberflutung umgeht
Der Wert einer »spirituellen« Praxis
Selbstfürsorge und die Vergangenheit
Zu guter Letzt
3. Hilfe suchen
Oh doch, Sie brauchen Hilfe!
Schuldgefühle und der ewige Vergleich mit anderen
Hilfe bei der Hausarbeit
Arbeiten, einfach um aus dem Haus zu kommen
Und noch einmal: Warum Sie Hilfe brauchen und in welcher Form
Und noch einmal: Wie Sie in jeder Altersphase Ihres Kindes Hilfe finden
Zu guter Letzt
4. Verarbeitungstiefe
Entscheidungen treffen – vom gesündesten Brot bis zum Sinn des Lebens
Hilfe für HS-Eltern bei diesen verflixten Entscheidungen
Noch ein Kind?
Das Elterndasein als Berufung
Ein paar abschließende Bemerkungen zum Thema Entscheidungen
5. Wie Sie Ihre emotionale Empfänglichkeit genießen und steuern können
Ihre Emotionen in den verschiedenen Lebensphasen Ihres Kindes
Die Regulierung von Emotionen
Das ABC der Emotionen und wie wir mit ihnen umgehen können
Und unsere positiven Emotionen?
6. Wie Sie mit der Menge an sozialen Kontakten zurechtkommen
Von Lehrern und anderen Eltern über wohlmeinende Verwandte bis zum medizinischen Personal
Die sozialen Emotionen
Die Fülle sozialer Begegnungen
Zu guter Letzt
7. Hochsensible Eltern und ihre Partner
Welche heiklen Punkte es gibt, und wie Sie damit umgehen
Neue Herausforderungen und neue Chancen
Die fünf großen Probleme
Emotionen, die häufig keine Beachtung finden
Wie Sie Ihre Kommunikationsfähigkeit stärken
Der Umgang mit Konflikten
8. Mehr über hochsensible Eltern und ihre Partner
Wie Sie spezifischen Problemen erfolgreich zu Leibe rücken
Acht Möglichkeiten, wie Sie auf Ihr Beziehungskonto einzahlen können
Das Beziehungsaus – Trennung oder Scheidung
Schlusswort
Danksagung
Über die Autorin
Hinweise des Verlags zu Vereinen, die im deutschsprachigen Raum Hochsensiblen Hilfe anbieten
Endnoten
Alle Eltern finden das Elternsein schwierig. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass hochsensible Eltern – zumindest in den englischsprachigen Ländern – dies noch stärker empfinden. Andererseits können hochsensible Eltern besser auf ihre Kinder eingehen – und das ist die andere Seite der Medaille.1
Es stellt sich also die Frage: Sind Sie hochsensibel? Wenn Sie sich nicht sicher sind, gehen Sie den Fragebogen ab Seite 13 durch. Er hilft Ihnen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Gehören Sie zu den Hochsensiblen, dann ist Ihr überragendes Einfühlungsvermögen einer Ihrer größten Pluspunkte im Elterndasein. Ziel dieses Buches ist es, Ihnen das Elterndasein leichter zu machen, sodass Sie Freude daran finden. (Nur der Klarheit halber: In diesem Buch geht es nicht um den Umgang mit hochsensiblen Kindern. Dieser ist Thema meines Buches »Das hochsensible Kind«. Hier geht es um hochsensible Eltern, ganz unabhängig davon, wie deren Kinder veranlagt sind.)
Alle Eltern haben wenig Zeit, ob sie nun hochsensibel sind oder nicht. Aber wenn Sie zur Gruppe der hochsensiblen Persönlichkeiten (HSP) gehören, dann müssen Sie noch mehr als andere Eltern auf Ihr Timing achten. Forschungsarbeiten zeigen nämlich, dass Hochsensible schnell unter Reizüberflutung leiden. Sie brauchen daher neben der Zeit für Ihr Kind viel Zeit für sich selbst, um Ihre Batterien wieder aufzuladen. Ohne solche Zeiten der Muße werden Sie schnell reizbar und bestimmt kreuzunglücklich – und dann ist es auch mit Ihrem Einfühlungsvermögen vorbei. Dieses Buch will Ihnen ein Ratgeber sein, wie Sie mit Ihrer kostbaren Zeit achtsam umgehen, ein Ratgeber, der Ihnen aufzeigt, was Sie am meisten brauchen. Das erste Kapitel ist wichtig, wenn Sie Zweifel daran haben, ob Sie überhaupt hochsensibel sind. Ich betone immer wieder, dass es für Hochsensible essenziell ist, sich dessen gewiss zu sein. Für HS-Eltern gilt dies noch mehr. Auch Kapitel 2 ist wichtig, denn dort erfahren Sie, wie Sie mit Reizüberflutung besser umgehen können, denn diese »Dünnhäutigkeit« ist der einzige Nachteil, der mit Ihrer Besonderheit einhergeht. Kapitel 3 hat eine Einsicht zum Thema, von der ich zutiefst überzeugt bin: dass HS-Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder Hilfe brauchen. Es hat wenig Sinn, sich da durchbeißen zu wollen, wie viele Menschen das tun. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Entscheidungsfindung. Uns HS-Eltern fällt es schwerer als anderen, bei sich bietenden Optionen und komplexen Problemen die richtigen Entscheidungen für unsere Kinder zu treffen. In Kapitel 5 geht es um das Ausbalancieren unserer Emotionen, die stärker sind als bei anderen Menschen. Es vergeht kaum ein Augenblick unseres Elterndaseins, da wir uns nicht enorm aufregen. Sie brauchen dieses Kapitel, es sei denn, Sie hätten Ihre Emotionen unter Kontrolle. (Jetzt schmunzeln wir beide. Ja, klar.)
Kapitel 6 beschäftigt sich mit den sozialen Aspekten des Elternseins und hilft Ihnen gerade dann, wenn Sie zu den Extrovertierten unter uns gehören (was auf gut 30 Prozent der HSP zutrifft). Der Umgang mit anderen Menschen ist zweifellos die wichtigste Quelle emotionaler Ansprache. Daher laufen Hochsensible dort am ehesten Gefahr, von Reizen einfach überrollt zu werden. Die letzten beiden Kapitel, in denen es um Eltern und ihre Beziehungen zueinander geht, sind auch für Alleinerziehende von Bedeutung. Wenn wir uns nämlich ansehen, wie sich das Elterndasein auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt, gibt uns dies Aufschluss über all unsere engeren Bindungen.
