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Inhalt

[Cover]

Titel

DAS APARTMENT

ANDREA

INDIGO HEIRATET

CHARLOTTE

CHLOE

SIGRID

INDIGO HAT JETZT EIN BABY

EVELYN

DER LETZTE MANN AUF DER WELT

FELICIA

BETSY

DIE DINNERPARTY

NINA

INDIGO LÄSST SICH SCHEIDEN

MÄDCHEN

GRETA

DIE SCHAUSPIELERIN

ZIEMLICH ERWACHSEN

ZUSAMMENFINDEN

DANKSAGUNG

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Nicht mein Ding

DAS APARTMENT

Du studierst Kunst, du findest es furchtbar, du brichst ab, du ziehst nach New York City. Für die meisten Leute ist das eine Geste, die Ehrgeiz beweist, nach New York City ziehen. Aber für dich besiegelt es nur dein Scheitern, weil, dort bist du aufgewachsen, also kehrst du, nachdem du es in der wirklichen Welt nicht geschafft hast, bloß wieder nach Hause zurück. Mental im Rückwärtsgang.

Eine Weile wohnst du downtown bei deinem Bruder und seiner Freundin in einer Kammer, wo dein Bett zwischen Schuhregalen und ein paar von den Gitarrenkoffern deines Bruders klemmt, und einer Wand voller Bücher aus dem Grundstudium seiner Freundin an der Brown University. Du findest einen Job, mithilfe besagter Freundin. Einen Job, den du weder hasst noch liebst, aber du kannst dich schlecht über geregelte Arbeit beschweren, du bist schließlich nicht besser als alle anderen und in gewisser Hinsicht noch viel, viel schlimmer. Du siehst ein, wie privilegiert du bist, und du packst es an.

Du verdienst allmählich Geld. Du findest ein kleines, verstaubtes, schäbiges Loft in einer miesen Ufergegend in Brooklyn. Es hat ein einziges, bodentiefes Fenster, das ein winziges Empire State Building in der Ferne schön umrahmt. Jetzt bist du zu Hause. Alle in deinem Leben atmen auf. Jetzt ist sie in Sicherheit, denkt jeder. Nie sagt irgendjemand zu dir: »Und, hast du aufgehört mit der Kunst?« Weil, sie wollen die Antwort nicht hören oder es ist ihnen egal oder sie haben Angst zu fragen, weil du ihnen Angst machst. Wie dem auch sei, alle machen sich mitschuldig daran, an deiner neuen Lebensphase ohne Kunst. Auch wenn du nichts auf der Welt mehr geliebt hast.

Aber du hast ein kleines Geheimnis: Du produzierst zwar keine Kunst mehr, aber immerhin zeichnest du jeden Tag. Irgendjemandem davon zu erzählen hieße einräumen, dass deinem Leben etwas fehlt, und das sagst du lieber nicht laut, außer in der Therapie. Aber so ist es, einmal täglich zeichnest du immer wieder dasselbe: dieses gottverdammte Empire State Building. Jeden Morgen (beziehungsweise Nachmittag, am Wochenende, je nach Kater) stehst du auf, trinkst eine Tasse Kaffee, setzt dich an den Spieltisch am Fenster und zeichnest es, normalerweise mit Bleistift. Wenn du Zeit hast, auch mit Tusche. Manchmal, wenn du spät dran bist und zur Arbeit musst, machst du es stattdessen abends, und dann kolorierst du die Skizzen auch, um wiederzugeben, dass sich die Beleuchtung des Gebäudes ständig verändert. Manchmal zeichnest du nur das Gebäude und manchmal zeichnest du die Gebäude darum herum und manchmal zeichnest du den Himmel und manchmal zeichnest du die Brücke im Vordergrund und manchmal zeichnest du den East River und manchmal zeichnest du den Fensterrahmen um die ganze Szenerie. Diese Zeichnungen füllen ganze Skizzenbücher. Du könntest ewig dasselbe zeichnen, wird dir klar. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, denn es ist nicht derselbe Fluss, und es ist nicht derselbe Mensch, das hast du einmal gelesen. Das Empire State Building ist dein Fluss. Und du musst dein Apartment nicht verlassen, um hineinzusteigen. Du fühlst dich wieder sicher in der Kunst, auch wenn du weißt, dass du nicht besser wirst, dass man die Arbeiten, die du machst, an sonnigen Samstagen auf dem Gehweg vor dem Central Park an Touristen verkaufen könnte, und das war’s dann auch. Sie haben nichts Herausforderndes, keine Botschaft, nur dein Ausblick in ständiger Wiederholung. Aber mehr kannst du nicht tun, mehr hast du nicht zu bieten, und es reicht gerade für das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Das machst du sechs Jahre lang. Apartment in Brooklyn, eine Gegend im Umbruch, wieso umziehen, wenn die Miete so günstig ist? Mittelmäßiger, aber gut bezahlter Job, in dem du glänzt; du erhältst öfter eine kleine Beförderung. Ehrenamtliches Engagement hier und da. Du gehst demonstrieren, wenn deine aktivistische Mutter sagt, dass du demonstrieren sollst. Unnütze Skizzenbücher stapeln sich auf dem untersten Brett eines Bücherregals. Lindern kaum das höllische Jucken. Außerdem trinkst du viel, und lange Zeit nimmst du auch Drogen, Koks hauptsächlich und Ecstasy, aber manchmal auch Pillen, um am Ende der Nacht wieder runterzukommen. Auch eine Art, den Juckreiz zu lindern. Und es gibt Männer, in deinem Bett, in deiner Welt, irgendwie, doch dir ist weniger an ihnen gelegen als vielmehr daran, jene Stimme in deinem Kopf zu dämpfen, die dir sagt, dass du nicht das Geringste mit deinem Leben anfängst, dass du ein Kind bist, dass die Insignien des Erwachsenseins nur Verarsche sind, dass sie einen Dreck bedeuten und du zwischen allen Stühlen sitzt und immer sitzen wirst, es sei denn, etwas zwingt dich zur Veränderung. Und außerdem, die künstlerische Arbeit fehlt dir.

