Hermann Brünjes
mit Machen
Eine geistlich-theologische Herausforderung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
1. Was wirklich zählt ...
Allein aus Gnade
Allein durch Christus
Allein aus Glauben
Allein die Schrift
2. Auf wen wir hören ...
Der neue Gehorsam
Hingabe
3. Worauf wir uns verlassen
Mangel-Orientierung
Verheißungs-Orientierung
4. Wohin wir gehören ...
Gemeinde – der Leib Christi
Gemeinde – gebraucht und gesandt
Gesunde Gemeinden
5. Wozu wir da sind ...
1. Zum Glauben einladen
2. Gemeinschaft gestalten
3. Gaben entdecken und fördern
4. Zum Dienst anleiten
Von der Verheißung zum Mandat – die Anwendung
6. Es wird konkret
Mitarbeit in der Gemeinde
Für Flüchtlinge eintreten
Aktiv gegen Rechts
Die fröhlichen Geber
Zeit ist mehr als Geld
Von Christus reden
7. Was Leiden schafft
Leiden um Jesu willen
Gesegnetes Leiden
8. Fertig werden und Ankommen
Schlusswort
Autor, Dank und weitere Bücher
Impressum neobooks
Gewidmet jenen Menschen,
die ich als »Täter des Glaubens« bewundere.
Ihr redet nicht nur, ihr handelt.
Euren Glauben kann man sehen.
Ihr fordert mich heraus, meinen Glauben
von der Theorie in die Praxis umzusetzen.
Ihr tragt dazu bei,
dass auch ich mit Händen, Mund und Füßen
Christ sein kann.
Danke.
»Gutes Buch, wichtige Gedanken – aber was genau wir tun und machen sollen, wird nicht deutlich!«
Diese Kritik an »mit Denken«, jenem Buch, das ich vor diesem mit viel Herzblut als eine Art geistlich-theologisches Vermächtnis geschrieben habe, ist berechtigt. Sie fordert mich heraus. Sie verpasst mir einen Stich. Sie provoziert mich. – Nicht, weil die Kritik zu Unrecht und ohne Grund geäußert und mich als bloße Meckerattacke erreicht. Ein Besserwisser nörgelt herum, will seine eigene Wichtigkeit betonen, seine Kompetenz und Kritikfähigkeit. Nein, solche Kritik wäre einfach nur ärgerlich und nervig. Diesmal jedoch fordert mich die Bemerkung heraus – weil sie stimmt! Weil sie einen empfindlichen Nerv bei mir trifft.
Denken ist mein Ding. Ich reflektiere, argumentiere, erkläre, diskutiere, predige, schreibe, rede. Aber machen? Handeln? Tun? Das überlasse ich oft genug den anderen.
Dabei lautet mein Konfirmationsspruch: »Mit Gott wollen wir Taten tun!« (Psalm 60,14). Schon mit vierzehn, noch vor der Konfirmationsfeier, hatte ich verstanden, was gemeint war. Etwas tun, handfest und konkret. Mein Freund und ich haben uns damals, direkt nach Bekanntgabe unserer Sprüche und am Abend vor der Abendmahlsfeier, in die Kirche geschlichen. Dort haben wir die Gesangbuchnummern an den Stecktafeln vertauscht. Welch Freude, als sich am Abend im Beichtgottesdienst eine große Verwirrung verbreitete. Wer Taten tut, der bewirkt etwas – das hatte sich wieder einmal bestätigt. Und genau darauf kam es doch an, oder? Dass etwas bewirkt wurde, verändert, bewegt und wenn möglich zum Besseren. Für uns war das Bessere damals der Spaß, eine Kirche mit Lachen und Abwechslung zu erleben, statt jene mit so oft erlebter Tristesse und einer sich ewig wiederholenden Langeweile.
Not-wendige Herausforderung
Sie saßen an der grauen Mauer eines Industriegeländes. Nicht einmal eine Plastikplane schützte sie vor Sonne und Regen. Auf Pappe und Stofffetzen lagen ihre Kinder. Ausgemergelt, leere Augen und Körper ohne jede Spannung und Erwartung an irgendeine Zukunft. So fanden Freunde von mir über dreißig Familien vor, die wegen einer großen Überschwemmung alles verloren hatten und nun völlig hilflos auf einen winzigen Funken Hoffnung warteten. Meine Freunde kauften mehrere Stauden Bananen und gaben sie diesen Leuten. Einige verschlangen die süßen Früchte mitsamt der Schale. Hunger und Verzweiflung ließen Regeln und Vernunft vergessen. »Wir müssen etwas tun!« Dies war meinen Freunden sofort klar. Nicht Worte, Parolen, Weisheiten und Erkenntnisse wendeten jetzt die Not. Essen, Trinken, ein Dach über den Kopf, eine Arbeitsstelle, Schulbesuch der Kinder ... jetzt musste etwas gemacht werden.
Einer der Freunde packte es an. Ein Projekt entstand. Land wurde gekauft, jede Familie bekam ein Stück davon, dazu eine Hütte und eine Kuh zum Melken. Brunnen wurden gebohrt, weiteres Land für Felder angeschafft. Ein Kinderheim mit Schule konnte gebaut werden, später kam ein dorfeigener Steinbruch hinzu, der bis heute zusätzliche Arbeitsplätze schafft. Serapaka Colony entwickelte sich. Heute geht es diesen Leuten richtig gut. Warum? Weil meine Freunde damals etwas gemacht haben.
mit Machen – eine Provokation
Nur mit Machen, Handeln und Tun kann so etwas geschehen. Allein Reden und Worte, und mögen sie noch so zahlreich, groß, schön, logisch und weise sein, reichen nicht. Dies ist uns allen klar. Mir auch.
