Von Fischen, dem Meer und dem Leben
Aus dem Englischen von
Christine Ammann
Für Celia und Peter, Katie und Maddie,
in Erinnerung an Ningaloo
Prolog: Gedanken über Fische
1 – Fisch-Kuriositäten
Die Meeresgöttin Sedna
2 – Ein Blick aus der Tiefe – Einführung in die Fische
Wie die Flunder ihr Lächeln verlor
3 – Unfassbare Farb-Performance
Der Lachs der Weisheit
4 – Leuchten
O-Namazu
5 – Anatomie eines Schwarms
Osiris und der Elefantenfisch
6 – Fischfutter
Vatnagedda
7 – Giftige Fische
Chipfalamfula
8 – Wie Fische früher waren
Der „Doktor der Meere“
9 – Fischsymphonien
Der Fisch und der goldene Schuh
10 – Fische (neu) denken
Epilog
Anhang: In den Illustrationen abgebildete Arten
Glossar
Ausgewählte Bibliografie und Anmerkungen
Danksagung
Register
Das Tageslicht im Amazonasregenwald schwindet, in einer stillen Bucht begibt sich ein Fischschwarm zur Ruhe. Die Fische sind klein, nur einen halben Daumen groß, mit gegabeltem Schwanz, goldenem Längsstreifen und einem roten Strich über den Augen. Vom Kronendach weit oben sind Blätter ins Wasser gefallen, die versinken und verwesen. Die Fische verstecken sich darunter und lassen sich ausnahmslos von einer raffinierten Botschaft täuschen: Ich bin kein Fisch. Ein Blatt treibt in Richtung Schwarm. Wie die anderen auch ist es braun gefleckt und hat sogar einen Stiel, mit dem es scheinbar einst am Baum hing. Doch plötzlich klappt ein riesiges Maul auf und verschlingt einen nichtsahnenden Fisch aus dem Schwarm. Kaum eine Sekunde später ist der Blattfisch wieder ein Blatt.
Woanders im Amazonasgebiet verharrt ein Spritzsalmler-Männchen, mit großen perlmuttartigen Schuppen und rot geränderten Flossen, reglos unter einem verheißungsvollen Blattwedel und wartet geduldig, dass ein Weibchen vorbeikommt und es hoffentlich erwählt. Wenn ja, dann springen sie gemeinsam aus dem Wasser und saugen sich mit ihren Flossennäpfen an dem Wedel fest. Das Weibchen legt etwa ein Dutzend Eier ab, das Männchen befruchtet sie mit einem Spermaspritzer. Dann plumpsen beide ins Wasser zurück. Und wiederholen das: Wieder und wieder springen sie hoch und fallen ins Wasser zurück. So lange, bis sie ungefähr 200 Eier in einem dichten Laich abgelegt und befruchtet haben. Schließlich schwimmt das Weibchen erschöpft davon und lässt die Kleinen zurück, weit genug von den meisten eierfressenden Wassertieren entfernt und unter der sorgsamen Obhut des Vaters. Er sorgt dafür, dass die wachsenden Jungen nicht austrocknen, und schlägt im Minutenabstand mit der Schwanzflosse, um sie mit Wasser zu benetzen. Obwohl das einfallende Sonnenlicht von der Luft-Wasser-Linie gebrochen wird, schafft es der talentierte Physiker, seinen Wasserstrahl daran anzupassen, genau auf den richtigen Punkt abseits der Eier zu zielen, und trifft. Nach zwei Tagen schlüpfen die Jungen, fallen ins Wasser und schwimmen davon.
Wenn die Jungfische Pech haben, werden sie von einem hungrigen Vierauge entdeckt. Eigentlich hat der Raubfisch nur zwei Augen, doch sie sitzen wie Froschaugen hoch am Kopf und sind horizontal geteilt, mit je zwei Hornhäuten und Pupillen. Aber sie haben nur eine Linse, die oben, wie menschliche Linsen, flach und unten, wie die der meisten Fische, gekrümmt ist. Das blasse, längliche Vierauge steht knapp unter der Wasseroberfläche und kann in zwei Welten schauen. Mit der unteren Augenhälfte blickt es abwärts ins Wasser und hält nach anderen Raubfischen Ausschau, die obere ragt heraus und sucht Luft und Wasseroberfläche nach Insekten ab – und nach jungen Spritzsalmlern, die gerade herunterfallen und ein willkommenes Mahl sind.
Diese merkwürdigen Fische im Amazonas ragen nicht etwa als Einzige aus einer sonst langweiligen Masse heraus. In den Gewässern der Welt – ob süß oder salzig, flach oder tief – wimmelt es nur so von bemerkenswerten Arten.
Im ostafrikanischen Tanganjikasee etwa wird das Maul von Buntbarschen zur Brutkammer. Wenn sich ein Paar findet, legt das Weibchen die Eier ab, das Männchen gibt sein Sperma hinzu, dann nimmt das Weibchen das Ganze ins Maul und lässt die befruchteten Eier so lange dort, bis die Jungen geschlüpft und groß genug sind, in die Welt entlassen zu werden. Es sei denn, in der Nähe wartet schon ein Kuckucks-Fiederbartwels. Der bärtige weiße Fisch mit schwarzen Flecken verhält sich genauso heuchlerisch wie sein gefiederter Namensgeber. Wenn das Buntbarsch-Weibchen laicht, schummelt er sich blitzschnell dazwischen und legt seine Eier einfach dazu. Wenn seine Nachkommen dann im Maul des betrogenen Weibchens schlüpfen, verschaffen sie sich den nötigen Raum, indem sie alle Buntbarschjungen fressen.
Weiter von der afrikanischen Küste entfernt, auf Madagaskar, leben wiederum in tiefen, unterirdischen Höhlen nicht einmal zentimetergroße hellrosa Grundeln ohne Augen. Ähnlich blasse, augenlose Grundeln leben aber auch auf der anderen Seite des Indischen Ozeans, im fast 7000 Kilometer entfernten Untergrund einer australischen Wüste. Wie neuere genetische Studien zeigen, sind beide Arten eng verwandt, sozusagen evolutionäre Geschwister. Dass die höhlenliebenden Fische eine derartige Langstrecke zurückgelegt und sich so verbreitet haben, kann nicht sein. Sie sind an ihre Höhlen gefesselt und können sich nicht ins Tageslicht wagen. Ohne Augen können sie Feinde nicht sehen, und es fehlen ihnen Pigmente, die sie vor der UV-Strahlung schützen würden. Nur die Verschiebung der Kontinente kann schlüssig erklären, dass sie so weit entfernt voneinander vorkommen. Ein gemeinsamer Vorfahr muss auf einem frühen, südlichen Superkontinent gelebt haben. Als sich dann ein Riss zwischen Australien und Madagaskar bildete, wurden die beiden Höhlensysteme und die Fische getrennt und driften nun seit ungefähr 100 Millionen Jahren langsam auseinander.
