Hermann Brünjes
mit Denken
Eine geistlich-theologische Unterbrechung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
MitDenken – eine geistlich-theologische Unterbrechung
Vorwort
1. Immanuel – Gott mit uns
1.1. räumlich
1.2. zeitlich
1.3. persönlich
2. Gott braucht mich
2.1. Gott will nicht ohne uns
2.2. Sehnsucht ohne Ende
2.3. Gott gebraucht uns
2.4. Gemeinsam gebraucht
3. Ich brauche Gott
3.1. Ich brauche Gott … zum Denken
3.2. Ich brauche Gott … zum Danken
3.3. Ich brauche Gott … zum Wählen
3.4. Ich brauche Gott … zum Lieben
3.5. Ich brauche Gott ... zum Siegen
4. Jesus, der Christus
4.1. Jesus - Gott wird Mensch
4.2. Jesus – für dich gestorben
4.3. Jesus Christus – auferstanden von den Toten
4.4. Geistreich in Aktion
5. Geschenkter Glaube
5.1. Geschenk ohne Gegenleistung
5.2. Glauben – Paket mit Inhalt
5.3. Ich glaube – Bekenntnis und Vergewisserung
5.4. Gebet „Ich sage JA“
6. Alltagstauglich glauben
6.1. Die Trennung ist vorbei
6.2. Alltäglich beten
6.3. Inspiriert werden
6.4. Tun, was dran ist
6.5. Geerdet und gelassen bleiben
7. Berufen und gesandt
7.1. Begabt wie kein Zweiter
7.2. Berufung – einem Ruf folgen
7.3. Die Sendung nicht verpassen
7.4. Mission wird konkret
8. Aufstehen können
8.1. Scheitern hat viele Facetten
8.2. Aufstehen und neu beginnen
9. Der Blick nach vorn
9.1. Totaliter aliter …
9.2. Mit wenig Gepäck unterwegs
9.3. Bescheiden im Wissen
10. Ausblick
11. Abkürzungen
11. Der Autor und Dank
12. Weitere Bücher von Hermann Brünjes
Impressum neobooks
Gewidmet jenen Menschen,
mit denen ich über den Glauben gesprochen,
diskutiert und gestritten habe.
Manchmal sind wir gemeinsam
der Wahrheit ein bisschen näher gekommen.
Gewidmet auch meinen theologischen Lehrern
und geistlichen Vorbildern.
Ihr habt mich herausgefordert, meinen Geist bemüht
und dazu beigetragen, dass ich mit Herz und Kopf
Christ sein kann.
Danke.
»Unterbrich mich nicht!«
Genervt bremse ich eine Zwischenbemerkung aus. Sie stört meinen Gedankengang. Sie bringt mich aus dem Konzept. Sie unterbricht mich.
Verständlich. Niemand lässt sich gerne unterbrechen, ausbremsen oder irritieren. Wir machen lieber weiter wie bisher. Nicht nur in Monologen oder Vorträgen. Auch sonst. Unterbrechungen mögen wir nur, wenn sie Unangenehmes betreffen. Etwa eintönige Arbeit oder einen immer gleich anstrengenden Alltag. Da sehnen wir sie herbei. Die Kaffeepause, den Urlaub, die Abwechslung. Ansonsten sind Unterbrechungen eher störend. Verständlich!
Aber weder klug noch hilfreich.
Hilfreiche Unterbrechung
Auch und gerade wo sie zur Herausforderung werden, sind Unterbrechungen meines Lebens eine riesige Chance. Manchmal kommen sie unerwartet, vielleicht besonders krass. Mein Herz beginnt zu flackern und ich werde mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Mein Partner oder meine Partnerin zieht aus und es kommt zur Trennung. Meine Mutter stirbt und ich finde mich plötzlich in letzter Reihe vor. Ein Autounfall bringt meine Reise- und Finanzplanung durcheinander. Jede und jeder von uns hat solche Unterbrechungen bereits erlebt, diese und andere.
Wir haben sie meist als unangenehm empfunden. Viele davon erwiesen sich später allerdings als besondere Chance für einen Neuanfang mit neuen und anderen Möglichkeiten.
Die geistlich-theologische Unterbrechung in diesem Buch bietet auch so eine Chance. Sie kann natürlich nur bewusst und gewollt geschehen. Ich stelle mich den Zwischenrufen. Ich setze mich wichtigen Fragen aus. Ich nehme mir Zeit, unterbreche meinen Alltag und lasse mich auf andere, neue und vielleicht ungewohnte Gedanken ein.
mit Denken
Mit, nicht ohne Denken soll und wird dies geschehen, auch und gerade bei Themen des Glaubens. Was nicht selbstverständlich ist. Selber denken ist nicht jedermanns Sache.
Klar, Denken zeichnet uns Menschen aus, macht uns vermutlich erst zu dem, was wir sind. »Ich denke, also bin ich«, meinte René Descartes, Philosoph und Naturwissenschaftler. Wir alle denken. Wir denken nach und reflektieren das, was geschehen ist. Noch lieber, wenn vermutlich auch seltener, sind wir Vordenker für eine bessere Zukunft.
»Die Meisten denken hauptsächlich über das nach, was andere Menschen über sie denken«, so kommentierte der Schauspieler Sean Connery die seiner Meinung nach häufigsten Gedanken. Mag sein. Es gibt Leute, die reden erst und denken dann. Andere behalten ihre Gedanken lieber für sich. Manche sind immer schon um Gedankensprünge voraus, andere hinken gedanklich hinterher. Unbestritten ist, wir sind ein Volk der Denker.
Und doch ist Denken nicht jedermanns Sache. Jederfraus übrigens auch nicht. (Für alle, die Wert auf eine geschlechtergerechte Sprache legen – mir fällt das manchmal schwer, ich gebe mir dennoch alle Mühe.)