Deinen Bekannten scheint Veränderung leicht zu fallen. Sie haben keine Probleme damit, im Beruf erfolgreich zu sein und Apartments zu kaufen und in andere Städte zu ziehen und sich zu verlieben und zu heiraten und Doppelnamen zu bilden und Katzen aus dem Tierheim zu adoptieren und schließlich Kinder zu kriegen und das alles akribisch im Internet zu dokumentieren. Es scheint sie keinerlei Anstrengung zu kosten. Ihre Leben sind aufgebaut wie Fertighäuser – jedes kostbare, aber komplett vorhersehbare Klötzchen wird vor deinen Augen auf ein anderes gesetzt.

Am tollsten ist es, wenn eine Freundin mit dir was trinken gehen will, eine Freundin, mit der du schon zahllose Gläser in deinem Leben getrunken hast, und wenn ihr dann an der Bar sitzt, starrt deine Freundin in die Karte und bestellt nichts und du sagst gezwungenermaßen: »Trinkst du nichts?«, und sie sagt: »Ich würde ja gern« und macht eine dramatische Pause und du weißt genau, was als Nächstes kommt. Gleich erzählt sie dir, dass sie schwanger ist. Und zwar mit diesem Subtext, dass du Glück hast, weil du noch was trinken kannst, und sie kein Glück hat, weil sie nichts trinken kann, mit diesem blöden Baby im Bauch. So ein dämliches Drecksbaby. Im Bauch.

Irgendwann werden dein Bruder und seine Frau schwanger, und du kannst nicht mal ablästern, weil es deine Familie ist, und außerdem waren sie immer unfassbar gut zu dir, dein Bruder und du, ihr habt nämlich eine besondere Bindung durch das frühe Ableben eures Vaters, Überdosis. Du organisierst eine Babyparty, auf der du zu viel Sekt-Orange trinkst und auf der Toilette weinst, aber relativ sicher bist, dass niemand es merkt. Nicht, dass du ein Baby willst oder heiraten willst oder so. Das ist nicht dein Ding. Du hast es nur einfach irgendwie satt. Hast die Welt satt. Hast es satt, irgendwo hinpassen zu wollen, wo du nicht passt. An diesem Abend gehst du nach Hause und zeichnest das Empire State Building und es gibt dir Hoffnung, das zu tun, was du so liebst, so viel Hoffnung, dass du online nachschaust, wofür die Farben heute Abend stehen – grüne und blaue Beleuchtung –, um zu erfahren, sie ehren den Nationalen Tag der Essstörungen, was dich wieder total deprimiert, obwohl du nie im Leben essgestört warst.

