IMPRESSUM
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1. Auflage
© 2019 egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstraße 63/12
1030 Wien
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.
Autor: Alex Hofstetter
Co-Autoren: Stefan Illek, Michael Pircher (Mikes Tagebuch-Einträge)
Statistik: Stefan Illek
Fotos: Seite 8/9 Picturedesk, 10/11 Stefan Illek, 12/13 Picturedesk, 14/15 Picturedesk, 17 Johannes Kernmayer, 19 Picturedesk, 24 Privatarchiv Pircher, 26 ÖOC/Spiess Foto Tirol Erich Spiess, 33 Stefan Illek, 36 Johannes Kernmayer, 39 Stefan Illek, 45 Picturedesk, 47 Privatarchiv Hirscher, 54 Stefan Illek, 61 GEPA pictures, 65 Picturedesk, 66 Picturedesk, 67 Picturedesk, 68–71 Privatarchiv Hirscher, 72 (2x) Picturedesk, 73 Privatarchiv Hirscher, 74 Stefan Illek, 75 (oben) Privatarchiv Hirscher, 75 Stefan Illek, 76 (2x) Picturedesk, 76/77 Picturedesk, 77 (unten) Stefan Illek, 78 (unten) Picturedesk, 78/79 Picturedesk, 79 Picturedesk, 80 Stefan Illek, 82 GEPA pictures, 85 Johannes Kernmayer, 92 Privatarchiv Pircher, 97 ORF, 98 Johannes Kernmayer, 102 Johannes Kernmayer, 111 Stefan Illek, 121 Stefan Illek, 124 GEPA pictures, 126 Johannes Kernmayer, 127 (2x) GEPA pictures, 129 Stefan Illek, 145 Picturedesk, 146–147 (4x) Picturedesk, 148 Picturedesk, 149 (oben) Picturedesk, 149 Stefan Illek, 150–152 (4x) Picturedesk, 152/153 (oben) Picturedesk, 153 Christof Birbaumer, 154 Stefan Illek, 155 Picturedesk, 156/157 Picturedesk, 158 (unten) Picturedesk, 158/159 Picturedesk, 159 Picturedesk, 160 Picturedesk, 163 Stefan Illek, 176 GEPA pictures, 179 Kurt Pinter, 184 Stefan Illek, 187 Christof Birbaumer, 188 Stefan Illek, 191 Picturedesk, 193 GEPA pictures, 194 Spiess Foto Tirol, 199 Stefan Illek, 209 Stefan Illek, 210 (unten) Christof Birbaumer, 210/211 Picturedesk, 211 (unten) Picturedesk, 212 Red Bull Content Pool, 213 (oben) Johannes Kernmayer, 213 (Mitte u. unten) Stefan Illek, 214 (3x) Picturedesk, 215 Jürgen Skarwan, 216 (unten) Stefan Illek, 216/217 Johannes Kernmayer, 217 Picturedesk, 218 Privatarchiv Erharter, 219 (oben) Philipp Schuster/Red Bull Content Pool, 219 (unten) Mirja Geh, 220 (oben) Picturedesk, 220 (unten) Mirja Geh/Red Bull Content Pool, 221 Privatarchiv Hirscher, 222/223 Picturedesk, 224 GEPA pictures, 227 Stefan Illek, 230 Privatarchiv Pircher, 234 Privatarchiv Pircher, 236 Privatarchiv Pircher, 239 Stefan Illek, 269 Picturedesk, 275 Sepp Pail,
Cover Sebastian Marko/Red Bull Content Pool, Umschlagrückseite Markus Berger
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Projektleitung: Sonja Franzke | vielseitig.co.at
Lektorat: Dr. Gudrun Stecher
Umschlag- und grafische Innengestaltung: DI (FH) Ing. Clemens Toscani | clemens.toscani.at
Covergestaltung: Silvia Wahrstätter, buchgestaltung.at
Printed in the EU
Gesamtherstellung: egoth Verlag GmbH
ISBN (Print): 978-3-903183-30-8
ISBN (E-Book): 978-3-903183-80-3
DIE BIOGRAFIE
»Manchmal
war ich mir selbst
ein Rätsel«
Marcel Hirscher
Das Rennen aller Rennen
Felix Neureuther
„Nur“ Silber
Südkorea
Ein Fass Zaubertrank
„Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel“
Die Stuhlalm
Der Ferdl-Faktor
Matthias „Hiasi“ Walkner
Fiese Tricks beim Schülerrennen
Max Franz
Bad Hofgastein
In einer Klasse mit Anna
Der Sprung in den Weltcup
Kritik ist schnell verstummt
Reinfried Herbst
„Schüchtern, aber sauschnell!“
Alexander Fröis
Im Team mit den Stars
Das Projekt Speed
Christian „Höfi“ Höflehner
Atomic
Party in Moskau, zwölf Tage USA
Laura
Der erste Sieg
Raiffeisen
Olympia 2010
Ein blutiges Debüt
Die erste schwerere Verletzung
Mensch & Marke
Morddrohungen auf der Planai
Die anonyme SMS
Die Lehren aus der „Einfädleraffäre“
Der depperte Glasbecher
Lieber Audi als Ferrari
Der Autounfall
Beraterwechsel
Stefan Illek
Glaubwürdiger als der Papst
Marcel, der Internet-Star
Die zweite große Kugel
Aksel Lund Svindal
Martin „Mascht“ Auracher
Die Geburtsstunde des Teams Hirscher
„Wir sind anders – Geht nicht, gibt’s nicht“
Felix auf der Palme
10.000 Dollar Tagesgage
Anna und Marcel
Mentale Belastung
Panik in Kitzbühel
WM 2015 in Beaver Creek
3,28 Sekunden Vorsprung!