Wir wollten, dass dieses Buch zügig zu lesen ist. Daher haben wir darauf verzichtet, viele nette Geschichten in den laufenden Text einzustreuen wie in Büchern übers Elternsein üblich. Häufig fließen in diese Geschichten die Erfahrungen vieler Menschen ein. Das liest sich dann so: »Als Janie ihr erstes Baby bekam ...« Wir haben festgestellt, dass es mehr bringt, HS-Eltern selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Erfahrungsberichte haben wir optisch vom Rest des Buches abgesetzt, sodass Sie sie leicht überspringen können, wenn Sie nur die Informationen und Tipps lesen wollen. Doch stammen diese Geschichten (die sprachlich zur besseren Lesbarkeit minimal überarbeitet wurden) sozusagen von den Mitgliedern Ihrer »Vergleichsgruppe« und sind daher vielleicht noch hilfreicher als die Basisinformationen.
Dieses Buch fokussiert sich im Wesentlichen auf die Probleme, mit denen sich HS-Eltern gewöhnlich herumschlagen. Alles, was funktioniert, können wir ja schließlich lassen, wie es ist. Doch behalten Sie bitte ein Ergebnis unserer Studie an mehr als 1200 Vätern und Müttern im Hinterkopf: dass Sie als Vater bzw. Mutter nicht nur gut, sondern sogar richtig toll sind. Wir haben herausgefunden, dass hochsensible Eltern wie Sie in statistisch signifikantem Maße häufiger als andere Eltern von der Erfahrung berichten, für ihre Kinder emotional empfänglich und ansprechbar zu sein. Dies war einer der zwei wesentlichen Faktoren, die sich als Resultat aus den Forschungsarbeiten herausschälten. Denn es ist vor allem ihr Einfühlungsvermögen, das HS-Eltern in die Lage versetzt, die Situation ihres Kindes auf einer tieferen Ebene zu verstehen und entsprechende Entscheidungen für dessen Wohl zu treffen.
Wie aber kann dieses größere Einfühlungsvermögen helfen? Ein Beispiel: Eltern stehen ständig vor Fragen wie diesen: »Braucht er jetzt einfach seine Ruhe oder veranstaltet er den ganzen Zirkus nur, weil er hungrig oder übermüdet ist?« Und: »Hat es Sinn, das Problem jetzt anzusprechen, oder soll ich lieber warten, bis wir beide uns wieder beruhigt haben?« Oder: »Sie ist jetzt fünfzehn. Soll ich einfach darauf vertrauen, dass sie schon das Richtige tun wird, oder soll ich ihr verbieten, zu dieser Party zu gehen?« Hier die richtige Entscheidung zu treffen ist für jeden in der Familie wichtig, und zwar nicht nur auf den Moment bezogen, sondern auf längere Sicht. Im Durchschnitt sind HS-Eltern in diesen Dingen besser als normale Eltern. Das haben jedenfalls diesbezügliche Forschungsarbeiten gezeigt.
Als ich 1991 anfing, über Hochsensibilität zu forschen, durchforstete ich die vorhandene wissenschaftliche Literatur zu den Begriffen »hochsensibel« und schlicht »sensibel«. Damals wurde der Begriff »sensibel« in zwei Bedeutungen gebraucht: zum einen für talentierte Menschen, zum anderen für Eltern, die für ihre Kinder das Beste erreichen.2 Ich glaube nicht, dass sich die Forschungsarbeiten auf angeborene Hochsensibilität bezogen, denn dieser Begriff existierte damals noch gar nicht. Trotzdem hat man schon 1979 entdeckt, dass Kinder davon profitierten, wenn ihre Eltern in irgendeiner Weise messbar sensibel waren.3 Und dieses Resultat lässt sich auch heute noch mühelos wissenschaftlich belegen. Je mehr wir über das Elternsein im Allgemeinen herausfinden, desto öfter stellen wir fest, dass der Schlüssel zu einem erfolgreichen Elterndasein die emotionale Offenheit für die Kinder ist, selbst wenn man ihnen im selben Augenblick Grenzen setzt.4
Was die Forschungsarbeiten angeht, die hinter vielen der Aussagen in diesem Buch stehen, finden Sie die Quellenangaben am Ende dieses Buches. Sollten Sie »Sind Sie hochsensibel?« noch nicht gelesen haben, möchte ich Ihnen empfehlen, das nachzuholen, wenn Sie Zeit haben. Seit seiner Veröffentlichung 1996 habe ich immer wieder von Lesern gehört: »Dieses Buch hat mein Leben verändert.« Wissen Sie hingegen schon seit Langem, dass Sie hochsensibel sind, dann: »Willkommen zurück in unserer Gemeinschaft« – dieses Mal in der Gemeinschaft von HS-Eltern –, und was mich betrifft: HS-Großeltern!
Beantworten Sie jede Frage nach Ihrem persönlichen Empfinden. Kreuzen Sie »Ja« an, wenn die Aussage zumindest annähernd zutrifft. »Nein«, wenn sie kaum oder gar nicht zutrifft.
Ich fühle mich von zu viel Sinnesreizen leicht überwältigt.
☐ ja
☐ nein
Ich nehme in meiner Umgebung auch Feinheiten wahr.
☐ ja
☐ nein
Die Launen anderer Leute machen mir etwas aus.
☐ ja
☐ nein
Ich neige zu Schmerzempfindlichkeit.
☐ ja
☐ nein
An hektischen Tagen habe ich das Bedürfnis, mich zurückzuziehen – ins Bett, in einen abgedunkelten Raum oder an einen Ort, an dem ich für mich sein und die Reizüberflutung abblocken kann.
☐ ja
☐ nein
Koffein wirkt bei mir besonders stark.
☐ ja
☐ nein
Helles Licht, starke Gerüche, kratzige Kleidung oder Sirenen in nächster Nähe lösen bei mir Unwohlsein aus.
☐ ja
☐ nein
Ich habe ein reiches, komplexes Innenleben.
☐ ja
☐ nein
Laute Geräusche belasten mich.
