Gunter Eckert, Judith Kösters, Sandra Habicht, Stephan Hübner, Heike Ließmann (Hg.)
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Die 23 Kapitel dieses Buches basieren auf dem hr-iNFO Funkkolleg Ernährung, wissenschaftlich begleitet vom Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Radio-Sendungen wie die Texte sollen Argumente und Zusammenhänge liefern und Lust machen, in Debatten einzusteigen. (Zusatzmaterialien und Audios: funkkolleg-ernaehrung.de)
© WOCHENSCHAU Verlag,
Dr. Kurt Debus GmbH
Frankfurt/M. 2020
www.wochenschau-verlag.de
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Wissenschaftliche Mitarbeit: Jana Roßney
Umschlagbild: hr / © www.thinstockphotos.com/Vlajko611
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag
ISBN 978-3-7344-0883-0 (Buch)
E-Book ISBN 978-3-7344-0884-7 (PDF)
ISBN 978-3-7344-0885-4 (EPUB)
Ernährung ist in aller Munde – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Menschen müssen essen und trinken, um die Funktionsfähigkeit ihrer Körper zu gewährleisten. Fette, Kohlenhydrate, Eiweiße, Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine spielen dabei eine zentrale Rolle. In der Frühzeit stand der Kampf um die Nahrung im Mittelpunkt um zu überleben. Heute wird der Kampf um Nahrung bei uns eher durch den Kampf gegen den Überfluss abgelöst. Über- und Fehlernährung sind Ursache für viele Krankheiten, die die Menschen und unser Gesundheitssystem belasten. Adipositas oder Diabetes mellitus Typ2 sind nicht nur Folge von Fehlernährung, sondern auch wesentliche Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Demenz. Die Probleme scheinen auf der Hand zu liegen, genauso wie die Konzepte diese zu lösen. In der Realität ist es mit der Ernährung aber doch viel komplizierter als nur die Empfehlung auszusprechen sich ausgewogener zu ernähren – also ballaststoffreich, mit wenig Zucker und Salz, weniger Fleisch, viel Obst und Gemüse und beim Fett ein gesundes Maß . Die Gazetten sind voll guter Ratschläge, Bücher zu der „richtigen“ Ernährung gibt es zu Hauf und in den Medien finden sich zahlreiche „Experten“, die genau wissen wollen was gut für uns ist. Woran soll man sich denn nun halten im Dschungel der schier unübersehbaren Anleitungen, um eine gesunde, nachhaltige und umweltbewusste Ernährung in unseren Alltag zu integrieren?
Es scheint gerade so, dass auch die Ernährungswissenschaften kein einheitliches Konzept haben. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ernährung stetig neue Erkenntnisse liefert, die so manche Empfehlung revidieren. Empfehlungen zur Ernährung können nur fundiert sein, wenn sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnissen stützen. Auf dieser Basis spricht etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ihre Empfehlungen aus. Dennoch kursieren unzählige trendige oder vermeintlich heilsame Konzepte ohne wissenschaftliche Grundlage und viele Menschen geben sich bereitwillig so manchem Mythos hin, der die Ernährung umgibt.
Gesund soll die Ernährung sein, aber auch nachhaltig, ressourcen- und umweltschonend. Von den Böden über die Anbauweisen, die Produktion, den Transport bis zur die Werbung für Lebensmittel gilt es, die gesamte Wertschöpfungskette kritisch zu beleuchten. Apropos Werbung, wie sieht es denn eigentlich mit der Kommunikation über Lebensmittel und Ernährung im Allgemeinen aus?
Mit diesen und weiteren spannenden Themen wie Lebensmittelverschwendung, Mikroplastik oder Design-Food beschäftigen sich das hr-iNFO Funkkolleg „Ernährung“ und das vorliegende Begleitbuch. Viel Spaß mit dieser Vertiefung des Wissens über die „richtige Ernährung“!
Frankfurt am Main, im Februar 2020
Im Namen der Herausgeber:
Prof. Gunter Eckert,
Dr. Sandra Habicht,
Judith Kösters,
Stephan Hübner,
Heike Ließmann
JULIANE ORTH
In der Küche von Paläo-Koch Manuel Schneider in Mainz. Man könnte auch sagen: Steinzeit-Koch. Denn genau das ist die Grundidee hinter der so genannten Paläo-Ernährung: Kochen und Essen wie die Menschen in der Steinzeit, genauer gesagt der Altsteinzeit, dem Paläolithikum. Manuel Schneider kocht heute Zucchini-Nudeln. „Dazu gibt es ein Spargel-Gemüse aus grünem und weißem Spargel an einer Sauce aus Kokosmehl mit Weißwein und Tapiokastärke, fermentierten Salzzitronen, und im Anschluss kommen noch ein paar frische Heidelbeeren drauf.“
Die Zutaten stehen schön angerichtet und fertig portioniert nebeneinander parat. Steinzeit-Küche? Sieht eher nach moderner Koch-Show aus. Trotzdem ist alles absolut paläokonform, sagt Manuel Schneider: „Wer sagt uns denn, dass gewisse Zutaten, wie wir sie heute kennen, in einer anderen Form nicht schon damals vorhanden waren? Wir wissen, die Aubergine sah früher anders aus als heute. Diese große Frucht war früher eine ganz, ganz kleine. Aber wir gehen davon aus, hätte es die Möglichkeiten und Zutaten, mit denen wir heute arbeiten, damals schon gegeben, man hätte sich genauso ernährt.“
Welche Lebensmittel nun genau „paläokonform“ sind, also der Ernährung in der Altsteinzeit entsprechen oder zumindest nahekommen, darüber gibt es in der Paläo-Szene unterschiedliche Auffassungen. Dahinter steckt der Wunsch, sich möglichst „natürlich“ und damit vermeintlich „richtig“ zu ernähren. Aber gibt es überhaupt eine bestimmte Ernährungsform, die dem Menschen in die Wiege gelegt ist, die die Natur also für ihn „vorgesehen“ hat? Die Paläodiät-Verfechter gehen davon aus. Sie schauen weit zurück. Millionen von Jahren hat es gedauert, bis sich der moderne Mensch entwickelte. Die Altsteinzeit, das Paläolithikum, begann vor rund zweieinhalb Millionen Jahren. Und endete erst vor 10.000 bis 20.000 Jahren, als die Menschen sesshaft wurden, als sie begannen, Ackerbau zu betreiben und Vieh zu halten. Millionen Jahre menschliche Evolution, weitgehend ohne Getreide und Milch und gerade einmal 10.000 bis 20.000 Jahre mit – im Vergleich ein Wimpernschlag. Gejagt und gesammelt wurde also quasi schon immer – alles andere kam viel später dazu. So spät, dass sich unsere Körper darauf möglicherweise noch gar nicht richtig einstellen konnten und unsere Mägen evolutionstechnisch in der Steinzeit hängengeblieben sind – so die grobe Argumentationslinie der Paläo-Verfechter.