Weil mir klar ist, dass aus den Gedanken und Worten Taten und Verhalten folgen wollen, sollen und müssen, ist so eine Anfrage wie oben zitiert für mich eine Herausforderung. Da werde ich aus meinem Gedankengebäude herausgerufen und soll neues Land betreten. Das Land des Handelns. Vielleicht ist »Herausforderung« noch zu schwach und »Provokation« drückt besser aus, worum es geht. Ich werde zur Reaktion gereizt, man pikst mich oder stichelt. Ich kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Es muss sich etwas ändern.
Mag sein, dass dies für Sie nicht gilt – oder nicht in gleichem Maße. Sie machen schon viel. Sie engagieren sich in Ihrer Kirchengemeinde. Sie helfen bei der Tafel oder im Flüchtlingsheim. Sie treiben mit Spenden, Ideen und Mitwirken Projekte voran, die für Verlierer in unserer Gesellschaft oder eben auch in armen Ländern die Not wenden helfen. Sie setzten sich für die Schöpfung ein, das Klima oder den Tierschutz. Sie laden Nachbarn und Freunde zu Veranstaltungen ein, sprechen mit ihnen über den Glauben, besuchen sie im Krankenhaus ... Gratuliere! Sie haben etwas nicht nur im Kopf, sondern auch im wahrsten Sinn des Wortes be-griffen. »Mit Machen« ist angesagt.
Die folgenden Überlegungen sind möglicherweise für Sie eine Bestätigung. Genauso sehen Sie es nicht nur, sondern genauso machen Sie es. Vielleicht in großer Selbstverständlichkeit und ohne viele Worte. Gratuliere!
Machen Sie weiter so!
Und ich, der ich ein Buch schreibe, mache nichts? Ich rede nur, diskutiere, lamentiere ...? Sicher nicht. Natürlich mache auch ich manches. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fällt mir ein ... ganz abgesehen davon, dass Schreiben und Reden auch erst einmal gemacht und getan sein wollen! Aber dennoch: »Was tust du eigentlich außer Reden?« So eine Bemerkung fordert mich heraus. Sie stellt meine Glaubwürdigkeit in Frage – vielleicht ist sie deshalb so unangenehm. Nicht glaubwürdig zu sein, ist schlimm für mich. Was sollte es für einen Christen, der sich als Teil der Mission Gottes versteht, Schlimmeres geben?
Ich will »Täter des Wortes« sein (Jak. 1,22), will leben, was ich glaube und erkannt habe. Andere Menschen sollen durch mich einem wirksamen Gott begegnen, einem, der wirklich etwas tut. Folglich reagiere ich auf die Provokation und lasse mich herausfordern.
Das Buchcover
Wieder habe ich ein Coverbild aus dem »Schöpfungsweg« ausgewählt. Ich finde die Bilder des Künstlers Werner Steinbrecher (1944–2008) einfach schön und wollte das Design von »mit Denken« fortführen. Es passt auch inhaltlich, finde ich.
Der Zusammenhang von Denken, Reden und Handeln wird vom ersten Kapitel der Bibel an sofort deutlich. In der Schöpfungsgeschichte (1. Mo. 1-2) heißt es: »Gott sprach und es geschieht.« So lief es und so läuft es. Gottes Worte kommen nicht leer zurück. Sie schaffen etwas Konkretes, sie gestalten und verändern die Geschichte.
Im oberen Teil des Covers sehen wir Kieselalgen, die kleinsten Bausteine des Lebens. Der Künstler wollte deutlich machen, dass Evolution und Schöpfung kein Gegensatz sind. Auch wenn sich die Fische vor vielen Millionen Jahren aus solchen Algen entwickelt haben, sind sie doch von Gott gewollt und gemacht. Gott denkt sich etwas, spricht und setzt es um. Ohne die Umsetzung wäre alles Denken und Reden sinnlos und überflüssig. »Du redest nur, aber machst es nicht!« Das ist auch Gott gegenüber eine Kritik, die provoziert – und die Gott immer wieder handfest widerlegt. Mit der Schöpfung fing es an, hier und heute geht es weiter.
In der Mitte des Covers schiebt sich ein dicker Fisch ins Blickfeld. Besonders jenen, die Kindergottesdienst, Jungschar oder Religionsunterricht erlebt haben, fällt vermutlich sofort die wundersame Geschichte von Jona ein. Gott schickt diesen Mann nach Ninive. Dort soll etwas geschehen. Die Einwohner der Stadt sollen ihr Leben ändern. Damit dies geschieht, soll Jona die Stadt besuchen und die Menschen dort zur Umkehr rufen. Solche Umkehr beginnt tatsächlich im Kopf und mit dem Hören, ereignet sich dann jedoch stets handfest, sichtbar und in konkretem Handeln und Lebensvollzügen.
Jona aber verdrückt sich. Er will nichts machen, so wichtig es für Ninive auch sein mag und so sehr sein Gott es auch will. Doch er kommt damit nicht durch. Er gerät in einen Sturm und wird ins Meer geworfen. Ein großer Fisch verschlingt ihn. (Wir bleiben präzise: Im Jona-Buch ist nicht von einem Wal oder gar Walfisch die Rede, nur von einem großen Fisch.) Irgendwo am Strand vor Ninive spuckt der Fisch den Fliehenden aus. Dem bleibt nichts übrig, als endlich zum Propheten Gottes zu werden und zu machen, was er machen soll.
Ich finde, die Geschichte passt gut zu unserem Thema. Warum flieht Jona? Weil Gott streng, böse und ungerecht ist? Weil Jona seinem Gott theologisch nicht mehr zustimmt oder das alles nicht mehr glauben oder denken kann? Irrtum. Jona flieht aus nur einem Grund: Er will nicht tun, was Gott ihm sagt. Er hat Angst vor der Umsetzung dessen, was Gott von ihm fordert. Er verweigert sich der Herausforderung Gottes. Er will nicht nach Ninive gehen, sich dort vor Stadtrat und Einwohner stellen und die Stadt zur Umkehr rufen. Also drückt er sich, versucht es jedenfalls.