Die allermerkwürdigsten und, nebenbei gesagt, auch die meisten Fische leben allerdings in 1000 Meter Tiefe in der Dämmerzone der Meere, wohin kein Sonnenlicht mehr dringt. Dort schwimmen kleine Haie mit leuchtenden Rückendornen herum, mit denen sie vermutlich Eindringlinge vom Zuschnappen abhalten wollen. Andere Fische besitzen Kopftaschen mit leuchtendem Schleim, und keiner weiß, warum. Dort unten liegt auch das Revier der scharfzahnigen Borstenmäuler und der Laternenfische, die so klein sind, dass sie auf eine Handfläche passen. Sie hüllen ihren Bauch in bläuliches Licht und machen ihre Silhouette so für vorbeischwimmende Raubfische unkenntlich. Manche unterhalten sich auch, wie Glühwürmchen, über Lichtblitz-Codes. Wie Tiefseestudien zeigen, sind diese beiden Fischgruppen die Herrscher über die Dämmerzone der Meere. Insgesamt leben dort unten schätzungsweise Hunderte Billionen, vielleicht sogar Billiarden von Borstenmäulern und Laternenfischen, mehr als von jedem anderen Wirbeltier – und gefolgt von nur 24 Milliarden Haushühnern. Tagsüber verlassen die Borstenmäuler und Laternenfische allerdings scharenweise die Dämmerzone und schwimmen auf der Suche nach dem Plankton, das Nacht für Nacht massenhaft aufsteigt, Hunderte Meter in Richtung Wasseroberfläche. Es ist die größte Migrationsbewegung der Tiere auf unserer Erde, und pünktlich wie ein Uhrwerk wiederholt sie sich, aufwärts und abwärts, tagtäglich in allen Meeren.
Mit den Fischen ist dem Leben auf unserem Planeten eine der größten Erfolgsstorys gelungen. Sie beherrschen Meere, Flüsse und Seen und damit mehr als sieben Zehntel der Erdoberfläche. Nimmt man noch die Meerestiefe von durchschnittlich vier Kilometern hinzu, bevölkern sie sogar 90 bis 99 Prozent des gesamten irdischen Lebensraums, der wimmelnden, wuselnden Biosphäre. Seit Hunderten Jahrmillionen sind sie die Herrscher über ein gigantisches Wasserreich. Die Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Gruppen haben sich zwar mit der Zeit verschoben, doch die Fische waren immer schon da.
Was Fische genau ausmacht und von anderen Tieren unterscheidet, ist nicht immer einfach zu bestimmen, wie wir im ersten Kapitel noch sehen werden. Vereinfacht gesagt, sind sie aquatisch lebende Tiere mit Kiemen und Wirbelsäule, auch wenn es etliche bemerkenswerte Ausnahmen gibt. Doch davon einmal abgesehen, sind sie auf jeden Fall die zahlenmäßig größte und vielfältigste Wirbeltiergruppe. Sie machen die Hälfte aller Tierarten mit Rückgrat aus. Es gibt ungefähr 30.000 Fischarten, genauso viele wie alle Vogel-, Amphibien-, Reptilien- und Säugetierarten zusammen.
Zwanzig Meter lange Walhaie zählen genauso zu den Fischen wie acht Millimeter kleine Winzlinge1. Auch die Formenvielfalt der Fische ist bemerkenswert: schlängelnde Seile, runde Ballons, Kugeln und Torpedos, flache Pfannkuchen und Würfel. Manche Fische leuchten oder sind farbenprächtig, andere sind silbern oder sandfarben, und durch manche kann man hindurchsehen. Die einen flitzen, die anderen sind vollkommen reglos, einige leben ein paar Wochen, andere jahrhundertelang, die einen wohnen in Höhlen und brauchen keine Augen, andere lassen sich treiben und tun so, als wären sie Blätter. Verglichen mit eher konservativen Tiergruppen sind Fische ungeheuer flexibel und anpassungsfähig und haben in ihrer Unterwasserwelt einzigartige Anpassungsstrategien entwickelt. Es gibt viele Arten, ein Fisch zu sein.
Doch die Brillanz der Fische bleibt den meisten Menschen verborgen und unbekannt. Fische leben versteckt unter Wasser, jenseits unseres Horizonts. Die Küsten und Ufer bilden schwankende, von den Gezeiten überspülte Grenzen, die Nass und Trocken, ihre und unsere Welt trennen. Seit der Antike haben sich nur die Mutigsten oder die unheilbar Neugierigen darüber hinausgewagt.
Schon seit Jahrtausenden ziehen Leute Fische aus dem Wasser und holen sie vor allem aus zwei Gründen in die menschliche Welt. Fisch ist zuallererst Nahrung. Fische zu fangen und zu essen ist so tief in uns verwurzelt, dass wir Fische „fischen“, Hirsche aber nicht hirschen und Wildschweine nicht schweinen. Der Mensch hat schon sehr früh gefischt. Archäologen entdeckten in einer Höhle der japanischen Insel Okinawa mindestens 30.000 Jahre alte Angelhaken aus Muschelschalen. Und wie die chemische Analyse eines 40.000 Jahre alten Skeletts ergab, das nahe Peking gefunden wurde, aß schon der frühe Mensch jede Menge Süßwasserfische.
Heute fängt die globale Fischwirtschaft jährlich ungefähr eine bis drei Billionen Fische. Fisch ist für ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung die Haupteiweißquelle. Fischer in kleineren Betrieben spüren oft noch eine tiefe Verbundenheit mit den Fischen. Doch die meisten Verbraucher der reichen Industrieländer können zwischen der Nahrung und dem Ort, wo sie herkommt, kaum noch eine Verbindung herstellen. Fast eins von fünf Kindern in Großbritannien glaubt, Fischstäbchen würden aus Hühnerfleisch gemacht. Der heutige Mensch kommt mit Fisch meist nur noch in Kontakt, wenn dieser längst tot und ohne Kopf, Flossen, innere Organe und Gräten sorgsam in Kunststoff verpackt oder sauber in einer Dose eingeschweißt ist. Wenn wir Steak essen, denken wir nur höchst ungern an das muhende, wiederkäuende Rind, aber die zerfallenden weiß-rosa Fischstücke machen es uns geradezu unmöglich, uns ein wildes, lebendes Tier vorzustellen. Beim Fisch ist die Entfremdung noch größer. Wir alle kennen Rinder, wissen aber häufig nicht einmal, wie der Fisch aussieht, den wir essen. Die Briten verspeisen jährlich 70.000 Tonnen Kabeljau, ungefähr ein Kilo pro Person, doch nur etwa ein Drittel aller Fischesser kann den Fisch identifizieren: Mit zwei Metern ist der Kabeljau wesentlich länger als ein ausgestreckter Arm, schimmert bronzefarben und hat, wie einen Ziegenbart, eine weiße Bartel am Kinn. Genauso kann nicht einmal einer von fünf britischen Verbrauchern sagen, wie der fleckige, flache Fisch mit den zwei Augen auf der Oberseite und dem schiefen Mund heißt (Scholle) oder der silbrige, torpedoförmige Fisch mit dem großen, breiten Maul (Sardelle). Dabei gehören beide zu den Fischarten, die am häufigsten auf den Teller kommen. Wie sieht es da wohl bei unbekannteren Fischen auf unserer Speisekarte aus? Etwa dem Petersfisch mit den Irokesen-Stacheln, der kupfer-weiß-marmorierten Haut und den beiden großen, goldumrandeten Flecken? Oder dem scharlachroten Knurrhahn, der auf beiden Seiten drei „Finger“ hat und damit am Meeresboden nach Nahrung sucht?
