Charles Digoin, ein knapp 50-jähriger, eher unscheinbar wirkender Mann, schlägt sich mit den Altlasten einer gescheiterten Ehe herum. Gemeinsam mit seiner Ex-Frau Juliette hat er einen Sohn, Maurice, und der steht mit Anfang 20, nach Jahren ohne jeglichen Kontakt zum Vater, auf einmal wieder vor ihm. Doch was genau will er von ihm? Was immer es sein mag, Charles verstört allein die plötzliche Präsenz seines Sohnes. Ständig sieht er sich mit imaginären Problemen konfrontiert, all die ungelösten Fragen aus seiner Vergangenheit setzen ihm zu. Rettung aus dem emotionalen Schlamassel erscheint ihm unversehens, und zwar in Gestalt von Simone, einer verwitweten Frau in seinem Alter: Könnte eine neue Verbindung zur Lösung seiner verworrenen Gefühlslage beitragen? Die beiden werden heiraten und ein Chalet in der mondänen Kleinstadt Fombonne bewohnen. Doch aus Digoins Umfeld heraus entstehen neue Irritationen, sodass er nicht zur Ruhe kommt, zumal seine Ex-Frau wie auch seine neue Frau einem eigenen Drehbuch zu folgen scheinen. Fombonne wirkt auf Digoin plötzlich wie ein vergifteter Ort, von dem er nur noch wegwill. Er möchte sich seine Freiheit zurückerobern, sein Leben neu erfinden. Könnte das mit Simone gelingen? Bove lässt uns zwar lange Zeit im Unklaren über die echten oder eingebildeten Abgründe dieses Charles Digoin, doch am Ende zeichnet sich ein kaum noch zu erwartendes, positives Ende ab – es ist das einzige seiner Art in Boves Gesamtwerk.
Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de
1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.
Thomas Laux ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen. Er lebt in Düsseldorf.
Adieu Fombonne
Roman
Aus dem Französischen
und mit einer Nachbemerkung von Thomas Laux
Edition diá
Am Ende eines feuchten und kalten Nachmittags im Januar 1936 ging ein Mann von kleiner Statur die Rue de la Sous-Préfecture hinauf. Eilig konnte er es nicht haben, denn diese Straße ist nicht der kürzeste Weg, um vom Hotel de Cambrai, wo er gerade einen Aperitif getrunken hatte, in das Chalet zu gelangen, in dem er seit bald fünf Jahren wohnte. So nannten seine Frau und er ihr Haus, nachdem sie lange Zeit zwischen den Begriffen »Villa« und »Anwesen« geschwankt hatten. Er hatte die Brücke über die Oise überquert und die Rue Félix-Faure in ihrer ganzen Länge durchlaufen. An der Place Saint-Lazare war er, statt über die Rue Dupuget und die Rue Saint-Corneille weiterzugehen, linker Hand abgebogen, um so, indem er hinter der Kirche vorbeilief und dann die Place du Château überquerte, in das sogenannte Avenuenviertel der Oberstadt zu gelangen.
Dieser leicht hinkende Mann mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Er trug einen Mantel aus dunklem Ratiné, bei dem die Oberfläche verschlissen, die Schulterpolsterung zu den Ärmeln hin abgesackt war und bei dem das Revers, wahrscheinlich weil es auf einer Sparterie schlechter Qualität aufgenäht worden war, überhaupt keine Festigkeit mehr zeigte. Dieser augenscheinlich alte und abgenutzte Mantel verlieh ihm dennoch kein ärmliches Aussehen, denn er trug ihn lässig, nur durch einen einzigen, nämlich den obersten Knopf geschlossen, wie ein Vater, der sich von der Familiengarderobe aufs Geratewohl einen Mantel, etwa den einer seiner Söhne, geschnappt hatte. Die Hose war zu kurz und entblößte Schuhe mit ansteigendem Schaft. Das alles zusammen ließ auf eine gewisse Verachtung für Äußerlichkeiten schließen. Trotzdem sollte dieser Mann mit seinen eingefallenen Wangen und seinen wachen Augen, mit dem Aussehen eines Beamten, eines Arztes, eines Kaufmanns, kurz, einer respektvollen Person, deren erste ausgesprochene Äußerungen niemanden überraschen können, seiner äußeren Erscheinung eine Beachtung schenken, die man in dieser Weise nicht erwarten konnte. Das erschloss sich aber erst bei näherem Hinsehen. Er trug einen kleinen, sorgfältig geschnittenen Schnurrbart, dessen Schwarz zu deutlich ausfiel, um nicht gefärbt zu sein. Sein Haar war zu dicht, die Oberseite der Fingerglieder zu stark behaart, als dass das Fehlen jeglicher Flaumhaare an den Nasenlöchern, an den Ohren oder zwischen den Augenbrauen nicht auf eine regelmäßige Pflege zurückzuführen gewesen wäre.