Dieser dicke Fisch in Eierschalenweiß (für den Künstler die Farbe der Gegenwart Gottes) steht für die klare Zusage unseres Schöpfers: Ich habe mit dir etwas vor. Ich setze alles daran, durch dich etwas Rettendes zu bewirken. Ich will weder, dass du vor mir auf der Flucht bist, noch, dass du vor deinem Auftrag ständig davonläufst. Jona, Hermann oder wie immer dein Name ist – ich lasse nicht locker, bis du machst und tust, wozu ich dich beauftragt und gesandt habe.
Achtung, Falle!
Dieses Buch ist kein theologisches Fachbuch. Es ist für geistlich interessierte Normalchristen geschrieben und für jene, die ihr Denken und Leben möglichst reflektiert angehen möchten. Was beim Thema »Nachfolge« und »Tun des Glaubens« für uns alle eine Herausforderung ist, egal wie belesen, erfahren und theologisch vorgebildet wir sind, ist ein übles Missverständnis. Es lautet: Machbarkeit.
»Yes, we can!«
Schnell wird dieser Slogan von Barack Obama für eine falsch verstandene Motivationstheologie missbraucht. So unter dem Motto: Wenn wir es nur anpacken, natürlich richtig und engagiert, dann packen wir es! Es liegt an dir! Wir schaffen das! Selbst ist der Mann! Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!
Damit wir in dieser Falle nicht festsitzen, gefangen und geknebelt werden, sind saubere Differenzierungen erforderlich. Was sind die Indikative (Aussagen, Feststellungen) und was die Imperative (Aufforderungen, Befehle)? Was kann nur Gott allein tun, was überlässt er ganz und gar uns und wo fordert er uns zu partnerschaftlicher Kooperation heraus? Was sind die Voraussetzungen für unser Handeln, was die konkreten Handlungsformen und was die Ergebnisse? Was kann und muss ich als Einzelner tun, was geht nur gemeinsam mit anderen?
Diese und weitere Unterscheidungen sind unverzichtbar, wollen wir nicht Nachfolge Jesu mit Aktionismus verwechseln und vertrauensvollen Gehorsam des Glaubens mit regelkonformem Moralismus. Wir werden im Folgenden noch sehr oft darauf zu achten haben, dass die Falle der Machbarkeit nicht zuschnappt.
Dabei hilfreich ist generell das Gespräch über das Gelesene in einer Gruppe. Wenn Sie mögen, können Sie für sich allein oder zusammen mit anderen (z.B. im Haus- oder Gesprächskreis) die mit ✪Sternchen gekennzeichneten Anregungen aufnehmen. Wenn ein Gebet so markiert ist – beten Sie gerne mit.
✪Gleich zu Beginn können Sie ja einmal für sich selbst, aber auch gemeinsam mit anderen überlegen, wo und ob Sie überhaupt in unserem Thema eine Herausforderung oder Provokation entdecken.
»So will ich nicht enden!« Dies war mein Fazit nach der Teilnahme an einem Treffen pensionierter Pastoren. Ich war frisch »im Dienst« und hatte mich auf die Begegnung mit den erfahrenen Brüdern gefreut (ja, damals waren wohl noch gar keine »Schwestern« dabei). Ich wollte lernen. Hier trafen sich die bewährten Streiter für das Evangelium.
Und ich lernte – vor allem wie ich nicht enden wollte.
Die Referate und vorgestellten Gedanken zu biblischen Texten waren prima, teilweise sogar brillant. Die lang angelegte Vorstellungsrunde zerstörte meine Achtung und gedankliche Inspiration dann allerdings wie eine Signalstörung bei Gewitter ein buntes, schönes Fernseherlebnis. Ja, es hat mir irgendwie wehgetan. Je mehr der Brüder von sich erzählten, zerbrachen meine Illusionen. »Ich bin noch dreimal die Woche in Haus- und Bibelkreisen.« »Einmal im Monat predige ich und leite den Männerkreis.« »Ich begleite ein Hospiz.« »Ich mache noch mindestens drei Familienfreizeiten im Jahr.« Neben unterschiedlichen Namen und beruflich vergleichbarem Werdegang bekam ich interessante Informationen über die Brüder – aber im Prinzip wiederholte es sich. Sie alle erzählten von dem, was sie einmal gemacht hatten oder eben noch machten, taten und leisteten. »Ich mache in Friedland (ehemaliges Übergangslager für Aussiedler) noch über 360 Andachten und Gottesdienste im Jahr.« Dieses Statement schoss für mich den Vogel ab.
Wo war ich hier gelandet? Bei einer Preisverleihung für pastorale Höchstleistungen? Auf einer Bewerbungsplattform für Prediger, die sich durch möglichst viele Einsätze auszeichnen und unentbehrlich sind? Beim Eurovision-Prediger-Contest, wo der Beste gewinnt?
Nein, das waren Ruheständler, Emeriti (= entpflichtete Pastoren)! Allerdings mit i.R., »in Rotation« statt »im Ruhestand«. Als Berufsanfänger sträubten sich mir die Haare.
Hatten diese Männer Gottes denn überhaupt nichts begriffen? Hatten sie je verstanden, was sie (vermutlich) selbst gepredigt haben? Allein aus Gnade. Allein der Glaube. Allein Jesus. War das nicht Inhalt, Grund und Perspektive unseres Glaubens? Jene so oft vorgetragene stolze reformatorische Formel von der »Rechtfertigung allein aus Gnade und nicht aus den Werken!« – war dies alles an meinen alten, ach sonst so lutherischen Brüdern vorübergegangen?
Heute kann ich mit diesen Kollegen etwas barmherziger und verständnisvoller umgehen. Es ist wirklich schwer, sich ohne den Hinweis auf sein Tun und Machen zu definieren.
✪Probieren Sie es gerne einmal aus und beschreiben Sie sich, ohne Ihr Handeln und Wirken ins Spiel zu bringen.