Gesamt-Weltcup Nummer vier
Die Wappler-Affäre
Der Japaner im Team Hirscher
Sommer 2015
Schockierende Test-Ergebnisse
Um eine Zehntel
an der Katastrophe vorbei
Der gestohlene Ski
Das verkehrte Brillenglas
Asien-Tournee
Die fünfte große Kugel
Wie holt man die große Kristallkugel?
Josef „Sepp“ Percht
Marcels Ernährung
Gernot Schweizer
Training ohne Grenzen
„Ich habe nie geblufft!“
Die goldenen Händchen
Edi und Graggi
„Ich bin der König!“
Psychospielchen
Henrik Kristoffersen
Alexis Pinturault
Mikaela Shiffrin
Doppel-Weltmeister in St. Moritz
Risiko oder Vernunft?
Marcel und die Journalisten
Marcel und die Niederlande
Die sechste große Kugel
Gespräche über die Zukunft
Der Knöchelbruch
Der Weg zurück
Der Comeback-Sieg
10 Jahre Weltklasse
Adelboden
Alles für die Show
Olympia-Countdown
Olympisches Doppel-Gold
Die siebente große Kugel
Verbesserungen! Oder das Ende …
Einmal geht’s noch!
Der letzte Weltcup-Sieg
Das letzte Gold
Ein Bier statt Antibiotika
Der Beste aller Zeiten?
Ingemar Stenmark
Rekorde und Zahlen
Andorra
Das Ende naht
Der Rücktritt
Österreichs Sportler des Jahres
Das neue Leben von Marcel
Der Autor
Statistik
Wie, und vor allem wann und wo, sollte eine Geschichte über Marcel Hirscher beginnen? Auf der Stuhlalm, wo Marcel seine wildromantische Jugend verbrachte? Das wäre wohl der logische Weg. Die 08/15-Variante. Aber diese Geschichte handelt von einem Sportler, der nie die 08/15-Variante gewählt hat. Der die Grenzen verschoben hat, mit seinem über die Jahre aufgebauten Team neue, völlig verrückt wirkende Wege gegangen ist, sich immer am Limit bewegt hat. Und damit landet man unweigerlich am 17. Februar 2013. In Schladming. Also quasi mitten im Auge des Orkans. Nie davor und auch nie wieder danach erlebt und zeigt Marcel Emotionen wie an diesem Tag, an dem er im brodelnden Hexenkessel Planai Slalom-WM-Gold holt. Dem Tag, als er für sich selbst endgültig die Gewissheit findet, die völlig verrückten Hoffnungen und Erwartungen eines ganzen Landes stemmen zu können – eine Erfahrung, die in Zukunft eine seiner stärksten Waffen werden soll. Marcels Devise lautet ab diesem Tag: „Egal, was jetzt noch kommt, es kann nicht wilder als damals in Schladming sein.“
Die Tage davor sind fast eine Qual. Marcel erinnert sich: „Schlaflose Nächte, Nackenschmerzen, Migräne, absoluter Wahnsinn, absoluter Ausnahmezustand.“ Die Tatsache, dass Österreich in Schladming vor dem letzten Bewerb zwar mit Teamgold (das Marcel gemeinsam mit Michaela Kirchgasser, Nicole Hosp, Carmen Thalmann, Philipp Schörghofer, Marcel Mathis holt), doch noch ohne Einzelgold dasteht, trägt zur Verschärfung der Lage natürlich bei. Die Nacht vor dem Slalom verbringt Marcel nicht im ÖSV-Teamquartier Pichlmayrgut, sondern daheim mit Freundin Laura und Cockerspaniel Timon. „Die Tür daheim zuzumachen, war der einzige Weg, um diese WM wenigstens für ein paar Stunden auszublenden. Es war wirklich verrückt. Ich konnte in diesen Tagen nicht mal eine Wurstsemmel holen, ohne dass ich permanent daran erinnert wurde, dass ich Gold holen muss.“
Um 14.23 Uhr steht Marcel dann im Starthaus. Mutterseelenallein – wie so oft in seiner Karriere. Wie es eben ist, wenn man nach dem ersten Durchgang führt und der Rest der Ski-Welt schon unten im Ziel ist. „Ich fühlte mich, als würde ich mit dem Rücken zur Wand stehen. Eine Horde wilder Hunde war hinter mir her. Und es gab nur einen Weg: Ich muss da runter!“ Der „Letzte“ muss es also für Österreich richten. ER muss es richten. 1,939 Millionen Österreicher sehen via ORF zu, knapp 50.000 vor Ort. Kurz vor dem Start wird Marcel aus dem Tunnel der Konzentration gerissen. Der quälende Gedanke meldet sich: „Was passiert, wenn ich einfädle? – Sie werden mich töten.“ Doch es gibt sowieso kein Zurück mehr. 55,47 Sekunden später die Erlösung: Zieldurchfahrt, Gold für Österreich, Gold für Hirscher vor seinem Kumpel, dem Lieblings-Piefke Felix Neureuther, und Mario Matt. Wie ein Fußballer nach dem entscheidenden Tor in Minute 94 des WM-Finales läuft Marcel durch den Zielraum, kniet, rutscht auf dem Bauch durch den Schnee. „Der emotionalste, prägendste Sieg meiner Karriere.“