Neben den Fischen, die wir essen, gibt es noch die Fische unserer Mythen und Sagen. Alle Kulturen kennen Fischgeschichten und bezeugen damit die tief verwurzelten, allerdings oft widersprüchlichen Gefühlen, die der Mensch gegenüber den Bewohnern der Tiefe hegt. Die mythischen Fische können dem Menschen Glück, Wohlstand, Wandlung und Wissen schenken, aber auch launisch und gefährlich sein und als dämonische Gestaltwandler Fluten, Stürme und Erdbeben auslösen. Manche Götter, Göttinnen und ihr Gefolge nehmen Fischgestalt an, ihre Beine verwandeln sich freiwillig oder als Strafe in Fischschwänze. Die ursprünglichen Meerjungfraugeschichten vieler Länder sind häufig beklemmend und düster: Ausgestoßende Frauen flüchten sich ins Wasser, verwandeln sich in Meerjungfrauen, quälen und verfluchen diejenigen, von denen sie verbannt wurden: Sie locken die Menschen in den Tod. Die Kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen will um keinen Preis mehr halb Fisch sein und ist bereit, sich dafür die Zunge herausschneiden zu lassen. Ihre ersten Schritte auf den neuen Füßen fühlen sich an, als ginge sie über Glasscherben.
In vielen der Geschichten kommt die psychologische Schwierigkeit zum Ausdruck, Fische zu verstehen, zu mögen oder gar mit ihnen zu fühlen. Fische haben scheinbar keine Gefühle, die wir lesen oder nachempfinden können. Sie zeigen kein Lächeln, nur unbewegliche, mürrische Mäuler. Wenn man einen lebenden Fisch berührt, fühlt er sich meistens so kalt an wie ein toter Fisch im Supermarkt und nicht wie etwas, das sich bewegt und fortflitzt. Wie wir allerdings sehen werden, sind nicht alle Fische vollkommene Kaltblüter beziehungsweise wechselwarm. Ich kenne Menschen, die nicht ins Meer gehen, weil sie Angst haben, dass kalte, schleimige Fische sie berühren könnten. Solche Ängste überwindet man übrigens am besten, wenn man mit dem Kopf unter Wasser geht und sich die Fische einmal genauer anschaut.
Dieses Buch ist eine Erkundungsreise durch die Unterwasserwelt der Fische. Ich gehe darin der Frage nach, was Fische eigentlich sind und was sie in ihrer rätselhaften Welt tun. Ich möchte die Fische von den seltsamen Geschichten befreien, die man über sie erzählt – einige davon gebe ich auch wieder –, und von ihrem Ruf als kaltherzige, unergründliche Wesen. Mit diesem Buch möchte ich zeigen, wie unglaublich faszinierend die Fische in Wahrheit sind und wie man sie überall auf der Welt entdecken, kennenlernen und bewundern kann.
Im ersten Kapitel widmen wir uns zunächst der Frage, ob man überhaupt allgemein von Fischen sprechen sollte; im zweiten Kapitel geht es dann um die spektakuläre Vielfalt der Fische. In den nachfolgenden Kapiteln betrachten wir jeweils eins der Merkmale, durch die Fische evolutionär so überaus erfolgreich und zahlreich geworden sind. Wir schauen uns an, wie Fische sich bewegen, nach Nahrung suchen und verhindern, selbst gefressen zu werden. Wir hören, wie sie singen und miteinander reden, und sehen, wie sie dank Leuchtkraft und Farben Botschaften versenden oder sich tarnen. Viele Merkmale kommen exklusiv bei Fischen vor und machen sie zu den Herrschern des Wasserreichs.
Gerade heute können und sollten wir uns Gedanken über die Fische machen und sie uns näher anschauen. Zum einen haben wir noch nie mehr über sie gewusst. Neue Technologien und Beobachtungsmöglichkeiten führen zu bemerkenswerten neuen Erkenntnissen: Wir können die Bewohner der tiefsten Meere mit ferngesteuerten Robotern ausspähen, dank der Molekularbiologie Verwandtschaften und Verbindungen entschlüsseln und über winzige Tracking-Chips die Reisen der Fische quer durch alle Meere verfolgen.
Andererseits leiden die Fische heute kollektiv und stärker als je zuvor unter der Ausbeutung durch den Menschen. Laut Schätzungen von The Sea Around Us, einem Projekt der kanadischen University of British Columbia, wurde der „Fisch-Höhepunkt“ unserer Erde schon 1996 überschritten. Bis dahin wurde Jahr für Jahr weltweit mehr Fisch gefangen. Immer mehr Fischer mit immer größeren Booten, immer neueren Fischereimethoden und Technologien wagten sich hinaus und holten aus Meeren, Seen und Flüssen immer größere Fischmengen. Doch seit 1997 sinken die Fangmengen kontinuierlich und deutlich um etwa zwei Prozent pro Jahr. Der Mensch geht nicht seltener auf Fischfang, aber die Fische werden knapp. Die Fischfangindustrie hat global betrachtet zu viele Fische gefangen. Die Fischbestände können keinen Widerstand mehr leisten: Sie erholen sich nicht mehr so wie früher.
Verschlimmert wird die Lage der Fische noch durch den Klimawandel, der die Meere wärmer und saurer werden lässt, und die Verschmutzung der Meere mit Chemikalien und Kunststoffen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir handeln müssen, wenn nicht noch mehr Fischpopulationen und -arten unbemerkt und unerkannt verschwinden sollen. Auch wenn ich mit diesem Buch nicht tiefer in Themen wie überfischte Meere oder Klimawandel eindringen kann oder behaupten wollte, detaillierte Lösungen zur Hand zu haben, so hoffe ich doch, Sie davon überzeugen zu können, dass Fische wichtig sind und unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt verdienen. Das scheint mir immerhin mal ein guter Anfang zu sein.
Und positiver ausgedrückt: Das Beobachten von Fischen könnte Ihnen guttun. Im Jahr 2015 maß man bei Besuchern des britischen National Marine Aquarium, verschiedene Körperfunktionen, als sie durch ein riesiges Acrylfenster in ein 500.000-Liter-Aquarium schauten. Das Becken war mit einem gemäßigten Korallenriff, mit künstlichem Seetang und Seefächern dekoriert und wurde gerade neu bestückt. Die Werte wurden gemessen, als das Aquarium noch leer war, als ein Teil der Fische und schließlich als alle Fische im Aquarium waren. Wie sich bei hundert zufällig ausgewählten Besuchern zeigte, sanken Puls und Blutdruck umso stärker, je mehr Fische zu sehen waren. Die Studie legt also nah, dass die Betrachtung von Fischen selbst unter künstlichen Bedingungen entspannt und beruhigt.