Ein leichter, vom nahen Wald herüberziehender Nebel wagte sich bis in die verlassenen Straßen vor. Häuser und Straßenlaternen standen ihm im Weg. Er teilte sich ohne Grund, denn es gab keinen Wind, dann glitt er über die Mauern hinweg wie der Rauch einer Lokomotive.
Bald gelangte der Mann an ein Gestüt. Er verlangsamte seinen Schritt, warf einen wie stets respektvollen und erstaunten Blick in den Ehrenhof, auf die Pferdeställe, den Park, in dessen Mitte sich der Wohnsitz des Direktors, des Comte de Villefossé, erhob. Das Erdgeschoss war hell erleuchtet. Vor dem Verwaltungsbüro waren drei Futterwagen zu erkennen. Gestüte sind keine Betriebe, die, wie so viele andere, einem verwahrlost vorkommen und wo Arbeiten erst durch einen ausdrücklichen Befehl von außen wieder aufgenommen werden. Schon am Morgen hatten die Pferde ihren alltäglichen Ausritt gehabt. Was hier den so einzigartigen Anblick ausmachte, waren weder die imposanten Stallungen noch die Angestellten, die voller Stolz waren, von höherer Stelle protegiert zu sein, noch die prachtvollen Zuchthengste, und auch nicht das herrschaftliche Haus aus dem 18. Jahrhundert, das dem Direktor als Wohnsitz diente. Vielmehr war es die Generalverwaltung der Gestüte, die für alles stand, was als Abschottung auszumachen war, als rigide Auslegung der Statuten, als strenge Auswahl des Personals.
Der Mann bog in die Rue Léon-Jacquet ein (so der Name eines Stadtrats, der von den Deutschen 1914 erschossen worden war), nahm dann die Avenue Royale. Diese Avenue, auf der zur einen Seite eine Pferderennbahn verläuft, auf der zwischen all den Bahnen und Hecken ein Golfplatz liegt und die auf der anderen Seite von opulenten Besitzungen gesäumt ist, wird von vier Baumreihen eingefasst. Achthundert Meter weiter endet sie abrupt, so wie die Sicht auf ein Schloss im Wald jäh enden kann. An diesem Abend war es so feucht, dass man den Eindruck hatte, es würde in den Bäumen und im Dickicht regnen. Inmitten dieses monotonen Prasselns, das an Tauwetter denken ließ, ertönte bizarres Vogel- und anderes Tiergekreisch, mal einem markerschütternden Schreien, mal einem grotesken Rufen ähnelnd, und dann hörte es sich, weil es sich mehrmals hintereinander in gleicher Weise wiederholte, sogar an wie das Geräusch einer Maschine. Oberhalb der breiten Lichtung, die von der Rennbann gebildet wurde, war der Nebel zugleich dichter und heller. Der Mann folgte zunächst der Allee zur Rechten, die in gewissen Abständen von einer weißen Absperrung unterbrochen wurde, durch die gerade mal eine einzelne Person sich hätte durchzwängen können, dann überquerte er den Seitenweg, der diese Allee von den Besitzungen trennte. Er lief an den schmiedeeisernen Zäunen entlang. Einige davon waren nur symbolischer Art, andere aber waren echte Verteidigungsanlagen von mehreren Metern Höhe mit Spitzen ganz oben. Von Zeit zu Zeit bellte ein Hund und eine Glocke bimmelte, sehr weit entfernt von demjenigen, der an ihr gezogen hatte. Er stellte sich den Weg vor, den der Besucher zu gehen hätte, bevor er die Außentreppe erreichte. Er hatte ausschließlich Gedanken dieser Art im Kopf. Trotz Kälte und Feuchtigkeit ging der Mann nun langsamer. Diese wild bewachsene, von ein paar Straßenlaternen halbwegs erhellte Avenue, diese Wohnsitze, die abweisend wirkten, weil sie zurückgesetzt standen – sie beeindruckten ihn sehr. In weiter Ferne tauchte im Nebel unversehens ein Lichtkegel auf. Ein Auto. Der Mann blieb stehen. Ihm gefiel es, mit seinen Augen den Lichtern zu folgen, die in den Bäumen tanzten und dabei ein ganzes nächtliches Leben in Gang setzten. Als er weiterging, wendete das Auto und bog in die Seitenstraße ab. Für einen Moment war er geblendet, dann nahm er das ihm mittlerweile vertraut gewordene Geräusch eines plötzlichen Bremsvorgangs wahr, eins, das so häufig in Fombonne-sur-Oise zu vernehmen war.