Leichter als selber zu denken, ist das Wiederholen der Gedanken anderer. »Überlass das Denken den Pferden, die haben größere Köpfe!« So hat mein Vater mich manchmal ermahnt, wenn er meinte, meine eigenen Gedanken taugten nichts oder täten jetzt nichts zur Sache. Die Folgen des Hörens auf »größere Köpfe« haben besonders seine Generation und die meiner Großeltern schmerzhaft zu spüren bekommen.
Noch weiter verbreitet ist heute vermutlich eher die Oberflächlichkeit des Denkens. Der Psychologe C.G. Jung meinte: »Denken ist schwer, darum urteilen die Meisten.«
Als Autor dieses Buches mit Denk-Anstößen gestehe ich ein wenig beschämt: Ich schaue gerne Filme, bei denen es nicht allzu viel zu denken gibt. Action und Thriller entspannen mich. Auch was meine Meinungsbildung angeht, bin ich vermutlich oft nicht überaus eifrig und gewissenhaft. Lieber als gewichtige Texte zu lesen, verfolge ich Diskussionen in Talkrunden, etwa bei »hart aber fair« mit Frank Plasberg. Manches von dem, was andere sagen, mache ich mir zu eigen. »Meine« Lebensweisheiten stammen nicht unbedingt von mir selbst. Die Prinzen mit ihrem »Es ist alles nur geklaut!« übertreiben wohl ein bisschen, aber die Richtung stimmt.
Es ist wie mit der Entdeckung neuer Länder. Die Zeiten eines Kolumbus sind vorbei. Die Landkarten haben keine weißen Flecken mehr. Trotzdem gibt es für mich als Reisenden immer wieder Neues zu entdecken. Ja, Kolumbus war schon vor mir in Amerika – aber jetzt bin auch ich endlich dort gewesen und konnte mir ein eigenes Bild machen.
Ja, es ist alles schon gedacht, gesagt und aufgeschrieben. Folglich ist die Zeit der wirklich »großen« Denker womöglich vorbei. Uns bleibt nur das Nach-Denken, die Wiederholung des bereits Erkannten. Dies jedoch bleibt spannend wie die Reise in ein mir noch unbekanntes Land.
Viele Zeitgenossen lehnen sich zurück und verzichten auf eigene Gedanken. »Das Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Dies ist der Grund, dass sich so Wenige damit beschäftigen.« So hat es Automobilhersteller Henry Ford behauptet. Unzählige kluge Gedanken zum »Denken« wurden formuliert. Ich denke über sie nach und stimme zu. Oder auch nicht, wie bei der Sache mit den »Pferden, die größere Köpfe haben.«
Was Sie hier lesen, will Sie zum Denken anregen. Da Sie damit nicht allein sind, werden Sie zu Mit-Denkern und machen sich gemeinsam mit Menschen aus allen Generationen und weltweit auf die abenteuerliche Reise der Gedanken. Am Ende denken Sie selbst! Gratuliere!
Noch einmal etwas spezieller zu diesem Buch: Gerade in Sachen Religion sind Nachdenken, Mitdenken und manchmal auch Vordenken wichtiger denn je. Ohne eigenes Denken wird Religion entweder zur Ideologie oder zur Droge. Manchmal kommt beides zusammen. Die Leute werden krank davon und zerstören sich selbst und andere. Wer beim Glauben seinen Verstand wie Mantel und Hut an der Garderobe abgibt, macht sich nicht nur unglaubwürdig, sondern auch hilflos und abhängig von anderen Meinungen und Menschen. Und schlimmer, er gefährdet sich selbst und andere.
Das Buchcover
Ein passendes Covermotiv zu finden hat gedauert. Nun sehen Sie einen Ausschnitt aus einem der neun Bilder vom »Schöpfungsweg«. Der 2008 im Alter von 64 Jahren verstorbene Künstler Werner Steinbrecher hat den biblischen Schöpfungsbericht kurz vor seinem Tod bebildert. Die Tafeln sind Teil eines Besinnungsweges in und um Ebstorf im Landkreis Uelzen. An der Entwicklung des Projektes war ich beteiligt und habe die vielen Diskussionen mit Werner genossen. Er war ein kluger Kopf. Die alten Texte von der Schöpfung einfach unreflektiert darzustellen, lag ihm fern. Glaube und Naturwissenschaft, Schöpfung und Evolution, Glauben und Denken – das war aus seiner Sicht nicht nur vereinbar, sondern es gehörte unbedingt zusammen. Folglich hat er eine Natur beschrieben, die durch Evolution geschaffen wurde und in der sich ein guter Gott vielfach abbildet, zuletzt auch durch uns Menschen. Der Kosmos als Raum- und Zeitgeschehen war für ihn weder Widerspruch noch Gegensatz zur Ewigkeit Gottes. Kleinste Kieselalgen oder die DNA des Menschen waren nicht Gegenargument zur Schöpfung, sondern belegten den Reichtum göttlicher Möglichkeiten.
Und was ganz besonders war: Werner Steinbrecher nahm in allen Bildern zur Schöpfung das Kreuz auf. Jesus Christus wird zum Schlüssel des Verstehens – auch für die Schöpfung, auch für Glauben und Denken.
Jesus denkt
Die geschnitzte Skulptur eines unbekannten Künstlers, ausgestellt im Kolumba-Museum des Erzbistums Köln, hat mich einst beeindruckt. »Christus in der Rast« zeigt Jesus in ungewohnter Position.
Jesus – nicht sterbend am Kreuz oder leidend den Balken tragend, nicht am Tisch mit seinen Jüngern oder heilend Hände auflegend, nicht mit Kindern oder selbst ein Kind in der Krippe und auch nicht als Auferstandener im Glanz seines Sieges. Nein, Jesus als nachdenklicher Typ, den Kopf auf Hand und Unterarm gestützt. Jesus denkend, sinnierend, mit fragendem Gesichtsausdruck. Einer, der nicht alles weiß. Einer, der auch zweifelt.