Danach brechen alle Dämme. Die Begeisterung rund um den Skihelden sprengt alle Grenzen. Und sprengt den Rahmen. „Ich musste die offiziellen ÖSV-Pickerl von meinem Audi runtergeben“, erzählt Marcel. Er wurde, wenn er mit dem Dienstwagen unterwegs war, unzählige Male erkannt. Menschen ließen sich dadurch zu waghalsigen Manövern auf den Straßen hinreißen, um Marcel vielleicht zum Stehenbleiben, Autogrammschreiben oder Selfiemachen zu bewegen. „Es war nicht nur für mich, sondern vor allem für die anderen auf der Straße richtig gefährlich. Die Hysterie kam so plötzlich und überraschend, ich wurde von ihr förmlich überrannt!“
Nicht nur Marcel bekommt noch heute Gänsehaut, wenn er an den 17. Februar 2013 in Schladming denkt. „Niemand hätte ein schöneres Drehbuch für diesen Tag schreiben können. Marcel gewinnt vor 50.000 Österreichern, noch dazu vor dem Piefke, und rettet damit die WM! Das war Skifahren pur“, sagt Felix Neureuther, der hinter Marcel Silber holt und üblicherweise nicht zu Übertreibungen neigt. Aber für ihn steht fest: „So eine Stimmung wie in diesem Moment, als Marcel in Schladming, bei ihm daheim, durchs Ziel fuhr und Weltmeister wurde, wird der Skisport niemals wieder erleben.“ Momente für die Ewigkeit. Und Felix gesteht: „Ich hab geführt, ich hätte WM-Gold gewonnen. Aber ich stand im Ziel, schloss die Augen, saugte die Atmosphäre förmlich auf und sagte mir: Hoffentlich gewinnt Marcel, ich will erleben, was da los ist, wenn Marcel hier Gold holt.“ Schladming war der Höhepunkt der sportlichen „Rivalität“ der beiden Freunde. Ein Spannungsbogen, der sich in den Jahren davor aufgebaut hatte. „Marcel hat uns alle, also auch mich, inspiriert, noch mehr Gas zu geben, noch besser zu werden. Er hat alle mitgezogen und den Sport so auf ein neues Level befördert.“
Schladming 2013 ist für Felix auch ein Spiegelbild von Marcels gesamter Karriere: unter höchstem Druck auf allerhöchstem Niveau abliefern. Da war Marcel einfach unerreichbar, auf einer anderen Ebene als seine Konkurrenten. „Marcel ist nie, und zwar wirklich nie, unter Druck eingeknickt. Je schwieriger es wurde, desto mehr konnte sich Ski-Österreich auf ihn verlassen“, sagt Felix. „Und an dieser Stärke sind seine Gegner im Laufe der Jahre reihenweise verzweifelt.“
Die erste Begegnung mit dem Hirscher-Clan war für Felix gleich eine ganz bezeichnende. „Ich war 2005 bei den Österreichischen Meisterschaften. Besichtigung. Ich war früh dran. Vor mir war nur ein älterer Herr mit Schnurrbart auf dem Kurs, der die Ski für seinen Sohn testete. Ich dachte mir: Was macht der denn da!?“ Eineinhalb Jahre später sah Felix beim Weltcup-Slalom in Bad Kleinkirchheim den älteren Herrn wieder. „Den kenn ich doch.“ Es war Ferdinand Hirscher, Marcels Vater. „Unfassbar, welchen Aufwand die Hirschers schon damals betrieben. Da testet der Papa bei den österreichischen Meisterschaften in aller Früh den Schnee, um den richtigen Ski für den Sohn herauszufiltern. Unglaublich, wie sehr sich der Ferdl immer ins Zeug gehaut hat!“ Auch Felix‘ Vater Christian, der ja selbst ein Ski-Star war und sechs Weltcup-Rennen gewann, gab seinem Junior immer Tipps und Inputs. „Aber was Marcel und Ferdl praktizierten, hat eine ganze Sportart geprägt. Diese Akribie war und ist einmalig. Und extrem clever. Aber das funktioniert natürlich auch nur dann, wenn die Beziehung Papa-Sohn auf wirklich stabilen Beinen steht.