»Monsieur Digoin, Monsieur Digoin«, rief jemand fast auf der Stelle.
Er wandte sich um, näherte sich dem Wagen.
»Wie geht es Ihnen, Monsieur Digoin? Man trifft Sie ja auf den Avenuen an!«
Der Fahrer des Wagens war ein Leutnant der Spahi-Schwadron, der Oberleutnant de la Motte. Er wurde von einem anderen Offizier und einer Frau begleitet, beide hatte Charles Digoin noch nie zu Gesicht bekommen. Alle drei saßen auf der vorderen Bank, die Arme über die jeweils anderen Schultern gelegt.
»Wenn Sie mitfahren wollen, Monsieur Digoin, nur zu. Wie Sie sehen, ist hinten noch Platz. Sie stören uns nicht.«
Digoin lehnte dankend ab. Und er entfernte sich, ohne darüber nachzusinnen, was dieses Angebot von Seiten eines Offiziers an Unvorhersehbarem besaß, eines Offiziers, den er kaum kannte, den er nur ab und zu grüßte, etwa, wenn er ihm in der Stadt begegnete, und ohne zu vermuten, dass er diesen stolzen Offizier enttäuscht haben könnte, weil der vielleicht ein wenig getrunken und so getan hatte, als hätte er Freunde überall, sogar noch abends auf den Avenuen.
Wenig später blieb Charles Digoin vor dem Vereinshaus stehen. Denn das war in Wahrheit der Hauptgrund für diesen Umweg gewesen. Dabei gab es hier nichts zu sehen, abgesehen von einem großen, dunklen Haus mit frei stehendem Glockenturm. Lediglich die in Reihe parkenden Autos im Garten zur Rechten eines frisch angelegten Beets, das geschmückt war mit einer wie vom Meer angenagten Grotte aus rosa Stein, sowie eine Lichtquelle unter der Markise der Außentreppe, die so bescheiden daherkam wie ein Lichtstrahl unter einer Tür, wiesen darauf hin, dass überhaupt Menschen zugegen waren. Zur Linken führte ein Weg zu einer Laube, die auf einer kleinen Erhebung lag. Niemand nahm sie mehr wahr, sodass dieser Comte de Villefossé, ein pfiffiger Kerl, dort bei einer Schnitzeljagd den Umschlag mit dem Schatz hatte verstecken können. Zwei riesige kegelförmige Steine umrandeten den einzigen während der kalten Jahreszeit geöffneten Eingang. In dieser druidischen Feuchtigkeit unterhalb der großen Bäume hätte man sie für Menhire halten können. Digoin verharrte unbeweglich zwischen diesen Blöcken, den Blick starr auf die Fassade gerichtet. Das war nun nicht mehr der respektvolle und neugierige Blick von eben, sondern der eines Spaziergängers, der bei der Betrachtung dessen, was viele Menschen schon vor ihm bewundert hatten, das traditionell Überlieferte dem selbst Wahrgenommenen gegenüberstellt. Dann ging er weiter. Er war fast angekommen. Er brauchte nur noch die Rue de Gommery hochzugehen. Plötzlich, als er die Rue Lord-Buxley überquerte, bemerkte er einen jungen Mann, der auf ihn zusteuerte. Seine Erscheinung wirkte elegant, war aber von fremder Eleganz: Die Schultern waren zu breit, und auch der untere Teil der Hose war es, der Hals zu frei, der Mantel mit einem Stoffgürtel versehen, der an der Taille zu stark festgezurrt war. »Nun, erkennen Sie mich nicht?«, sagte dieser junge Mann und pflanzte sich vor Charles Digoin auf.