Lassen Sie Ihr berufliches Wirken einmal gänzlich weg. Auch Ihre Verdienste im Verein, in der Kirchengemeinde und im Sport verschweigen Sie. Sie zählen nicht auf, wie sehr Ihre Kinder Sie brauchen oder Ihre Enkel und was Sie für Ihre Familie alles investieren. Sie zeigen keine Fotos von Ihrem Haus und Ihrem Garten herum und auch nicht von jenem teuren Hotel, das Sie sich im Sommerurlaub leisten. Sie beweisen auch nicht, wie toll Sie Klavier spielen, singen oder kochen können. Alles, was Ihr Verdienst ist, lassen Sie weg ... und schon fragen Sie sich vermutlich, was eigentlich noch übrig bleibt.
Worüber definiere ich mich? Was macht mich wichtig und wertvoll? Was zeichnet mich aus? Was verschafft mir Anerkennung und was macht meinen Wert aus?
Schnell landen wir bei der Antwort auf diese Fragen bei Dingen, die wir gemacht und geschafft haben. Dann geht es uns unversehens nicht anders als jenen pensionierten Pastoren. Solange wir noch atmen können, versuchen wir, uns über das zu definieren, was wir (noch) schaffen oder geschafft haben. Das Haus, das Segelboot, das Pferd. Das Sparguthaben, die Firma, eine tolle Gemeindearbeit. Die Anzahl der geschriebenen Bücher, das Elektroauto, die vielen gut geratenen Kinder.
Eine reformatorisch verstandene Theologie der Rechtfertigung bedarf solcher Aufzählungen nicht. Sie setzt völlig anders an. Sie setzt bei dem an, was Christus für uns geschafft, gemacht und getan hat.
Als evangelische Christen wissen wir das natürlich. Wir bekennen mit dem Apostel Paulus und dem Reformator Luther, dass wird »ohne unseren Verdienst und unsere Werke gerecht werden« (Rö. 3,24+28). Jesus Christus hat alles getan. Allein aus Gnade werden wir gerettet. Das ist für viele von uns alltägliches Basiswissen. Wir setzen es voraus. Zu Recht!
Der Evangelist Matthäus formuliert an zentraler Stelle in der Bergpredigt einen wichtigen Satz:
»Ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Mt. 5,20)
Theologen aller Generationen haben darüber debattiert, was mit dieser »besseren Gerechtigkeit« wohl gemeint sei. Sollen wir Gebote und Regeln noch gewissenhafter einhalten als die Frommen von damals? Und noch pedantischer auf deren Umsetzung achten? Sollen wir die Fehler vermeiden, die in der Bibel angeprangert werden und z. B. Gottesdienste ohne »Geplärr der Lieder« feiern (Amos 5,23) oder fromme Heuchelei vermeiden, wie jene Eiferer sie praktizieren, die Jesus als »übertünchte Gräber« bezeichnet (Mt. 23,27)? Geht es primär um die Verbesserung unserer Gottesbeziehung oder eher um die Perfektionierung unseres Lebenswandels?
Nein!
Die »bessere Gerechtigkeit« setzt woanders an.
Sie setzt nicht bei mir selbst an, weder bei meiner Frömmigkeit noch bei meinen guten Taten, weder bei meiner Rechtschaffenheit noch bei meiner möglicherweise allseits bewunderten Einsatzfreude für Gott, die Kirche und die Menschen. Das alles trägt nicht dazu bei, dass ich Gott recht bin und ins »Himmelreich komme«, wie unser Vers sagt.
Folglich muss ich all das, was ich mache, auch nicht aufzählen, um meine Bedeutung zu betonen. Mag sein, dass ich damit in einem Pfarrkonvent oder im Jugend- oder Gesprächskreis beeindrucke, dass ich von Zuhörern und Lesern bewundert werde und meine Nachbarn und Kollegen mich sogar beneiden – Gott jedoch lässt sich nicht täuschen.
Vermutlich schüttelt er eher mit dem Kopf, wie ich damals bei jenem Pastorentreffen. »Was soll das? Meinst du, damit sammelst du bei mir Punkte? Und wenn dein Konto voll ist, dann schließe ich dir den Himmel auf? Oder du kriegst einen Platz in der Loge? Meinst du, ich vergebe Noten wie ein Lehrer in der Schule und am Ende heißt es: ersetzt ins Himmelreich? Oder ich veranstalte eine christliche Miss-Wahl und bewerte deine Leistungen und Verdienste? Du Narr!«
Na ja, so oder ähnlich könnte ich mir die Reaktion Gottes vorstellen. Kopfschütteln. Oder mehr als das: Gott leidet. Der Vater allen Lebens fühlt sich völlig falsch verstanden. »Kind, was machst du da? Was für ein Bild hast du bloß von mir? Bin ich aus deiner Sicht so gemein, dass ich dich ständig antreibe, besser zu werden? Meinst du, es ginge um artiges Verhalten, brav sein und Pflichterfüllung? Oder um großartige Titel, Besitz, Ruhm und Vorzeigeprojekte? Oder um neue Rekorde beim Erklimmen moralischer Höchstleistungen? Oh mein Kind, wie wenig hast du doch begriffen!«
Ich gehe davon aus, dass Sie, jedenfalls wenn Sie sich im Kontext von Kirche und Gemeinde bewegen, längst verstanden haben, worin unser »reformatorisches Erbe« besteht. »Allein aus Gnade« ist der Schlüssel zum Verständnis der »besseren Gerechtigkeit«.
»Gnade« ist ein Begriff aus dem Strafrecht. Jemand sitzt im Gefängnis, ist verurteilt – vielleicht sogar zum Tode. Sein Anwalt reicht den Antrag auf Begnadigung ein. Ob sie erteilt wird und ein Freispruch erfolgt, ist völlig offen.