Ob er deshalb immer wieder in Wüste und Einsamkeit den Menschen entfloh, weil er dort in Ruhe denken wollte? Ob er sich deshalb mit Schriftgelehrten und Pharisäern herumstritt, weil sie in die falsche Richtung dachten und folglich auch lebten? Ob er deshalb den einen Geschichten erzählte, schlicht und tiefsinnig zugleich, und den anderen kurze Merksätze mitgab - damit seine Gegenüber selber zu Denken begannen? Damit sie mit-dachten?
»Nein, er wollte ihr Leben, ihr Handeln verändern!«, höre ich mich selbst widersprechen. Der Glaube ist keine Gesinnung, kein Gedankengebäude, keine Weltanschauung. Er zielt auf Nachfolge Jesu, auf ein Leben mit Konsequenzen – und natürlich habe ich Recht damit.
Wie Denken und Handeln zusammengehören, wird sich im Folgenden noch zeigen.
Der Autor dieses Buches steht vor der Herausforderung, sein Leben neu anzupacken. Über vierzig Jahre Dienst – und nun Rentner. Das gibt zu denken. Ich habe ein Land vor mir, das ich noch nie betreten habe. Mein Berufsleben ist vorbei. Was kommt jetzt? Ich ziehe Bilanz und weiß doch, es kann nur eine Zwischenbilanz sein, eine Unterbrechung. Meine Lebensreise geht weiter, ist nicht vorbei, noch nicht. Wie viele Jahre ich noch habe, weiß niemand. Auf jeden Fall werde ich nun etwas langsamer unterwegs sein. Ich muss mich sortieren, herausfinden, was dran ist, was ich will und was mir wichtig ist.
Worauf es ankommt
Was ist mir bisher wichtig geworden? Worauf kommt es an? Was macht unser aller Leben aus und was ist mein spezieller Anteil daran? Worauf ruht mein Glaube und wie wird er durch mich und uns gemeinsam für andere relevant?
Ob Jesus auch über diese Fragen nachgedacht – und am Ende womöglich Antworten darauf gefunden hat? Dann will ich unbedingt mitdenken.
Ich freue mich, wenn Sie sich gemeinsam mit mir diesen aus meiner Sicht vor allem geistlich-theologischen Fragen stellen und sich auf eine Unterbrechung Ihres Alltags einlassen.
Wenn Sie mögen, können Sie für sich allein oder zusammen mit anderen (z.B. im Haus- oder Gesprächskreis) auch die mit ✪Sternchen gekennzeichneten Anregungen aufnehmen. Wenn ein Gebet so markiert ist – beten Sie gerne mit.
✪Gleich zu Beginn können Sie ja einmal für sich selbst, aber auch gemeinsam mit anderen überlegen, welche Rolle das Denken in Ihrem Leben – und auch im Glauben spielt.
Im Rahmen einer klösterlichen Einkehr habe ich einmal eine interessante Übung erlebt. Wir sollten uns wichtige Bibelworte aufschreiben, mindestens zehn. Dann wurden wir gebeten, die für uns jeweils weniger Wichtigen zu streichen. Das war ganz schön schwer, wurde so doch viel Wichtiges gestrichen! Am Ende sollten wir einen kurzen Satz oder sogar nur ein Wort behalten, in dem sich am Besten bündelt, was der Glaube uns bedeutet.
✪Das können Sie auch für sich selbst ausprobieren ... und sich anschließend mit anderen darüber austauschen. Welcher Satz, welches Wort erschließt für Sie besonders gut »Worauf es ankommt«?
Bei mir blieb nur dieses eine Wort übrig: Immanuel
(Jes. 7,14 und Mt. 1,23). In diesem Jesusnamen konzentrierte sich für mich, worum es im Glauben geht.
Die Bedeutung von »Immanuel« ist »Gott mit uns«. Gott mit uns – das ist für mich »Evangelium«, frohe Botschaft pur. Dass Gott mit uns ist, darauf kommt es wirklich an!
Diese Einsicht wird schnell konkret, wenn wir jeweils auch das Gegenteil in Blick nehmen. Nur wenn Gott mit uns ist, kann unser und mein Christsein gelingen – wenn nicht, scheitern wir.
Zunächst denke ich da ganz räumlich. Wenn zwei sich nicht begegnen, kommt eine erste Beziehung gar nicht erst zustande. Wenn zwei sich kennen, jedoch getrennt voneinander leben, gestaltet sich eine bereits bestehende Beziehung schwieriger. Jene, die einmal länger vom Partner getrennt waren, wissen wovon ich rede. Auch wenn es heute technische Mittel gibt, räumliche Entfernungen zu überbrücken, belastet eine längere Abwesenheit das immer auch auf räumliche Nähe angewiesene Miteinander. Skype oder Facetime, Whatsapp und Telefon mögen ein wenig hinauszögern, dass die Distanz wächst und Nähe und Gegenwart vorgaukeln – aber auf Dauer braucht eine Beziehung den direkten Kontakt. Es ist eben nicht dasselbe, meine Frau vor mir am Küchentisch zu sehen oder auf dem Display meines Handys. Es ist total anders, ihre Stimme unmittelbar zu hören und allemal sie zu berühren und ihren Duft einzuatmen, als wenn sie als Video über meinen Computer flimmert.