☐ ja
☐ nein
Kunst oder Musik rühren an mein Innerstes.
☐ ja
☐ nein
Mein Nervenkostüm wird manchmal so dünn und fadenscheinig, dass ich mich unbedingt zurückziehen muss.
☐ ja
☐ nein
Ich bin gewissenhaft.
☐ ja
☐ nein
Ich erschrecke leicht.
☐ ja
☐ nein
Ich werde nervös, wenn ich viel zu tun und nur wenig Zeit habe.
☐ ja
☐ nein
Wenn Menschen sich in ihrem Umfeld nicht wohlfühlen, weiß ich im Allgemeinen, was zu tun ist, damit es ihnen besser geht (zum Beispiel das Licht dimmen oder die Sitzgelegenheiten umstellen).
☐ ja
☐ nein
Es nervt mich, wenn Leute mir zumuten, viele Dinge gleichzeitig zu erledigen.
☐ ja
☐ nein
Ich tue mein Bestes, um keine Fehler zu machen oder nichts zu vergessen.
☐ ja
☐ nein
Wenn rund um mich viel Trubel ist, belastet mich das enorm.
☐ ja
☐ nein
Wenn ich sehr hungrig bin, kann ich mich nicht mehr konzentrieren, und meine Stimmung geht in den Keller.
☐ ja
☐ nein
Alle Veränderungen in meinem Leben erschüttern mich zutiefst.
☐ ja
☐ nein
Ich bemerke und genieße zarte, angenehme Gerüche, geschmackliche Empfindungen, Klänge und alle Arten von Kunstwerken.
☐ ja
☐ nein
Ich finde es unangenehm, wenn um mich herum viel los ist.
☐ ja
☐ nein
Ich tue mein Möglichstes, um mir das Leben so einzurichten, dass es nicht zu aufregenden oder mich überfordernden Situationen kommt.
☐ ja
☐ nein
Starke Reize wie laute Musik oder chaotische Szenen quälen mich förmlich.
☐ ja
☐ nein
Muss ich mich mit anderen messen oder werde ich bei meinen Aufgaben beobachtet, werde ich so nervös und zittrig, dass ich vieles schlechter mache als üblich.
☐ ja
☐ nein
Als ich noch klein war, haben meine Eltern bzw. meine Lehrer mich für schüchtern oder scheu gehalten.
☐ ja
☐ nein
Auswertung
Wenn Sie mehr als 14 Aussagen mit »Ja« beantwortet haben, gehören Sie vermutlich zu den Hochsensiblen, obwohl HS-Männer vielleicht auf nicht ganz so viele Ja-Antworten kommen. Aber offen gesagt ist kein psychologischer Test so unfehlbar, dass man sein ganzes weiteres Leben danach ausrichten sollte. Wir Psychologen versuchen, viele gute Fragen zu entwickeln, lassen dann aber einen Teil davon weg, sodass nur die Fragen bleiben, die im Durchschnitt die höchsten Ergebnisse erzielt haben. Wenn Sie weniger als 14 klare Ja-Antworten haben, aber diese uneingeschränkt zutreffen, dann sind Sie vermutlich ebenfalls hochsensibel. Und das gilt ganz besonders für Männer.
Beginnen wir mit den Fakten: Hochsensibilität ist ein angeborener Wesenszug, der sich bei etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung findet. Man könnte auch von einer alternativen Strategie erfolgreichen Überlebens sprechen, denn dieser Charakterzug findet sich mit mehr oder weniger derselben Häufigkeit bei über hundert Arten.5 Wie Sie in diesem Kapitel sehen werden, ist er gut erforscht und verstanden. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang auch von »sensibler Wahrnehmungsverarbeitung« (nicht zu verwechseln mit der »Wahrnehmungsverarbeitungsstörung«). Ihr wesentliches Kennzeichen ist die Tatsache, dass Menschen mit diesem Charakterzug Informationen gründlicher verarbeiten als andere.6 Sie weisen also eine »hohe Sensibilität gegenüber Umweltreizen« auf. Natürlich ist jedes Wesen in unterschiedlichem Maß für Umweltreize empfänglich, aber HS-Menschen sind das ganz besonders.
Wenn Sie den Selbsttest am Anfang dieses Buches gemacht haben, wissen Sie nun vielleicht, dass Sie zu dieser hochsensiblen Minderheit gehören. Vielleicht wussten Sie das aber auch schon vorher. Wie auch immer: In diesem Buch werden Sie erfahren, dass Hochsensibilität das Abenteuer Elternschaft zu einer außergewöhnlichen Erfahrung macht. Und Sie werden lernen, wie Sie mit Ihrem Anderssein umgehen und es zu Ihrem Vorteil nutzen können.
Dieses erste Kapitel soll Ihren Wesenszug für Sie greifbar werden lassen. Und nicht nur für Sie, sondern auch für all jene, mit denen Sie dieses Kapitel teilen wollen, damit sie es lesen und Sie so besser verstehen. Es bietet Ihnen eine kurze, aber umfassende Einführung in diese Facette Ihres Wesens und die vorhandene Forschung.
Für Sie als Mutter oder Vater ist die wichtigste wissenschaftliche Studie zur Hochsensibilität eine Onlineumfrage, die mein Team und ich anhand von mehr als 1200 englischsprachigen Eltern durchgeführt haben, die teils hochsensibel waren, teils nicht.7 Aus dieser Studie ging hervor, dass HS-Eltern das Elternsein als schwieriger empfanden als andere, gleichzeitig aber auch ein besseres Gespür für ihre Kinder hatten.
An dieser Stelle möchte ich kurz auf die unterschiedlichen Rollen von Vätern bzw. Müttern eingehen. (Zur Klarstellung: Die Studie unterschied nicht zwischen hetero- und homosexuellen Eltern und fragte nicht danach, ob das Elternpaar verheiratet war oder nicht.) Wir hatten zwei Gruppenstichproben, in denen jeweils hochsensible und nicht hochsensible Eltern vertreten waren. Bei der ersten Untersuchung mit 92 Müttern waren zu wenige Väter vertreten, um die Ergebnisse statistisch auswerten zu können. Daher haben wir nur Aussagen zu den Müttern getroffen. In der zweiten Untersuchung fielen die Resultate beider Müttergruppen sehr ähnlich aus.