Als ich zum ersten Mal frei lebende Fische beobachtete, hatte ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass das so interessant sein würde. Ich war fünfzehn und in Südkalifornien, einen Ozean und einen Kontinent von zu Hause entfernt, so weit weg wie noch nie. Unsere Familie machte erstmals Urlaub außerhalb von Europa. Ich fühlte mich in diesem fremden Land unglaublich wohl. Die Betten waren so breit, dass ich mit meiner kleinen Schwester im selben Bett schlafen konnte, ohne fürchterlich getreten zu werden. Beim Frühstück durfte ich bestimmen, wie hoch mein Pancake-Stapel sein sollte, und wir fuhren stundenlang nur geradeaus.
Allerdings konnte ich es auf unserer Reise kaum erwarten, endlich einen Seeotter zu sehen. Die fand ich nämlich toll. Ich hatte Dokumentarfilme gesehen und besaß Kalender und T-Shirts mit Seeottern. Jetzt wollte ich endlich welche in echt sehen. Wir fuhren über den Küsten-Highway in Kalifornien, links ein endloser blauer Pazifik, rechts riesige, hohe Mammutbaumwälder, und ich drängte meine Eltern, endlich anzuhalten, damit ich nachgucken konnte, ob dieser schwarze Punkt da hinten im Wasser das struppige Meersäugetier war.
Es war schon fast dunkel, als wir zum ersten Mal Seeotter sahen, gar nicht weit von der Küste. Sie trieben in der Gruppe dahin und waren emsig damit beschäftigt, sich in Seetang einzuwickeln, um in Ruhe zu dösen, ohne von der Flut herausgezogen zu werden. Ich schaute ihnen zu, wie sie sich drehten und wendeten, damit ihre vier Pfoten trocken blieben, und sie gruben sich noch tiefer in mein Herz. Ich schwöre, einige schliefen pfötchenhaltend ein.
Vermutlich war das das prägende Erlebnis: Weil mein ehrgeiziger Wunsch, wilde Seeotter zu sehen, so leicht in Erfüllung gegangen war, wollte ich noch anderes im Meer entdecken, etwas, das nicht jeder sofort süß fand.
Am nächsten Tag stand ich auf einem hohen Felsen an der China Cove-Bucht, etwas südlich der Monterey Bay, und schaute in das klarste, türkiseste Wasser, das ich jemals gesehen hatte. Eine Offenbarung für ein Mädchen vom Nordostatlantik. Meer hieß für mich bis dahin trübes, grünliches Wasser, in dem ich meine Zehen nicht mehr sah, sobald ich einen Fuß hineinsetzte. Und jetzt blickte ich geradewegs durchs Wasser hindurch und konnte einen Seelöwen beobachten, der enge Kreise schwamm. Und merkwürdigerweise konnte ich sogar sehen, was er jagte.
Er jagte einem Fischschwarm hinterher, der sich sauber zweiteilte und jedes Mal, wenn der Seelöwe hindurchgeschossen war, wieder zu einem wirbelnden Etwas vereinte. Es waren wohl Heringe oder Sardinen. Aber die Frage stellte ich mir gar nicht. Ich schaute nur zu, wie der gummihäutige Seelöwe sich unablässig spiralförmig drehte und versuchte, einzelne Fische abzudrängen. Doch ich sah nicht einmal, dass er erfolgreich war. Jedes Mal fand der Gejagte den Weg zurück zum Schwarm und verschwand ununterscheidbar darin.
Ich war von diesem Räuber- und Gendarmspiel völlig fasziniert und konnte den Blick kaum mehr von diesen Fischen abwenden, die verfolgt, aber beinah nie gefangen wurden.
Man kann Fische auf verschiedene Weise beobachten. Und man muss dabei nicht einmal nass werden. Wenn man an Teichen, Bächen oder Flüssen entlangspaziert, kann man als schönen Zeitvertreib die Schatten und Silhouetten der Fische verfolgen und zugucken, wie sie mit ihren Mündern Nahrung von der Wasseroberfläche fischen. Als ich einmal in Gummistiefeln bei Ebbe über ein britisches Watt lief, entdeckte ich unter einem Felsen sogar Geweihschleimfische mit rotgefiederten Tentakeln über den Augen und ein anderes Mal im Seetang Katzenhaie, die gerade aus ihrer Eikapsel („Seemaus“) geschlüpft waren.
Viele Leute beobachten Fische auch ganz bequem zu Hause. Als Haustiere waren sie noch nie so beliebt wie heute: In Großbritannien steht in einem von zehn Haushalten ein Aquarium. In den Wohnungen und Häusern der USA leben schätzungsweise eine Milliarde Fische. Und weil man normalerweise einen kleinen Schwarm und nicht nur ein oder zwei Exemplare hält, gibt es in amerikanischen Haushalten mehr Fische als Katzen, Hunde, Hasen und Hamster zusammen. Die wachsende Beliebtheit der Fische mag auch daran liegen, dass wir zunehmend in Städten leben und weniger Zeit haben – mit Fischen muss man schließlich nicht Gassi gehen.
Ich habe noch nie Fische gehalten. Meistens rechtfertige ich das damit, dass ich zu Hause arbeite und dann nur noch gebannt in das Miniatur-Meer schauen würde. Laut Feng-Shui wäre ich allerdings vielleicht noch glücklicher und produktiver, wenn ich neun ausgewählte Goldfische hielte, darunter einen schwarzen, der die negative Energie im Raum absorbiert.
Wenn ich Fische beobachten will, steige ich am liebsten ins Wasser. Tauchen kann wie ein Spaziergang in fantastischer Landschaft sein, nur sind die Regeln andere. Beim Tauchen kann man sich nicht unterhalten. Man kann dem anderen nur zunicken und gestikulieren, sich gegenseitig etwas zeigen und mit einfachen, vorher abgemachten Handzeichen kommunizieren – „Ist alles okay?“ „Ja, alles klar.“ Jeder Tauchgang ist ein kontemplatives Erlebnis, bei dem man sich ganz seinen Gedanken hingeben kann. Je nach Ort und Zeit ist die Sicht beim Tauchen weit und gigantisch oder begrenzt und intim. Manchmal ist das Wasser klar und fast gar nicht vorhanden oder aber so dick und suppig, dass man nur die kleinen Dinge vor seiner Nase bemerkt.
Taucher gehen oder rennen nicht. Sie paddeln und fliegen durchs Wasser und das häufig völlig mühelos, soweit die Strömung nicht gerade aus der Gegenrichtung kommt. Es ist, als könnten Sie bei Ihrem Waldspaziergang einfach aufwärts schweben und das Blätterdach von oben betrachten oder gefahrlos über den Rand des Grand Canyon hinaustreten und hinter dem Geländer wie ein kreisender Falke die Aussicht in die Tiefe genießen. Als Taucher kann man sich tatsächlich von der Schwerkraft befreien. Man kann reglos an einer Stelle verharren und der Tierwelt zuschauen, die an einem vorbeizieht, oder mit ihr mitschwimmen.