Neun Monate kommen und gehen, jeden Moment könnte ein Baby geboren werden. Du rufst deinen Bruder an, um zu erfahren, wann genau, aber sie haben so eine hippiemäßige Hebamme, und er sagt: »Wissen wir noch nicht. Könnte noch eine Woche dauern.« Auf einmal bist du ganz hibbelig vor Begeisterung. Es wird ein Mädchen. »Ruf mich an, sobald du was hörst, was auch immer«, sagst du zu ihm. Dann hast du drei ungemein öde, nervtötende Nachmittagsmeetings hintereinander, und danach wirst du in eine andere Box versetzt, zusammen mit einer neu eingestellten Kollegin, die dreizehn Jahre jünger ist als du und irrsinnig witzig und laut und hübsch und die wahrscheinlich halb so viel verdient wie du, aber trotzdem alles für enge Kleider ausgibt. Es ist Freitag. Du gehst bei dir um die Ecke was trinken. Etwas zu viel. Dann rufst du deinen Dealer an, den du seit Jahren nicht angerufen hast. Du fasst es nicht, dass seine Nummer noch funktioniert. Er sagt: »Wir haben uns eine Weile nicht gesehen.« Du sagst: »Ich war beschäftigt«, als müsstest du rechtfertigen, dass du keine Drogen mehr nimmst. Du kaufst nicht besonders viel, gerade genug, doch dann lernst du an der Bar einen Mann kennen – ihr tut beide so, als würdet ihr euch schon kennen, was nicht stimmt, aber es fühlt sich, warum auch immer, sicherer an – und er hat mehr als genug für euch beide. Dann geht ihr zusammen nach Hause, zu dir, zum winzigen Manhattan im Fenster, zu den Skizzenbuchstapeln, und ihr zwei macht euch daran, die ganzen Drogen zu nehmen. Das geht so stundenlang. Ein bisschen Sex kommt auch vor, aber ihr seid beide nicht übermäßig interessiert aneinander. Die Drogen verbinden, weiter nichts. Du hast nicht mal Bock, Bock zu haben. Irgendwann geht er, und du schaltest dein Telefon aus und legst dich schlafen. Am Sonntagabend wachst du auf. Du schaltest dein Telefon an. Es sind acht Nachrichten von deinem Bruder und von deiner Mutter da. Du hast die Geburt deiner Nichte verpasst.

Danach nimmst du keine Drogen mehr, nie wieder. Keine Entziehungskur nötig. Du fängst an, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Aber die Welt sieht aus wie immer. Job, Apartment, Freunde, Familie, Ausblick. Ein paar Wochen lang scheint es, als stünde auf der Arbeit eine mächtige Beförderung an, aber dann wird dir klar, dass du dadurch auch mehr Verantwortung bekommst, also windest du dich irgendwie wieder raus. Diese Beförderung würde bedeuten, dass du noch eine Weile bleibst. Du belügst dich selbst: Ich sollte mir alle Optionen offenhalten. Man weiß nie, was noch passiert.

Nach wie vor zeichnest du. Das ist das Beste an deinem Tag. Das ist dein wahrhaftigster Moment. Dann strömt der Atem aus deinem Körper und du hast das Gefühl, ein wenig über dem Boden zu schweben. An Neujahr, jenem Tag der Neuanfänge, gestattest du dir, ein paar alte Skizzenbücher durchzublättern. Du begreifst, dass du besser geworden bist. Du bist nicht unbegabt. Das ist etwas, das dich erfüllt. Du lässt es sacken. Du lässt es sacken mit dir. Du gestattest dir das Glücksgefühl, dich selbst zu mögen. Und wenn das schon genügt?

Als du eine Woche später aus deinem Mietshaus trittst, fällt dir auf, dass das Grundstück gegenüber eingezäunt ist. Da steht ein Schild, eine Baugenehmigung. Ein zehnstöckiges Gebäude mit Eigentumswohnungen. Beginn in einem Monat. Du wohnst im fünften Stock. Dieses Gebäude wird dir den Blick verstellen, definitiv. Ganz kurz fragst du dich, ob das ein Scherz ist. Du schaust dich um, ob irgendwo eine Kamera auf dich gerichtet ist, deine Reaktion erwartet, aber nein, es ist real, dein Leben wird sich verändern. Endlich überrascht dich mal was.