Im Jahre 1900 gab es in Drugny, einer zwischen Chalon-sur-Saône und Macôn gelegenen Stadt von 17.000 Einwohnern, eine Häuservermietung, die Monsieur Digoin Senior gehörte. Sie befand sich wenige Schritte vom Bahnhof entfernt in einer Gasse, die das malerische Merkmal besaß, größtenteils von einer Art Graben durchzogen zu sein, wodurch die Untergeschosse der Häuser Tageslicht abbekamen. Kinder klammerten sich an die Brüstungen. Die Rue Mège war die geschäftigste und die beliebteste Straße der Stadt. Die Agentur befand sich in der ersten Etage eines alten, wenngleich stillosen Hauses. Unten auf dem Gehsteig zeigten wacklige Plakatständer, die der Wind, so als würden sie auf Stelzen stehen, manchmal ein paar Schritte machen ließ, Orte wie Brügge, den Mont-d’Or oder Lisieux. Die Hausvermietung war zugleich auch ein Reisebüro. Die Vorhalle und die Treppe waren von Skulpturen überfüllt und von Flachreliefs, über deren Herkunft keiner hätte Auskunft geben können. Zahlreiche Aushänge, die meisten in Gelb und Grün, hingen, oftmals ineinandergesteckt, an der Wand am Treppenabsatz. Es waren Aushänge zu Immobilienverkäufen und Pfändungen, fast alle waren sie veraltet. Sie hingen dort nur, um eine große Aktivität widerzuspiegeln. Aber das war nicht alles. Mit Nägeln befestigte Hinweisschilder lieferten weitere Auskünfte: Die Agentur schloss zwischen zwölf und zwei. Bei Notfällen konnte man die Nummer 7 in Cottereaux anrufen. Vor dem Eintreten brauchte man nicht anzuklopfen. Das Haus erschien vertrauensvoll. Sein einziges Ziel war, die Kundschaft zufriedenzustellen. Die Begeisterung für Werbung, die hinter diesen Schildern, Plakaten und Hinweisen in verschämter Weise durchschien, hatte der Agentur nicht schaden können. Sie galt als die seriöseste der Stadt. Zu ihrer Kundschaft gehörten Schlossbesitzer aus der Umgebung, reiche Kaufleute, mächtige Eigentümer von Weingütern. Oft kamen sie her, um mit Théodore Digoin über geschäftliche Dinge zu reden. Sie betrachteten ihn mit einer Spur Neugierde. Kannte Monsieur Digoin nicht kraft seiner Position die Pläne eines Gegners, die Wünsche eines Rivalen, dem sie vielleicht einen Besitz abluchsen konnten? Und während dieser ganzen Gespräche legten sie immer die zugleich respektvolle wie herablassende Haltung an den Tag, die wir angesichts unentbehrlicher Berufe haben, die wir freilich selbst nicht ausüben wollen.