Wenn man tief abtaucht, spürt man sehr lebhaft, wie stark sich das Leben dort unten von dem am trockenen Land unterscheidet. Fische atmen nicht nur Wasser statt Luft, sie behaupten sich auch geschickt gegenüber dem Wechsel und Wandel von Strömungen, Wellen und Gezeiten. Dass sie alle drei Dimensionen so vollkommen im Griff haben, beeindruckt mich immer wieder und macht mich unweigerlich neidisch. Ich habe über mir Fischschwärme gesehen, die sich durch brechende Wellen kämpften, anscheinend ohne jede Angst, an scharfen Riffrändern zerschlagen zu werden – was auch nicht passierte. Oder Makrelen- und Heringsschwärme, die in perfekten Formationen an mir vorbeifegten. Und wie oft habe ich staunend zugeschaut, wie ein Fisch selbstsicher und, bis auf eine fast unmerkliche Nachjustierung seiner Flossen, vollkommen reglos im Wasser stand, dann plötzlich ein kurzes Körperzucken, und schon schoss er auf- und rückwärts. Wenn ich das nur könnte.
Wir sind in dieser Unterwasserwelt nur Gäste und bleiben normalerweise nur ein oder zwei Stunden. Wir müssen stets die Taucheruhr im Blick behalten, um nicht zu lange oder zu tief zu tauchen. Und damit wir ja nicht vergessen, dass wir nicht in jene Welt gehören, haben wir nur begrenzte Atemluft dabei. Wer zu schnell an der Druckluft seiner Flasche nippt, verkürzt seine Zeit dort unten.
Doch wer Fische in ihrem Wasserreich beobachten möchte, muss nicht unbedingt mit der Tauchflasche ins Wasser gehen. Manchmal lasse ich meine Ausrüstung zurück, hole einfach tief Luft und tauche so lang, wie mein Atem reicht. Ohne die scheppernden Geräte und lästigen Luftblasen komme ich näher an die Fische heran, weil ich sie nicht so schnell vertreibe, doch so kann ich nur gut eine Minute unten bleiben. Am einfachsten und bequemsten treibt man mit dem Kopf nach unten an der Wasseroberfläche und und atmet durch einen Schnorchel. Dann kann man Fische beobachten, so lange man will.
Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begonnen habe, konnte ich glücklicherweise zu einer langen Reise aufbrechen. Ich konnte viele Orte, die ich schon kannte, und viele meiner Sehnsuchtsorte besuchen und in aller Ruhe Fische beobachten.
Nachdem ich 20 Jahre nicht in Ningaloo gewesen war, dem längsten Saumriff Australiens, das sich über 260 Kilometer an der Westküste entlangzieht, konnte ich dorthin zurückkehren. Ich freute mich, war aber auch ein bisschen besorgt. In jenem Jahr 2016 hörte man laufend schlechte Nachrichten über die Umwelt, auch über die Korallenriffe. Als Folge der steigenden Wassertemperaturen griff die Korallenbleiche um sich und tötete in aller Welt große Riffbereiche, auch am australischen Great Barrier Reef.
Ningaloo war eins der ersten Korallenriffe, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Die raue Schönheit der fast unberührten Natur beeindruckte mich nachhaltig. Zum ersten Mal sah ich Buckelwale aus dem Wasser springen und auch die grauen Rücken der Dugongs. Fast bei jedem Tauchgang traf ich auf Meeresschildkröten oder schwamm neben Mantarochen mit wedelnden schwarzen Flügeln, die breiter waren als ich groß. Direkt am Riff wimmelte es vor Fischen in allen denkbaren Formen und Farben, und in der Lagune gab es Korallenbänke, über Jahrhunderte aus der dünnen Schicht lebender Korallen gebildet, die wie riesige Blumenkohlköpfe aussahen.
Als ich jetzt zum Ningaloo-Riff zurückkehrte, war ich aus zwei Gründen nervös: Ich befürchtete, dass meine lieb gewordenen Erinnerungen enttäuscht würden und das Riff nicht weit genug abseits lag, um von der erbarmungslosen Moderne verschont zu bleiben. Doch als ich hinauswatete und ins Wasser blickte, wimmelte es dort wie in meiner Erinnerung noch immer vor Leben: Schwärme metallisch-blauer Mönchsfische flackerten durchs Wasser, Papageifische sausten vorbei, in einer kleinen Höhle hockten gelbgestreifte Schnapper. Die Korallen bildeten ein Dickicht, Hügel und Täler in Braun, Grün und Rosa, ohne jedes Anzeichen knochenweißer Bleiche. Scharlachrote Tintenfische schwenkten über dem Riff ihre „Röcke“, und in einiger Entfernung glitten geschmeidige Riffhaie vorbei.
Beim ersten Mal war ich eigentlich wegen der Walhaie nach Ningaloo gekommen. In einer Fernsehdokumentation hatte ich gesehen, wie sie sich Jahr für Jahr, wenn all die Korallen in einer einzigen dramatischen Nacht laichten, dorthin aufmachten, um sich mit aufgewirbeltem Plankton vollzufressen. Die Laiche der Korallenkolonien, Eier und Sperma, wurden von Fischchen verspeist, die dann von den Walhaien verspeist wurden, den größten heutigen Fischen und abgesehen von den großen Walen die größten Tiere der Gegenwart überhaupt. Ich wollte die riesigen, schlemmenden Fische mit eigenen Augen sehen und schrieb einer lokalen Naturschutzgruppe, ob ich vielleicht helfen könnte. Glücklicherweise war das der Fall. Ich bekam ein Zimmer in einem Gemeinschaftshaus und half im Gegenzug, täglich die Bewegungsmuster und das Verhalten der Walhaie zu beobachten, die vor der Küste patrouillierten.
Als ich endlich wieder am Ningaloo-Riff war, sprang ich vom Boot, der Meeresgrund hundert Meter unter mir, und spähte ins Wasser. Ein riesiger Schatten schob sich langsam in mein Blickfeld. Ich erkannte die blaugrüne, weiß gepunktete Haut und die bequemen Mitreisenden: Auf der Bugwelle des Walhais ritten Schwärme kleinerer Fische, an seinem Bauch hingen wie dicke Schlangen Gemeine Schiffshalter. Diesmal sah ich vor allem junge Haie, von Kopf bis Schwanz bloß fünf bis sechs Meter lang. Vielleicht waren es die Nachkommen derer, mit denen ich bei meinem ersten Besuch am Riff geschwommen war. Auch wenn niemand genau sagen kann, wie alt Walhaie werden, womöglich ein Jahrhundert oder mehr, auf jeden Fall sind sie frühestens mit 20 Jahren erwachsen.