An der zweiten Untersuchung nahmen 802 Mütter und 65 Väter teil, was uns eine bessere Ausgangsbasis für die Beurteilung der Väter gab. Im Allgemeinen empfanden HS-Väter das Elternsein als ein bisschen schwieriger als normalsensible Väter. Aber dieser Unterschied war minimal und statistisch nicht signifikant. Das mag auch daran liegen, dass es nach wie vor die Mütter sind, auf deren Schultern die Hauptlast der Kinderbetreuung liegt. Verglichen mit normalsensiblen Vätern gaben mehr HS-Väter an, sich gut auf ihre Kinder einstellen zu können, eine Aussage, die für die HS-Mütter genauso zutraf. Dieses Resultat war statistisch signifikant, obwohl der Prozentsatz der Väter vergleichsweise gering war und der der HS-Väter unter ihnen noch geringer. Dieses Sich-auf-das-Kind-einstellen-Können ist vor allem für die Erziehung hochsensibler Jungen wichtig, und HS-Väter sind dafür besonders geeignet. Einer von ihnen drückt das so aus:
Meine Sensibilität hat meinem Sohn geholfen, sein Herz zu öffnen und als Erwachsener liebevoller zu sein. Wir haben uns viele Filme angesehen, bei denen Männer sich um andere Geschöpfe kümmern. Und das war ein wichtiger Puffer, gerade wenn man bedenkt, was für brutale Videos seine Freunde guckten.
Dass HS-Väter auf die Frage nach den Schwierigkeiten des Elterndaseins nicht sehr viel anders antworteten als normalsensible Väter, liegt wohl hauptsächlich daran, dass 1) die Anzahl der Väter zu gering war, um zu einer entsprechenden Aussage zu kommen, und 2) wir keine Daten darüber hatten, ob die Eltern zu Hause waren oder außer Haus arbeiteten. Aber vermutlich können wir davon ausgehen, dass diese Väter (verglichen mit den Müttern) unter der Woche weniger Zeit mit ihren Kindern verbrachten und daher weniger ausgelaugt waren als die HS-Mütter. Es könnte auch noch andere Gründe geben, weshalb HS-Väter sich bei der Frage nach den Schwierigkeiten, die sie mit dem Elternsein hatten, von normalsensiblen Vätern nicht sonderlich unterschieden.
Da unsere Stichprobe nur wenige Väter umfasste und wir im Hinblick auf die Ursachen väterlicher Probleme nicht sicher sind, ist im Buch meist die Rede von HS-Eltern, und wir unterscheiden nicht zwischen Vätern und Müttern. Vielleicht merken Sie, liebe HS-Väter, sich: Durchschnitt heißt keineswegs »auf alle zutreffend«. Sie persönlich können durchaus eine Ausnahme darstellen. Wenn Sie die Elternschaft als schwierig empfinden, dann heißt das nicht, dass mit Ihrer Erfahrung etwas nicht stimmt.
Etwa 600 HS-Eltern fügten am Ende des Fragebogens noch eigene Kommentare hinzu. Als ich sie las, fiel mir auf, dass eine bestimmte Satzstruktur häufig wiederkehrte. Ich nenne sie den »Ist ja toll, aber ...«-Satz. Hier ein paar Beispiele:
Das Elterndasein ist wirklich wunderbar, aber auch ein unglaublicher Stress. Und es ist schwer, dies Leuten zu erklären, die nicht hochsensibel sind.
Es macht mir Freude, ein Kind zu haben. Ich habe mir das immer gewünscht, aber ich merke auch, dass es mich irgendwie überfordert.
Mein Elterndasein als HSP ist zweifelsohne die beste Erfahrung meines Lebens. Obwohl ich immer wieder mit Zweifeln, Schuldgefühlen und Sorgen zu kämpfen habe, glaube ich, dass meine Hochsensibilität meine Fähigkeiten als Mutter verbessert.
All diese Eltern drücken eine Empfindung aus, die man nur als paradox bezeichnen kann: »Es läuft gut und grauenhaft zugleich.«
Das »gut und grauenhaft« sollten wir im Hinterkopf behalten. Denn bevor ich das Thema unserer Forschungsarbeiten zu HS-Eltern beende, möchte ich noch eine Studie erwähnen, die von anderen Wissenschaftlern durchgeführt wurde. Und ich vermute, dass es noch mehr vergleichbare Resultate geben wird. In dieser Studie stellte sich heraus, dass HS-Eltern im Durchschnitt nicht so gut abschnitten wie Eltern ohne dieses Persönlichkeitsmerkmal.8 Die Ergebnisse der betreffenden Studie fußen auf Angaben der Eltern zu ihrem jeweiligen Erziehungsstil. Von den drei Erziehungsstilen, denen sich die Befragten zuordnen sollten, haben Sie vielleicht schon gehört. Auf der einen Seite steht der autoritäre Stil, dem es hauptsächlich um Gehorsam und strenge Regeln geht (hohe Standards, wenig Kommunikation). In der – idealen – Mitte findet sich der autoritative Stil, der Kindern Struktur und Grenzen vermittelt, aber in liebevoller, zugewandter Weise (viel Kommunikation, hohe Standards). Das andere Extrem ist der permissive Erziehungsstil, der kaum Grenzen setzt und von dem Bemühen beherrscht ist, dem Kind zu gefallen (viel Kommunikation, niedrige Standards). HS-Eltern beschrieben sich selbst als zu einem der Extreme neigend. Sie gaben häufiger an, autoritär oder permissiv und weniger häufig autoritativ zu agieren.
Natürlich variiert der persönliche Erziehungsstil im Laufe eines jeden Tages. Doch die Autoren der Studie kamen zu demselben Ergebnis wie ich. Die Extreme repräsentierten bestimmt nicht die wirkliche Überzeugung der HS-Eltern. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass HS-Eltern, vermutlich zu unterschiedlichen Zeiten, von beiden Erziehungsstilen Gebrauch machen, weil sie sich so häufig überfordert fühlen. Und deshalb geben sie an, dass sie mit den Bedürfnissen ihrer Kinder im Allgemeinen so umgehen, wie sie dies in Zeiten der Überforderung tun.