Ein Jahr lang wird an dem Haus gebaut, und du siehst jeden Tag zu, wie es entsteht. Stein für Stein. Du weißt nicht, wann genau es fertig sein wird, wann du den Blick tatsächlich verlieren wirst, doch du beschließt, eine letzte Party zu geben, die das Ende markiert. Du lädst alle ein, die du kennst, und sogar Kinder dürfen kommen. Deine Freunde stoßen auf das Empire State Building an, und auf dich. »Der Blick war gut«, sagt eine deiner alten Freundinnen von der Arbeit, mit ihrem Verlobten im Schlepptau. »Es war kein Millionen-Dollar-Blick«, sagst du, »aber fünfzehnhundert im Monat war er wert.« »Da hast du aber einen super Deal«, sagt der Verlobte. »Du kannst nicht umziehen, nicht mal ohne den Blick. Das Apartment hier kannst du nie verlassen«, sagt er und schüttelt dich an den Schultern.

Am Tag, als der letzte Stein einzementiert und dein Ausblick offiziell weg ist, kaufst du eine Flasche Wein und bestellst eine Pizza und setzt dich an deinen Tisch. Du starrst auf Luft und Nichts und Stein. Was dich zu etwas Besonderem gemacht hat, ist weg. Diesen Ausblick kriegst du nie zurück, so wenig wie diese Zeit. Und vorzuweisen hast du daraus nichts als diese Skizzenbücher, die sowieso unnütz sind. Du denkst daran, sie zu verbrennen, aber was würde das bringen? Und nur sie sind der Beweis, dass es dich auf dieser Welt gegeben hat. Du begreifst, du hast dir die ganze Zeit nur beweisen wollen, dass du noch lebst. Aber wenn ich das hier nicht habe, bin ich dann tot? Bestimmt nicht. Bloß nicht. Du beißt in deine Pizza und trinkst einen Schluck Wein und stellst dir die Frage, für die du endlich bereit bist: Und jetzt?

ANDREA

Ein Buch erscheint. Es ist ein Buch über das Dasein als Single, geschrieben von einer extrem attraktiven Frau, die mittlerweile verheiratet ist, und es arbeitet kritisch, wenn auch wehmütig ihre Zeit als Alleinstehende auf. Ich habe kein Interesse daran, das Buch zu lesen. Ich bin schon Single. Ich bin seit Langem Single. Aus diesem Buch kann ich über das Dasein als Single nichts lernen, was ich nicht schon weiß.

Aber egal – alle, die ich kenne, erzählen mir von diesem Buch. Sie bringen wie Brieftauben flatternde Botschaften, auf Geheiß eines niederträchtigen Medienmaestros von einem Dach in Midtown Manhattan. Nichts wird sie daran hindern, ihren Bestimmungsort zu erreichen, mich, den mutmaßlichen Kern ihrer Zielgruppe.

Meine Kollegin Nina reicht mir mit klimpernden Armreifen ihr ausgelesenes Exemplar, obwohl ich nie ein Interesse geäußert habe, es zu lesen, geschweige denn mit ihr darüber gesprochen hätte. Sie ist erst seit Neuestem Single, und sie ist vierundzwanzig. Eine Frau, die nicht erst seit Neuestem Single und auch keine vierundzwanzig ist, würde sich hüten, das Buch an eine andere Singlefrau weiterzugeben.

Meine Mutter bestellt online ein Exemplar für mich und eines Tages kommt es an, überraschend mit der Post, ohne beigefügte Notiz oder Namen, und ich brauche eine Woche, um herauszufinden, wer es mir geschickt hat. Die ganze Zeit denke ich: Ein Geist hat mir das Buch geschickt. Ein Geist will, dass ich über das Dasein als Single nachdenke.

Schließlich gesteht meine Mutter, dass es von ihr kommt. (Sie sieht das natürlich nicht als Geständnis. Ich bin die Einzige, die das so sieht.) »Hast du das Buch bekommen?«, fragt sie. »Ach, du hast das Buch geschickt«, sage ich. »Mom, warum schickst du mir so ein Buch?« »Ich dachte, es würde helfen«, sagt sie.

Meine Schwägerin, die im Hinterland von New Hampshire wohnt und ihr Leben der Pflege ihres sterbenden Kindes, meiner Nichte, gewidmet hat und ihre Tage damit verbringt, über die Sterblichkeit zu sinnieren, erwähnt das Buch während meines wöchentlichen Sonntagsanrufs bei ihr zu Hause. »Hast du von diesem Buch gehört?«, sagt sie. »Ja«, sage ich. »Ich habe von dem Buch gehört.«

Alte Freundinnen vom College posten Links zu Kritiken davon auf meiner Facebook-Seite und schreiben Sachen wie: »Klingt, als könnte dir das gefallen« oder »Das hat mich an dich erinnert«. Ich denke: Muss mir das jetzt gefallen? Weil, es gefällt mir nicht. Es missfällt mir. Wo ist mein »Missfällt mir«-Button? Wo klicke ich, um zu schreien?