Auch anderswo auf der Reise sammelte ich Fischbegegnungen, wann und wo immer ich konnte. Vor den Fidschi-Inseln starrte ich einmal so lange auf einen bewachsenen Fels, bis ich die flackernden Augen des giftigen Steinfischs entdeckte und den Hinterhältigen enttarnte; ein anderes Mal ließ ich mir die Fingernägel von Putzerfischen säubern oder wurde von wütenden Mönchsfischen gejagt, die, obwohl nur handtellergroß, ihren sorgfältig gepflegten Algengarten entschlossen verteidigten und mich mit einer Trommelsalve abschrecken wollten. In Aitutaki im Südpazifik, wo die Sicht nur wenige Zentimeter betrug, weil schlechtes Wetter Sedimente aufgewirbelt hatte, klammerte ich mich an einen Felsen und entdeckte plötzlich Schleimfische, kleiner als mein Fingernagel, die aus winzigen Löchern lugten.
Manchmal dachte ich nicht, dass ich Fische sehen würde, doch auf einmal waren sie da. In Australiens trockenem Inland, Hunderte Kilometer von der Küste entfernt, kletterte ich in rote Schluchten, Einschnitte in eines der ältestes Gesteine der Erde. Dort unten rinnen Gewässer, die sich, ungewärmt von der Sonne, in tiefen, farngesäumten Teichen sammeln, überragt von Bäumen voller quiekender Flughunde. Ich tauchte in das grüne Wasser ein, bis auf den Grund in fünf Meter Tiefe, und beobachtete, wie Weißfische durchs Seegras jagten.
Wie oft fand ich mich mitten in einem Schwarm wieder und sah rundherum nichts als Fische. Es waren die unterschiedlichsten Schwärme. Vor Rarotonga sausten in der Abenddämmerung gemischte Horden junger Fische – Kaninchenfische, Papageifische, Doktorfische – an mir vorbei, die am Riffboden gemeinsam nach Nahrung suchten und eine aufgewirbelte Sandfahne hinter sich herzogen. Tausende Kilometer weiter nordöstlich, vor Palau, schwamm ich im blauen Meer und war plötzlich von einem Schwarm aus Hunderten Rotzahn-Drückerfischen umgeben. Mit ihren beiden flatternden Flossen sahen sie aus, als würden sie von genauso vielen Schmetterlingen begleitet. Wenn sie erschraken, schossen sie davon und versteckten sich in den Löchern einer senkrechten Korallenklippe. Und in Neuseeland, vor der Tutukaka-Küste, wurde ich im Bogengang einer unterirdischen Höhle, so gigantisch wie eine Kathedrale, von einem Schwarm Scorpis Violacea eingekreist. Die Fische mit archetypischer Silhouette, oval und mit Gabelschwanzflosse, sind so tiefblau wie ein lupenreiner Sommerhimmel. Eine Gruppe mit identischen Gesichtern drehte sich zu mir um, blickte mich an und umschwamm mich dann sacht, als sei ich ein Stein, in einen lebhaften, flirrenden Bach geworfen.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht, ob dieses Buch nicht eigentlich ein Reisetagebuch ist, mit allen Orten, an denen ich war, und all ihren Fischen. Tatsächlich habe ich auf der Reise viele Fische gesehen, und einige davon kommen auch auf den folgenden Seiten vor, aber ich habe kein detailgenaues Fisch-Travelogue geschrieben. Tieren zu begegnen, die man noch nie gesehen hat, ist wirklich aufregend, aber ich bin nicht von dem eindimensionalen Zwang getrieben, möglichst viele Arten zu entdecken und abzuhaken. Darum geht es beim Beobachten von Fischen nicht.
Es geht vielmehr darum, Neues zu erkunden und zu entdecken und Fische und die übrige Welt auf andere Art zu sehen. Wenn wir Fische beobachten, erkennen wir nicht nur, wie meisterhaft sie im Meer und im Süßwasser zurechtkommen, sondern gewinnen auch tiefere Einsichten in das Leben überhaupt. Das Leben der Fische erzählt von den Möglichkeiten der Evolution, dem Zusammenwirken der Ökosysteme, von der Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft der Lebewesen.
Wenn man sich die Zeit nimmt und Fische beobachtet, stellt sich einem eine Flut an Fragen: Wie schaffen sie es, im Schwarm nicht zusammenzustoßen? Wie entkommen sie den Mäulern intelligenter Raubfische? Warum bemalen sie sich mit Geheim-Graffitis? Und wer entziffert diese? Wie kommen die Tausenden Fischarten miteinander aus, wenn sie auf engem Raum wie in den Großen Afrikanischen Seen oder dem Amazonasbecken zusammenleben?
Warum hält der Mantarochen sein Gehirn warm? Wieso vergiften sich die todbringenden Kugelfische nicht selbst? Woran denken Fische den ganzen Tag?
Warum schwimmen kleine Fische freiwillig ins Maul von Raubfischen, obwohl sie zu ihrer Rettung nichts weiter tun können als tanzen? Was tun Fische, wenn ihr Gewässer austrocknet? Wie hat der Wels gelernt, Tauben zu fangen? Wie schaffen es Fische, ganze Ozeane zu durchqueren und den Fluss zu finden, in dem sie geboren wurden? Wie sind sie sich mit den Bakterien handelseinig geworden, dank derer sie im Dunkeln sehen können?
In diesem Buch finden Sie Antworten auf diese Fragen und auf viele andere, die sich stellen, wenn wir in die Welt der Fische eintauchen. Auf den folgenden Seiten begegnen Ihnen Forscherinnen und Forschern, die unter abenteuerlichen Bedingungen Fische beobachtet haben, weil sie nach Antworten suchten und Genaueres wissen wollten. Sie erfahren etwas über leidenschaftliche Fischkundler, die auf sorgfältig geplante Forschungsreisen gingen und oft mit überraschenden Entdeckungen zurückkamen. Sie werden außerdem sehen, dass Wissenschaft nicht einfach heißt, Antworten auf Fragen zu sammeln, sondern oft ein aufregender, mühsamer, kreativer und manchmal chaotischer Weg ist, um überhaupt zu Antworten zu gelangen und ein wenig mehr darüber zu erfahren, wie unsere Welt beschaffen ist.
Ich hoffe auch, dass ich Sie mit diesem Buch davon überzeugen kann, dass Fische es wert sind, nach ihnen zu suchen, sie zu beobachten und ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Im Gegensatz zu anderen Meerestieren wie Muscheln lassen Fische keine schönen Objekte wie Schalen am Strand zurück, die wir aufsammeln und bewundern können. Wenn Fische sterben, verblassen ihre prachtvollen Edelstein-Farben, sie verfaulen und verwesen schnell. Was von ihnen bleibt, sind verrottende Kadaver und ein furchtbarer Gestank. Fische kann man darum am besten kennen und schätzen lernen, wenn man ihnen lebend begegnet.
Vielleicht sehen Sie Ihren Goldfisch nach dieser Lektüre in neuem Licht. Vielleicht gehen Sie in das Aquarium Ihrer Stadt, betrachten die Fische und sehen sie Dinge tun, die Ihnen bisher nicht aufgefallen sind. Und vielleicht haben Sie sogar die Möglichkeit, irgendwo in ein Gewässer zu schauen oder, noch besser, hineinzuspringen und zu entdecken, was dort unten los ist. Angesichts von 30.000 Fischarten und Billionen von Exemplaren werden Sie sehr schnell Fische beobachten und sich Gedanken über sie machen können.