Auf Gott bezogen geht es mir ähnlich. Wenn Gott irgendwo fern von mir existiert, mag ich die Frage »Gibt es ihn?« mit »Ja« beantworten – allerdings wäre er dann für mich nicht relevant und wichtig. Mit anderen über die Existenz eines Gottes zu diskutieren, finde ich zwar interessant und stelle mich diesem Gespräch durchaus gern. Sehr schnell werde ich allerdings fragen, was die Existenz eines fernen Gottes bedeutet. Was geht mich ein Gott an, der weit weg ist? Irgendwo im Himmel. Jenseits meiner von Zeit und Raum bestimmten Dimension. Über mir, wo immer das sein mag. Der Absolute. Die Transzendenz. Der Ewige. Der Gott, den niemand kennt – oder den eben alle Religionen gleichermaßen verehren. Der ferne Gott.
Ich muss schlicht sagen: Mit einem solchen Gott kann ich nichts anfangen. Er bleibt mir nicht nur fremd, er hat auch keine Bedeutung für mein Leben. Er interessiert mich nicht wirklich.
Ob Gott deshalb Mensch geworden ist? Ob er deshalb als Mensch in die Geschichte der Menschheit gekommen ist? Um deutlich zu machen: Ich bin mit euch! Ich wohne nicht auf einer rosaroten Wolke, sondern will bei euch sein. Ich bin nicht fern von euch, sondern komme euch nahe. Ich residiere nicht in einem euch fremden Raum oder in der Ewigkeit, sondern ich stelle mich in Raum und Zeit an eure Seite. Ich gehe mit. Ich leide mit. Ich lache mit. Ich lebe mit.
Jesus Christus ist der »Immanuel«, Gott mit uns. Er kommt in unsere Räume: Auf die Erde, historisch, ethnologisch, psycho-, bio- und sonstwie -logisch unter uns. Er teilt Essen und Lebensweise, leidet, zweifelt, stirbt, geht durch die Hölle und ins Grab. Keinen Ort, keinen Raum, den er meidet. Gott ist auch dort, wo ich ihn nicht vermute, nicht nur in der Kirche, auch in der Kneipe, nicht nur bei den Feiernden, auch im Krankenhaus, ja sogar auf dem Friedhof ...
Diese ganz konkrete Meditation der Räume, in denen ich lebe, hilft mir weiter. Es gibt keine gottlosen Räume mehr! Nirgends. Nirgendwo bin ich und nirgendwo sind wir Gott los.
Lasst es mich einmal so sagen: Ohne Jesus bliebe Gott für mich fern, unnahbar, jenseits meiner und unserer Welt. Aber mit Jesus wird Gott zum »Immanuel«. Gott mit uns. Wir werden noch über Jesus Christus reden – aber soviel ist schon mal klar für mich: Gott ist räumlich nicht fern von mir. Er ist hier, jetzt und heute in meiner Nähe. Er ist mit mir. Da wo ich mich gerade aufhalte, ob ich diese Zeilen schreibe oder lese, da ist Gott.
Ganz bewusst schreibe ich dies im Präsens, in der Gegenwart. Gott betritt in Jesus Christus nicht nur unseren Raum, sondern auch unsere Zeit.
Immer wieder sprechen biblische Überlieferungen von »jetzt« und »heute«. Was in den alten Schriften steht, geschieht jetzt. Was die Alten erlebten, passiert heute. Nichts anderes bedeutet Auferstehung Jesu: Es geschieht hier und jetzt, dass Gott mit uns ist.
Und wieder bedeutet Immanuel für mich auch Abgrenzung, diesmal gegenüber jenen, die Gottes Handeln zwar für möglich halten, aber nicht jetzt und heute. Dazu gehören jene, für die ein Gott zwar die Schöpfung angestoßen haben könnte, aber nun läuft alles von allein nach den Naturgesetzen. Oder es läuft nur, so lange wir Menschen alles richtig machen. Mit Gottes »jetzt« rechnen weder die einen noch die anderen.
Wenn es aber stimmt, dass Gott mit uns ist, dann ist der Schöpfer nicht in Ruhestand gegangen, sondern bleibt aktiv. Die Gegenwart ist Gottes Zeitformat. Und die Zukunft unseres blauen Planeten hängt deshalb nicht letztlich von uns ab – wenngleich wir ohne Zweifel große Verantwortung tragen. Aber Gott behält jetzt, heute und morgen seine schöpferischen und erhaltenden »Finger im Spiel«.
Auch solchen, die jene Zeit im Neuen Testament als so eine Art Glaubensparadies ansehen, weil ja alles noch so echt war, die Gegenwart dagegen als »gottlos« beschreiben, widerspreche ich. Und jenen, die den Zeiten nachtrauern, in der das Volk noch zur Kirche kam und für die der Glaube »früher« noch funktionierte, weil die Kinder ihn von den Eltern übernahmen, die aber für heute und allemal morgen nur Zerbruch sehen – auch euch widerspreche ich. Und natürlich verstehe ich jene, die von tollen geistlichen Aufbrüchen schwärmen, damals im Pfingstcamp, damals auf den Freizeiten, damals mit den missionarischen Bewegungen. Es war ja wirklich toll – und heute erscheinen diese Zeiten oft ähnlich vergangen wie die des Neuen Testamentes. Aber auch Ihr täuscht euch: Gott ist heute ebenfalls in Aktion. Er ist und bleibt ein Heute-Gott.
Immanuel bedeutet, Gott ist da. Räumlich und zeitlich. In heutigen genauso wie in den neutestamentlichen Gemeinden.
»Genauso« meint hier natürlich die Verlässlichkeit seiner Gegenwart, nicht die Art und Weise. Gott kann sich anpassen. An den Raum und an die Zeit. Er singt andere Lieder, er kleidet sich anders und reitet nicht mehr auf einem Esel. Ja, er geht tatsächlich mit der Zeit. Nur so kann ich »Gott mit uns« verstehen. Er begegnet mir zeitgemäß und im Hier und Jetzt. Er ist heute anders, aber nicht weniger da als damals. Er ist mit uns.