Interessant, spannend und großartig zugleich: Bei Gott ist der Ausgang ganz und gar nicht offen. »Gnade« beschreibt die Vor-Entscheidung des liebenden Vaters für seine Kinder. Ohne Wenn und Aber: Wir sind seine geliebten Kinder, egal was wir getan oder nicht getan haben. Wir gehören zu ihm, unabhängig von dem, was wir geleistet haben und was wir von damals oder heute in Vorstellungsrunden oder Grußworten mehr oder weniger ehrlich als unser Lebenswerk auflisten bzw. von anderen lobend gesagt bekommen.
Gnade wird geschenkt – Gerechtigkeit kostet
Noch etwas: Gnade ist gewissermaßen das Gegenteil von »Gerechtigkeit«. Auf Schuld steht Strafe. Das ist gerecht, dem Gesetz gemäß. Und das ist ja das Besondere am Evangelium: »Die Strafe liegt auf ihm!« (Jes. 53,5) Dieses alttestamentliche Wort haben die ersten Christen auf Jesus bezogen. Er hat das Gesetz erfüllt, weil er sich der Strafe nicht entzogen hat. Er hat die Konsequenzen getragen – bis hin zur Todesstrafe am Kreuz.
Gnade ist völlig unverdient und umsonst. Ich kann und muss sie mir nicht erarbeiten und verdienen.
Gerechtigkeit dagegen ist teuer. Sie kostet Jesus das Leben. Er übernimmt die Verantwortung gegenüber dem Gesetz Gottes – für Sie und mich.
Wenn man die Bibel liest, ist es immer hilfreich zu fragen, wer das Gelesene gesagt, gemacht oder geschrieben hat. Oft erschließt sich erst durch solche Recherche die Kernaussage eines Bibelwortes. So auch hier in Matthäus 5,20.
Matthäus zitiert Jesus selbst. Bei allen Diskussionen um Details: Zumindest Theologen in reformatorischer Tradition sind sich einig. Die »bessere Gerechtigkeit ist nicht die mehr oder weniger hart erarbeitete Akzeptanz Gottes, nicht der verdiente und in einem gottgefälligen Lebensstil begründete Lohn meines Lebens und auch nicht die Anerkennung Gottes für ein frommes, humanes und verantwortungsvoll geführtes Dasein – sondern die »bessere Gerechtigkeit ist jene, die Jesus Christus für uns erlangt hat. Er schenkt sie uns, er spricht sie uns zu.
Es lohnt sich, eines der wichtigen Werke Dietrich Bonhoeffers zu diesem Thema zu lesen, das Buch »Nachfolge«. Dieser Mann war ja nicht nur ein Märtyrer, der im April 1945 wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Hitler hingerichtet wurde und auch nicht nur ein tiefsinniger Dichter, der uns diesen schönen Text »Von guten Mächten wunderbar umgeben« hinterlassen hat. Bonhoeffer war vor allem ein begnadeter Theologe. In »Nachfolge« beschreibt er die bessere Gerechtigkeit eindrücklich. Er spricht von einer »geschenkten Gerechtigkeit«. Er macht deutlich, dass Jesus das göttliche Gesetz völlig erfüllt hat, auch den letzten Buchstaben und das »kleinste Tüpfelchen« (Mt. 5,18).
Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten sich redlich bemüht, alles zu erfüllen, was Gott von ihnen forderte. Deshalb wurden sie damals als religiöse Führer und Vorbilder durchaus geachtet und akzeptiert.
Ohne Zweifel, viele religiöse Eiferer verdienten Respekt – wenn sie nicht dem Wahn verfallen wären, sie könnten es von sich aus schaffen, Gott gefällig zu sein. Wenn sie nicht letztlich meinten, es läge an ihnen selbst und ihren guten und frommen Werken, den Himmel zu erreichen ... und am Ende bräuchte man vielleicht noch ein bisschen Vergebung für den letzten Rest nicht geschaffter Schuldlosigkeit. Und wieso sollte Gott solche Vergebung vorenthalten, war man doch ehrlich bemüht gewesen und schon so weit gekommen? ... Und am Ende bräuchte man nur noch eine kleine Portion von Gottes Gnade, um den letzten Schritt ins Himmelreich auch noch zu schaffen. Wieso sollte ein gerechter Gott seine Hand zurückziehen, bin ich doch die Leiter schon so hoch geklettert und habe es bis dahin allein geschafft?
Der religiöse (oder humanistische) Eiferer will und muss es selbst schaffen. »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!«, so packt er sein Leben und seinen Glauben an und meint dabei noch, besonders christlich zu sein. Allerdings ist sein Motto kein Bibelvers, sondern ein Zitat des Humanisten Johann Wolfgang von Goethe, der diesen Satz in Faust zweiter Teil, Kapitel 63, einem Engel in den Mund legt. In der Bibel steht nichts davon.
Jesus selbst ist die »bessere Gerechtigkeit«
In Matthäus 5,20 ist von einer »besseren Gerechtigkeit« die Rede als jene, die von Selbsterlösung gekennzeichnet ist. Christen beziehen sich nicht auf die eigene, sondern auf eine fremde Gerechtigkeit. Dietrich Bonhoeffer schreibt: »Weil aber diese Gerechtigkeit nicht nur ein zu leistendes Gut, sondern die vollkommene und wahre persönliche Gottesgemeinschaft selbst ist, darum hat Jesus nicht nur die Gerechtigkeit, sondern er ist sie auch selbst.«
Jesus hat den Willen Gottes nicht nur ohne Einschränkungen konsequent gelebt, er war bereits vorher völlig eins mit seinem Vater. Er verkörpert nicht nur die Liebe, sondern auch die Gerechtigkeit Gottes. Und deshalb ist er jene geschenkte »bessere Gerechtigkeit« in Person.
Man kann es nicht radikal genug sagen: Nur durch Christus ist der Zugang zu Gott für uns Menschen offen. Er ist nicht Wegweiser, sondern Weg (Joh. 14,6), ist nicht Türöffner, sondern Tür (Joh. 10,9). Durch Christus ist das »Reich (Gottes) herbeigekommen.« (Mk. 1,15). »Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.« (Mt. 4,17). In dieser immer wiederkehrenden und von allen Evangelisten bezeugten Verkündigung sprach Jesus genau genommen von sich selbst.