1Bis 2012 hielt man den Fisch Paedocypris progenetica aus den indonesischen Torfmooren für das weltweit kleinste Wirbeltier. Doch dann wurde in Papua-Neuginea ein Frosch entdeckt, der noch kleiner ist.
Bis vor wenigen Jahren hatte ich mir eigentlich wenig Gedanken darüber gemacht, ob es so etwas wie Fische überhaupt gibt. Ich war einfach davon ausgegangen, schließlich hatte ich sie lange genug beobachtet, verfolgt und studiert. Doch dann hat mich die Frage kalt erwischt.
„Stimmt es, dass es so etwas wie Fische eigentlich gar nicht gibt?“
Es wurde unangenehm still, die Zeit wollte nicht vergehen, ich suchte nach einer Antwort. Das Live-Mikrofon machte die Sache nicht besser, ebenso wenig, dass mich 300 Leute erwartungsvoll anguckten und auf eine kompetente oder gar witzige Antwort warteten.
Man hatte mich als Gast zu „The Museum of Curiosity“ – Das Kuriositätenkabinett – eingeladen, einer Comedy-Talkshow im BBC-Radio. In jeder Sendung präsentiert der Museumskurator John Lloyd drei Diskussionsteilnehmer: erstens eine echte Berühmtheit – einmal war der Astronaut Buzz Aldrin da –, zweitens einen Comedian und drittens einen Akademiker oder jemand anders mit Nerd-Qualitäten. Das war ich.
Die Studiogäste müssen dem riesigen imaginären Kuriositätenkabinett etwas schenken und dem Publikum erklären, warum sie genau das ausgewählt haben. Manche Schenkungen sind purer Quatsch, andere regen zum Nachdenken an. Als ich mitmachte, gab es im Museum schon einen Yeti (von Schauspieler Brian Blessed), den Urknall (von Kosmologe Marcus Chown), den isländischen Vulkan Grimsvötn (von Musikproduzent Brian Eno) und das „verlockende Verhängnis“ (von Comedian Tim Minchin). Für meine Schenkung sollte das Museum ein großes Aquarium mit Seepferdchen aufstellen, darunter einige schwangere Männchen. Doch trotz der Seepferdchen, die zumindest in meiner Vorstellung zweifellos Fische sind, fiel mir keine halbwegs intelligente Antwort auf Johns Frage ein.
Beim Anblick des Studiopublikums, das mich wie ein aufmerksamer Fischschwarm anschaute, war ich wie erstarrt und konnte weder sinnvoll, geschweige denn interessant erklären, wie berechtigt die Bezeichnung Fisch tatsächlich ist.
John wollte vermutlich darauf hinaus: Sind die Fische biologisch eindeutig definiert? Gehören die so unterschiedlichen Goldfische, Kugelfische, Flundern und Elritzen, Seeteufel oder Mondfische wirklich zu ein und derselben Gruppe? Oder sind alle nur rein zufällig gute Schwimmer? Sprechen für eine Gruppe namens Fische also bessere Gründe als, sagen wir, der, dass Spinnen und Oktopusse zufällig acht Beine haben?
Am Ende habe ich irgendetwas gestammelt, was ich hier nicht unbedingt wiederholen muss und der Programmdirektor dankenswerterweise nicht gesendet hat. Die Fischfrage und meine Antwort fielen dem endgültigen Schnitt zum Opfer.
Die Frage, was einen Fisch genau ausmacht, wurde im Lauf der Geschichte ziemlich schwankend beantwortet. In der Antike ließ sich die Sache mit der Studie Historia Animalium des griechischen Philosophen Aristoteles erst einmal gut an. In dem neunbändigen Werk aus dem 4. Jahrhundert vor Christus, einem der frühesten zoologischen Werke überhaupt, legt Aristoteles umfangreiche Erkenntnisse über das Leben der Wassertiere dar und zeigt, dass er eindeutig von der Existenz der Fische überzeugt ist.
Aristoteles ordnete alle bekannten Tiere bestimmten Gruppen zu, zunächst einmal den Bluttieren und den blutlosen Tieren beziehungsweise den Wirbeltieren und den Wirbellosen.1 Innerhalb dieser Zweiereinteilung wies er wiederum alle Tiere einer Gattung genannten Gruppe zu. Zu den im Wasser lebenden Tieren gehörten Malacostraca (Höhere Krebse), Zoophyten (Quallen und Schwämme), Ostracodermata (zweischalige Weichtiere) und die Fische. Diese so Aristoteles, halten sich im Wasser auf, besitzen keine Füße, aber Flügelchen oder Flossen, und zwar meistens vier, im Falle von langen Fischen wie Aalen aber nur zwei. Fische hätten weder Fell noch Federn, aber meistens Schuppen. Wie die Vierfüßler an Land zählt er sie zu den Bluttieren. Manche seien lebendgebärend, andere legten Eier. Aristoteles beschreibt in seinem Werk ausführlich die Anatomie der Fische, wie sie sich vermehren und wie man sie fischt. Insgesamt nennt er ungefähr 120 Fischarten, die er wohl meistens aus dem Mittelmeer kannte und die dort heute noch leben, etwa Meeräsche, Muräne, Thunfisch und Papageifisch.
Vor allem aber ordnete Aristoteles die Fische einer anderen Gruppe zu als Wale, Tümmler und Delfine. Diese zählte er zu den Walarten. Denn obwohl sie Schwimmer ohne Beine seien und im Wasser lebten, würden sie zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Landsäugetieren aufweisen, etwa Luft durch die Lunge atmen und ihre Jungen säugen. Nach seiner Meinung unterschieden sie sich daher eindeutig von den Fischen.
Aristoteles war allerdings für längere Zeit der Letzte, der sich genauer mit den Wasserlebewesen beschäftigte; nach ihm fischte man eher im Trüben. Beinahe 2000 Jahre lang wurden Sachbücher über Wassertiere mit Sagen über seltsame Fantasietiere vermischt. Im Mittelalter hießen Bücher über Tiere „Bestiarien“. In den großzügig illustrierten Werken wurden meistens antike Fabeln neu erzählt und zu Lehrstücken für ein moralisch einwandfreies Leben umgedeutet. Sirenen mit menschlichem Oberkörper und Fischkörper ab der Taille lullten die Schifffahrer mit Gesängen ein, um sie dann zu überfallen. Die Moral der Geschicht: Man darf den irdischen Versuchungen nicht erliegen. Manche Meeresgeschöpfe hatten aber auch Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit. So besaß die Serra gewaltige Flügel, mit denen sie wie ein fliegender Fisch aus dem Wasser sprang. Sie neidete den Schiffen ihre Geschwindigkeit und wollte genauso schnell sein wie diese, fiel jedoch stets wieder ins Wasser zurück. Solche Geschichten sollten die Menschen vor Neidgefühlen warnen, damit sie nicht am Ende wie der Fisch in dunkle Höllengewässer stürzten.