“ Schon 2007 in Bad Kleinkirchheim ist Felix vom aufstrebenden Marcel schwer beeindruckt. „Marcel war damals körperlich nicht einmal die Hälfte im Vergleich zu seinen Glanzzeiten. Aber dieses Bürschchen ist mit einer Intensität Ski gefahren, dass ich mir dachte: Halleluja, da kommt einer daher!“ Angesichts dieser Fahrweise dachte sich Felix aber auch: „Ganz ehrlich, das kann auf Dauer nicht gut gehen. Der Bursche wird sich bald mal gröber verletzen, fürchte ich!“ Und wirklich: Wer Marcel über die Jahre Ski fahren sah, mag kaum glauben, dass ein Kahnbeinbruch (2011) und ein Knöchelbruch (2017) seine einzigen schwereren Verletzungen waren. Der Bandapparat und vor allem Marcels Knie blieben völlig verschont! „Keine schwere Verletzung, so gut wie keine Ausfälle. Achtmal hintereinander Gesamt-Weltcup-Sieger. Das ist abartig. Abartig! Das sind Leistungen und Rekorde für die Ewigkeit.“ Auf der Piste war Marcel also der brutale Killer mit den Nerven aus Stahl. Und abseits davon? „Ein herzensguter Mensch, wohlerzogen, lustig, freundlich. Und das wirklich Schöne an unseren Gesprächen ist: Das Skifahren ist meistens nur Nebensache, es gibt wichtigere Dinge im Leben.“
„Der Zweite ist der erste Verlierer.“ Kein österreichischer Sportler seit Hermann Maier lebte diese knallharte, aber eben nur den ganz, ganz Großen vorbehaltene Gewissheit wie Marcel. Besonders brutal bekommt er sie bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi zu spüren. Es sind Marcels zweite Spiele. Beim Debüt 2010 in Kanada waren es für den damals 20-jährigen Senkrechtstarter die undankbaren Plätze vier und fünf geworden. In Sotschi geht Marcel nun erstmals mit der „Gold-Pflicht“ im Gepäck an den Start. WM-Gold und Gesamt-Weltcup sind auf der To-do-Liste längst erfolgreich abgehakt. Die Fragen nach der „nur“ noch fehlenden Olympia-Goldenen sind bohrend, hartnäckig. Schon bei den Vorbereitungen auf dem Muldenlift der Reiteralm wissen Marcel und sein Team: In Russland spielt das Wetter verrückt, teilweise zweistellige Plusgrade, Frühlingsschnee pur. Also alles andere als Hirscher-Bedingungen. Marcel liebt es eisig, je härter, desto besser. Marcel erinnert sich: „Wir wussten, dass das alles eigentlich schon im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist.“
Marcel versucht, den Druck nicht zu sehr an sich heranzulassen. „Volle Attacke, Marcel! Und wenn’s nicht klappt, kann ich mich auch nicht aus dem Fenster stürzen.“ Das tut er nach dem denkbar unglücklichen Start (Vierter im Riesentorlauf) natürlich auch nicht, gesteht aber: „Ich fühl mich richtig miserabel.“ Als Marcel am Tag danach im Österreich-Haus auftaucht, sieht die Sache schon wieder etwas anders aus. Und an diesem 20. Februar 2014, einen Tag nach dem Riesentorlauf und zwei Tage vor dem Slalom, lässt er auch richtig tief in sein Inneres blicken. Dieser Ski-Champion, dieser Nationalheld hatte nämlich allen Ernstes Angst gehabt, nach der wieder verpassten Olympia-Medaille von Fans und Medien „gesteinigt“ zu werden! „Ich hab schon von mir gesehen: Hirscher ist der Loser der Nation, ein Olympia-Tourist“, sprudelt es aus ihm heraus. „Das Gegenteil war der Fall. Das Feedback war super. Das zeigt, dass meine bisherigen Erfolge geschätzt werden. Dass ich auch als Mensch geschätzt werde.“ Befreit von dieser Versagensangst geht Marcel in den Slalom. Wieder sind es absolut keine Hirscher-Bedingungen. Marcel und sein Team graben die Skischuhe sogar in Eisbeutel ein, um das Ruder vielleicht doch noch herumzureißen. Gold schnappt sich aber Altmeister Mario Matt, ein wahrer Experte für Rennen im Frühlingsschnee. Mit Silber gibt’s für Hirscher die erste Olympia-Medaille. Und dass es überhaupt noch Silber werden konnte, verdankt Marcel Ante Kostelić. Der Papa von Ivica flaggt nämlich einen zweiten Durchgang aus, der eigentlich unfahrbar ist. Marcel meistert die Aufgabenstellung aber bravourös und katapultiert sich noch vom neunten (!) Platz zur Halbzeit auf Rang zwei.