Man kann sich unschwer vorstellen, wie dies im konkreten Fall abläuft. Vater oder Mutter sind total erschöpft und bräuchten eigentlich eine Pause. Daher entscheiden sie sich dafür, strenge Grenzen zu setzen. Ein Elternteil sagt: »Jetzt ist Schluss. Ich brauche meine Ruhe. Geh auf dein Zimmer und spiel dort. Und ich will keinen Mucks mehr hören.« Das Kind protestiert. Der Elternteil unterbricht: »Du weißt, was dir blüht, wenn du nicht augenblicklich tust, was ich dir sage. Keine Geschichte zum Einschlafen. Ich zähle jetzt bis drei. Nein, ich denke nicht daran, dich hier »wirklich still« spielen zu lassen. Ich werde dich holen, wenn ich mich ausgeruht habe.«
Vermutlich braucht der Elternteil jetzt wirklich eine Pause und wird alles tun, um das durchzusetzen. Eine völlig erschöpfte Mutter sagt vielleicht: »Jetzt ist Ruhe angesagt. Bitte geh auf dein Zimmer und spiel dort, damit ich mich ausruhen kann.« Das Kind: »Aber Mama, ich will hierbleiben und spielen!« (Und natürlich quengelt es und fängt dann an, zu weinen.) »Nein, wenn du mit diesen Sachen spielst, bist du meistens laut.« – »Nein, ich bin ganz leise.« – »Wenn du jetzt gehst, spielen wir später zusammen.« – »Nein, ich hasse dich!« (Jetzt kommt das Geschrei.) Und Mama gibt nach: »Gut. Ja, ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Dann bleib hier, aber sei leise. Und das meine ich ernst.«
Doch in diesem Buch geht es nicht darum, wie man seine Kinder richtig erzieht (obwohl ich in Kapitel 3 noch einmal auf dieses Thema eingehen werde). Es gibt unglaublich viele Bücher über Kindererziehung, aus denen jeder etwas lernen kann. Hier geht es einfach darum, aus Ihnen Ihr Optimum als Vater oder Mutter herauszukitzeln, und zwar, indem wir etwas gegen die ständige Überreizung unternehmen, die Sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Wir werden erforschen, wie Sie besser für sich selbst sorgen und Raum für Auszeiten finden können. Es wird nicht leicht werden, zu mehr guten Erfahrungen beizutragen und das Grauen zu mindern. Allen Eltern geht es manchmal grauenhaft. Doch wenn wir ans Ende dieses Buch gelangt sind, werden Sie, da bin ich mir sicher, verstärkt auf Ihre ursprüngliche zugewandte und autoritative Art auf Ihr Kind zugehen können. (Und ich hoffe, jemand führt danach eine Studie durch, die zeigt, wie toll HS-Eltern sind, wenn sie nicht unter Überreizung leiden.)
Also sehen wir uns an, welche Forschungsergebnisse es zur Hochsensibilität noch so gibt.
Die betreffenden Forschungsarbeiten gliedern sich in vier Teilbereiche, denn Hochsensibilität umfasst vier wesentliche Aspekte:
Tiefe der Wahrnehmungsverarbeitung: der innige Wunsch, Einsichten zu gewinnen und Informationen auf den Grund zu gehen.
Schnelle Überreizung: Was das heißt, wissen Sie ja schon!
Emotionale Empfänglichkeit und Einfühlungsvermögen: Auch das ist Ihnen klar, aber die Forschung zeigt, worauf es dabei im Besonderen ankommt.
Klares Gespür selbst für feinste Reize: Dieser Zug ist für Sie als Eltern besonders wichtig.
Wir werden die Forschung zu allen vier Punkten eingehend behandeln, weil wir Ihnen in aller Deutlichkeit zeigen möchten, dass Ihr spezieller Wesenszug eine reale Tatsache ist. Außerdem wollen wir Ihnen zeigen, warum Hochsensibilität Sie zu einer besseren Mutter, einem besseren Vater macht, selbst wenn sich Nachteile damit verbinden können. Die Quellenangaben zu diesen Studien finden Sie in den Endnoten hier im Buch.
Was meine ich mit »Tiefe der Wahrnehmungsverarbeitung«? Wenn man einem Menschen eine Telefonnummer nennt, der keine Möglichkeit hat, sie aufzuschreiben, wird er vermutlich versuchen, sie in irgendeiner Form zu verarbeiten, um sie besser zu behalten: Er wird sie oft wiederholen, in den Zahlen Muster erkennen oder mögliche Ähnlichkeiten zu anderen bekannten Zahlen feststellen. Gelingt dies nicht, wird er sie vermutlich vergessen.
Auf hochsensible Persönlichkeiten (HSP) trifft dies noch mehr zu als auf andere. Hochsensible wollen sich nicht nur etwas merken können, sondern sie versuchen, Querverbindungen zu früheren Erfahrungen herzustellen, als würden sie neue Pfade durch ein Labyrinth erkunden. Das ist im Wesentlichen ihre Überlebensstrategie, eine, die sich schon früh im Tierreich entwickelt hat. Ob es nun um Fruchtfliegen, Fische, Krähen oder Orang-Utans geht: Die hochgradig Sensitiven unter ihnen verarbeiten (registrieren und reagieren auf) Sinneseindrücke stärker als andere Exemplare derselben Art, und sie tun das ständig und ganz automatisch.
Hier ein bekanntes Beispiel aus dem menschlichen Bereich. (Wir werden uns im Folgenden nur noch mit Eltern der Gattung Homo sapiens beschäftigen.) Eine frisch gebackene HS-Mutter sieht, wie jemand einen Buggy an ihr vorbeischiebt. Dabei spielt sich in ihrem Kopf in etwa Folgendes ab: Sie überlegt, was das Ding kostet, sieht die verschiedenen Extras (Becherhalter, Sonnenschutz), fragt sich, was wohl passieren würde, wenn der Buggy umkippt, registriert alle Einzelheiten an der Person, die ihn schiebt, und vergleicht das gute Stück in Lichtgeschwindigkeit mit anderen Buggys. Wenn sie schon einen eigenen hat, wird sie im Stillen Vergleiche anstellen und sich fragen, ob sie mit ihrer Kaufentscheidung richtig lag. Normalsensible Eltern bemerken den Buggy vielleicht gar nicht.