Monsieur Digoin wohnte weder über noch unter seiner Agentur. Er hatte das alte Haus, das er von seinem Vater geerbt hatte, behalten. Es befand sich anderthalb Kilometer Meter von Drugny entfernt, auf der Nationalstraße zwischen der Bahnlinie und der Saône, und war von drei Hektar Land umgeben, eingeteilt in Gemüsegarten, Hof, Weinberge und Felder. Letztere bescherten ihm, da sie an einen Nachbarn vermietet waren, vierzig Franc pro Jahr. In diesem großen verfallenen Haus, von dem Vater Digoin sagte, es müsste bloß einmal neu verputzt werden, war Charles aufgewachsen. Die Erinnerungen, an denen wir am meisten hängen, sind die an jene Orte, an denen wir zum ersten Mal uns selbst überlassen waren. Und diese Orte waren für den jungen Digoin keine Grünanlagen oder Straßen, auch nicht der mit Platanen bepflanzte Platz einer charmanten Provinzstadt, sondern dieses Stück Land mit all seinen Hohlwegen, seinem Unterholz, seinen Verstecken, seinem ganzen freien Raum. Wenn er um vier Uhr heimkam, um sein Stück Brot und sein Stück Schokolade abzuholen, in dieses Haus, in dem wegen eines, wie sein Vater es nannte, »Kondensationsphänomens« Wasser die Wände herunterrann, fiel er in eine grenzenlose Traurigkeit. Die von einer Markise überragte Außentreppe, die doppelte Eingangstür mit ihren farbigen Glasmalereien, der Salon zur Linken, das Esszimmer zur Rechten, dann weiter hinten die Veranda, deren Glasdach den Regen durchließ, sodass man gezwungen war, fast überall Schalen, Schüsseln und Krüge aufzustellen – all das war Ausdruck häuslicher Sorgen. Später sollten es die Schule sein, die Hausaufgaben, und, viel schlimmer, die Gespräche in Hinblick auf die Zukunft des jungen Mannes. Man führte sie direkt vor ihm. Es wurde sogar verlangt, dass er aktiv daran teilnahm. »Wenn du Anwalt werden willst (nicht ein einziges Mal hatte er einen ähnlichen Wunsch geäußert), dann musst du dafür etwas tun. Wir sind gerne bereit, für dich Opfer zu erbringen, aber verdiene sie dir zumindest. Dein Vater hat eine Menge Probleme. Solltest du durch deine Prüfungen fallen, wäre es besser, du sagst es gleich.« Manchmal kamen Verwandte vom Land, um den Wunderknaben zu bestaunen. Er musste auf Fragen antworten, von den Familien seiner Kameraden erzählen, sein Wissen zur Schau stellen. Ganz der Mann, dem das Glück nicht zu Kopf gestiegen war, hörte der Vater sich all das begeistert an. Er konnte in dem Moment ja noch nicht wissen, dass sein Sohn zwei Jahre später das Abitur nicht bestehen würde. Als er die schlechte Nachricht erfuhr, bewies er allerdings Haltung. Bis dahin war er streng gewesen. Nie hatte sein Sohn ausreichend gearbeitet. Er hatte ihm auch, sollte er diese Prüfung nicht bestehen, die schlimmsten Unglücke vorausgesagt. Von einem auf den anderen Tag aber wurde er zu dem liebevollen Vater von einst. Für das Versagen machte er Lehrer, Schulkameraden, alle Welt verantwortlich, nur nicht seinen eigenen Sohn. Dann beschloss er, dass Charles ihm zur Hand gehen solle, und zwar bis zu dem Tag, an dem er vor der Musterungskommission zu erscheinen hätte. Nach nur drei Monaten Militärdienst wurde der junge Mann als dienstunfähig entlassen. Er hatte keine Krankheit im Besonderen, aber er war, wie man so sagt, von empfindlicher Natur. Schon eine andere Luft und anderes Essen hatten ausgereicht, damit er an der Ruhr erkrankte, und die sollte sogleich chronisch werden.
Während der Abwesenheit seines Sohnes war Monsieur Digoin von Monsieur Peyroutet, dem Direktor einer Pariser Bank, aufgesucht worden. Dieser war von einem seiner Freunde informiert worden, dass ein gewisser Monsieur Vaugrineuse einen Erwerber – das war der Ausdruck, den dieser Freund verwendet hatte – für sein Schloss suchte. Große Freundschaften mit einflussreichen Leuten bereicherten regelmäßig das Leben des Monsieur Digoin. Der Ausgangspunkt war immer derselbe. Wenn er bei einem Besucher eine höhere soziale Stellung als bei seinen gewöhnlichen Kunden erkannte, zeigte er ein erstaunliches Maß an Entgegenkommen und Ergebenheit. So als ob er seine eigenen Interessen verteidigen würde. Er forderte keine Provision, unternahm unnütze Ermittlungen, kalkulierte Schwierigkeiten ein, die er dann beiseiteschob. Eine derart unnatürliche Vorgehensweise versetzte indessen niemals die in Erstaunen, die davon profitieren konnten, und immer wenn die geschäftlichen Beziehungen an ihr Ende gelangten, war es äußerst selten, dass hernach keine freundschaftlichen daraus erwuchsen.