Ich gehe zu meiner Therapeutin und sage: »Warum denken alle nur an das Single-Sein, wenn sie an mich denken? Ich bin doch auch noch was anderes.«

Und sie ist entzückt, dieses alte, ironische, runzlige, gerissene Aas. Das fühlt sich jetzt an wie ein Durchbruch, zumindest wie eine wertvolle Übung, ein Lernmoment. Immerhin. Hiermit verändert sich etwas in unserem Gespräch. Eine Behauptung wird aufgestellt, eine These zu meinem Leben, endlich. »Dann sagen Sie mir, wer Sie sind«, sagt sie. »Welche Aussagen treffen außerdem zu?«

»Tja, ich bin eine Frau«, sage ich.

»Gut, ja.«

»Ich arbeite in der Werbung als Designerin.«

»Ja.«

»Im Prinzip bin ich Jüdin.«

»Okay.«

»Ich bin New Yorkerin.«

Allmählich werde ich unsicher. Bestimmt bin ich mehr als das.

»Ich bin eine Freundin«, sage ich. »Ich bin eine Tochter, ich bin eine Schwester, ich bin eine Tante.« All das war in letzter Zeit irgendwie weiter weg, aber es existiert als Teil meiner Identität.

In meinem Kopf denke ich:

Ich bin allein.

Ich bin eine Trinkerin.

Ich bin eine ehemalige Künstlerin.

Ich bin eine, die im Bett kreischt.

Ich bin die Kapitänin des sinkenden Schiffs, das mein Leib ist.

Zu meiner Therapeutin sage ich: »Ich bin brünett.«

Ich gehe zu einem Date mit einem Mann, den ich aus dem Internet kenne, und es läuft nicht gut. Auch wenn es mir einen gewissen Triumph bereitet, dass ich nicht diejenige bin, die bei diesem Date zu viel trinkt, währt das nur vorübergehend, denn ich muss trotzdem mit einem Betrunkenen fertigwerden, ich muss trotzdem Zeit mit diesem Mann verbringen, aufpassen, ob er feindselig wird oder fröhlich. Ich muss neben mich treten. Das hier ist kein Date; das hier ist ein Vorsprechen für ein Stück über ein schreckliches Date.

Er hat schon zwei Bourbon intus, als ich komme, und ich reagiere mit Nachsicht, dann aber doch angesäuert, weil ich das Gefühl habe, dass er mich zu oft berührt. Er ist zu vertraulich, zu aufdringlich, und außerdem trägt er Rollkragen, und er hat nicht den richtigen Kopf für einen Rollkragen, vielleicht liegt es auch nur an seinem Kinn, oder am Mund, keine Ahnung, ich meine, ich kann einfach nicht mit diesem Rollkragen. Und dann, als wir auseinandergehen, fragt er mich, ob ich es gelesen habe, das Buch. Ich sage: »Nein, du?« Und er sagt: »Nein, ich lese nicht viel«, und ich denke: Quelle surprise. Und dann meint er noch: »Ich weiß aber, es geht da total um dich.« Und ich sage: »Du bist doch auch Single, wieso geht es nicht um dich?« Und er sagt: »Ach, das? Für mich ist das nur vorübergehend.«

Die Beständigkeit meiner Unbeständigkeit. Sie gehört zu mir, so stehe ich da. Ich stehe vor ihm am Eingang einer U-Bahn-Station und besitze nichts als mich selbst. Ich selbst bin alles, will ich ihm sagen. Doch für ihn heißt das: nichts, denn so nimmt er sich im Augenblick wahr. Er ist allein, also ist er nichts. Wie erkläre ich ihm, dass das, was für ihn gilt, für mich nicht gilt? Sein Kontext ist nicht mein Kontext. Wie jagt man den Bus in die Luft, mit dem man sein Leben lang fahren musste? Man ist nicht schuld, wenn es kein anderes Transportmittel gab.

»Du solltest es lesen«, sagt er, und ich schlage ihm mit der Handtasche auf den Arm, als wäre ich angegriffen worden und wollte ihn verjagen. Ich verlasse die Bühne, Vorsprechen beendet, und er schreit mir seinen letzten Text hinterher: »Hey, was sollte das jetzt?« Falls er mich Schlampe genannt hat, erinnere ich mich nicht, es gehört zu haben. Wahrscheinlich hat er es nur gemurmelt. In letzter Minute improvisiert.