HS-Eltern kreuzten weit häufiger als andere Eltern die folgenden beiden Aussagen an: »Entscheidungen über Kindererziehung (Schule, Einkäufe fürs Kind etc.) treiben mich schon mal in den Wahnsinn.« Und: »Ich glaube, ich habe als Elternteil gute Entscheidungen getroffen.« Genau da liegt der Hase im Pfeffer.
Entscheidungen zu treffen bedeutet für Hochsensible nicht in jedem Fall eine Tortur. Wenn es zu unseren Gewohnheiten gehört, Situationen gründlich zu durchdenken, und wir unsere gewonnenen Einsichten auf vergleichbare Situationen übertragen, dann wissen wir beim nächsten Mal oft schneller als andere, was zu tun ist. Und manchmal haben wir einfach das berühmte »Bauchgefühl« und entscheiden uns für etwas, ohne lange zu überlegen. Man nennt das »Intuition«, und HSP haben eine gute (wenn auch nicht unfehlbare!) Intuition. Diese Intuition ist das Ergebnis tief gehender Wahrnehmungsverarbeitung. Im freiwilligen Kommentarteil unserer Studie äußerten HS-Eltern sich häufig zu ihrer Intuition. Und im Fragebogen bejahten sie häufiger als normalsensible Eltern die Aussage: »Ich weiß, was mein Kind braucht, bevor es mir das sagt.«
Ein weiterer Effekt dieser tiefgründigen Verarbeitung von Sinnesreizen ist die Gewissenhaftigkeit der Betreffenden. Sie denken vermutlich mehr über die Folgen ihres Verhaltens nach als andere. Zum Beispiel, welche Folge es wohl hätte, wenn alle Eltern die schmutzigen Windeln ihrer Sprösslinge einfach unter dem nächsten Busch liegen ließen. Oder was wäre, wenn jeder sein Kind genau vor dem Schultor absetzen würde und dabei in zweiter Reihe parkte. Ihnen fällt auch eher auf als anderen, wenn andere Eltern gedankenlos handeln. Eltern also, die sich keine Gedanken darüber machen, ob sie Dritten Probleme bereiten (denen so etwas gar nicht auffällt, die keine solchen Überlegungen anstellen und die Situation eben nicht weitergehend verarbeiten). Ihre Fähigkeit, Wahrnehmungen so tief zu verarbeiten, lässt Sie mit großer Wahrscheinlichkeit das Richtige tun.
Wissenschaftliche Studien, bei denen die Gehirnaktivität von Hochsensiblen bei verschiedenen Aufgaben der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung mit der von nicht hochsensiblen Personen verglichen wurde, unterstützen die Annahme, dass die Verarbeitung von Eindrücken bei HSP tiefer geht.9 In der ersten und vielleicht wichtigsten Studie, die von Jadzia Jagiellowicz und ihrem Team an der Stony Brook University in New York durchgeführt wurde, hat sich herausgestellt, dass HSP gewöhnlich die Gehirnteile häufiger nutzen, die mit »tief greifender« Informationsverarbeitung zu tun haben, vor allem bei Aufgaben, bei denen es darum ging, Feinheiten wahrzunehmen.10 In einer Folgestudie, die mein Mann Arthur Aron mit einem Team an der Stanford University durchgeführt hat, stellte man den Probanden Aufgaben, die man auf der Basis früherer Forschungsarbeiten als relativ schwierig einstufte (auf der Basis von bildgebenden Verfahren, die mehr oder weniger Aktivität im Gehirn anzeigten), je nachdem, welcher Kultur (»wechselseitig abhängig« oder »unabhängig«) die Probanden entstammten.11
Als man HSP aus beiden Kulturen (in diesem Fall ostasiatische versus europäischstämmige Amerikaner) bei der Lösung dieser Aufgaben im Magnetresonanztomografien beobachtete, ergaben sich erstaunliche Resultate. Die Gehirnaktivität von Normalsensiblen war wie erwartet. Es zeigte sich, dass sie mit der Verarbeitung von Reizen entgegen ihres kulturellen Musters größere Schwierigkeiten hatten. Für Hochsensible aber traf dies nicht zu. Dies zeigt meiner Ansicht nach, dass HSP, egal aus welcher Kultur sie stammen, ganz selbstverständlich über den Tellerrand schauen und auch entgegen ihren kulturellen Erwartungen eher wahrnehmen, wie die Dinge »wirklich sind«.
Alle Eltern unterliegen bei der Kindererziehung dem Einfluss von Familie und kulturellem Umfeld. Viele hochsensible Eltern aber gaben an, dass der Rat anderer sie häufig in Konflikte brachte, sodass sie ihn am Ende ignorierten, wenn sie feststellten, dass ihr Kind ein für das jeweilige kulturelle Umfeld atypisches Bedürfnis hatte. Ich will nicht sagen, dass ich dem zustimme, aber mir berichteten zum Beispiel einige HS-Eltern, dass sie ihr Kind zu sich ins Bett nehmen, obwohl dies den Regeln zur Vermeidung des plötzlichen Kindstodes widerspricht. Manche probierten alternativmedizinische Verfahren (wie Homöopathie oder Akupunktur) aus, wenn die vom Arzt vorgeschlagenen Therapiemaßnahmen keinen Erfolg zeigten. Sie entschieden sich für ungewöhnliche Schulen oder unterrichteten ihre Kinder gleich zu Hause. Sie vermittelten ihrem Nachwuchs Werte, von denen andere Kinder nie etwas hörten. Natürlich tun dies auch Eltern, die beim HS-Fragebogen niedrige Punktwerte erzielt haben. Mein Eindruck aber ist, dass HS-Eltern dies weit öfter tun. Es entsteht der Eindruck, dass Hochsensible sich wie die sensiblen Personen im Magnetresonanztomografen über die Beschränkungen ihrer Kultur erheben und erzieherische Optionen abwägen. Ein Beispiel:
Robert ist ein HS-Vater, der sich gründlich mit Schwangerschaft und Geburt auseinandergesetzt hat. Er erzog seine Kinder in China. Seine Frau hatte eine schwierige Geburt, nach der sie viel Ruhe brauchte. Andererseits brauchte das Baby Körperkontakt und Zuwendung. Wenn Robert also aus dem Haus musste, nahm er ein Babytragetuch, wie die chinesischen Frauen es benutzen, und ging so mit seinem Kind vor dem Bauch durch die Stadt. Damals trug kein einziger chinesischer Mann sein Kind auf diese Weise. Robert tat das nicht, um irgendwie ein Zeichen zu setzen, sondern weil er es für die beste Lösung hielt. Und bald darauf folgten die chinesischen Väter in seinem Viertel Roberts Beispiel. Er ignorierte buchstäblich alle kulturellen Normen, um seinem Kind auf die beste Weise Vater zu sein.