Aber zunächst kocht Manuel Schneider – nach Paläo-Art. Manchmal tut er das zwar auch an einer Feuerstelle, hier schaltet er aber einfach den Herd ein. Er erklärt: „Natürlich ist Industriestrom oder Strom generell nicht paläokonform, aber da ich keinen Gasanschluss in der Küche habe, muss ich mir leider damit behelfen.“
Strom ist also notfalls zugelassen in der Paläoküche. Ansonsten sind erlaubt: viel Gemüse, Nüsse, Körner, Samen, Saaten, Fleisch und Fisch. Viele Fette sind möglich, aber nicht alle. Und auch sonst gibt es so einiges, wovon der Paläokoch unbedingt die Finger lässt, zum Beispiel Soja, Hülsenfrüchte, Getreide und Lupinen, wie Manuel Schneider ausführt, weil die Jäger und Sammler der Altsteinzeit – so die Annahme – die noch nicht kannten. Und auch weil das nach Paläo-Lesart Nahrungsmittel sind, die erst verarbeitet werden müssen, bevor der Körper sie verwerten und daraus Energie ziehen kann. Viele Hülsenfrüchte, zum Beispiel Kichererbsen oder Bohnen, sind roh verzehrt giftig für den Menschen. Eine Zucchini kann man dagegen auch roh konsumieren und der Körper kann die Nährstoffe nutzen – auch wenn sie den meisten in gekochter Form besser schmecken dürfte.
Manuel Schneider spannt die Zucchini in den Spiralschneider und dreht den Hebel. Was sich da aus der Maschine windet, sieht aus wie grün-weiße Spaghetti in Spiralform, verhält sich aber nicht so. „Al dente ist nicht“, lacht der Paläo-Koch.
Die Spargel ziehen inzwischen schon in der Pfanne vor sich hin und bekommen an einigen Stellen eine braune Färbung. So ein etwas ursprüngliches Aussehen ist in der Paläo-Küche durchaus beabsichtigt, wie Manuel Schmidt erläutert: „Der Spargel als ungleichmäßige und natürliche Erdfrucht-Variante ist nicht ganz gleichmäßig, aber das ist völlig normal, da wir ja nicht etwas perfekt Geformtes in die Pfanne gelegt haben, sondern etwas mit Bewegung, Wellen, Ecken und Kanten. Darum wird das auch mal etwas anders aussehen. Der Teller lebt schon durch Formen und Varianten, die man so durchaus nicht erwartet hätte.“
Der fertig angerichtete Teller kann sich sehen lassen. Die Grün-, Weiß- und Blau-Töne machen sofort Appetit: Die Basis bilden die Zucchini-Spiralen, darauf liegen die Spargel und dazwischen blitzen die Heidelbeeren auf. Und es schmeckt auch gut: Die Spargel sind sehr knackig und durch die dunklen Stellen leicht deftig. Die Zucchini-Nudeln sind ungewohnt weich und bekommen durch die Soße eine zitronig-säuerliche Note.
Der Geschmack der Rezepte war es letztlich auch, der Manuel Schneider von der Paläo-Küche überzeugt hat. Außerdem hält er die Paläo-Ernährung für ökologischer, weil im Anbau der Lebensmittel weniger Wasser verschwendet und mehr auf gute Tierhaltung geachtet werde. Wenn er überhaupt Fleisch verwendet, nimmt Manuel Schneider gerne Wildfleisch oder Fleisch von Weidetieren. Paläo-Küche gleich viel Fleisch – diese Gleichung gilt bei ihm nicht: „Unsere Vorfahren im Paläolithikum mussten sich ihr Fleisch erarbeiten durch Jagd. Da gab es nicht zwölf Monate im Jahr Wild, Mammut, Säbelzahntiger, was auch immer. Da musste gehaushaltet werden, da hat man angefangen, natürliche Produkte zu essen. Und man hat ausprobiert: Diese Pflanze dort, ich beiß’ mal rein, im schlimmsten Fall bin ich halt tot. Diesen Erfahrungen haben wir zu verdanken, dass wir heute wissen, was wir essen können.“
Wer überlebte und genug Nachkommen aufziehen konnte, also den Fortbestand seiner Art sichern konnte, hatte offenbar nicht die schlechteste Wahl bei der Ernährung getroffen.
Aber was aßen unsere Vorfahren denn nun? Und wie finden Wissenschaftler das heraus? Hans Konrad Biesalski ist Ernährungsmediziner und war Professor für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft an der Uni Hohenheim. Er erklärt, dass Forscher die Zähne aus Skelettfunden untersucht haben. „Da gibt es Zähne, die haben enormen Abrieb, da geht man davon aus, die haben harte Wurzeln und Ähnliches verzehrt. Und dann gibt es solche, die sind sehr scharf wie unsere Schneidezähne. Da sagt man, die haben Fleisch zerreißen müssen und und und. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Ich kann durch den Nachweis bestimmter Isotope in den Zähnen feststellen, ob die Ernährung vorwiegend pflanzlich, gemischt oder vorwiegend tierisch war.“
Klar ist: Die Ernährung der Steinzeit gab es nicht. Ob die frühen Menschen vorwiegend Fleisch oder komplett vegetarisch aßen, hängt auch von den klimatischen und landschaftlichen Gegebenheiten ab. Und auch die unterlagen dem Wandel. Hans Konrad Biesalski hat als Ernährungsmediziner die Bedeutung der Mikronährstoffe für die Evolution des Menschen erforscht. Während Makronährstoffe die Grundbausteine Fett, Kohlenhydrate und Proteine umfassen, bezeichnen Mikronährstoffe Vitamine und Mineralien wie Vitamin C, Calcium oder Eisen.
