EIN NEUER ROMAN MIT
WINNETOU
UND
OLD SHATTERHAND
Herausgegeben von Bernhard Schmid
© 2019 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Deckelbild:
Carl-Heinz Dömken (Winnetou)
und Klaus Lehmann (Hintergrund)
eISBN 978-3-7802-1630-4
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG · RADEBEUL
1. In den Fängen der Kiowas
2. Jeff Robinsons Erzählung
3. Eine böse Überraschung
4. In Fort Worth
5. Erpressungsversuch
6. Der Scout der Blauröcke
7. Der Auswandererzug
8. Frühstück beim Siedlertreck
9. Die Handelsstation des Comancheros
10. Gefangen
11. Ein Kampf auf Leben und Tod
12. Im Lano Estacado
13. Die zwei alten Trapper
14. Das weitere Vorgehen wird geplant
15. Ein verwegener Coup
16. Komplizierte Verhandlungen
17. Ein Wort zuviel
18. Erneute Verfolgung
19. Rückkehr nach Fort Worth
20. Entscheidung im Llano Estacado
Nachwort
Quellenverzeichnis
Aiiiii! – Markerschütternd drang der gellende Kriegsschrei durch die Tiefen des Waldes. Ohne uns abzusprechen, waren Winnetou und ich sofort von unseren Rappen gesprungen, nahmen Silberbüchse und Henrystutzen aus den Gewehrholstern, befahlen Iltschi und Hatatitla, sich nicht mehr zu regen, und brachten uns rasch in Deckung. Neben dem Pfad wuchs ein umfangreiches Adlerfarngebüsch1, sodass wir uns leicht an der Stelle verbergen konnten.
Kaum hatten wir uns niedergelegt, krachte irgendwo vor uns ein Schuss, dann erklangen kurz Kampfgeräusche, und schon wenige Augenblicke später erscholl ein indianischer Siegesschrei aus mehreren Kehlen.
„Es müssen Kiowas dort vor uns sein!“, flüsterte mir Winnetou zu.
„Höchstwahrscheinlich, mein Bruder, zumindest befinden wir uns hier mitten in ihren Jagdgründen. Lass uns nachschauen, warum da gerade wer auf wen losgegangen ist.“
Winnetou nickte.
Wir schoben uns aus dem dichten Adlerfarn wieder hinaus. Verzehren würde ich besser kein Stück dieser Pflanze. Winnetou hatte mir vor Jahren beigebracht, dass der Adlerfarn hochgiftig und zum Verspeisen völlig ungeeignet ist.
Unseren braven Rappen brauchten wir keine weitere Anweisung zu geben, diese würden sich erst wieder vom Fleck bewegen, wenn wir es erlaubten. Winnetou übernahm wie selbstverständlich die Führung und kroch dicht am Boden, immer nur Finger und Fußspitzen tastend auf dem Erdreich aufsetzend, damit ihn kein knackendes Unterholz bei seinem Anschleichen verraten konnte. Ich blieb ihm dicht auf den Fersen und versuchte, haargenau den gleichen Weg zu nehmen, den er mir vorgab, doch ich verließ mich nicht allein auf das Tasten, sondern schaute mir die Bodenbeschaffenheit vor mir so genau an, wie es hier, unter dem recht dichten Dach des Nadelwaldes, im diffusen Halbdunkel überhaupt möglich war.
Die Vegetation um uns herum machte uns die Aufgabe zumindest leicht, verborgen und unentdeckt zu bleiben. Zwischen den schlanken Nadelbäumen gab es Unmengen an Sträuchern, sodass wir gut Deckung finden konnten. An lichten Stellen des Waldes wuchs die Apfelbeere2. Sie ist ein etwa mannshoher Strauch aus der Familie der Rosengewächse, in Nordamerika heimisch und wird von den Ureinwohnern schon seit Hunderten von Jahren als vitaminreiche Winternahrung geschätzt. Auch der amerikanische Faulbaum, der auch als amerikanischer Kreuzdorn bezeichnet wird, wuchs hier zuhauf. Die Indianer Mexikos bezeichnen die Faulbaumrinde übrigens als die ‚heilige Rinde‘. Ob das daher kommt, dass die Faulbaumrinde vor allem bei chronischer Verstopfung angewandt wird und sich auch bei der Behandlung von Schwächezuständen des Darms, bei Hämorrhoiden und sogar bei der Behandlung von fettiger und unreiner Haut bewährt hat, kann ich allerdings nicht sicher sagen. Die Sumpfporst-Sträucher wuchsen hier fast eineinhalb Meter hoch und waren über und über mit weißen, fünfzähligen Blüten bedeckt. Winnetou kroch gerade in einen großblättrigen grünen Strauch hinein, dessen Bezeichnung ich nicht nennen kann. Wer soll diese unzähligen fremden Arten auch alle titulieren können?