Weitere Belege dafür, dass HSP fähig sind, ihre Wahrnehmungen tiefer zu verarbeiten, liefert uns Bianca Acevedo, die in ihrer Studie Menschen mit Bildern ihres Partners oder unbekannter Personen konfrontierte.12 Zu dieser Studie werden wir später mehr hören. Hier ist vorläufig nur von Bedeutung, dass auch sie die höhere Verarbeitungstiefe von Hochsensiblen belegt.13 Im Vergleich zu anderen zeigen HSP höhere Gehirnaktivität in der Inselrinde, jenem Teil des Gehirns, der die (Selbst-)Wahrnehmung von Augenblick zu Augenblick steuert. Man hat die Inselrinde schon als Sitz des Bewusstseins bezeichnet. Genau dieses Ergebnis würde man von Hochsensiblen auch erwarten.
Ich verspürte zu meinen beiden Kindern sofort eine Art direkter Verbindung.
Ich konnte die Emotionen meines Kindes fühlen, und das ermöglichte mir, mich hundertprozentig auf es einzustellen.
Ich kenne jede Facette in der Mimik meines Sohnes, selbst kaum wahrnehmbare Anwandlungen, die sonst niemand bemerkt.
Schon in den ersten Studien, die mein Mann und ich 1997 durchführten,14 stellten wir fest, dass hochsensible Persönlichkeiten häufig angaben, Dinge stärker zu empfinden als andere Menschen. In einem 2005 durchgeführten Experiment vermittelten wir den Probanden den Eindruck, sie hätten bei einer bestimmten Eignungsprüfung sehr gut oder sehr schlecht abgeschnitten.15 Die hochsensiblen Probanden waren davon sehr betroffen, die anderen interessierte das kaum.
Jadzia Jagiellowicz, dieselbe Psychologin, die die erste Studie mit bildgebenden Verfahren an HSP durchführte, machte 2016 ein Experiment: Sie zeigte ihren Versuchsteilnehmern Fotos, die bei den meisten Menschen starke Reaktionen auslösten (zum Beispiel Bilder von Schlangen, Spinnen oder Müll für negative Reaktionen und Bilder von Welpen oder Geburtstagskuchen für positive Reaktionen. Hochsensible reagierten sowohl auf negative wie positive Bilder stärker als andere Menschen, und sie waren sich schneller über ihre Empfindungen im Klaren, vor allem bei positiven Bildern. Der Effekt ließ sich mit bildgebenden Verfahren bestätigen.16 Interessanterweise traf dies noch eher zu, wenn sie eine gute Kindheit gehabt hatten.17
Natürlich reagieren Sie als HS-Vater oder -Mutter nicht auf Welpen oder Geburtstagskuchen, sondern auf ein anderes menschliches Wesen. Die eben erwähnte Studie von Bianca Acevedo (bei der den Probanden Fotos des Partners bzw. von Fremden vorgelegt wurden, die einen glücklichen, traurigen oder neutralen Ausdruck aufwiesen) hat ergeben, dass HSP mehr Gehirnaktivität zeigen, wenn das Foto eine emotionale Beteiligung signalisiert. Ein Teil dieser Aktivitäten zeichnete sich in den Spiegelneuronen-Systemen ab. Diese helfen Menschen und Primaten, durch Nachahmung zu lernen, und sind auch zentral für unser Mitgefühl gegenüber anderen.18 Dies unterstreicht, dass gerade dieses System bei Hochsensiblen besonders ausgeprägt ist und ihnen erlaubt, die Absichten und Gefühle anderer zu erahnen. Das galt besonders, wenn sie das glückliche Gesicht ihrer Lieben betrachteten. Der gleiche Effekt zeigte sich übrigens auch bei traurigen Gesichtern – und hier beschränkte er sich nicht auf die Gesichter von Bekannten. Es scheint, dass die größere emotionale Empfänglichkeit von HSP auf ein ausgefeilteres Verarbeitungssystem für emotionale Reize zurückgeht und nicht nur auf ein simples »Emotionalersein« als andere.
Wie ist das denn nun mit dem »zu emotional sein«?
Es ist völlig klar, dass die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ein praktischer Wesenszug ist, gerade wenn man das Abenteuer der Elternschaft durchlebt. Aber Sie fragen sich vielleicht auch, ob diese starken Emotionen Sie nicht weniger rational und klar im Denken machen.
Diesbezüglich habe ich wunderbare Nachrichten für Sie. Jüngere wissenschaftliche Modelle stellen die Emotionen ins Zentrum unseres Denkens und unserer Weisheit.19 Emotionen regen uns dazu an, über die Dinge nachzudenken.20 Wir lernen mehr (vor allem als HSP) und erinnern uns an mehr Dinge, wenn wir wissen, dass wir geprüft werden. Die wichtigste Aufgabe der Emotionen ist also nicht, uns zum Handeln anzuregen, sondern zum Denken. In diesem Sinne müssen Hochsensible sogar emotionaler sein als andere, um das Mehr an Informationen verarbeiten zu können.
Natürlich verleiten Emotionen uns Menschen, auch Hochsensible, dazu, kopflos zu handeln, und das mitunter auf höchst irrationale Weise. Wenn Ihr Haus niedergebrannt ist oder Sie als Schüler an der Tafel vor der ganzen Klasse beschämt wurden, dann stehen Sie als Erwachsener unter Spannung, wenn Sie später eine auch nur annähernd ähnliche Situation durchleben wie die, die das Trauma ursprünglich ausgelöst hat – beispielsweise wenn Sie Rauch riechen oder vor einer Gruppe eine Frage beantworten sollen. Als HSP reagieren Sie ohnehin stärker auf positive und negative Erfahrungen. Mussten Sie bereits viele negative Erfahrungen einstecken, kann Ihre allgemeine Reaktion darauf in manchen Fällen das rationale Denken überlagern – aber ganz sicher nicht in allen Situationen.