Und so war Monsieur Digoin bei der Rückkehr seines Sohnes auf die Idee gekommen, Monsieur Peyroutet zu fragen, ob er nicht die Möglichkeit sähe, den jungen Mann eines Tages in seine Bank einzuführen. Es gab da allerdings ein Problem. Würde eine solche Anfrage einen nicht auf den Gedanken bringen, dass die Uneigennützigkeit von Monsieur Digoin kalkuliert gewesen sein könnte? Mehrere Monate lang hütete er sein Schweigen. Immer wenn Monsieur Peyroutet nach Drugny kam, wollte Monsieur Digoin es so einrichten, dass er seinen Sohn ins Gespräch brachte, aber nie wagte er sich weiter vor. Schließlich beschloss er, mit ihm zu reden. Statt von einer Reise von Monsieur Peyroutet zu profitieren, was ihm, nachdem er ihm geschrieben und sein Kommen angekündigt hatte, taktlos erschienen war, begab er sich eigens nach Paris und maß seinem Vorgehen alle erdenkliche Bedeutung bei. Da er um einen Gefallen bat, erschien es ihm vornehmer, die Wichtigkeit desselben zu übertreiben, anstatt, wie er es bis dahin immerzu getan hatte, sie herunterzuspielen.
Monsieur Peyroutet war kein Bankdirektor wie alle anderen. Von bescheidener Herkunft – er war das fünfte Kind eines Waffenfabrikanten aus Valenciennes – war er in sehr jungen Jahren nach Amerika aufgebrochen. Dank seines Verdiensts und vermutlich auch aufgrund einiger glücklicher Umstände hatte er es, nachdem alle Posten durchlaufen waren, zu einer wichtigen Figur innerhalb der Banque Canadienne gebracht. Mit vierzig, das heißt nach einem Aufenthalt von fünfundzwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten, packte ihn wieder die Sehnsucht nach Frankreich. Er hatte nunmehr keinerlei Mühe, sich in Paris zum Direktor der Zweigniederlassung dieser Bank ernennen zu lassen. Er lebte mit seiner Frau, einer Amerikanerin, und seinen beiden Töchtern, Maud und Édith, sechzehn und achtzehn Jahre alt, in einer großen Wohnung, die auf den Jardin d’Acclimatation am Boulevard Maillot hinausging, einem Boulevard, der damals als weit entfernt am Stadtrand liegend galt. Dieser gleich zu Beginn eines Gesprächs überaus herzlich wirkende Mann führte in Neuilly die zugleich einsame wie prachtvolle Existenz jener Menschen, die eine brillante Karriere im Ausland geschafft haben. Den beiden jungen Mädchen wurde nichts vorenthalten. Lehrer und Lieferanten gaben sich auf dem Boulevard Maillot die Klinke in die Hand. Jeder Geburtstag diente als Grund für einen Aufenthalt in irgendeinem Kurort. Doch wenn Monsieur Peyroutet so auch die schwierigen Stunden seiner Jugend vergessen konnte, musste er allerdings verbittert feststellen, dass er keine Freunde hatte, dass das Vergnügen, Leute seines Ranges zu empfangen und selbst eingeladen zu werden, ihm verwehrt blieb. Ohne es selbst zu merken, hatte er sich nach und nach von seinen Brüdern und Schwestern, von Lehrern und deren Familie, auch von Urlaubsbekanntschaften vereinnahmen lassen. Eine Nachsichtigkeit, die aus einem Leben voller Kämpfe und vielleicht auch aus der Enttäuschung resultierte, von einer Welt isoliert zu sein, bei der eine Teilhabe nur natürlich gewesen wäre, ließ ihn diese Leute zutiefst wohlwollend betrachten. Er stellte ihnen Fragen, folgte ihren Ratschlägen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten sich ihm mit Leib und Seele verschrieben. Und dennoch achtete er darauf, dass seine Töchter ihnen nicht zu nahe kamen.