Winnetou hob kurz seinen Arm, das Zeichen, dass wir nun nicht weiter durften. Ich schob mich vorsichtig direkt an die Seite meines Blutsbruders. Durch das dichte Blattwerk sahen wir auf eine kleine Lichtung. Die Sonne stand noch hoch genug, dass alles glasklar zu erkennen war. Gegenüber der Freifläche war ein junger Mann an den Stamm einer Pinyan-Kiefer gefesselt worden. Vor ihm in einem Halbkreis saßen fünf Indianer – eindeutig Kiowas.
Genau in der Mitte der Rothäute befand sich ein Mann, der der Anführer der Gruppe zu sein schien. Er hatte glatte, lange, in der Mitte gescheitelte Haare, die in zwei nicht geflochtenen Zöpfen ausliefen. Einen besonderen Häuptlingsschmuck wie Adlerfedern gab es nicht. Die Stirn des ledrig wirkenden Gesichts wies Falten auf, die schon mehr als Furchen zu bezeichnen waren. Kleine, schwarze Augen saßen tief in den Höhlen, sodass sie kaum erkennbar waren. Markant waren auch die deutlich vorstehenden Wangenknochen. Die herabhängenden Mundwinkel des schmalen Mundes verliehen dem Gesichtsausdruck insgesamt etwas Mürrisches.
Über einem Leinenhemd mit bauschigen Ärmeln trug der Rote einen Knochenpanzer3 auf der Brust. Eine rote, breite Decke diente als Gürtelersatz. In dieser steckte ein Pfeifentomahawk aus Metall mit hölzernem Stiel, dessen Ursprung wahrscheinlich mexikanisch war. Die Mokassins waren aufwändig mit blauen Perlen bestickt, in die ein eigenwilliges rot-hellblaues Ornament eingearbeitet war.
„Uff, uff!“ Winnetou flüsterte mir ins Ohr. „Das ist Za-ko-yea, der ‚Große Bogen‘, einer der bedeutendsten Kriegshäuptlinge der Kiowas.“
Von dem hatte ich auch schon gehört, sollte er doch für die meisten Raub- und Kriegszüge seines Stammes in Texas, Oklahoma, Kansas und New Mexico verantwortlich sein. Seine Krieger waren nur schlicht mit Leggins, Lendenschurzen und Mokassins bekleidet.
Kriegsbemalung hatten die Kiowas nicht aufgetragen.
Za-ko-yea begann zu sprechen:
„Was hat das Bleichgesicht in den Jagdgründen der Ga-i-gwu4 zu suchen?“
„Ich bin auf der Jagd nach dem Mörder meines Bruders.“
„Ist der Gesuchte etwa ein Krieger meines Volkes?“
„Nein, es handelt sich um ein Bleichgesicht.“
„Das ist gut, aber dennoch wirst du am Marterpfahl sterben, denn wir haben gegen alle weißen Männer das Kriegsbeil ausgegraben!“
„Aber ich habe doch mit euch nichts zu schaffen.“
„Es wäre besser für dich gewesen, unser Revier nicht zu betreten. Wie sagt man bei euch so schön: mitgefangen, mitgehangen!“
Der Kiowa-Anführer sprach ein lupenreines Englisch. Belesen war Za-ko-yea also ohne Frage, auch an seiner gewählten Sprache erkennbar, aber ansonsten wurde er seinem schlechten Ruf gerecht. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs überfiel er mit seiner Horde entlegene Siedlungen, Ranches und Farmen, stahl alles, was er gebrauchen konnte, und brannte die Gutshöfe dann nieder, wie ich später von Winnetou erfuhr.
Seit Neuestem hatten die Komantschen, mit denen die Kiowas eng befreundet waren, zudem mit dem Handel von gefangenen Geiseln ein einträgliches Geschäft für sich entdeckt. Sie entführten vor allem Frauen und Kinder, raubten ganze Vieh- und Pferdeherden, um sie den Comancheros gegen Waffen, Munition, Kaffee, Tabak, Salz und Zucker anzubieten. Dieser gewinnbringende Tier- und Menschenhandel wurde vor allem im Llano Estacado durchgeführt.
Comancheros wurden mexikanische, amerikanische oder mischblütige Händler genannt, die hauptsächlich mit den Komantschen und Kiowas diesen mehr oder weniger illegalen Handel betrieben. Es kam sogar nicht selten vor, dass die Comancheros als Unterhändler der US-Armee beim Freikauf von weißen Gefangenen und Sklaven eingesetzt wurden. Dabei gaben sich die Roten und die Comancheros sogar oftmals gegenseitig Tipps, um gemeinsam diese kriminellen Machenschaften zum Nachteil der Amerikaner durchzuführen.
