Verena Brunschweiger
Die Childfree-Rebellion
Warum »zu radikal« gerade radikal genug ist
ISBN (Print) 978-3-96317-196-3
ISBN (ePDF) 978-3-96317-718-7
ISBN (ePUB) 978-3-96317-730-9
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Für meinen Allerliebsten
What’s happening?
Digitale Meute
Fehlanreize
Blinde Flecken
Komplexe Frontverläufe
Rassistische Ober- und Untertöne
Raum für Auseinandersetzung
Herzlos vs. hirnlos
Misanthropie vs. Antinatalismus
Gefahr von Rechts
Conservative turn
Wütender Antifeminismus
Exkurs: Freemales
Abstraktionsverbot
Das nahende Ende
Zuschriften und E-Mails
Presseberichterstattung
Schule mit Herz
Selbstverschriebene Ohnmacht
Tierschutz
Rente
Exkurs: Das Bedingungslose Grundeinkommen
Mythen über das BGE
Die vollklimatisierte Zukunft
Ungehörte Fakten
Sterilisation
Abtreibung
Reproduktionsmedizin
Forschungslücken und -bias
Der Druck auf Nicht-Väter
Kinder als Statussymbol
Hegemoniale vs. ›neue‹ Männlichkeit
Abgewertete Männlichkeiten
Die Verwandlung vom Mann zum Vater
Last der Ernährerrolle
(Un-)Zuverlässig
Motive kinderfreier Männer
Bekehrungsversuche
Misogyne Väter
Regretting fatherhood?
Homosexuelle Paare
Geistliche
Der Beziehungsstatus
Fakten und Optionen ins Gesicht sehen
Für wen retten?
Antikonsum
(Über)Lebensumstände
Merci
Literaturauswahl
Endnoten
What’s happening?
1 Die Ausgangslage
2 Entdeckungen einer Debatte
3 Blick in die Welt
4 Reaktionen
5 Widersprüche
6 Widerstände des Systems
7 Männer – mit und ohne Kinder
Fakten und Optionen ins Gesicht sehen
What’s happening?
»Wieso die so abgehen, wegen ein paar Fakten?!« oder
»Wer rechnen kann, ist sowieso auf Ihrer Seite!«.
Nach der Faschings-Ferien-Woche im Frühjahr 2019 wurde ich von einer regelrecht frostigen Atmosphäre im Lehrerzimmer empfangen. Blicke wie Dolchstöße wurden in meine Richtung abgeschossen, die Chefin beorderte mich in ihr Büro. All das, weil ich ein Buch geschrieben hatte – zwar nicht mein erstes, aber das erste auf meiner Publikationsliste, an das sich die Frage knüpfte: Darf man das als Beamtin? Kinderfrei statt kinderlos. Ein Manifest erschien am 6. März 2019 und unser Lokalblatt, die Mittelbayerische Zeitung, brachte zeitnah einen Artikel über die Lehrkraft, die aus Umweltschutzgründen auf eigene Kinder verzichtet. Das war einige Monate, bevor Stars wie Miley Cyrus bekannt gaben, aus genau diesem Grund die gleiche Entscheidung getroffen zu haben. Oder bevor Prinz Harry und Meghan mit ebendieser Begründung verlautbaren ließen, sich auf zwei Kinder beschränken zu wollen.1 Während Aussagen wie diese in der angloamerikanischen Welt immer öfter zu hören sind, entpuppte sich »Save the earth, don’t give birth« als Slogan, für den Deutschland noch nicht bereit war.