Ich lese das Buch nicht. Ich lasse es in der Waschküche meines Mietshauses liegen, und als ich das nächste Mal komme, ist es weg. Meine Mutter fragt nicht wieder danach. Ihre Einschätzung dessen, was mich gerade belastet, verändert sich ständig. Das Single-Dasein ist vorläufig vergessen.

Vergessen wir das, ja? Bitte, können wir einfach alle über was anderes reden?

INDIGO HEIRATET

Ich fliege nach Seattle, allein, zur Hochzeit meiner Freundin Indigo. Sie war eine der Ersten, mit denen ich mich auf der Arbeit angefreundet habe, als ich neu in der Werbung war, und über Jahre hinweg sind wir zusammen praktisch jeden Donnerstagabend zur Happy Hour in Midtown was trinken gegangen und manchmal sogar zusammen weggefahren, nur übers Wochenende, aber immerhin. Ihre Mutter stammt aus Trinidad und ihr Vater ist weiß, und wo ich auch mit ihr hinging, sagten die Männer zu ihr, sie sei »exotisch«, worauf sie immer entgegnete: »Ich bin kein Vogel und keine Blume, ich bin ein menschliches Wesen.« Schließlich kündigte sie ihren Job, um Yogalehrerin zu werden, aber jetzt heiratet sie einen reichen Mann, also arbeitet sie nur Teilzeit. Dennoch geben sie eine Hippie-Hochzeit, zumindest lässt das Drumherum darauf schließen. Beide gehen barfuß. Überall sind Wildblumen. Ihr Kleid sieht aus, als hinge es in Fetzen. Wir befinden uns in irgendjemandes Garten, nur dass es ein Garten mit Blick auf den Puget Sound ist.

Ich sitze am Single-Tisch unter einem Geflecht aus blinkenden Lämpchen und Weinblättern. Es gibt vier weitere Single-Frauen am Tisch: zwei Lesben, die beste Freundinnen und offenbar voll damit beschäftigt sind, alle durchzuhecheln, mit denen sie auf dem College waren; eine ehemalige Nonne, deren Geschichte den ganzen Abend über ein Geheimnis bleibt; und als Vierte Karen, eine echte Karrierefrau. Ich sage das nicht, um mich über sie lustig zu machen, sondern weil sie sich selbst so bezeichnet hat, was bedeutet, dass es doppelt zutrifft. Zwei schwule Männer sitzen am Tisch, die mal zusammen waren und den Abend als Gelegenheit nutzen, ein paar Sachen zu klären, und zwei Heteros: ein frisch geschiedener Onkel des Bräutigams namens Warren und ein großer, breiter Kerl namens Kurt, der in der Firmenzentrale der Seattle Mariners tätig ist.

Ich schaue zu, wie sich Karen zügig mit Sancerre zuschüttet, und Kurt macht mit, allerdings trinkt er Scotch. Sie flirten heftig, schamlos, geradezu professionell, und man hat das Gefühl, nicht mehr auf einer Hochzeit zu sein, sondern eher in einer Bar, wo vor ihnen ein Körbchen Popcorn steht und im Fernsehen lautlos eine Sportsendung läuft und eine Jukebox alle Viertelstunde von selbst anspringt und einen fetzigen, klangmanipulierten Popsong nudelt. Warren und ich lehnen uns zurück und schauen ihnen beim Flirten zu, unsere eigene Form des Flirts. Es ist, als hätten wir ein gemeinsames Date zu viert, nur dass wir die beiden nicht ausstehen können.

»Schau’s dir genau an«, sage ich zu Warren. »Darauf darfst du dich jetzt freuen.«

Warren lacht mich aus. Er ist Anfang fünfzig und tritt ruhig und gelassen auf, und er hat noch sämtliche Haare, die an den Schläfen ergrauen, und er ist reich wie sein Neffe, der meine Freundin Indigo heiratet. Er erzählt mir, dass er sich gerade einer Wandergruppe angeschlossen hat. »Ich habe das immer mit meiner Frau gemacht, und dann habe ich es allein gemacht, aber ich kann mir vorstellen, manchmal ganz gern zusammen mit anderen zu gehen«, sagt er. Seine Arme sind gebräunt und schlank. Außerdem erzählt er mir, dass er sich vor einem halben Jahr einen Hund angeschafft hat, und sie gehen jeden Morgen in den Park. Schon dass der Hund auf ihn wartet, wenn er nach Hause kommt, hilft ihm, diese schwierige Zeit zu überstehen. »Ich bin froh, dass du einen Hund hast«, sage ich.