Hans Konrad Biesalski beginnt seinen Rückblick mit dem Beispiel des Menschenaffen Sahelanthropus tchadensis, der am Tschadsee in Zentralafrika lebte, etwa sieben Millionen Jahre vor unserer Zeit. Möglicherweise gehörte er zu den letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse, es gibt dazu unterschiedliche Theorien. Vermutlich ging der Sahelanthropus tchadensis aufrecht – und er lebte in einem ausgesprochen reichhaltigen Ökosystem. Denn damals war der Tschadsee rund hundertmal größer als heute und hatte ein flaches und sumpfiges Ufer, das ihm vielfältige Nahrung bot. Hans Konrad Biesalski beschreibt die Lebensumstände: „Der saß in den Bäumen am See – und Menschen waren immer am See –, in den Bäumen war er geschützt, er hat Blätter gefunden und Früchte. Ab und an ist er an den See gegangen und hat was getrunken. Dann hat er einen Flösselhecht gefangen und ganz gegessen. Danach ist er zurück auf seinen Baum, da war er geschützt. Er hatte das, was wir heute eine vegetabile, also pflanzlich basierte Mischkost nennen.“
Gräser, Fische, Weichtiere und Algen aus dem See versorgten ihn also mit einer Vielzahl von Mikronährstoffen. Und das trug offenbar dazu bei, dass der spätere Mensch sich zum aufrechten Gang hin entwickelte. Der Fischfang im Flachwasser begünstigte das. Hans Konrad Biesalski bezieht sich auf eine These des Berliner Biologen Carsten Niemitz: „Wenn man Fisch fangen will, muss man ganz ruhig im Wasser stehen, manchmal eine Stunde, manchmal auch länger. Das hat man gut bei Orang-Utans beobachtet. Die stehen im Wasser, schlagen mit der linken Hand aufs Wasser und greifen mit der rechten zu. Carsten Niemitz hat das schön entwickelt: Der Mensch war viele Jahre auf den Fischfang angewiesen, auch noch vor zwei Millionen Jahren, als er in die Savanne ging. Das hat dazu beigetragen, dass er den aufrechten Gang beibehalten hat. Viele Entwicklungen, die später kamen, haben diese günstige Körperhaltung dann ausgenutzt. Das heißt: Für den Menschen war es ein Vorteil, dass er aufrecht gehen konnte.“
Vor zwei bis zweieinhalb Millionen Jahren änderte sich das Klima. Die Veränderung brachte starken Regen, aber auch große Trockenheit mit sich. Früchte und Beeren als Lieferanten wichtiger Nährstoffe wurden knapper. Die flachen Seeränder trockneten aus, wodurch der Abstand vom geschützten Waldrand zum See größer wurde. Und damit auch die Gefahren.
Hans Konrad Biesalski erklärt, warum das trotzdem zur Fortentwicklung beigetragen hat: „Was hat der Mensch, der vor zwei Millionen Jahren auftauchende Homo erectus, gemacht? Er ist in die Savanne gelaufen und hat dort Tiere gefunden, die er erlegen konnte. Und er hat sie – das ist ganz entscheidend – ganz verzehrt. Er hat nicht nur das Muskelfleisch gegessen, sondern auch die Innereien. Und Innereien wie Leber und Niere sind die Speicherorte für Mikronährstoffe. Das hat zu seiner Weiterentwicklung und zum Gehirnwachstum beigetragen.“
Dass der Hunger den Menschen in die Savanne trieb und zum Jäger machte, beeinflusste auch sein Sozialverhalten. Ein Teil der Gruppenmitglieder blieb beim Nachwuchs und andere gingen gemeinsam jagen und brachten das Fleisch nach Hause. Hans Konrad Biesalski sieht hier eine Grundlage für die soziale Komponente der Ernährung – die ebenfalls dazu gehört, wenn es um die Frage geht, was eigentlich natürliche Ernährung ist: Nämlich gemeinsam zu essen – und etwas vom Essen abzugeben an andere: „Die Erfahrung des Teilens und des Altruismus, die eine wesentliche Basis des menschlichen Zusammenlebens ist, ist schon sehr alt und wurde sicher durch diese Form der Ernährung nochmal stärker implementiert.“
Bei der Frage, was der Mensch nun „von Natur aus“ isst, sind sich – bei allen Zweifeln im Detail – Anthropologen und Ernährungsmediziner grundsätzlich einig: Der Mensch ist ein Omnivor, ein Allesfresser. Und der Hunger trieb ihn dazu, immer wieder Neues zu probieren. So gelangte er an viele Mikronährstoffe, die er zum Überleben und zur Weiterentwicklung brauchte.
Warum betrachten dann die Paläo-Anhänger nur Fleisch, Fisch und pflanzliche Nahrung wie Beeren oder Nüsse als „natürliche“ Lebensmittel für den Menschen, Milch und Getreide dagegen als „unnatürlich“? Weil, so das Argument, die 10.000 bis höchstens 20.000 Jahre Evolution seit der Sesshaftwerdung unmöglich ausreichen konnten, um den menschlichen Organismus auf diese Lebensmittel einzustellen.
Die US-amerikanische Evolutionsbiologin Marlene Zuk von der University of Minnesota widerlegt diese These in ihrem 2013 erschienenen Buch „Paleofantasy“. Sie zeigt: Evolution kann langsam, aber sie kann auch sehr schnell vonstattengehen. Wenn die Eigenschaft, Milch oder Getreide gut verdauen zu können, sich als vorteilhaft erweist, kann sich das menschliche Verdauungssystem also auch über wenige Generationen hinweg anpassen. Denn Evolution ist ja nie ein abgeschlossener Prozess:
Es gibt diese Idee, dass die Menschen in der Evolutionsgeschichte an einem Punkt waren, wo ihre Körper mit der Natur um sie herum perfekt synchronisiert waren. Und dass wir dann irgendwann später auf Abwege kamen – ob durch den Beginn des Ackerbaus, durch die Erfindung von Pfeil und Bogen oder durch die dauernde Verfügbarkeit von Hamburgern. Aber das zeugt von einer falschen Vorstellung von Evolution. (Zuk, S. 120)
Gerade die Verträglichkeit von Milch – genauer gesagt des Milchzucker-Anteils Laktose – ist für die Evolutions- und Verhaltensforscherin Marlene Zuk ein faszinierendes Thema. Die meisten Europäer können als Erwachsene Milch verdauen, aber nur die wenigsten Asiaten. In Afrika gibt es große, regionale Unterschiede, was die Laktose-Verträglichkeit betrifft. Offenbar war oder ist es in einigen Weltregionen und einigen Gesellschaften evolutionär gesehen nützlicher, Milch zu vertragen als in anderen. So hat sich die Laktoseverträglichkeit vor allem in den Gegenden durchgesetzt, in denen die Menschen begannen, Vieh zu halten. Und Vieh zu halten, war wiederum umso attraktiver, je besser Milch vertragen wurde, so dass sich diese Entwicklungen gegenseitig verstärkten.