Warum das so ist, ist nicht einfach zu erklären, denn die Informationen sind seit Langem vorhanden und über sie wird auch berichtet: Am 6. September 2019 wurde im Focus unter dem Titel »Schock-Prognose zur Klimakatastrophe« das faktengesättigte Szenario einer denkbaren Klima-Apokalypse in naher Zukunft vorgestellt: David Spratt und Ian Dunlop, Analysten des Forschungsinstituts National Centre for Climate Restoration (Breakthrough) in Melbourne, beobachten seit vielen Jahrzehnten das systematische Herunterspielen der Ergebnisse von Klimaforscher*innen. In ihrem Report »Existential climated-related security risk« beschäftigen sie sich mit einer drohenden Klimaerwärmung um drei Grad. Bereits 2050 könnte die Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren.2 Spratt und Dunlop sprechen das Bevölkerungswachstum als vorrangiges Problem an, ebenso die aus Umweltzerstörung und Klimawandel resultierenden Flüchtlingsströme und die drohenden Kriege.
In ihrer Rubrik »Scientists For Future« interviewte die Zeit online im September 2019 den Klimaforscher Christoph Schneider, der seinen Studierenden gern die Temperaturkurve von 1850 bis 2100 zeigt. Im Interview führt er aus: »Meine Enkeltochter ist 2011 geboren, sie könnte den Wandel ins 22. Jahrhundert erleben. Ich schaue mir diese Werte an und überlege: Was ist das für eine Welt? Wie sieht es da dann aus? Da kann einem schon bange werden. Ich empfinde eine tiefe Berührtheit, einen Schmerz. Es macht mich traurig, wie dumm wir sind.«3
Allerdings! An Englands Laternenmasten findet man nicht umsonst Flyer mit der Aufschrift »Worried about the air your kids have to breathe? Well, don’t have them!« In der childfree community kursiert ein Cartoon, auf dem ein Kind mit Sauerstoffapparat abgebildet ist. Sein Vater drückt ihm einen Beutel Geld in die Hand: »I saved all this money for your future, son!« Drum herum versinken Gebäude in den Fluten. Trotzdem gilt immer noch: Wer sich ein Kind unbedingt einbildet, bekommt es auch, selbst wenn er/sie dadurch aus Umweltgesichtspunkten rücksichts- und verantwortungslos gegenüber diesem Kind handelt.
Am 10. September 2019 veröffentlichten Frank Götmark und Robin Maynard auf Project Syndicate den Artikel »The World and the UN Must Reduce Population Growth«, in dem sie ebenfalls darauf hinweisen, dass weniger Kinder der Schlüssel zur Rettung des Planeten seien – und zwar auch und gerade in den westlichen Industrienationen, die exorbitant viel CO2 produzieren. Dass dieser Appell trotz der Warnung zahlreicher namhafter Wissenschaftler*innen und Expert*innen auf diesem Gebiet immer noch ins Leere läuft beziehungsweise absichtlich ignoriert wird, ist ein Skandal. Frank Götmark, Professor für Tierökologie und Schutz der biologischen Vielfalt im schwedischen Göteborg, berichtet, dass das Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat) ganz klar die zwei Hauptverantwortlichen für die Klimakrise benannt hat: Überbevölkerung und Überkonsum.4
Es sind Zusammenkünfte wie das International Science Festival in Göteborg, die sich neben anderen Themen auch dem Einfluss der Bevölkerungsgröße auf den Klimawandel widmen. Dort diskutierte man im April 2019 auch die anhaltende Brisanz der Gleichung, die seit 1970 als I = PAT bekannt wurde: Impact = Population * Affluence * Technology. Dass Wohlstand und Technologie einen Einfluss auf den Klimawandel haben, wird auch in Deutschland stellenweise durchaus erkannt. Was desolaterweise fast überall fehlt, ist die Einsicht in den ersten und wichtigsten Faktor: die Bevölkerungsentwicklung. Das Resümee dieses Kongresses kam wenig überraschend: Eine Kombination aus allen möglichen Ansätzen ist vonnöten, wenn wir die Welt noch retten wollen, und ja, auch und gerade ein Aufhalten der Bevölkerungsentwicklung in den westlichen industrialisierten Gesellschaften spielt dabei eine, wenn nicht sogar die Hauptrolle.