Ich finde, »Himmel« ist eine wunderschöne biblische Metapher für das Reich Gottes und die Gemeinschaft mit dem Vater und Schöpfer allen Lebens. Was im Englischen »sky« genannt wird, ist damit natürlich nicht gemeint, sondern »heaven«. Der Himmel ist kein geografischer Ort, irgendwo »oben« im oder über dem Weltall. Himmel ist dort, wo Gott mit uns Gemeinschaft hat. Himmel ist dort, wo Jesus ist, weil er allein diese Gemeinschaft ermöglicht und schenkt. Und eben nur dort ist die »bessere Gerechtigkeit« zu haben.
Auch Dietrich Bonhoeffer verknüpft die »bessere Gerechtigkeit« und Jesus Christus miteinander. Folglich bekommt man sie nicht durch eigenes Tun und Machen, sondern nur durch die Beziehung mit Jesus – und die nennen wir »Glauben«.
Wir sind beim dritten »Soli« der Reformation gelandet. Allein aus Gnade, allein durch Christus – es wird sofort deutlich, dass dies mit meinem Handeln und Machen nichts zu tun hat. Ich kann und muss mir den Himmel nicht verdienen. Im Gegenteil: Wenn ich dies meine und behaupte, leugne ich die Güte meines liebenden Vaters und mache aus ihm einen christlichen Erzieher, der mich nur mit ewigem Leben belohnt, wenn ich mich anstrenge und seinem Willen entspreche. Und ich leugne Christus, der eigentlich nicht in diese Welt hätte kommen müssen, da wir Menschen den Weg zum Leben und die Tür zur Ewigkeit ja auch ohne ihn finden und nutzen könnten. Wozu braucht es noch Jesus Christus, wenn meine »Gerechtigkeit« völlig ausreicht, mich zu erlösen und wenn ich ohnehin für den letzten fehlenden Rest einen Anspruch auf Gottes Gnade habe?
Es ist also nicht nötig, immerzu auf meine Verdienste und auf mein Wirken und Machen zu verweisen, wie es jene Ruheständler damals taten. Ich muss mich nicht ständig beweisen und rechtfertigen, weder vor anderen noch vor mir selbst und schon gar nicht noch vor Gott. Zumindest die Anerkennung Gottes bekomme ich nicht durch das, was ich mache bzw. gemacht habe.
Also aus dem Glauben?
Das dritte reformatorische »Allein« behauptet ja genau dies. »So halte ich dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« (Rö. 3,28). Besonders Paulus hört nicht auf, für den Glauben als Weg zum Leben und zu Gott zu werben.
Allerdings: Ist »Glauben« nicht auch »gemacht«? Ich gehe und sitze, ich bastle und spiele, ich lerne und lehre, ich hoffe und glaube. Glauben ist doch auf jeden Fall etwas Aktives, etwas Gemachtes – oder?
Ja und nein.
»Auf dem Kirchentag treffen sich über hunderttausend evangelische Gläubige!« Weil man auf dem Kirchentag ist, ist man »gläubig«. So sehen es jedenfalls die Medienvertreter. Jemand geht zur Kirche, er oder sie betet und spendet für »Brot für die Welt«. Das sind Gläubige – oder? Man erkennt sie zumindest an ihrem Handeln, Machen und Tun. »Wenn du Christ bist, dann ...«, auch so hört man es gelegentlich. Christsein wird mit guten Taten verbunden, mit Nächstenliebe und Diakonie.
Aus meiner Sicht macht »gläubig« sich meistens an den Äußerungen fest. In manchen Kreisen geht es dabei nicht nur um Frömmigkeit, Moral und gottgefälliges Leben, sondern zusätzlich um die sprachlichen Äußerungen. Wer oft genug »Jesus« sagt, hat gewonnen. »Gott geb’s!« »Gott sei’s gedankt!« Oder die moderne Variante junger Menschen: »Jesus ist einfach geil, und unheimlich super, genau!« Auch christliche Milieus prägen ihre eigene Sprache und definieren jene, die sie beherrschen als »Gläubige«.
Glauben statt Gläubigkeit
Um solchen Missverständnissen ein wenig vorzubeugen, benutze ich statt »gläubig« lieber »glaubend«. Glaube ist aus meiner Sicht etwas völlig anderes als Gläubigkeit. Glaube wird nicht gemacht, sondern er ist ein Geschenk, er ereignet sich. Ohne Ostern und die Begegnung mit dem Auferstandenen konnte Maria nicht glauben (Joh. 20) und ohne das Wunder von Pfingsten wäre nie eine weltweite Bewegung christlicher Gemeinden entstanden (Apg. 2,37f.). Petrus kann sich noch so abmühen mit seiner Gläubigkeit – er schafft es nicht, auf dem Wasser zu gehen! (Mt. 14,22f.) und Paulus wirft es vom Pferd, als er mit Christus in Berührung kommt (Apg. 9). Diese Liste könnte ich jetzt weiterführen. Es ist eine Liste fast ohne Ende. Sie reicht durch die ganze Bibel, dann durch die Kirchengeschichte und bis zu uns im Hier und Heute. Immer wieder wird das Geschenk des Glaubens entdeckt und ausgepackt.
Zur Reformation wäre es ohne die Entdeckung des Glaubensgeschenkes nicht gekommen. Was hatte sich der junge Martin Luther gequält mit seiner »Gläubigkeit«! Das Kloster hatte ihn klein und hilflos werden lassen, ohnmächtig gegenüber dem großen Gott und den noch größeren Ansprüchen an ein frommes und gottgefälliges Leben. Einen »gnädigen Gott« konnte der Mönch nicht glauben. Wie sollte das gehen angesichts seiner, Martins ständigen Gebotsübertretungen?