Etwas sollten Sie auf jeden Fall im Hinterkopf behalten: Für die meisten Hochsensiblen ist die Elternschaft eine neue Erfahrung und wird daher weniger mit traumatischen Erlebnissen assoziiert, selbst wenn die Kindheit schwierig war. Tatsächlich fanden wir heraus, dass die Erfahrung der Elternschaft bei HS-Eltern nicht stärker von negativen Kindheitserlebnissen geprägt wurde als bei anderen Eltern. Vielleicht schenkt die Elternschaft Hochsensiblen Heilung, weil sie ihnen einen ganz neuen Bereich eröffnet, in dem sie Selbstvertrauen und Freude erfahren können.
Einige der Studien, die wir oben angeführt haben, zeigen auch, dass HS-Eltern von schönen Erfahrungen und Erfolgen stärker beflügelt werden, als negative Vorfälle sie behindern. Auf jeden Fall trifft dies auf Hochsensible eher zu als auf andere Menschen. Wir versuchen vermutlich, die guten Erfahrungen zu wiederholen. HS-Eltern sind möglicherweise auch stärker motiviert als andere, Gelegenheiten zu solchen Erfahrungen zu entdecken und zu nutzen.
So kümmern sich HS-Eltern meist frühzeitig darum, welcher der beste Kindergarten für ihr Kind sein könnte. (Je nach den Aktivitäten, die dort angeboten werden. Jedenfalls geht es HS-Eltern nicht nur darum, ihr Kind sicher verwahrt zu wissen.) Und schon die Vorfreude, die sie bei der Vorstellung empfinden, dass ihr Kind in diesem speziellen Kindergarten angenommen wird, wirkt auf HS-Eltern motivierend. Ein anderes Beispiel: Wenn ein HS-Vater mit seinem Sprössling eine schöne Zeit im Schnee hatte, plant er solche Ausflüge für den nächsten Winter im Voraus. Die meisten HS-Eltern denken auch gründlich darüber nach, was sie unter Glück verstehen (etwa einen guten Charakter oder bereichernde Beziehungen, jedenfalls mehr, als nur Spaß haben und Geld verdienen), damit sie ihr Kind in die richtige Richtung lenken können. Mehr als andere Eltern planen wir für unsere Kinder, weil es uns glücklich macht, wenn wir sie froh sehen und beobachten können, wie sie gedeihen. Da wir auf Positives so stark reagieren, gelingt uns das auch gut, selbst wenn dies nicht jeden Tag der Fall sein sollte.
Im nächsten Abschnitt berichtet eine HS-Mutter, wie sie mit ihren starken Emotionen während der (vernünftigen) Scheidung umging. Hier die Zusammenfassung von Nancys Geschichte:
Nancy und Hal arbeiteten Vollzeit in einem fordernden Job. Sie hatten keine Zeit für andere Dinge außer den Diskussionen um die Erziehung ihres Kindes. Nancy fand, dass die Ansprüche im Beruf sowie in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau sie so sehr forderten, dass sie erschöpft, krank und depressiv wurde – kurz gesagt, dass sie »am Rande eines Nervenzusammenbruchs« stand.
Schließlich beschlossen die beiden, sich scheiden zu lassen. Ironischerweise löste dies für beide alle Probleme, denn Nancy kümmerte sich wochentags um ihren Sohn, womit sie Hal entlastete. Er hingegen nahm den Jungen am Wochenende zu sich, sodass Nancy Zeit für sich selbst hatte. (Nebenbei gesagt: Ich weiß auch nicht, warum Paare das nicht ohne Scheidung hinbekommen.) Nancy und Hal blieben gute Freunde und haben ein »Eltern-Arrangement, das von gegenseitigem Respekt getragen ist«, wie Nancy dies formuliert. Sie haben Dan, ihren Sohn, sogar gemeinsam zu einem Geburtstagsausflug nach Disney World begleitet.
Dort hatte Nancy ein zutiefst emotionales Erlebnis. Nachdem sie sich in ihrem Hotelzimmer eingerichtet hatte, kam sie in die Lobby und sah Dan und Hal zusammen. Beide begrüßten sie mit einem breiten Grinsen – und Nancy empfand große Freude. Obwohl sie nicht mehr länger eine traditionelle Familie waren, empfand sie eine tiefe Befriedigung bei dem Gedanken, dass »wir es auf die andere Seite geschafft hatten. Vor uns lag eine Zukunft voller Glück und Erfolg. Dan würde immer zwei glückliche Eltern haben.« In dieser Hotellobby in Orlando war es für sie, als seien sie alle drei in strahlendes Licht getaucht. Sie wusste, dass sie diesen Augenblick nie mehr vergessen würde. »Meine Sensibilität hat diesen Moment unauslöschlich in mein Gehirn eingebrannt«, sagt sie. Sicher hatten diese drei Menschen alle etwas davon, dass Nancy sich dieser positiven Erfahrung, dieser tiefen Freude öffnen konnte.
HS-Eltern sind häufig stolz darauf, wie gut sie sich auf subtile Reize einstellen können:
Mein zweites Kind war dreizehn Wochen zu früh dran und musste beatmet werden. Das erforderte einen Kehlkopfschnitt. Sie hatte keinerlei Möglichkeit, sich stimmlich zu äußern. Also hörte auch niemand, wenn sie weinte. Dank meiner Sensibilität konnte ich mich trotzdem auf ihre Bedürfnisse einstellen. Ich war immer da, wenn ihr Tränen aus den Augen kullerten.
Wir klapperten ein College nach dem anderen ab, damit unser Sohn sich das aussuchen konnte, das am besten zu ihm passte. Dabei achtete ich vorzugsweise auf Kleinigkeiten: wie die Schüler gingen, die uns herumführten, wie sie gekleidet waren, wie sie sich ausdrückten; wie gut es den Pflanzen ging; welchen Ton die Leute anschlugen, mit denen wir redeten, welche Miene sie an den Tag legten.