Der deutsche Ernährungswissenschaftler Claus Leitzmann beantwortet die Frage nach der natürlichen Ernährung des Menschen sehr präzise. Für ihn ist klar: Der Mensch ist von Natur aus Pflanzenfresser. 20 Jahre lang war Claus Leitzmann Professor am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Gießen und gilt als wichtiger Begründer der Lehre von der Vollwert-Ernährung. Zur Untermauerung seiner These vergleicht er die physiologischen und anatomischen Gegebenheiten des Menschen mit denen typischer Fleisch- bzw. Pflanzenfresser im Tierreich: „Da kann man sehr schnell feststellen, dass wir im Speichel ein stärkeabbauendes Enzym haben, die Amylase. Das deutet darauf hin, dass die Stärke immer eine große Rolle gespielt hat, sonst hätten wir die Amylase nicht. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass der Mensch nicht in der Lage ist, Vitamin C selbst zu synthetisieren. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass wir in der Vergangenheit immer Vitamin C zugeführt bekommen haben, und das ist nur in Pflanzen enthalten. Das deutet darauf hin, dass wir eine kontinuierliche, überwiegend pflanzliche Ernährung hatten. Wenn man all diese Sachen zusammenträgt, dann kommen wir ohne Zweifel zu dem Schluss, dass wir von Natur aus überwiegend Pflanzenfresser sind. Das heißt: Das wäre unsere natürliche Ernährung.“
Claus Leitzmann hat daraus persönliche Konsequenzen gezogen: Er ernährt sich seit vielen Jahrzehnten vegetarisch. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Vegetarier im Schnitt gesünder leben: Sie sind seltener übergewichtig und haben weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und andere sogenannte Zivilisationskrankheiten. Der genaue Zusammenhang ist allerdings umstritten. Und um einen gesundheitlichen Effekt haben zu können, muss die vegetarische und auch die vegane Ernährung bestimmte Voraussetzungen erfüllen, sagt Claus Leitzmann: „Pflanzlich unterscheidet nicht zwischen Vollkorn- und Weißmehlprodukten. Wir sollten ausschließlich Vollkornprodukte verzehren und nicht Weißmehlprodukte. Der deutsche Markt erzählt uns etwas anderes: Mindestens 85 Prozent aller Getreideprodukte sind Weißmehlprodukte. Und da sind ganz viele wertvolle Substanzen schon abgetrennt oder nicht mehr vorhanden. Außerdem sollte man mit Zucker sehr vorsichtig sein, Zucker ist zwar ein pflanzliches Produkt, aber nicht gut für unsere Gesundheit. Also: Wenn man das weiße Mehl meidet und den Zucker, dann hat man schon ganz viel richtig gemacht. Das gilt übrigens auch für Fleischesser.“
Wichtig in der Vollwert-Ernährung ist die Art der Verarbeitung: Die Lebensmittel sollen möglichst unverarbeitet sein – also keine Fertigessen und ohne industrielle Zusatzstoffe. Lange Zeit war das selbstverständlich. Früher war auch Gemüse deutlich erschwinglicher als Fleisch und Wurst. Die Industrialisierung, wachsender Wohlstand, Diät-Moden, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen haben das verändert. Täglicher Fleischkonsum und Fertigprodukte gelten heute für viele als normal.
Claus Leitzmann beschäftigt sich damit, wie es zum Wandel in den Ernährungsgewohnheiten kommen konnte: „Die Arbeitswelten haben sich verändert, die Menschen mussten auf Konserven oder vorbereitete Essen zurückgreifen, weil das convenient war. Frauen sind berufstätig geworden und kochen nicht mehr jeden Tag für die Familie. Dadurch ist es einfacher, Fertigprodukte zu verkaufen, und zwar ganz stark getrieben durch kommerzielle Interessen. Da gibt es Unternehmen, die sich schon vor 200 Jahren überlegt haben, wie man große Mengen an Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt. Und das hat sich ausgeweitet, so dass wir heute, wenn man in Supermärkte geht, überwiegend Fertigprodukte finden. Ich würde sagen, 80 bis 90 Prozent der Regale sind gefüllt mit Fertigprodukten. Und die brauchen wir eigentlich nicht, zumindest nicht in diesem Maße.“
Das Etikett „Vollwertkost“ ist seit seinen Hoch-Zeiten in den 1980er-Jahren aus der Mode gekommen – der Trend ging eher zu so genannten Low-Carb-Diäten, also hin zu Ernährungsstilen, die auf eine hohe Protein-Zufuhr und wenig Getreide und überhaupt wenig Kohlenhydrate setzen. Im weiteren Sinne könnte man auch die Paläo-Diät der Low-Carb-Bewegung zuordnen. Aber Claus Leitzmann ist sich sicher: Ein Vollwert-Comeback steht bevor – wenn auch möglicherweise unter neuem Namen. „Clean Eating“ etwa – auf Deutsch wörtlich: „Sauberes Essen“. Im Prinzip sei das Vollwerternährung. Und in den USA sei heute viel von der „Whole Food, Plant Based Diet“ die Rede – was man grob mit „vegetarische Vollwertkost“ übersetzen könnte. Er beschreibt das Prinzip der Vollwerternährung ganz knapp: „Möglichst wenig verarbeitet. Und dieses Whole Food Plant-Based ist ein Riesenthema in den USA. Es wird nicht lange dauern, dann wird es auch hier ein Thema sein. Das wird wahrscheinlich das Ende der Low Carb-Diäten bedeuten.“
In wesentlichen Punkten sind sich die Anhänger vieler Gesundheits-Ernährungs-Stile einig – von der Paläo- oder Steinzeit-Diät über Clean Eating bis hin zur Vollwertkost: mit frischen Zutaten selbst kochen oder auch mal Gemüse roh essen, keine Fertig-Mahlzeiten, wenig Weißmehl, Fleisch und Zucker. Viel Wasser trinken und in Bewegung bleiben. Und genau in diese Richtung geht auch der Konsens unter aktuellen Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Das bestätigt auch Gunter Eckert, wissenschaftlicher Beirat des hr-iNFO Funkkollegs Ernährung und Professor am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Gießen. Gleichzeitig kann er verstehen, dass beim Verbraucher der Eindruck entsteht, es würden alle paar Jahre neue Ernährungsweisen propagiert: „Manchmal hat man den Eindruck, das wird ins Philosophische gezogen und man ist immer auf der Suche nach DER richtigen Ernährung. Aber jeder muss für sich den richtigen Weg und vor allem das richtige Maß finden.“
Das richtige Maß finden. In einer Zeit, in der wir – zumindest in der westlichen Welt – beinahe immer von Nahrung im Überfluss umgeben sind: Genau das scheint die größte Herausforderung der modernen Ernährung zu sein – und zwar eine, auf die uns die Evolution möglicherweise wirklich schlecht vorbereitet hat.