Und noch ein Drittes. Sie haben ganz Recht: Der Vergleich mit der Nähe zum Partner von vorhin hinkt. Jedenfalls teilweise. Die meisten Vergleiche haben ja einen speziellen Vergleichspunkt und werden schief, wenn sie darüber hinaus angewendet werden. Räumliche Distanz erschwert eine Beziehung. Dies trifft auch bei Gott zu. Auch die zeitliche Komponente stimmt. Je länger ich getrennt bin, desto schwieriger.
Allerdings kommt es natürlich auf die Voraussetzung an. Wenn mir jemand fern ist, der wie meine Frau bereits mit mir verbunden war und ist, dann gestaltet sich die Distanz anders, als wenn wir noch nie etwas miteinander zu tun hatten.
Eine Distanz zwischen Liebenden fühlt sich völlig anders an, als ein räumlicher Abstand zwischen sich völlig unbekannten Menschen.
Es geht also bei der Frage nach Nähe und Distanz nicht nur um die räumliche Entfernung und es geht auch nicht nur um die Zeitdauer einer Distanz. Es geht natürlich auch um das persönliche Verhältnis zueinander, vielleicht sogar ganz besonders.
»Der steht mir nahe!« Wenn ich dies sage, ist von räumlicher oder zeitlicher Entfernung nicht die Rede. Da geht es vor allem um die persönliche Nähe, die Bedeutung füreinander, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die enge Beziehung zueinander.
Immanuel. Gott mit mir. Das ist für mich vor allem eine Aussage meiner persönlichen Nähe zu Gott und seiner Nähe zu mir. Gott steht mir nahe. Wie ein geliebter Mensch, wie mein Partner, wie meine Eltern, wie meine Kinder. Gott steht mir nahe – vielleicht wie niemand sonst.
Ich weiß, das kann nicht jeder sagen. Ich schon. Gott steht mir nahe. Auch wenn ich nicht ständig an ihn denke. Auch wenn ich ihn nicht höre oder spüre. Auch wenn ich mich nicht immerzu nach ihm sehne und von ihm träume. Er ist doch irgendwie ein Teil von mir.
Das war ja nicht immer so. Erst als ich neunzehn war, bin ich zum Glauben gekommen. Vorher waren da weder Einsicht noch Gefühl Gott gegenüber. Beides kam erst mit dem Ereignis des Glaubens. Ich habe weder mit Gott geredet noch nach ihm gefragt, geschweige denn auf ihn gehört. Auch das kam erst danach. Ja, ich war als »evangelisch« registriert und auch konfirmiert. Aber ich hätte nie gesagt, er stehe mir nahe. Im Gegenteil, er war mir völlig fremd, weit weg wie irgendein Mensch im fernen China (oder jener legendäre chinesische »Sack Reis«). Eine persönliche Beziehung fehlte völlig.
Ihr Mitarbeitenden in der Kirche, warum tun Sie so, als seien alle Menschen, mit denen Sie zu tun haben, auch Christen? »Liebe Gemeinde«, »Liebe Mitchristen«, wo es passt – okay! Aber oft sitzen dort doch Leute, die Gott niemals als nahestehend bezeichnen würden und denen der Glaube nicht nur mal so zwischendurch, sondern völlig fremd ist. Warum vereinnahmen Sie diese Leute ungefragt?
Das Neue Testament spricht immer wieder von »metanoia«, Umkehr. Im Leben der Menschen ereignet sich in der Begegnung mit dem Evangelium und den Christen so etwas wie bei den Jüngern und Jüngerinnen zu Ostern. Zuerst sind da nur Zweifel, Fragen und Unglaube. Dann aber begegnet Gott seinen Menschen. Vertrauen und Glaube ereignen sich. Sie werden nicht aus religiösen Seelen oder Gefühlen, sondern allein aus Gottes Gegenwart geboren. »Maria!« Erst als der Auferstandene sie anredet, erkennt Maria Jesus und dessen unmittelbare Nähe (Joh. 20,16). Vor dieser Anrede sieht sie nur den Gärtner. »Offenbarung« nennen Theologen diesen Vorgang. Gott selbst zeigt sich. Die Bibel spricht vom »Heiligen Geist« – und damit ist nichts anderes gemeint als Immanuel. Gott ist nahe!
Warum also kann ich sagen: »Gott steht mir nahe!?«
Weil Gott selbst sich als nah erwiesen hat. Nicht weil ich ihm so nahe gekommen bin – sondern weil er zu mir gekommen ist. Und das immer und immer wieder. Gott sucht die Nähe zu mir sogar dann noch, wenn ich ihm zu entwischen drohe, wenn ich weglaufe, mich verstecke, nicht auf ihn höre, ihn verleugne ... Gott hört nicht auf, mir nahe zu sein.
Eigentlich geht es im Glauben erst zweitrangig um meine persönliche Beziehung zu Gott. Es geht vor allem um seine persönliche Beziehung zu mir. Ich stehe ihm nahe. Ich habe einen Platz in seinem Herzen. Er will ohne mich nicht sein, er hält es ohne mich nicht aus.
Immanuel – Gott ist nahe
Das ist zuerst eine Aussage über das Wesen Gottes und seine Haltung zu uns Menschen. Gott sucht die persönliche Nähe zu uns. Er begegnet uns in Jesus Christus nicht als Energiefeld, als Glaubensbekenntnis oder Wertekatalog, sondern als lebendige Person. Er hat Sehnsucht nach uns, sucht meine und unsere Nähe, will mit uns reden, uns spüren, uns sehen und »mit uns gehen«. Deshalb reden wir ja von der »Liebe Gottes«. Sie ist kein Prinzip und auch keine moralische Instanz menschlicher Ethik – sie ist Leidenschaft für uns und Ausdruck der Sehnsucht Gottes zu seinen Menschen.
Ich habe verstanden. Ich kann nicht davon ausgehen, dass sich die Menschen um mich herum Gott nahe fühlen. Wenn nicht jemand so etwas wie eine eigene Ostererfahrung gemacht hat, kann er oder sie das gar nicht.