Nun besah ich mir den gefesselten jungen Weißen erst einmal genauer, der dort relativ gefasst an der Pinyan-Kiefer angebunden stand. Er hatte dunkelblonde, mittellange Haare und war bartlos. Sein Stetson lag im Gras, der war ihm wohl bei seiner Überwältigung vom Kopf gerissen worden. Der Mann mochte höchstens fünfundzwanzig Jahre zählen und hatte einen freundlichen, offenen Gesichtsausdruck. Hellblaue Augen saßen unter gut geformten, nicht zu buschigen Augenbrauen in einem schmalen Gesicht. Die Nase war leicht abgeschrägt, was etwas an einen Papageienschnabel erinnerte. Manchmal kann man sich ja täuschen, aber hier hatten wir es bestimmt mit keinem Schurken zu tun. Insofern stand für mich fest, dass ich ihn auf jeden Fall befreien wollte. An Kleidung trug der Jüngling eine grobe braune Hose, die von breiten dunkelblauen Hosenträgern gehalten wurde und am Gesäß Einlagen aus Leder hatte, um sie vor dem Durchscheuern zu bewahren. Um die Hose außerdem vor Gestrüpp zu schützen, hatte der Gefangene Beinlinge aus Leder über die Hosenbeine gezogen. Das blassgraue, knopflose Hemd war geschlossen gearbeitet und musste zum Anziehen über den Kopf gestreift werden. Über dem Hemd trug der Gefangene eine glatte, schwarze Lederweste. Die Jacke musste sich bei seinem Pferd befinden, wo immer dieses auch stecken mochte.
Genau den Umstand sprach Za-ko-yea jetzt an:
„Wo hat das Bleichgesicht sein Pferd stehen?“
Der Jüngling presste seine Lippen fest zusammen.
„Soll der Häuptling der Kiowas ein Feuer anbrennen lassen, die Klinge seines Bowiemessers mithilfe der Flammen zum Glühen bringen und damit deine Haut verbrennen? Redest du erst dann, weißer Mann? Ich kann mir kaum vorstellen, dass du es seit deiner Kindheit gelernt hast, Schmerzen zu erdulden, wie der rote Mann!“
Der Gefesselte gab auf der Stelle klein bei, er sah ein, dass Verstocktheit ihm nur Nachteile einbringen würde.
„Da weiter links steht mein Pferd, an einer Kiefer angebunden, vielleicht dreihundert Fuß von hier entfernt.“
„Warum hat das Bleichgesicht sein Pferd stehen lassen und ist zu Fuß weitergegangen?“
„Ich wollte in der Umgebung nach Wasser Ausschau halten, es riecht doch hier so, als ob sich in der Nähe ein Bach oder Flusslauf befinden muss. Das Suchen geht in diesem Urwald aber ohne Pferd wohl schneller.“
Za-ko-yea nickte verstehend. Dann wandte er sich an seine Krieger:
„Sahpooly5 und Tsomah6, sucht rasch das Pferd des weißen Mannes!“
Unwillkürlich sah ich den mit ‚Gelbes Haar‘ angesprochenen Krieger an, der gerade aus dem Schneidersitz aufstand. Tatsächlich hing diesem eine Strähne gelben Haares lang auf der rechten Seite der Haartracht herab. Die musste er sich angemalt oder gefärbt haben. Wie kam er dazu? Hatte der Mann einen diesbezüglichen Traum gehabt? Auf jeden Fall hatte ich so etwas noch nicht zuvor gesehen. Es musste doch sehr umständlich sein, wenn man sich regelmäßig diese gelbe Strähne selbst verpassen musste, um seinem Namen gerecht zu werden.
Winnetou schaute zu mir herüber. Ich wusste genau, was er damit ausdrücken wollte. Da die zwei Krieger gerade die Lichtung verlassen hatten, befanden sich vor uns nur noch drei Kiowas, die den Gefangenen bewachten. Ich nickte verstehend. Ganz vorsichtig standen wir auf. Da wir uns im Rücken der Roten befanden, konnten uns diese nicht sehen, der junge Gefangene aber schon! Hoffentlich verriet er uns nicht, denn als wir aufgestanden waren, hatten wir kaum noch Deckung, die uns verbarg. Doch der Jüngling hielt die Augen fest zugepresst. Hatte er innerlich schon mit seinem Leben abgeschlossen?
Winnetou sprang aus dem Gesträuch auf die Wiese und war mit vier raschen Sprüngen hinter den drei Kiowas. Ich war vielleicht einen Meter zurückgeblieben. Im Sprung hatte der Apatsche schon seinen Tomahawk gezückt und so in der Hand gedreht, dass er augenblicklich mit der Flachseite zuschlagen konnte.