Um richtig zu essen und auch die richtige Menge zu essen, braucht es Aufklärung und Bildung, sagt Gunter Eckert: „Diese Kompetenz, die der Einzelne für seine Entscheidung braucht, die sollte meiner Meinung nach schon in der Schule gelehrt werden. Es gibt in Hessen in einigen Schulen ein Fach Ernährung. Aber das ist bei weitem nicht die Regel. Ich glaube, es ist wichtig, dass unsere Kinder – sogar schon im Kindergartenalter – darüber Bescheid wissen, wie unsere Lebensmittel zusammengesetzt sind. Was gut, was gesund ist, um eine Kompetenz aufzubauen und um an der Theke die richtige Entscheidung zu treffen.“
Und das nicht nur mit Blick auf uns selbst. Unsere Ernährungs-Entscheidungen haben Auswirkungen weit über unsere persönliche Situation hinaus. Der wachsende Fleischkonsum belastet das Klima. Industrielle Landwirtschaft und Monokulturen zerstören fruchtbaren Boden. Kann eine Ernährungsform als natürlich gelten, die in der Konsequenz der Natur schadet? Wer sich ernsthaft mit Ernährung auseinandersetzen will, der kommt an diesen Fragen kaum vorbei.
BIESALSKI, Hans Konrad (2015): Mikronährstoffe als Motor der Evolution. Berlin: Springer Spektrum.
BIESALSKI, Hans Konrad (2017): Unsere Ernährungsbiographie: Wer sie kennt, lebt gesünder. München: Knaus.
ELMADFA, Ibrahim/Leitzmann Claus (2019): Ernährung des Menschen (6. Aufl.). Stuttgart: UTB.
LEITZMANN, Claus (2019): Die 101 wichtigsten Fragen – Gesunde Ernährung. München: Verlag C.H. Beck.
ZUK, Marlene (2013): Paleofantasy. What evolution really tells us about sex, diet, and how we live. New York: W.W. Norton & Company.
DAGMAR RÖHRLICH
Ein Labor an der niederländischen Universität Wageningen. Unter rotem und weißem LED-Licht stehen Tomatenpflanzen dicht an dicht auf Regalbrettern.
Professor Leo Marcelis forscht an Zukunftsstrategien für die Landwirtschaft. Speziell interessiert ihn „vertical farming“, also der Hightech-Anbau von Nahrungsmitteln in – wenn man so will – Hochregallagern. In seinem Labor erläutert er ein Experiment, bei dem er sich mit Tomatenpflanzen beschäftigt: „So, what you see here is an experimental setup of tomato plants actually growing in two layers under LED lighting. There is an airflow which comes through these holes. … You can see here the plant is just growing. You can see now the roots. It’s growing on water …“
In diesem Experiment wachsen die Tomatenpflanzen auf zwei Ebenen. Ihre Wurzeln stecken in Wasser, das angereichert ist mit allem, was sie brauchen, und in dem Sauerstoff aus einem Schlauch blubbert. Raumtemperatur: 22 Grad Celsius.
Professor Leo Marcelis erklärt den Versuchsaufbau: „Mit diesem Experiment hier untersuchen wir, wie sich unterschiedliche Zusammensetzungen bei den zugefügten Mineralstoffen auf das Pflanzenwachstum auswirken.“
Es wird also untersucht, wie sich unterschiedliche Zusammensetzungen der zugefügten Mineralstoffe auf das Pflanzenwachstum auswirken.
In einem Versuchsacker der Universität Bonn sind im Frühjahr zwei Arten Klee eingesät worden. Die Sonne brennt, es ist heiß. Professor Thomas Döring von der Universität Bonn ist Agrarökologe. Auf dem Acker hinter seinem Institut wird erprobt, wie sich in Zeiten des Klimawandels mit oft extremen Wetterbedingungen die Bodenfruchtbarkeit und damit die Ernten steigern lassen – mit ökologischen Mitteln. Thomas Döring beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Eigenschaften der beiden Arten Klee: „Der Gelbklee ist etwas trockenheitstoleranter, der Schwedenklee braucht ein bisschen mehr Wasser, ist dafür aber auch etwas stärker überflutungstolerant oder stauwassertolerant. – Die Frage für das Klima ist: Was bringt das und was sind die längerfristigen Effekte über den Boden, zum Beispiel in der nächsten nachfolgenden Kultur?“
Schon heute stuft die FAO, Food and Agriculture Organization of the United Nations, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die Böden auf rund einem Drittel der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche als mittel bis stark geschädigt ein. Doch von diesen Böden hängt die Ernährung der Menschheit ab. Denn die Weltbevölkerung wächst – und mit ihr der Druck auf die Böden:
Professor Andreas Bürkert von der Universität Kassel erforscht Agrarökosysteme der Tropen und Subtropen. Die Aufgabe, die Welternährung sicherzustellen, sagt er, stellt sich nicht in einer fernen Zukunft, sondern unmittelbar: „Wir werden einen erhöhten Systemdruck bekommen. Das heißt, wir werden immer mehr von unserer Agrarlandschaft haben wollen. Das bezieht sich auf der einen Seite auf die direkten Ökosystemdienstleistungen, wie zum Beispiel Nahrungsmittel, die natürlich gesund, preiswert und jederzeit verfügbar sein sollen. Auf der anderen Seite aber auch auf die indirekten Dienstleistungen wie sauberes Wasser. Die nächste große Herausforderung ist natürlich, dass die Ansprüche der Menschheit immer stärker wachsen. Das heißt die Kluft zwischen dem, was möglich ist, und dem, was gefordert wird von Landschaften, von unseren Ressourcen, wird immer größer werden.“
Woher wird unsere Nahrung künftig kommen? Aus einer Kunstwelt? Aus der industriellen Intensivlandwirtschaft? Oder klassisch vom Feld, ökologisch erzeugt?