Erst in der Renaissance tauchten aus den von Scheusalen heimgesuchten Tiefen wieder wirklichkeitsnahe Meerestiere auf. Mitte des 16. Jahrhunderts besannen sich europäische Gelehrte auf Aristoteles und dachten wieder ernsthafte über die Tiere im Wasser nach. Der Begriff Fisch näherte sich langsam der Wirklichkeit an.
In der Rara-Sammlung der Universitätsbibliothek von Cambridge reiche ich dem Bibliothekar einen Stapel dünner, rosafarbener Papierzettel, die ich mit Bleistift ausgefüllt habe. Noch einmal wird mein Bibliotheksausweis überprüft, dann rollt ein Wagen mit Büchern heran. An meinem Tisch lege ich Buch für Buch vorsichtig auf graue Baumwollkissen. Die Bücher sind Zehntausende Pfund wert. Auch Originalausgaben der weltweit ältesten Fischbücher befinden sich darunter. Sie sind fast 500 Jahre alt. Durch die Bücher zieht sich eine lange Spur, die von unseren Vorstellungen über Wasserlebewesen zeugt.
Die ersten drei Bücher, die ich mir anschaue, wurden von einem europäischen Autoren-Trio innerhalb von drei Jahren der 1550er-Jahre veröffentlicht. Die drei Männer führten ein ähnliches Leben, alle hatten Medizin studiert und bereisten Europa. Sie kannten sich, trafen sich vermutlich irgendwann in Rom und teilten dieselbe Leidenschaft: Wasserlebewesen.
Der Franzose Pierre Belon veröffentlichte 1553 De Aquatilibus (Über Wasserlebewesen). Das schmale Lederbändchen ist breiter als hoch und liegt wie ein Daumenkino in meiner Hand, doch natürlich werde ich es keinesfalls rasch durchblättern. Die schmalen Seiten sind dicht beschrieben und mit 110 Wasserlebewesen illustriert. Manche Zeichnungen sind realistisch – ein fliegender Fisch, ein Thunfisch, Aale, Neunaugen –, andere dagegen eher Cartoon-Versionen echter Fische. Der Kugelfisch sieht aus, als hätte der Zeichner nie einen echten gesehen, aber Geschichten über einen Fisch gehört, der sich wie ein Luftballon aufblasen könne, bis er so kugelrund sei wie der Mond.
Als ich die Seiten vorsichtig umblättere, wird schnell deutlich, dass Belon alles, was im Wasser lebt, als Fische betrachtet. Allerdings unterteilt er sie in zwei Gruppen. Wie bei Aristoteles gibt es blutlose Fische wie Oktopusse, Muscheln, Seeigel und Krebse und Blutfische wie Thunfische oder Haie, zu denen Belon jedoch auch Otter, Delfine, Wale, Wasserratten, Biber und selbst Nilpferde zählt: Man sieht ein Nilpferd, das mühsam ein schnurgerades Krokodil verschlingt. Vermutlich hat Belon beide Arten auf seinen Ägyptenreisen gesehen oder zumindest davon gehört, auch wenn das Krokodil rätselhaft steif ist. Zu den Bluttieren zählt er außerdem mehrere Meeresungeheuer, die wohl aus mittelalterlichen Bestiarien stammen, etwa einen Meeresbischof, einen Kirchenmann mit einem gigantischen Fisch auf dem Kopf.
Belon gilt vielfach als Begründer der Fischkunde, der Ichthyologie, obwohl nur ein Jahr nach seinem Buch zwei weitere erschienen. Der Franzose Guillaume Rondelet veröffentlichte 1554 De Piscibus Marini (Über Meeresfische). Mit mehr Arten als Belon, insgesamt 244, bietet er eine ähnliche Mischung aus Aristoteles und mittelalterlichen Vorstellungen. Er berichtet über Delfine, Krokodile, alle möglichen Wirbellosen und verschiedene mythische Tiere. Bei einem Löwen mit Schuppen und Menschengesicht ist er allerdings skeptisch, da er das Wesen noch nie gesehen habe.
Im selben Jahr erscheint ein weiteres Fischbuch, das bis dahin umfangreichste. Ich knote die Kordel auf, die die abgenutzte Ausgabe zusammenhält, und schaue mir die 96 Kupferstiche in Aquatilium animalium historiae (Geschichte der Wassertiere) des italienischen Gelehrten Hippolytus Salviani an. Sie wirken im Gegensatz zu den groben Holzschnitten von Belon und Rondelet überaus lebendig. Ein aufgeblasener Kugelfisch schaut mich direkt an, und ich kann mir geradezu vorstellen, wie es sich anfühlt, ihn mit beiden Händen hochzunehmen. Über eine andere Seite schlängelt sich eine scheinbar lebende Muräne.
Belon, Rondelet und Salviani hauchten der Ichthyologie neues Leben ein und verhalfen den Fischen wieder zu der Wertschätzung, die ihnen 1800 Jahre zuvor erstmals Aristoteles entgegengebracht hatte. Eine Frage blieb allerdings ungelöst: was Fische genau sind und was sie von anderen Tieren unterscheidet. Doch mit diesen Büchern konnte sich die Fischkunde als einer der ältesten, anerkannten Bereiche der Zoologie etablieren. Mehr als 100 Jahre lang waren sie überaus einflussreich, erst dann erschien ein neues Fischbuch, vielleicht das allerbekannteste.
De Historia Piscium (Die Geschichte der Fische) erschien 1686, 14 Jahre nach dem Tod von Francis Willughby, dem auf dem Buchdeckel genannten Autor. Das Werk wurde zu großen Teilen von Willughbys Freund und ehemaligem Förderer John Ray vollendet. Die beiden hatten sich an der Cambridge University im heimatlichen England kennengelernt und waren einige Jahre später zu einer ehrgeizigen Europareise aufgebrochen, um Material für mehrere Bücher zu sammeln, die auf der sorgfältigen Beobachtung realer Lebewesen beruhen und die Naturgeschichte revolutionieren sollten. Ray widmete sich den Pflanzen, Willughby den Vögeln, Insekten und Fischen. Per Boot, Pferd und Kutsche fuhren sie von 1663 bis 1666 durch England, Frankreich, Deutschland, die Niederlande und Italien. Überall, wo sie hinkamen, sammelten sie Exemplare von allem, was sie sahen, kauften Bücher und Bilder und schauten zu, wie andere Gelehrte Tiere sezierten und studierten.
Kurz nach ihrer Rückkehr, als sie ihre Sammlungen noch präparierten, starb Willughby an Pleuritis (einer Lungenentzündung). Er war erst 36 Jahre alt. Ray zögerte keinen Moment und vollendete das Werk seines Freunds. Zuerst veröffentlichte er 1676 das Vogelbuch Ornithologiae Libri Tres (Ornithologie in drei Bänden). Dann widmete er sich den Fischen.