Wir essen Austern, am selben Morgen geerntet, vor dem Servieren aus der Schale gelöst, aber noch tief darin. Wir trinken Champagner, den richtig guten aus Frankreich, und es gibt einen Toast und dann noch einen und noch einen. Kurt hat seine Krawatte gelockert und den Arm um Karen gelegt. Er küsst sie auf die Wange, sie flüstern einander ins Ohr. Irgendwas hecken sie aus. Die Sonne sinkt hinter der Olympic-Halbinsel und wir sind alle geblendet. »So was hab ich noch nie gesehen«, sage ich. Ich komme nicht oft aus New York City raus. »Ich sehe das jeden Tag, und ich werde es nie leid«, sagt Warren.

Kurt und Karen verkünden ihren Beschluss, sich für den Rest des Abends als Paar auszugeben. Wäre das nicht der Brüller? Wenn sie so tun, als würden sie einander schon kennen, als wären sie ein halbes Jahr zusammen, als wären sie gemeinsam erschienen, ein großes, romantisches Date. »Wir kennen uns vom Kegeln«, sagt Kurt. »Nein, vom Kajaken«, sagte Karen. »Vom Kajaken, klar«, sagt Kurt. »Gerade hat er zum ersten Mal mit meiner Mutter zu Abend gegessen, letztes Wochenende, und sie fand ihn so toll«, sagt Karen. »Und ich fand sie toll. Von dieser Frau muss man einfach bezaubert sein!«, sagt Kurt. Karen ist in Hochstimmung. »Eigentlich sollten wir gar nicht hier am Tisch sitzen«, sagt sie. »Es gab keinen Platz mehr. Das war ein Irrtum.« Die ehemalige Nonne schaut die beiden verständnislos an. »Warum sollten Sie nicht hier am Tisch sitzen?« »Weil wir keine Singles sind«, sagt Karen. »Wir sind zusammen. Wir sind ein Paar.« »Das verstehe ich nicht«, sagt die Nonne. »Machen Sie sich keine Mühe«, sage ich und tätschle ihre Hand.

Nach den Toasts mischen sich Karen und Kurt unter die Gäste, eng umschlungen, und tun so, als wären sie verliebt. Kurt stellt Karen irgendwo als seine »LG« vor. »Was ist eine LG?«, fragt Warren mich. »Lebensabschnittsgefährtin«, sage ich. Warren seufzt tief und hält sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. »Ach, Warren«, sage ich. »Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer wird, hierherzukommen«, sagt er. »Es ist nur schwer, wenn du es dir schwer machst«, sage ich. »Na komm, lass uns tanzen.« Das war jetzt unbedacht. Ich tanze nicht gern. Aber ich wusste, Warren würde sich gut halten. Er ist ein stabiler Mann. Er könnte mich führen.

Wir tanzen Slow zu einer Coverversion von Dylans »Like a Rolling Stone«. Jedes Mal, wenn der Leadsänger der Band »How does it feel?« kräht, singen alle mit. Am anderen Ende der Tanzfläche schreien es Karen und Kurt einander ins Gesicht. Indigo und ihr neuer Ehemann Todd tanzen zu uns herüber. Indigo sieht umwerfend aus, und das sage ich ihr, und wir umarmen uns und tanzen. »Ist das die beste Party auf dem Planeten?«, sagt sie. »Sie ist monumental«, sage ich. »Stratosphärisch.« »Hast du genug Champagner abgekriegt?«, sagt sie. »Alles perfekt«, sage ich. »Ich bin froh, dass du mit Warren tanzt«, sagt sie. »Ich dachte mir, dass ihr euch gut versteht.« »Warum dachtest du das?«, sage ich. »Du kannst so gut mit verletzten Männern«, sagt sie. Sie beugt sich ganz nah zu mir hin. »Du bist gütiger, als du weißt«, sagt sie. Todd packt sie und sie tanzen davon, bevor ich betonen kann, dass sie sich irrt. Ich betrachte die Braut in zerfetzter Seide und mit einem Ring, größer als alle Sterne am Himmel.