Aber Marcels Enttäuschung über das verpasste Gold ist nicht zu übersehen, denn er weiß: Die Fragen nach dem fehlenden Olympia-Gold gehen jetzt in eine mindestens vierjährige Verlängerung … Dass Marcel trotz Silber nicht in Jubelstürme ausbricht, wird ihm mancherorts schlecht ausgelegt. „Ich hab viel Kritik geerntet, dabei war ich doch einfach nur ehrlich. Mario war an diesem Tag der verdiente Sieger und hat völlig zu Recht gewonnen. Aber dass ich das ganz große Ziel verpasst hab, dass ich ein Sportler bin, der Erster werden will, das darf man doch zeigen, oder nicht?“
Ein kleiner Tempel in Yongpyong, Südkorea. 23. Februar 2018, 06.33 Uhr morgens. Mit dreiminütiger Verspätung biegt ein schwarzes Auto um die Kurve, hält vor dem Tempel. Marcel und Freundin Laura klettern aus dem Wagen. „Gemmas an, wir müssen zum Flughafen, wollen endlich heim nach Österreich“, sagt Marcel. Kramt in seiner Jackentasche und holt zwei Stück Gold hervor. Es sind DIE zwei Stück Gold, mit denen er seine Karriere endgültig perfekt gemacht hat. Marcel posiert im Tempel mit den zwei Olympia-Goldmedaillen, packt trotz früher Morgenstund und Wahnsinnswochen für Fotograf Christof Birbaumer und die letzten Fotos auf südkoreanischem Boden sein schönstes Lächeln aus. Danach ab ins Auto, ab zum Flughafen Seoul und ab ins noch 8000 Kilometer entfernte zu Hause. Mission erfüllt.
Eine Mission, die knapp drei Wochen davor mit dem Abflug aus Salzburg Richtung Asien beginnt. „Eigentlich mag ich den Jetlag in die Asien-Richtung überhaupt nicht“, sagt Marcel. Außerdem macht er bei den Japan- und Südkorea-Rennen der letzten Jahre eher schlechte Erfahrungen. „Zum Urlaubmachen ist Asien super! Aber bei diesen Rennen in den Jahren davor gab es teilweise Bedingungen, die eines Profisportlers unwürdig sind. Schimmelige Zimmer, Bedingungen wie beim Ausflug einer Schülergruppe.“ Marcel befindet sich trotz Knöchelbruch im August 2017 - in der Form seines Lebens befindet. Und das heißt bei Hirscher etwas. Auf dem Langstreckenflug trifft Marcel Heinz Fischer, trinkt mit Österreichs ehemaligem Bundespräsidenten in 10.000 Metern Höhe eine Tasse Kaffee. Geschlaucht, aber entspannt checken Marcel und die zu diesem Zeitpunkt schon schwangere Laura im Hotel „Park Roche“ ein. Ein Top-Hotel, das alle Stückeln spielt. Allerdings im absoluten südkoreanischen Niemandsland. Bei klirrenden minus 20 Grad startet Marcel die Vorbereitungen auf die Kombination, tastet sich auf der von Bernhard Russi geplanten und durch den Urwald geschlagenen Abfahrt Training für Training an die Besten heran. Beim internationalen Medientermin stehen die Journalisten aus aller Welt Schlange. Stellen alle die gleiche Frage: „Holst du dir diesmal dein Olympia-Gold?“ Marcel zuckt nur mit den Schultern, sagt: „Ich weiß, dass ich eigentlich nur verlieren kann, weil nur Gold für mich zählt.“ Nachsatz: „Und daheim in Österreich sind sowieso alle verrückt, erwarten die wildesten Dinge von mir.“ Während Marcel im Scheinwerferlicht Frage und Antwort steht, haben es andere im „Hotel Roche“ entspannter. Die Deutschen spielen sich am Nebentisch eine Partie Bauernschnapsen aus, eine Etage tiefer ermitteln die Norweger auf der Playstation ihren FIFA-Champion. Marcel wird auch gefragt, warum er nicht nur in seinen Paradedisziplinen Slalom und Riesentorlauf antritt, warum er sich zu Beginn den Kombi-Stress antut? „Weil ich nicht eines Tages im Ledersessel sitzen will und mir denken muss: Wär ich doch nur diese Kombi gefahren…“ Eine goldene Vorahnung sozusagen.