Aber ich kann davon ausgehen, dass Gott selbst die Nähe zu jedem und jeder sucht. Er sehnt sich nach seinen Menschen und danach, dass sie seine Nähe wahrnehmen, daraus leben und sie erwidern.
✪ Was ist Ihnen besonders wichtig? Ein Austausch mit anderen bereichert – und da zeichnen Sie meinen Einstieg gerne mit ein.
Ich bin Menschen begegnet, die meinten: »Ich brauche keinen Gott!« Oder sie sagten: »Wozu braucht man Gott? Es geht doch auch ohne!« Manchmal waren solche Aussagen vermutlich vorgeschoben, um sich ein Gespräch oder das Nachdenken über Gott vom Hals zu halten. Manchmal waren sie aber auch sehr ehrlich gemeint. »Wozu brauche ich Gott?«
✪Bevor Sie weiterlesen, lohnt sich eigenes Nachdenken. Was antworten Sie? Ein Austausch mit anderen kann Sie auch hier inspirieren.
In den meisten Gesprächen habe ich versucht, im Sinne der nächsten Kapitel auf diese Frage mit Argumenten zu antworten – allerdings mit mehr oder weniger »Erfolg«.
Nach dem Nutzen fragen
Meiner Meinung nach ist die Frage nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten: Was habe ich von Gott und vom christlichen Glauben? Und was habe ich davon, wenn ich über all das nachdenke?
»Was habe ich davon?« So zu fragen werden wir von klein auf trainiert: Wenn ich etwas kaufe, wenn ich mich einem Verein anschließe, wenn ich eine Veranstaltung besuche, wenn ich wählen gehe, wenn ich einen Beruf ergreife oder auch nur einen Job annehme ... immer wieder muss und werde ich fragen: »Was habe ich davon?«
Warum also sollte das bei Gott anders sein? Die Frage nach dem, was etwas bringt, ist also unbedingt ernst zu nehmen.
Eine berechtigte Frage
Mich wundert nicht, dass die Leute sich von der Kirche und uns Christen abwenden, wenn uns diese Frage in Blick auf Gott und den Glauben sprachlos macht, wir sie nicht zulassen und keine Antworten geben. Ich bin überzeugt: Die Leute wollen, dass die Kirche nicht nur christliche Werte vermittelt, politisch mitmischt oder anspruchsvolle Kultur und Bildung bietet – vor allem anderen erwarten sie zu Recht, dass die Kirche ihnen Antwort auf die Frage gibt, was der Glaube bringt, was Gott zu bieten hat und warum man unbedingt Christ werden sollte. Auch unsere Gottesdienste gehen oft auf diese grundsätzliche Frage nicht ein. Sie werden so zu Insiderveranstaltungen für jene, die alle Antworten bereits zu kennen meinen und deshalb schon lange keine Fragen mehr stellen.
Die Antworten von »früher« (Anmerkung: Wann war das eigentlich? Zu Zeiten Jesu? Während der Reformationszeit? Nach dem Krieg? Als die Volkskirche noch Kirche des Volkes war?) reichen heute selten aus, um neugierig auf den Glauben zu machen und Menschen im positiven Sinn zu locken, sich Gott zu öffnen. Schon wenige Beispiele belegen, wie unsere »klassischen« Antworten auf die Frage, was der Glaube bringt, heute nicht mehr greifen:
»Jesus vergibt Sünden.« Auch wenn Schuld und Sünde durchaus ein Thema bleiben, es treibt nur wenige um. Was richtig und falsch ist, wird rein subjektiv entschieden. Jeder muss das selbst entscheiden – und man kann ja nichts dafür, wenn man »etwas falsch macht« (Interessant: Schuld und Fehler machen wird oft gleich gesetzt. Sollte Jesus zu der Ehebrecherin gesagt haben: »Geh und mache keine Fehler mehr!«?) Und »Schuld«, wer definiert das schon in einer Zeit und Gesellschaft, wo das Subjekt, also der Einzelne, in den Mittelpunkt gestellt wird und »jeder nach seiner Facon selig wird«?
Hatte Martin Luther noch die existenzielle Frage »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« So fragen wir vielleicht »Wie kriege ich einen gnädigen Lehrer, Chef oder Nachbarn?«. Aber Gott als »Richter«, als »letzte Instanz«, das ist bei vielen absolut nicht im Blick. Folglich ist auch das Angebot »Jesus vergibt Sünden« für viele nicht attraktiv.
Erst die intensive Auseinandersetzung, was mit »Sünde« eigentlich gemeint ist, kann zur Klärung beitragen, die einfache Auskunft, dass Gott Sünden vergibt, wird nicht als Gewinn abgebucht.
Ähnlich geht es mit dem »in den Himmel kommen« (und eben nicht in die Hölle), für Menschen in Luthers Zeiten noch äußerst attraktiver Ertrag des Glaubens. Heute sind wir ganz und gar auf unser Diesseits fixiert und definieren Ertrag aus dem, was wir hier und heute davon haben. Wenn uns da jemand vom Himmel erzählt und davon, dass nach dem Tod noch etwas auf uns zukommt, dann »vertröstet« er entweder aufs Jenseits, oder er macht uns Angst vor Sterben und Tod.
»Du wirst geliebt!« »Du wirst Teil einer großen Gemeinschaft!« »Du bekommst einen Sinn im Leben!« Wenn diese Antworten nicht näher erläutert werden, laden sie nicht unbedingt zum Glauben ein. Liebe kann man nicht behaupten, sie muss erlebt werden – und wenn immer mehr Menschen familien-, eltern- oder partnerlos leben, wird Liebe immer mehr zum leeren Begriff. Und wenn die Kirche sich als Gemeinschaft der Glaubenden versteht, dann muss man ihr das auch abspüren. Nur die Begrüßung als »liebe Gemeinde« und das vereinnahmende »Wir sind hier zusammen, um ....«, reichen da nicht aus. Und »Sinn« ist für viele eben das, was etwas bringt. Also bleibe ich mit Gott als Sinnangebot, ohne zu sagen, was er inhaltlich bringt, die Antwort schuldig.