Später sitzen Warren und ich allein wieder am Tisch und haben die Füße hochgelegt. Vor uns stehen Eisbecher mit Schokosoße und Karamell. Ich bitte ihn um seine Kirsche und er gibt sie mir und ich esse sie gierig auf. Er hat mir von einer der drei Firmen erzählt, die er besitzt. Karen und Kurt kommen angestolpert. Sie hält eine Flasche Champagner in der Hand. Das ist ihre Flasche, und ich würde gerne erleben, wie jemand versucht, sie ihr wegzunehmen.

»Und, wie lief’s?«, frage ich. »Haben es euch alle abgekauft?« »Ein paarmal sind wir aufgeflogen«, räumt Kurt ein. »War aber lustig!«, sagt Karen. »War doch lustig, oder?« Kurt nickt. Kurt wirkt, als wäre er bereit, auf den Erdboden zurückzukehren. »Und jetzt fahren wir zurück ins Hotel«, sagt Karen. »Ich und Carl.« »Kurt«, sagt Kurt. Seine Miene verfinstert sich. »Was?«, sagt sie. »Mein Name ist Kurt, nicht Carl.« »Ich meinte Kurt«, sagt sie. »O mein Gott. Tut mir leid. Du weißt, dass ich weiß, wie du richtig heißt, stimmt’s?« Wir warten und beobachten, Warren und ich. Kurt und Karen brechen zusammen auf.

»Was würdest du tun, wenn du Kurt wärst?«, sage ich zu Warren. »Ich würde die Frau zurück ins Hotel bringen und sie ins Bett verfrachten und dann in mein eigenes Zimmer gehen und mir einen runterholen«, sagt er. »Gut möglich, dass sie umkippt, bevor es richtig zur Sache geht«, sage ich. »Andererseits, und wenn schon.« »Wahrscheinlich bin ich altmodisch«, sagt Warren. »Ach ja?«, sage ich. »Aber du bist nicht alt. Für den Fall, dass du dich so fühlst. Weil, bist du nicht.« Ich lege ihm eine Hand auf den Arm und ich bin überzeugt, dass mein Lächeln elektrisierend ist. Ich denke an den Begriff der Güte. Ich streichle seinen Arm. Die Nacht ist kühl. Die Band kündigt den letzten Song an. Er sagt: »Ich hatte es schön mit dir.« Ich sage: »Ich auch mit dir. Das könnten wir doch fortsetzen. Alles ganz leicht und locker. Du kannst mit zu mir kommen, oder ich komme mit dir.« Ich streichle immer noch seinen Arm. »Ich verspreche dir, ich bin nicht betrunken.«

Er sagt: »Ich weiß, ich bin wahrscheinlich bescheuert, wenn ich dein Angebot nicht annehme, von einer schönen jungen Frau wie dir, aber so was mache ich nun mal nicht, so bin ich nicht. Ich sage nicht, dass du falschliegst, weil du bist, wie du bist, aber ich kann auch nicht sagen, dass es richtig ist. Ich kann nicht sagen, dass irgendwas von dem heute Abend hier richtig ist.« Ich ziehe meine Hand zurück.

Er sagt: »Ich war neunundzwanzig Jahre mit ihr zusammen. Wir haben direkt nach dem College geheiratet. Mit diesem Menschen wollte ich sterben. Ich habe mir nie Gedanken gemacht über Dates oder unverbindlichen Sex oder so irgendwas. Ich weiß nicht, wie ihr das alle macht. Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Bist du nicht einsam?« Ich sage: »Warren, bitte hör auf, so schrecklich zu sein.« Er sagt: »Tut mir leid.« Er hält inne, und dann wird sein Ton lauter. »Nein, es tut mir nicht leid. Du wolltest Sex mit mir. Und hast mich gerade erst kennengelernt. Du kennst mich erst seit drei Stunden.« Ich sage: »Warren, es tut mir leid. Ich habe mich doch geirrt. Du bist tatsächlich alt.«

Ich verlasse die Party. Mir kommen die Tränen. Indigo sieht mich beim Gehen. »Es war so ein schöner Abend«, sage ich und wische mir die Augen. »Ich bin ganz hin und weg. Ich freue mich so für dich.« Wir umarmen uns, und dann springe ich in einen Kleinbus, der draußen wartet, um mich ins Hotel zu bringen. Karen und Kurt sitzen schon drin, und als ich einsteige, hören sie auf zu knutschen. »Du findest was Besseres«, sage ich zu ihnen, ohne zu wissen, mit wem von beiden ich eigentlich rede.