Am Tag der Kombi sitzt Marcel in der Gondel hinauf zum Start der Abfahrt. Der Wind wird stärker. Die Gondel hält immer wieder an. Leichte Panik macht sich breit, Marcel wird doch nicht seine Startzeit verpassen? Es geht sich alles aus. Marcel legt eine solide Abfahrt hin –Platz zwölf. Im Slalom kommt es zum erwarteten Showdown zwischen ihm und Alexis Pinturault. Marcel zieht den „schwarzen Peter“, fährt bei eigentlich irregulären Bedingungen. Im Mittelteil des Slaloms weht bei der Fahrt von Marcel genau in Knöchelhöhe der Schnee. Marcel erinnert sich: „Ich hab versucht, am Start ein bisschen zu verzögern, weil ich genau gesehen hab, dass der Wind über den Steilhang hinauf zieht. Aber es hat eh nix geholfen, ich musste raus aus dem Starthaus. Das war dann das Rennen, in dem ich am meisten in meiner Karriere geflucht habe. Eigentlich hab ich durchgehend von oben bis unten geflucht.“ Die Worte sind nicht druckreif, aber sinngemäß ist Marcel einfach fassungslos, dass man ihn bei derartigen Bedingungen auf die Strecke schickt. Es geht ja immerhin um Olympia-Gold … Marcel bleibt aber am Gas, packt seine gesamte Klasse und Routine aus, „errät“ jeden Schwung, trotzdem droht jede Sekunde der Einfädler. Marcel kommt mit Bestzeit ins Ziel, nur noch Pinturault kann ihm Gold entreißen. Der Franzose hat deutlich mehr Glück mit dem Wind, bleibt aber 0,23 Sekunden zurück. Es ist vollbracht. Hirscher ist Olympiasieger. Spricht von einer tonnenschweren Last, die ihm von den Schultern fällt. Trotzdem: irgendwie wirkt alles so eigenartig. Gar nicht so „besonders“. Was damit zusammenhängt, dass kaum Zuschauer den Weg ins Skistadion gefunden haben. Skifahren hat bei den Südkoreanern eben einen ähnlichen Stellenwert wie bei uns in Österreich Koreas Nationalsportart Shorttrack. Bei der ersten Siegerehrung einige Minuten nach dem Rennende sind es neben den Journalisten vielleicht noch hundert Fans, die beim „Land der Berge“ die Hauben vor Hirscher und Österreich ziehen. Danach spricht Marcel erstmals als Olympiasieger zu den Medien. Meint sinngemäß: „So, jetzt habt’s eure Goldene, jetzt könnt’s aufhören mit den Fragen.“ Und sagt: „Schaut’s euch das an, da haben wir sogar in Beaver Creek mehr Zuschauer! Irgendwie hab ich mir das in meinen Kindheitsträumen anders vorgestellt.“ Mit dieser Gewissheit, das Ziel Olympia-Gold erfolgreich abgehakt zu haben, riskiert Marcel auch im Riesentorlauf, in dem er im Gegensatz zur Kombi haushoher Favorit ist, sein letztes Hemd. Führt nach Durchgang eins, demoliert auch im Finale die Konkurrenz und holt 1,27 Sekunden vor Henrik Kristoffersen Gold. Zum ersten und einzigen Mal sagt Marcel danach klipp und klar: „Ja, das ist derzeit der beste Hirscher aller Zeiten.“ Im abschließenden Slalom scheidet Marcel trotzdem aus. Naja, mit zweimal Gold in der Jackentasche recht problemlos zu verkraften. „Nein, ich bin kein bisschen enttäuscht. Seid ihr denn jetzt alle völlig verrückt geworden? Die Mission Olympia war ein voller Erfolg und ist jetzt erledigt.“ Ein für alle Mal. Aber irgendwie kann Marcel der Olympische „Geist“ auch bei seinen dritten und letzten Winterspielen nicht so recht begeistern: „Klar bin ich froh, dass ich auch meine Olympia-Goldene hab. Und im Leben ist es halt fast immer so: in Erinnerung bleiben die schönen Dinge. Aber dieses Tohuwabohu, diese Reglementierungen. Irgendwie fühlt man sich als Sportler am Ende des Tages nur noch als Produkt. Wirklich warm bin ich mit Olympia nie geworden… Durch all diese Erlebnisse wurde Olympia für mich doch ziemlich entzaubert.“