Fazit: Die »alten« Antworten auf die Frage nach dem, was man von Gott und dem Glauben hat, bleiben oft genug leere Hülsen und schrecken eher ab, als dass sie Menschen, die in Distanz zu Gott leben, anlocken.
Aber sollen wir deshalb aufhören, Antworten zu suchen?
Hoffentlich nicht! Theologie, Gemeindearbeit und allemal auch die Predigt haben keine andere Aufgabe als diese: Den Menschen zu helfen, auf die Frage nach Gott und dem Glauben Antworten zu finden. Und gemeint sind Antworten, die sie auch verstehen und die sie für das Evangelium und Gottes Wirken öffnen. Mit den nächsten Überlegungen möchte ich ein wenig dazu beitragen.
Eine irreführende Frage
Vorweg noch ein Gedanke für euch Fragende.
»Was habe ich von Gott?« So berechtigt die Frage ist, so irreführend kann sie auch sein. Sie kann sich ins Gegenteil verkehren: Ich scheine nach Gott zu fragen, aber in Wahrheit frage ich nach dem, was mir nützt. Ich will meinem Leben etwas Gutes hinzufügen, ich will mich bereichern: Will einen Halt, und wenn es nur der berühmte Strohhalm ist; oder ich will eine neue Qualität für mein Leben, vielleicht eine religiöse; oder ich suche einen Helfer und Heiler; oder ich will geliebt werden und endlich einen Vater, eine Mutter, Schwestern und Brüder haben ... Vermutlich ahnen Sie, worauf ich hinaus will?
Wer nach Gott fragt, aber einen persönlichen Diener meint, einen Qualitätsoptimierer, einen Wunderdoktor oder Wünscheerfüller – der fragt nicht wirklich nach Gott.
Gott als Additiv meines Lebens, als ein gewisses Plus würde von mir auf die Stufe eines neuen schicken Autos, eines Lottogewinns, einer tollen Urlaubsreise usw. gestellt werden.
Wenn ich etwas von Gott haben will, dann mache ich letztlich mich selbst zum Herrn über Gott: Ich entscheide, wann und was ich von ihm habe. Ich nutze ihn für meine Zwecke.
Vor vielen Jahren habe ich mit großer Begeisterung Erich Fromms »Haben und Sein« gelesen. Ich finde, der Therapeut arbeitet unsere Haben-Haltung wirklich prima heraus und ertappte auch mich selbst als darin oftmals gefangen.
Auch wenn es sich fromm anhört: »Ich habe meinen Gott!« und wenn ich eine lange Liste aufzählen kann, was er mir alles schenkt und gibt. Am Ende könnte sich herausstellen, dass ich Gott für meine Zwecke instrumentalisiert habe. Die Frage nach dem, was ich vom Glauben an Gott habe, hat sich dann als völliger Irrweg erwiesen. Ich habe gar nicht Gott gesucht, sondern meinen eigenen Vorteil und somit mich selbst.
Krass wird es dann, wenn mir »Gott nichts bringt«. Dann wende ich mich ab und suche mir andere Hilfsmittel, die mir mehr bringen. Und dann kommt nach Jesus eben ein bisschen Buddhismus, dann ein Schuss Esoterik und zum Schluss vielleicht die große Materialismus- und Konsumsause oder »Ist ja doch alles umsonst« - Resignation.
In Indien habe ich mehrfach Hindus mit mehreren Gottheiten auf dem Regal oder bei Taxifahrern auf dem Armaturenbrett getroffen. Einer sagte einmal: »Ich bete jeweils zu dem, der mir Erfolg verschafft!« Na toll. Gott, mein Instrument zum glücklichen und erfolgreichen Leben.
Ich muss ja wohl nicht lange erklären, dass »Gott« der Name für jenes Gegenüber ist, der alles geschaffen hat, für den Ursprung des Seins, für den Allmächtigen, die letzte Instanz, den Herrn über den Kosmos ... und Gott zu instrumentalisieren entspricht weder seiner Größe und Unverfügbarkeit noch ist es überhaupt möglich.
Und noch einen zweiten Gedanken zu der Frage, die einerseits berechtigt ist, andererseits auch völlig daneben liegen kann.
»Was habe ich von meiner Frau?« Ihr spürt, dass auch diese Frage verständlich, aber extrem irreführend sein kann. Hier wird meine Frau instrumentalisiert. Was bei Sachen oder beim Beruf oder bei den Wahlen noch angebracht ist, verliert bei Beziehungen seine Berechtigung. Wenn ich da immerzu nach dem »Ertrag« frage, dann wird es nicht nur anstrengend, sondern dann wird möglicherweise sogar die Beziehung zerstört oder zumindest belastet.
Ich bin Vater. Was habe ich von meinen Kindern? Sie rufen nicht an. Sie besuchen mich nicht. Sie unterstützen mich nicht. Sie fragen nicht nach mir – wenn ich solche Vorhaltungen mache, geht der Schuss mit Sicherheit nach hinten los. Meine Kinder habe dann keine Lust mehr, mit mir zusammen zu sein. Und wenn sie, nun erwachsen, mich nur unter der Frage »Was bringt uns der Kontakt zu unserem Vater?« abbuchen würden, ginge es mir ebenso.
Ja, wenn Gott eine Ideologie wäre, müsste ich fragen, was sie uns bringt. Wenn er ein Katalog an Werten oder ein Regelwerk wäre, dann muss die Frage nach dem aktuellen Ertrag hier und heute unbedingt gestellt werden. Wenn er eine wie eine Partei wählbare Institution wäre, auch dann entscheidet die Frage, was ich von meiner Mitgliedschaft oder der Wahl dieser Partei habe. Aber wenn Gott eine Person ist?