Derzeit beruht die industrielle Landwirtschaft auf Maschinenbau und chemischer Industrie: auf Stickstoff-, Kali- und Phosphordüngern, auf Pestiziden, schweren Landmaschinen und Monokulturen. Mit diesen Mitteln habe sie es weit gebracht, sagt Professor Rainer Georg Jörgensen, Bodenbiologe an der Universität Kassel: „Insgesamt haben wir heute eine bessere Flächeneffizienz, höhere Erträge, günstige Lebensmittel; es sind heute natürlich sehr viel weniger Personen in der Landwirtschaft tätig, die sehr viel besser ausgebildet sind und insgesamt gibt es auf einem bestimmten Produktionsniveau auch eine höhere Ertragssicherheit.“
Doch was im Laufe des vergangenen Jahrhunderts half, die Produktivität in bis dahin ungekannte Höhen zu schrauben, ist für die kommenden Herausforderungen keine Lösung mehr. Denn schon heute lebt die Menschheit bei den Böden über ihre Verhältnisse, wie Lisa Biber-Freudenberger, Spezialistin für Naturressourcen vom Zentrum für Entwicklungsforschung ZEF in Bonn, vorrechnet: „Wir haben global gesehen ungefähr 1,7 Hektar pro Person zur Verfügung, um für jeden Menschen seine Nahrung und auch andere Ressourcen, die er benötigt, anzubauen. In Deutschland verbrauchen wir aktuell ungefähr fünf Hektar pro Person und in China sind es drei Hektar.“
Was an Fläche fehlt, wird durch Importe kompensiert – und immer häufiger durch das sogenannte „Landgrabbing“ in Entwicklungsländern, erläutert Lisa Biber-Freudenberger: „Wir fangen an, immer mehr Flächen zu okkupieren und dort unsere Nahrungsmittel anzubauen. China hat zum Beispiel sehr viel Fläche in afrikanischen Ländern gepachtet.“
Und die Probleme werden sich verschärfen: 2050, wenn die Weltbevölkerung wohl bei weit mehr als neun Milliarden Menschen liegen wird, steht pro Kopf weniger als ein Zehntel der heutigen Fläche zur Verfügung. Auch weil Ackerflächen im großen Stil verloren gehen, etwa durch Erosion oder Versalzung.
Prof. Leo Marcelis von der niederländischen Universität Wageningen überlegt, woher das Land für die Versorgung so vieler Menschen kommen soll. Da wir auch noch Platz für Siedlungen brauchen, müsse wohl die Produktivität des Landes gesteigert werden. Doch wie, so fragt er, können wir mehr auf weniger Land produzieren: „Woher soll das Land dafür kommen? Wir wollen nicht die ganze Natur zerstören, und wir brauchen Platz für unsere Siedlungen. Wenn Sie darüber nachdenken, ist klar: Wir müssen die Produktivität des Landes steigern. Doch wie können wir mehr auf weniger Land produzieren?“
Um die wachsende Menschheit zu ernähren, müssten die landwirtschaftlichen Erträge massiv steigen – und der Verbrauch an Boden und Wasser müsste massiv sinken. Fruchtbare Böden verschwinden weltweit vor allem aus sechs Gründen:
Weil Böden durch die langsame Verwitterung von Gestein entstehen, sind sie eine nicht erneuerbare Ressource. Dadurch wird das Schwinden fruchtbarer Böden besonders beunruhigend. Messungen zeigen, dass die Bodenfruchtbarkeit in vielen Regionen der Welt sinkt – auch dort, wo Kunstdünger eingesetzt wird.
Zur Bodenverschlechterung kommen oft auch Grundwasserprobleme hinzu – durch übernutzte Speicher oder den intensiven Einsatz von Stickstoffdüngern und Gülle aus der Tierhaltung. Professor Lutz Breuer, der an der Justus-Liebig-Universität Gießen den Wasserhaushalt von Landschaften erforscht, sagt dazu: „Man muss bedenken, dass in Deutschland allein 30 Prozent der Grundwasserfassungsregionen einfach zu viel Stickstoff und Nitrat aufweisen und im Grunde das Trinkwasser eben nicht mehr als Trinkwasser genutzt werden kann.“
Die Böden stehen also schon heute unter Druck – eine schlechte Voraussetzung für die Versorgung einer schnell wachsenden Bevölkerung. Ein „Immermehr“ der bislang üblichen Mittel und Strategien wird diesen Druck nicht mindern. Nicht nur, weil die Böden als Ressource endlich sind. Sondern es werden auch manche der Düngemittel ausgehen, die in den vergangenen Jahrzehnten den Erfolg der Intensivlandwirtschaft vorangetrieben haben. Rainer Georg Jörgensen von der Universität Kassel sieht das Ende des bisherigen Verfahrens voraus: „Wenn die bergmännisch gewonnenen Nährstoffe wie Kalium und Phosphor erschöpft sind – vielleicht in 50 Jahren oder in 300 Jahren –, dann wird man auf das Wissen der ökologischen Landwirtschaft zurückgreifen müssen.“
Für den Bonner Agrarökologen Thomas Döring ist es entscheidend, die Begrenztheit der Ressourcen anzuerkennen und damit umzugehen: „Industrielle Landwirtschaft und ökologische Landwirtschaft sind Schlagworte, die vielleicht zu polarisierend sind. Ich glaube, wir kommen auf jeden Fall nicht darum herum, ökologische Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen. Es gibt Grenzen in den Ressourcen, und wenn wir Ressourcen weiterhin über ihre Erneuerungsfähigkeit hinaus ausbeuten, werden wir sehr bald große Probleme kriegen. Das ist eine ökologische Grundgegebenheit, mit der wir einfach zurechtkommen müssen.“
Uralte Techniken könnten helfen, die Landwirtschaft fit zu machen für den Klimawandel. Ein Beispiel ist die Felderwirtschaft. Bei ihr wechseln immer wieder die Pflanzen, die auf einem Feld angebaut werden. Auch die Versuche an Hülsenfruchtgewächsen, sogenannten Leguminosen, die auf dem Feld hinter Thomas Dörings Institut laufen, können dazu beitragen. Und da kommt jetzt wieder der Klee ins Spiel, wie der Agrarökologe ausführt, der die Mischung der Pflanzen im Öko-Anbau beschreibt: „Im Ökolandbau werden häufig solche Futterleguminosen wie der Gelbklee oder der Schwedenklee – häufiger sind der Weißklee oder der Rotklee – zusammen mit Gräsern eingesetzt, um den Boden mit Stickstoff anzureichern, um Futter zur Verfügung zu stellen, um den Boden biologisch anzureichern, um gleichzeitig auch Bodenruhe zu erzeugen und Unkraut zu unterdrücken.“