Doch dann öffnete sich ihm die Schrift. Beim Studium des Römerbriefes und Nachdenken über die »bessere Gerechtigkeit« ereignete sich das Wunder. Martin Luther kam zum Glauben. Der Reformator ergriff Gottes ausgestreckte Hand und ließ sich aus den Fluten seiner Schaffenstheologie ziehen. »Die Pforten des Paradieses waren offen!«, schrieb er später. Plötzlich hatte er so etwas wie einen Schlüssel in der Hand. Und der schloss ihm nicht nur die Bibel und die Überlieferungen auf, sondern sogar die Tür zum Himmel. »Allein Jesus Christus!« Dies wandte er nun konsequent an: Auf die Bibel und die Überlieferungen der Kirche, auf sich selbst und sein Glaubensverständnis, auf seine Theologie und die Ordnungen und Strukturen von Kirche und Gemeinde.
Die reformatorischen Einsichten auf mein »Tun und Machen« anzuwenden, habe ich als Autor mir nicht nur für dieses Buch vorgenommen, sondern auch für mein Leben als Ganzes. Es ist wirklich eine vielversprechende Herausforderung. Immerhin hat sich unglaublich ausgewirkt, was mit jenem Bruder Martinus damals begann. Man kann also keineswegs sagen, dass der Verzicht auf die Machbarkeit des Christseins und des Glaubens ohne Folgen bleibt und nicht konkrete Gestalt gewinnt. Im Gegenteil!
Zurück zu unserer Frage: Ist Glauben machbar?
Nein, der Glaube ist nicht machbar. Er ist ein Geschenk Gottes. Wir empfangen ihn immer wieder neu durch Gottes Eingreifen. Soviel mag hier genug sein.
Und doch: Ja, das Geschenk des Glaubens will empfangen und »ausgepackt« werden. Folglich bin ich doch wieder beteiligt und sitze nicht tatenlos daneben. Insofern ist Glaube ein aktiver Vorgang, an dem ich mit Denken, Fühlen und Handeln beteiligt bin. In »Mit Denken« habe ich darauf ein ganzes Kapitel verwandt – hier nur soviel:
Für die Gemeinschaft mit Gott entscheide ich mich. Sie kommt nicht über mich und nimmt ungefragt von mir Besitz. Nein, Gott will gewollt sein, will meine Einwilligung und mein persönliches »Ja« zur Nachfolge.
Entscheidungen beginnen im Kopf, manchmal auch im »Herzen« – aber ohne handfeste Konkretionen bleiben sie wirkungslos. Ohne konkrete Umsetzung ist es, als hätten solche Entscheidungen niemals stattgefunden.
Sehr schön sichtbar wird dieser Zusammenhang fast täglich in den politischen Debatten. Klimapolitik in der Theorie ist nichts wert. Da gehen Jugendliche zu Recht auf die Straße. Nur konkretes Handeln zeigt Wirkung. Nur handfeste Gesetze und Investitionen belegen die Entscheidung der Politiker für den Klimaschutz.
Jetzt wird es in der Übertragung dieser Einsicht spannend: Wie sehen Konkretionen des Glaubens aus? Woran merkt man, dass sich jemand für Jesus Christus entschieden hat und »Allein durch Jesus«, »Allein aus Gnade« und »Allein aus Glauben« lebt?
Spätestens jetzt kommt die Bibel wieder ins Spiel. In ihr finden wir die Geschichte Gottes mit seinen Menschen und deren Interpretation durch viele verschiedene Zeugen. Das Neue Testament ist die einzig brauchbare Quelle, die wir zur Person Jesus Christus und über seine Lehre und Wirksamkeit haben. Somit kann die Bedeutung der biblischen Texte gar nicht groß genug eingeschätzt werden. Sie sind das Maß aller Dinge – gerade auch deshalb, weil wir darin die Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes finden und diese erlösenden und entlastenden »Soli« (»Allein«).
Es geht jetzt um den Zusammenhang Geschenk und Handeln. Es geht nicht um das Verständnis der Bibel als Gottes Wort und auch nicht darum, was wie und wann von wem aufgeschrieben wurde. Nein, jetzt suchen wir nach Orientierung bei der Frage nach dem Verhältnis von beschenkt werden und dem aktiven Annehmen dieses Geschenkes. Viele Theologen würden nun eine lange Diskussion oder wohl eher einen Vortrag zum Verhältnis von »Gesetz und Evangelium« beginnen. Ich will mir und Ihnen solch komplizierte (und manchmal auch wirkungslose) Darlegungen ersparen.
Eine Bibelstelle mag dieses Thema erhellen. Im Epheser-Brief hält Paulus Fürbitte für die Gemeinden (Eph. 3,14-21).
Er bittet Gott um »Kraft und Stärke am inwendigen Menschen.« Das also möge Gott schenken und bewirken (V. 16). Paulus appelliert nicht an die Epheser: »Habt Kraft ...« Nein, Paulus weiß, dass nur der Heilige Geist Lebenskräfte freisetzt.
Als nächstes bittet Paulus Gott um Glauben in Ephesus und um Herzen, die in der Liebe verwurzelt (V. 17). Auch da wendet er sich an Gott und nicht an die Epheser. »Glaubt endlich! Seid in Gott und in der Liebe verwurzelt!« Solche Imperative richtet Paulus nicht an die Christen aus den Gemeinden in und um Ephesus. Nein, für »Glauben« und »Verwurzelung in Gott« sind nicht wir Menschen zuständig, sondern Gott allein.
Weiter bittet Paulus Gott, den Ephesern Erkenntnis zu schenken, damit sie die Fülle Gottes wahrnehmen (V. 19). Auch dies erwartet der Apostel von Gott, nicht von den Ephesern.
Zuständigkeiten klären
Es ist spannend, die Bibel einmal daraufhin zu lesen, was Gott tut und was die Menschen zu tun aufgefordert sind. Würden wir dies etwas sensibler beachten, würden wir vermutlich einerseits sehr entlastet leben können – andererseits auch genauer wissen, was zu tun ist und wofür wir verantwortlich sind. Die Zuständigkeiten wären geklärt.