Materialakribie bis zum Exzess – ja, okay. Körperliches Training bis zum Erbrechen – ja, das machen vielleicht „viele“ andere auch. Was Experten, Trainer, Fans und Konkurrenten aber am meisten an Marcel bewundern, ist seine mentale Stärke. Sie ist für viele der wahre Grund, warum Marcel auf der Ergebnisliste fast immer über allen anderen stand. Aber woher kommt diese mentale Stärke? „Sie ist ein Geschenk, das man sich nicht kaufen und auch nicht antrainieren kann. Man hat sie oder man hat sie eben nicht.“ Es ist sozusagen das goldene Geschenk, das Marcel vom lieben Gott mitbekommen hat. „Wir wissen ja: Es gibt Trainings-Weltmeister und es gibt Weltmeister. Es geht gar nicht darum, dass der eine oder andere besser Ski fährt. Da gibt es oft keinen großen Unterschied. Es geht darum, es im Rennen zu zeigen. Und ich hab das Glück, ein echtes Rennpferd zu sein. Das war ich schon als Kind.“ Es ist quasi Marcels Erfolgsmedizin, sein Zaubertrank. Und wie Obelix dürfte auch der kleine Marcel in diesen Zaubertrank hineingefallen sein und dabei genug für ein ganzes Leben davon getankt haben. „Da war ein Fass, das ich aufmachen konnte, wenn ich wollte und wenn ich es unbedingt brauchte.“ Ein Fass, in dem sich auch der Schalter für den „Rennmodus“ befand. „Wenn ich wollte, konnte ich diesen Schalter umlegen. Und der hat mir dann die paar zusätzlichen Prozente gebracht.“ Ein Fass, in dem sich auch eine gesunde Portion Zorn befand. „Alle sagen immer, dass die Freude das Wichtigste ist. Stimmt schon. Aber nicht in der einen Minute, in der es um alles geht. Da musste ich zornig sein. Da brauchte ich diesen Druck, den ich mir teilweise auch selbst bewusst gemacht habe.“ Das Fass kann Marcel aber nicht nur auf der Skipiste öffnen. Marcel erinnert sich auch an CrossFit-Einheiten. „In meiner Karriere waren beim Bankdrücken meist hundert Kilogramm das Maximum. Eines Tages haben da beim CrossFit ein paar Burschen 130 Kilo gedrückt. Mir war’s in dieser Situation wichtig, das auch zu schaffen. Die Stimmung hat gepasst und ich hab auf einmal 130 Kilo drücken können … Wenn ich’s wirklich wollte und gebraucht hab, war da etwas, auf das ich zurückgreifen konnte.“
Und was waren – neben dem Durchgehen des Kurses – meist die allerletzten Gedanken im Starthaus? – „Ich MUSS gewinnen. Ich MUSS alles auf die Ski bringen, was ich draufhabe.“ Schon wenige Wochen nach dem Rücktritt denkt sich Marcel beim Anschauen des einen oder anderen Husarenritts in seiner Karriere: „Mit welchem Einsatz und mit welcher Intensität ich Ski gefahren bin, ist wirklich unglaublich. Hätte ich keine Handschuhe angehabt, hätte ich mich mit den Fingernägeln am Berg festgekrallt, um ja nicht auszuscheiden und so schnell wie möglich im Ziel zu sein. Ganz ehrlich: Manchmal war ich mir selbst ein Rätsel, wie ich das alles geschafft habe … Und diese Intensität, mit der ich das Ganze betrieben habe, ist auch der Grund, warum ich jetzt nicht mehr dabei bin. Das war einfach nur eine begrenzte Zeitspanne durchführbar.“
Raus aus dem Auge des Orkans. Raus aus den verrücktesten Tagen in Marcels Karriere. Entschleunigung. Wir landen im Jahr 1984 im Salzburger Land, wo die damals 28-jährige Niederländerin Sylvia während ihres Winterurlaubs, den sie mit Schwester und Schwager in Annaberg verbringt, unfreiwillig zur Entschleunigung gezwungen wird. Eine Autopanne. Skilehrer Ferdinand eilt zu Hilfe und erledigt wie ein echter Gentleman das Anlegen der Schneeketten. Es ist, wenn man so will, die Geburtsstunde dieses Ski-Märchens. Nach zwei Jahren Fernbeziehung gibt Sylvia ihren Job in einem Krankenhaus in Den Haag auf und zieht nach Annaberg, wo sie als Kellnerin arbeitet und freundlich aufgenommen wird. Im März 1989 kommt das erste Kind zur Welt: Marcel. Zwei Monate später ziehen die Hirschers für den Sommer auf den Berg, genauer gesagt auf die Stuhlalm, die oberhalb von Annaberg auf 1500 Meter Seehöhe liegt. Ferdl erfüllt sich dort den Traum vom Leben als Hüttenwirt. 