Thomas Döring erforscht die Vorteile solcher gemischten Kulturen. In ihnen wird nicht nur eine Sorte Weizen, Roggen oder Klee angebaut, sondern man pflanzt gleichzeitig mehrere – mit unterschiedlichen Eigenschaften. Gelbklee etwa kommt mit Dürre gut zurecht. Mit Staunässe wird Schwedenklee besser fertig. Wie die optimale Kombination aussehen kann, das ist das Thema seiner Untersuchungen: „Uns interessiert, wie die beiden Arten sich miteinander in dieser Mischung verhalten. Kann es zur Risikominderung beitragen, wenn wir jetzt beide Arten gemischt anbauen?“
In Thomas Dörings Büro an der Universität Bonn wird das Gespräch grundsätzlicher. Ja, sagt Thomas Döring, er sei der Überzeugung, dass die Landwirtschaft im 21. Jahrhundert eine Technisierung brauche – auch die ökologische Landwirtschaft. Hightech könnte zum Bindeglied zwischen ökologischer und konventioneller Landwirtschaft werden – und eine Verbesserung für beide: „Ich glaube nicht, dass wir ganz auf technische Entwicklungen verzichten sollten oder können, um diese ökologischen Ziele zu erreichen. Der Grundgedanke, der bei vielen dieser neuen Methoden dahintersteht, ist tatsächlich, dass man den Input, das heißt Pflanzenschutzmittel oder Düngemittel, reduzieren möchte und gezielter ausbringen möchte – dort, wo sie gebraucht werden, statt sie flächenmäßig zu verteilen.“
In Bonn forschen Thomas Dörings Kollegen deshalb an autonomen Robotern, die für den ökologischen Landbau ebenso hilfreich sein können wie für den konventionellen. Die Roboter fahren über das Feld, mit ihren Sensoren registrieren sie selbstständig das Pflanzenwachstum, erkennen beispielsweise Nährstoffmangel, Krankheiten, Schädlingsbefall oder Unkräuter. So kann gezielt gehandelt werden, wie Thomas Döring die Vorteile dieser Technologie beschreibt: „Das heißt, man hat einen selektiven Pflanzenschutz, man hat eine selektive Unkrautkontrolle, eine selektive Düngung dort, wo es wirklich gebraucht wird.“
Was bereits gut funktioniere, sei die kameragestützte Unkrautregulierung: Der Roboter erkenne die Kulturpflanzen per Kamera und Mustererkennung und hacke die Unkräuter dazwischen aus. Doch auch eine Schwachstelle der Robotertechnik macht Thomas Döring aus: „Im Prinzip wäre es gut, dann auch solche Unkrautpflanzen zu erkennen, die letztlich gar keinen Schaden verursachen, und die dann auch stehenzulassen, weil sie einen ökologischen Nutzen haben können, zum Beispiel als Ressource für Insekten.“
Drohnen, selbstfahrende Traktoren und autonome Roboter könnten auf Feldern bald selbstverständlich sein. Präzisionsackerbau ist das Schlagwort. Ein Trend, der auch in den Niederlanden verfolgt wird. Dort hatte die Regierung im Jahr 2000 die Devise ausgegeben, mit der Hälfte der Ressourcen doppelt so viele Lebensmittel zu erzeugen. Eine Erfolgsgeschichte. In den Gewächshäusern ist der Pestizid-Einsatz um 90 Prozent gesunken. Und das klassische Gewächshaus bekommt Konkurrenz durch eine Hightech-Version des 21. Jahrhunderts: Vertical Farming – die vertikalen Gewächshäuser, an denen Leo Marcelis in Wageningen forscht. Er erklärt seine Motivation für seine Forschungen mit der enormen Bevölkerungsentwicklung. In seiner Kindheit seien die Niederlande das Land mit der höchsten Bevölkerungsdichte gewesen; heute haben weltweit gesehen manche Städte mehr Einwohner als die gesamten Niederlande: „When I was a kid at school, we always learned the Netherlands are the most dense country with population. But if you look worldwide there are many cities where just one city is bigger or have more inhabitants than the Netherlands as a whole.“
Seit 2008 leben weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Eine Entwicklung, die sich fortsetzen wird. Bis 2030 rechnet der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen mit fünf Milliarden Stadtbewohnern: Sie müssen versorgt werden – bei Frischprodukten auf möglichst kurzen Transportwegen.
Die „vertical farms“ sind eine Spielart einer Hightech-Landwirtschaft, die die Lösungen sozusagen in Kunstwelten sucht. Leo Marcelis lässt Pflanzen in einem Gebäude in vielen Lagen übereinander wachsen. Für jede Lage werden Licht, Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder auch die CO2-Konzentration kontrolliert. Wenn in einer vertikalen Farm 20 Lagen übereinander angebaut werden, ist der Ertrag pro Fläche um das 20-fache höher als im Freiland – bei sehr viel weniger Ressourcen- und Landverbrauch: „Wir lassen in einem Gebäude Pflanzen in vielen Lagen übereinander wachsen. Wir kontrollieren für jede Lage Licht, Temperatur, die Luftfeuchtigkeit oder auch die CO2-Konzentration. Wenn in einer vertikalen Farm 20 Lagen übereinander angebaut werden, ist der Ertrag pro Fläche um das 20-fache höher als im Freiland – bei sehr viel weniger Ressourcen- und Landverbrauch.“
Die Pflanzen wachsen unter künstlichem Licht, dessen Spektrum an ihre Bedürfnisse in der jeweiligen Wachstumsphase angepasst wird. Sie erhalten eine genau einkalkulierte Nachtruhe, und sie wachsen meist in Wasser, das mit allen Nährstoffen sowie nützlichen Mikroben und Pilzen angereichert ist. In der Blütezeit bekommen sie Insektenbesuch. Leo Marcelis erklärt, dass in den vertikalen Farmen die Qualität durch Veränderungen in den Anbaubedingungen kontrolliert werde. Man setze auf hohe Qualität, guten Geschmack und gutes Aussehen. Die Bedingungen können so eingestellt werden, dass die Pflanzen beispielsweise besonders viel Vitamin C bilden. Dabei sei das System außerdem in vielerlei Hinsicht sehr nachhaltig. Etwa, weil alles in einem Kreislauf geführt werde und nichts ins Grundwasser und nichts in die Luft gelange.