Wenn Gott eine Person ist, bleibt die Frage, was er mir bringt, fragwürdig. Bei Personen nach Ertrag und Nutzen zu fragen, mag im Arbeitsleben gang und gäbe sein, im persönlichen Umfeld ist es jedoch völlig daneben.
Und wenn er oder sie mir nichts mehr bringt? Dann lasse ich ihn oder sie fallen? Dann trenne ich mich? Dann taugt er oder sie nichts?
Ihr merkt schon: So sehr ich meine, wir brauchen Antworten auf die Frage nach dem, was Gott bringt, so sehr halte ich doch diese Antworten für zweitrangig.
Vater und Mutter, wenn es gut geht, lieben auch ohne Gewinn. Ehepartner lieben (hoffentlich!) ohne Bedingungen zu stellen. Kinder lieben ihre Eltern einfach nur so, auch wenn sie als Erwachsene kein Geld mehr bekommen. Immer wieder wird eine Beziehung begonnen und durchgehalten, weil sich etwas ereignet, was nicht im Bereich »Ertrag« und »Nutzen« messbar ist. Liebe ist nicht mess- und zählbar. Im Gegenteil, sobald du sie messen und vergleichen willst, zerrinnt sie. Liebe ereignet sich wie ein Wunder – sobald du sie machen und produzieren willst, entzieht sie sich. Liebe ist zweckfrei – sobald man sie instrumentalisiert, verschwindet sie. Liebe fragt nach Vertrauen und Treue – sobald alles automatisch laufen soll und selbstverständlich wird, vergeht sie.
Ja – ich frage tatsächlich, was Gott mir, dir und uns gemeinsam bringt. Gerade Menschen, die nach Gott fragen, brauchen ehrliche Antworten auf eben diese Frage.
Nein – ich halte die Frage nach dem, was Gott bringt, für zweitrangig und nicht entscheidend für den christlichen Glauben. Gerade Menschen, die in einer Beziehung zu Gott leben, kommen mit anderen Fragen erheblich weiter ... allemal wenn sie jene Antworten finden, die sich erst und nur durch die Liebesbeziehung zu Gott wundersam ergeben.
Die Jünger Jesu wurden von ihm aus sehr unterschiedlichen Situationen herausgerufen. Blättern Sie doch einmal im Lukasevangelium und lesen Sie die Passagen, wo es um die Jünger geht. Jesus ruft sie – und sie folgen.
Die Geschichte von Petrus (Lk. 5,1–11) gibt exemplarisch wieder, was in allen anderen Berufungen ebenfalls enthalten ist: Gott braucht seine Leute! Jesus kommt unerwartet auf den von einer erfolglosen Nacht gezeichneten Fischer zu. Und er schleppt ihn nicht zur Versammlung der Gemeinde. Er kritisiert nicht seinen Lebensstil oder belehrt ihn mit Passagen aus der Bergpredigt. Jesus listet auch nicht auf, wieso Petrus ihn oder Gott braucht und versucht nicht, ihn zu »bekehren«. Nein, Jesus macht nur dies: »Petrus, ich brauche dich mit deinem Boot! Hilf mir!«
Ich habe irgendwann entdeckt, dass diese Haltung Gottes sich durch die Geschichte der Bibel und auch der Kirche zieht. »Ich brauche dich!« »Ich kann und will ohne dich nicht sein!« »Egal ob du, Mensch, mich brauchst oder nicht, ob du das Gefühl hast, dir fehlt etwas oder nicht – ich brauche dich und mir fehlt etwas ohne dich!«
Petrus bekommt dann einen Auftrag und unterstützt Jesus bei dessen Mission. Kurz darauf ruft Jesus Levi in die Nachfolge, den Zöllner. Ohne Levi wäre er kaum mit dessen Kollegen vom Zoll in Berührung gekommen. Frauen schließen sich Jesus an und versorgen ihn und seine Jünger. Sie werden gebraucht. Die Jünger werden gesandt, organisieren größere Versammlungen, ziehen los und predigen, gehen in die Städte und Dörfer und verbreiten die Kunde von Jesus in Palästina und später weltweit. Immer wieder wird deutlich: Nicht nur die Jünger brauchen Jesus, auch und vielleicht besonders braucht er selbst seine Nachfolger, sein »Team«.
Für mich als jungen Mann gehörte diese Erfahrung elementar zum Christ-Werden dazu. Klar, ich hatte die Frage, was der Glaube bringt. Und lange Zeit hatte ich keine Antwort darauf. Aber dann kam der Diakon meiner Heimatstadt. Und er sagte schlicht: »Komm, ich brauche dich!« Er brauchte mich als Gitarrist in einer Band. Er hatte Instrumente und eine Anlage besorgt und suchte jetzt junge Leute, die Lust an Musik hatten ... und dann auch in Gottesdiensten spielten ... und auf diese Weise mit den Inhalten des Glaubens in Berührung kamen ... und sich dann damit auseinandersetzten ... und irgendwann das Wunder eines persönlichen Glaubens erfuhren. Und seine »Rechnung« ging auf, besser, seine Hoffnung erfüllte sich.
Die Frage »Brauche ich Gott?« hat mich damals gelegentlich auch bewegt. Aber ganz ehrlich: Ich bin auch ohne Gott ganz gut klar gekommen. Wir hatten unseren Spaß. Wir hatten unsere Freunde, begannen mit dem Herumreisen, fanden die Mädels interessant, konnten uns von unseren ersten Gehältern manches leisten ... . All das ging auch ohne Gott ganz gut.
Doch dann diese Entdeckung: Gott braucht mich!
ihrer