15 Saisonen lang betreiben die Hirschers dann von Mitte Mai bis November die Hütte. „Eigentlich dachte ich mir, dass ich als Hüttenwirt in den Bergen mehr zum Klettern komme. Aber ich hab die Arbeit massiv unterschätzt. Das waren sechs Monate Arbeit, Tag und Nacht.“
Für den kleinen Marcel wird die Stuhlalm zu seiner zweiten Heimat. Auch heute kehrt er noch immer wieder dorthin zurück. „Das gehört jeden Sommer zu meinem Pflichtprogramm. Dann gibt’s Kaiserschmarrn. Und sofort kommen die Erinnerungen wieder, so schmeckt Kindheit.“
Wahrscheinlich würden heute viele gestresste Menschen eine Menge Geld bezahlen, um so wie Marcel, fernab des Trubels, für ein paar Tage oder Wochen auf einer solchen Hütte zu leben. Klingt doch irgendwie romantisch. „Ja, klingt vielleicht romantisch“, sagt Marcel. „Aber jede Romantik, jede Schönheit verblasst, wenn die Familie vor lauter Arbeit fast erschlagen wird. Das war schon auch eine harte Probe für uns alle.“ In den ersten paar Jahren haben die Hirschers nicht einmal warmes Wasser. Die Sommer sind sehr intensiv, die Gäste oft bis spät in der Nacht wach und feierwütig. Nicht selten kommt es vor, dass ein Gast ein Bier zu viel tankt, sich zu später Stunde in der Tür irrt und nicht in der Toilette, sondern im Zimmer der Kinder Marcel und Leon steht.
Dass die Kids angesichts der Fülle an Arbeit ein wenig zu kurz kommen, liegt auf der Hand. „Aber das ist in vielen, vielen anderen Gastronomiefamilien nicht anders“, weiß Marcel. Fußballspielen war natürlich möglich. „Aber wenn ich einmal zu fest geschossen hab, hat’s einen 15-minütigen Fußmarsch gebraucht, um den Ball wieder zu holen.“ Deshalb fährt Marcel oft mit dem Rad hinunter ins Dorf auf den Sportplatz oder ins Schwimmbad. Danach geht’s eine Stunde lang bergauf wieder zurück nach Hause! „Ich sehe die Phase auf der Stuhlalm als eine sehr lehrreiche Phase“, erzählt Marcel. „Ich schäme mich keinesfalls, wie ich aufgewachsen bin, ganz im Gegenteil. Aber man muss schon sagen, dass ich die Sommer in wahnsinnig ungewöhnlichen Verhältnissen verbracht habe.“ Sicher ist das einer der Hauptgründe, warum Marcel auch mit derart viel Ruhm im Gepäck immer geerdet und bodenständig geblieben ist. „Das müssen andere beurteilen, ob ich geerdet geblieben bin oder nicht. Ich denke aber schon. Ich weiß, was es bedeutet, für jeden Cent hart arbeiten zu müssen. Und ich weiß sehr gut zu schätzen, was ich erreichen durfte und was wir jetzt erleben dürfen.“ Gibt’s eines Tages eine Rückkehr auf die Stuhlalm als zweite Heimat? „Um kein Geld der Welt!“
Niemand kennt den Skifahrer Marcel besser als sein Papa, Ferdinand Hirscher. „Unsere Füße empfinden gleich“, sagt der berühmteste Schnauzbart im österreichischen Sport. Damit ist eigentlich fast alles gesagt. Schon als Zweijähriger steht Marcel auf den Ski. Sein Gleichgewichtssinn und die Art, wie er schon als kleiner Knirps mit Schnuller im Mund bremst, sind für sein Alter „nicht normal“. Marcel steht im Winter nur dann nicht auf den Ski, wenn er in der Schule ist oder schläft. „Aber wir dachten keine Sekunde daran, dass er ein Profi-Rennfahrer werden könnte“, sagt Ferdl.