Der Wasserbedarf pro Kilogramm Gemüse liegt bei zwei bis drei Liter – einem Bruchteil dessen, was auf dem Feld verbraucht wird. Auch auf Pestizide wird verzichtet: Unkraut gibt es nicht in dieser Hightech-Kultur, und Schädlinge und Krankheiten werden durch ausgefeilte Hygienemaßnahmen und Luftfilter draußen gehalten. Ein Problem ist allerdings der hohe Stromverbrauch des Systems, das sei in Hinblick auf Nachhaltigkeit und Kosten ein großes Thema, gibt Leo Marcelis bedauernd zu. Man konzentriere sich daher auf den effizienten Einsatz von LED: „Das System braucht viel Strom – das ist ein großes Thema mit Blick auf Nachhaltigkeit und Kosten. Den größten Teil des Stroms verbrauchen die Lampen, deshalb konzentrieren wir unsere Forschungen auf den effizienten Einsatz der LED, denn das hilft uns sparen und ist gut für die Nachhaltigkeit.“
Der hohen Kosten wegen eignen sich die vertikalen Farmen nicht für Massenware wie Weizen oder Mais und auch nicht für den Einsatz in Entwicklungsund Schwellenländern. Doch gerade auf sie kommt es künftig an, sagt Lutz Breuer von der Justus-Liebig-Universität Gießen: „70 bis 80 Prozent der Welternährung werden heute durch kleinbäuerliche Landwirtschaft im globalen Süden produziert, das heißt, der Landwirt oder die Landwirtin, die auf ihren ein zwei Hektar großen Flächen vor allen Dingen Subsistenzwirtschaft betreiben, also Landwirtschaft für den Eigenbedarf, um sich selber zu ernähren.“
Kleine Betriebe, die nur das auf den Markt bringen, was sie nicht selbst verbrauchen, sind für die Ernährungssicherheit zentral – und ihre Bedeutung wird auch in Zukunft nicht sinken, wie Lutz Breuer voraussagt: „Aber wir werden mit Sicherheit nicht auf den intensivsten Flächen die gesamte landwirtschaftliche Produktion herstellen können, die für die Weltbevölkerung für die Ernährung notwendig sind. Es ist eben nicht dadurch getan, dass wir einfach nur intensiver und noch intensiver die Landwirtschaft betreiben und damit dann die Weltbevölkerung retten, was den Ernährungsstatus angeht.“
Um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, müssen auch die kleinbäuerlichen Betriebe ertragreicher produzieren. Dafür werden jedoch andere Techniken erforscht als für die Äcker der Industrienationen. Ein Beispiel ist der Einsatz von sogenannten Push-Pull-Systemen zur biologischen Schädlingsbekämpfung. Um etwa Mais vor Käferbefall zu schützen, werden um kleine Felder herum Gräser gepflanzt, die die Schädlinge anziehen – und zwischen den Nutzpflanzen wiederum wachsen Kräuter, die Käfer vertreiben und gleichzeitig das Wachstum von Unkräutern in Grenzen halten. Lutz Breuer beschreibt dieses System als natürlichen Pflanzenschutz: „Diese Art von Push-Pull-Landwirt-schaft ist im Grunde so etwas Ähnliches wie ein Pestizid, nur auf natürliche Art und Weise funktionierend und eben nicht durch künstliche Pestizide hervorgerufen. Das sind landwirtschaftliche Formen, die bereits in den Tropen und Subtropen von Hunderttausenden von Landwirten durchgeführt werden, aber es muss eben dahin gehen, dass es Millionen von Landwirtinnen und Landwirten sind.“
Solche Verbesserungen sind für die afrikanische Landwirtschaft besonders wichtig, sagt Lisa Biber-Freudenberger vom Zentrum für Entwicklungsforschung ZEF in Bonn, denn: „Der Großteil des Bevölkerungswachstums wird in Afrika stattfinden, also da, wo heute schon ein Drittel der Menschen hungrig zu Bett geht und ungefähr 200 Prozent Bevölkerungswachstum erwarten werden.“
Gleichzeitig zählt Afrika zu den Gebieten, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sein werden. Ein Teil der Lösung soll die Rückbesinnung auf heimische Feldfrüchte sein. Doch dies verlangt gesellschaftliche Veränderungen. Ein Beispiel dafür ist der Mais. Er wird derzeit in Afrika angebaut, obwohl er viel Regen zur richtigen Zeit braucht und langsam reift. Für das afrikanische Klima ist er deshalb eigentlich nicht gut geeignet, sagt Dr. Oliver Kirui vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn. Er beschreibt, wie die afrikanischen Bauern versuchen, ihre Produktpaletten zu erweitern und auf traditionelle Feldfrüchte umzusteigen, die weniger Wasser brauchen und dürretoleranter sind. Doch viele dieser traditionellen Feldfrüchte sind so lange nicht beachtet worden, dass sie schwierig zu vermarkten sind. Die Verbraucher glauben, dass ihnen etwas fehlt, wenn sie sich mit Kassava, Süßkartoffeln, Sorghum oder Hirse und anderen traditionellen Lebensmitteln ernähren: „Die Bauern versuchen inzwischen glücklicherweise, ihre Produktpaletten zu erweitern und auf traditionelle Feldfrüchte umzusteigen, die weniger Wasser brauchen und dürretoleranter sind. Doch viele dieser traditionellen Feldfrüchte sind so lange nicht beachtet worden, dass sie schwierig zu vermarkten sind. Die Verbraucher glauben, dass ihnen etwas fehlt, wenn sie sich mit Kassava, Süßkartoffeln, Sorghum oder Hirse und anderen traditionellen Lebensmitteln ernähren.“
Deshalb laufen Aufklärungskampagnen – und sie zeigen erste Erfolge: Inzwischen zeichnet sich ein Trend zurück zu den traditionellen Feldfrüchten ab.
Doch auch den Entwicklungs- und Schwellenländern kann die Technisierung helfen. Das sieht man schon heute etwa im ostafrikanischen Rift-Valley. Dort messen Spezialisten mit kleinen portablen Geräten die Eigenschaften des Bodens, schicken die Daten über ein Handy an eine Datenbank in ihrer Firmenzentrale – und der Bauer erhält innerhalb von zehn Minuten einen detaillierten Bericht über den Nährstoffbedarf seiner Pflanzen und wie er sie optimal versorgen kann. Das kostet zwar ein paar Dollar, vermeidet aber Ernteverluste durch Fehlentscheidungen. Dieses Projekt ist einer der Mosaiksteine, die dabei helfen, die rapide wachsende Menschheit zu ernähren – eine Mammut-Aufgabe, für die es keine „einzig wahre“ Lösung gibt.
http://www.fao.org/fileadmin/templates/wsfs/docs/expert_paper/How_to_Feed_the_World_in_2050.pdf
https://www.umweltbundesamt.de/daten/land-forstwirtschaft/beitrag-der-landwirtschaft-zu-den-treibhausgas#textpart-1
Kollage Weltbevölkerung Klaus Müller (2017): Atlas zur historischen Demographie der Menschheit und UN World Population Prospects https://esa.un.org/unpd/wpp/