Am 7. September 2019 konnte man auf der Homepage der finnischen, öffentlich-rechtlichen Rundfunktstation Yle lesen: »Finnish MPs criticize science magazine over cover image«. Das Magazin hatte den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Umweltzerstörung auf seinem Cover mit einer Weltkugel und einem rot durchgestrichenen Baby veranschaulicht. Das Magazin Tieteen Kuvalehti, der Stein des Anstoßes, sollte laut einer Politikerin an Kiosken, Bahnhöfen und anderswo sogar vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt werden. Politiker nehmen Einfluss auf ein populärwissenschaftliches, illustriertes Magazin, really? Das Verhalten der Politiker*innen kann als ein Buhlen um die Wählerstimmen von Eltern verstanden werden – insofern nicht weiter erstaunlich. Aber eine Zeitschrift zu zensieren, weil sie darauf hinweist, dass der Verzicht auf Kinder der größte Beitrag ist und bleibt, den man leisten kann, wenn einem Klima und Umwelt am Herzen liegen – das ist schon ein starkes Stück. Zumal die Macher der Zeitschrift sich für die Formulierung »What you can do« entschieden hatten, nicht für »What you should« oder gar »What you must do«. Selbst in diesem Fall hätte man davon ausgehen können: Es tut ja ohnehin jede*r, wie es beliebt …
Warum regen sich Eltern über andere Erwachsene auf, deren Motivation, keine Kinder in die Welt zu setzen, allein darin besteht, umweltfreundlich zu agieren? Sie fühlen sich kritisiert, wenn jemand es wagt, nicht einzustimmen in einen Lobpreis, dem man sich meines Erachtens aus vielen berechtigten Gründen entziehen kann – aus radikalfeministischen und philosophischen Gründen, seit der Klimakrise zunehmend auch aus ökologischen und sozialen.
Der britische Wirtschaftswissenschaftler und Hochschuldozent Adair Turner hat in seinem Artikel »In Praise of Demographic Decline« (am 2. Juli 2019 auf der Plattform Project Syndicate) die Meinung vertreten, dass es ein Segen sei, wenn wir weniger würden. Die Automatisierung zahlreicher Arbeiten ist dabei sein Hauptargument. Die digitale Revolution, die bereits in vollem Gange ist und unsere Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten weiter umkrempeln wird, gehört nicht zu den Themen, zu denen man nur sehr schwer Informationen bekommt oder deren Bedeutung schwer verständlich wäre. Dennoch steht die deutsche Abwehr, wenn aus diesen Entwicklungen einmal nicht die Konsequenz eines Bedingungslosen Grundeinkommens, sondern ein Überdenken der eigenen Fortpflanzung gezogen wird. Die studienbasierte Erkenntnis, dass eine abfallende demografische Kurve durchaus positiv aufgefasst werden könne und sogar sollte, erreichte bereits im Jahr 2018 auch die populärwissenschaftlichen Magazine Science Nordic und Science Daily. Dieser Schluss gilt, wenn man an echter Nachhaltigkeit interessiert ist und an ihr nicht nur in Form einer wirkungslosen Pose partizipieren möchte.
Ich vermute, dass man hierzulande noch lange warten kann auf Straßenschilder wie in Portugal oder den Niederlanden, auf denen steht: »Celebrate low birth rates!« – eine Polit-(Kunst-)Aktion, mit der diesen Ländern zu einer erfreulich niedrigen Geburtenrate gratuliert wird.5 Dabei wäre so etwas in Deutschland von eminenter Bedeutung, um die Relevanz des Themas auch stureren Zeitgenossen nahezubringen. »Shrink towards abundance« (sinngemäß etwa »Zur Fülle schrumpfen« oder »Der Fülle entgegenschrumpfen«) ist ein weiterer Slogan von The Great Decrease, einer Organisation, die darauf aufmerksam macht, dass nur unsere auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaft diese Unmengen neuer Menschen braucht. Dabei ist es für Menschen viel besser, nicht in Massen unterzugehen, sondern Lebensqualität für jede einzelne Person sowie Geschlechtergleichheit zu erringen.