Ich nenne einmal ein paar Beispiele, beginnend mit denen aus dem Epheserbrief: Kraft, Glauben, Liebe, Erkenntnis – das alles sind Geschenke Gottes und dafür ist ER zuständig. Deshalb richtet sich die Fürbitte an Gott.
Doch schon gleich nach dieser Fürbitte wird Paulus sehr deutlich mit seinen Aufforderungen an die Gemeinde.
Liebe ist Geschenk. Sich vertragen, Demut, Sanftmut – das ist eure Aufgabe. Das nimmt Gott euch nicht ab (Eph. 4,2)!
Die Gemeinde ist ein Leib. Diese Einheit ist Gabe Gottes. Er allein hat sie gemacht. Und nun seid ihr dran: Einander annehmen, einig werden und mit verschiedenen Gaben zusammenarbeiten ist eure Sache! Das erbittet Paulus nicht von Gott, sondern da fordert er die Christen auf, die seinen Brief lesen (Eph. 4,3f.).
Immer wieder verläuft die Argumentation des Paulus nach diesem Muster: Gott schenkt (dies ist der Indikativ, die Feststellung. Dafür bittet Paulus Gott, bzw. dankt ihm) und nun lebt aus diesem Geschenk, gebraucht es und macht etwas daraus (dies ist dann der Imperativ, die Aufforderung an die Gemeinde). »Sei, was du bist!«, ist Schlüsselsatz des Umgangs mit Gottes Wirken.
Ihr seid »Kinder des Lichtes« (und müsst dies nicht erst werden, auch nicht durch besondere Erkenntnis). Nun verhaltet euch auch so. Jetzt gibt Paulus diverse Anweisungen für ein Leben mit Ausstrahlung (Eph. 5,1-21).
Du bist Kind Gottes (und musst es nicht erst werden!). Nun aber lebe auch so! (Paulus beschreibt ein solches Verhalten dann in den sog. »Haustafeln«, einer Sammlung ethischer Anweisungen an die Gemeinde z.B. Eph. 5,22f.).
Zu sortieren, was Gottes Sache ist – und was unsere, dabei hilft uns die Bibel und gibt gleichzeitig viele Beispiele.
Ich halte solche Unterscheidung für enorm wichtig, hilfreich und entlastend. In allem, was ich in diesem Buch benenne und worüber wir reden: Immer ist zu sortieren, wer wofür zuständig ist. So schützen wir uns nicht nur vor Überforderung und Resignation, sondern wir nehmen auch ernst, was wir glauben: Dass Gott handelt, macht und wirkt.
✪Gehen Sie doch einmal Ihre Lebensfelder durch und überlegen Sie, was Gottes Sache ist – und wo Sie als Person oder Gemeinde verantwortlich sind (bei Ihren Kindern, in der Partnerschaft, im Gemeindeaufbau, bei gesellschaftlichen Themen usw.).
Gelingt es Ihnen, einmal aufzulisten, was Gottes Sache ist (und wofür Sie dann beten) – und was Ihre und die Ihrer Gemeinschaft (und was Sie dann anpacken)? Ein Gespräch darüber kann richtig spannend werden.
»Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.« (Mt. 16,25)
Erschreckt Sie so ein Satz? Macht Ihnen ein derart konsequenter Ansatz Angst?
Ich könnte das verstehen. Sein Leben erhalten, wer wollte das nicht?! Was tun wir nicht alles, um es zu erhalten? Ärzte, Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Versicherungen ... die Liste von Institutionen, die uns dabei helfen sollen, ist lang. Lebenserhaltende Maßnahmen werden bis zum letzten Atemzug eingeleitet. Genau dies will ich: Mein Leben erhalten. Und das sollte mit der Bindung an Jesus Christus nun anders werden? Als Christ soll ich mein ganzes Leben aufgeben?
Hören wir genauer hin: Da ist nicht nur von Aufgeben die Rede, sondern auch von einer riesigen Chance, das Leben zu finden. Welches »Leben« meint Jesus? Ein Leben in der »besseren Gerechtigkeit«, eines ohne den Stress der Selbsterlösung, ohne ständige Rechtfertigung vor mir selbst, anderen und Gott, ohne dauerndes Beweisen meiner Existenzberechtigung – und auch ein Leben ohne Angst, es wieder zu verlieren, ohne Todesangst. Ewiges Leben.
Was Jesus mit »Leben« meint, wird deutlich, wenn wir auf ihn selbst schauen. Natürlich ist auch »normales« Leben gemeint. Jesus ist ganz normal aufgewachsen, hat eine Kindheit im Kreis von Geschwistern und Eltern durchlebt und einen Beruf erlernt. Dann ist er konsequent seiner Berufung gefolgt und drei Jahre lang als Prediger, Lehrer und Heiler unterwegs gewesen. Er hat sich für Menschen eingesetzt, wurde enorm wichtig für sie. Er hat in einer Gemeinschaft gelebt, Freunde gehabt und ganz sicher sein Leben auch genossen (seine Gegner haben ihn sogar als »Fresser und Weinsäufer« verhöhnt).
Nie hat sich Jesus allerdings an das Diesseits geklammert, als gehe das Leben irgendwann zu Ende. Auch als es eng wurde, am Passah in Jerusalem, hat er sein Leben nicht verteidigt, sondern sich dem gestellt, was kommen sollte.
Immer hat Jesus das Leben im Horizont der Auferstehung gesehen. Ewiges Leben. Das Himmelreich auf Erden. Vor allem wenn wir die tiefe Einheit Jesu mit Gott wahrnehmen, erschließt sich, was er unter »Leben« verstand. Es ist die unauflösliche Verbindung mit dem, der das Leben geschaffen hat und es selber ist, mit Gott, dem Schöpfer und Vater.