Nun öffnete der Gefangene doch gerade die Augen und brachte ein überraschtes „oh“ über die Lippen, als er uns da heranstürmen sah. Irritiert ob des Ausrufs sah Za-ko-yea ihn an, aber da war Winnetou schon hinter dem Anführer der Horde und drosch diesem die Flachseite des Beils an die Schläfe. Ich nahm stattdessen die rechte Faust und brachte meinen gefürchteten ‚Schmetterschlag‘ beim rechts vom Häuptling sitzenden Krieger an. Fast zeitgleich sackten die beiden Roten in sich zusammen. Der dritte sprang erschrocken auf, da waren wir aber schon zu zweit über ihm. Winnetou drückte ihm den Hals zu, damit er keinen Warnruf ausstoßen konnte, und Bruchteile von Sekunden später traf ihn meine Faust, sodass auch er ohnmächtig zu Boden ging.
Angstvoll sah uns der Gefangene an, konnte er sich doch auf das Geschehen keinen Reim machen, zumal er auch noch einen weiteren Roten neben mir ausmachte und nicht wusste, was das zu bedeuten hatte.
„Still, keinen Mucks, wir befreien Euch, Mister!“, warnte ich den Gefesselten.
Schon stand ich vor ihm und zerschnitt mit meinem Bowiemesser die schmalen Lederriemen.
„Bloß schnell weg von hier, Mister, bevor die anderen Indianer zurückkommen!“, warf der Befreite ängstlich ein und rieb sich seine schmerzenden Handgelenke, um das Blut wieder richtig zum Zirkulieren zu bringen.
„Nonsense!“, erwiderte ich. „Und was wird dann aus Eurem Pferd?“
„Egal. Hauptsache, wir sind am Leben.“
Winnetou fragte mich:
„Scharlih, wo mögen die Kiowas ihre Ponys stehen haben?“
„Bestimmt nicht weit von hier entfernt, ich glaube aber kaum, dass wir Zeit haben, sie zu suchen.“
Mein Blutsbruder nickte. Schon setzte ich mich neben Za-ko-yea, hob den schlaffen ohnmächtigen Körper so an, dass er direkt vor meinem Bauch zu liegen kam, und hielt ihm demonstrativ mein Bowiemesser an den Hals.
Dann rief ich laut in den Wald hinein:
„Die tapferen Krieger der Kiowas, die das Pferd des Bleichgesichts herbeischaffen sollen, mögen keine Dummheit begehen, wenn ihr Häuptling Za-ko-yea am Leben bleiben soll.“
Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da brachen Sahpooly und Tsomah schon fast panisch von der gegenüberliegenden Seite durch das Gesträuch zu uns auf die Lichtung heraus.
„Uff, Uff!“, entfuhr es dem ‚Gelben Haar‘, als er mit einem kurzen Blick die Situation erfasste.
„Lasst die Waffen stecken, dann geschieht Eurem Anführer nichts!“
„Gebt dem weißen Mann auf der Stelle sein Pferd zurück“, ergänzte mein Blutsbruder meine Forderung.
Sahpooly kam dieser Anordnung sofort nach und übergab den Schecken, noch völlig aufgelöst, an den jungen Weißen.
„Mein roter Bruder möge sich vor uns hier auf die Wiese niedersetzen, Tsomah auch“, sprach Winnetou mit freundlichen Worten, um die Situation etwas zu entspannen.
Die beiden Kiowas sahen den Apatschen zwar irritiert an, kamen der Aufforderung aber ohne Murren nach. Besorgt sahen sie erst ihren Anführer Za-ko-yea an, dann wieder uns.
„Keine Angst, euer Häuptling schläft nur. Old Shatterhand hat ihn lediglich mit seiner Faust ins Reich der Träume geschickt.“
„Uff, uff, bist du etwa Old Shatterhand?“
„Ja, so ist es!“
„Dann musst du Winnetou, der Oberhäuptling aller Apatschenstämme, sein.“
„Auch das ist richtig“, antwortete ich an Stelle meines Blutsbruders.
„Unsere Völker leben derzeit in Frieden miteinander“, ergänzte Winnetou meine Worte.
„Das stimmt, die Apatschen sind derzeit nicht unsere Feinde!“
Bei den letzten Worten regte sich Za-ko-yea merklich in meinen Armen.
„Kann ich das Messer von der Kehle eures Häuptlings nehmen oder gehen die tapferen Krieger der Kiowas dann gleich wieder in Kampfeshaltung über?“
„Nein, wir unternehmen nichts. Die Entscheidung, was zu geschehen hat, liegt allein in den Händen unseres großen Häuptlings Za-ko-yea!“
Dieser kam gerade langsam zu sich und erschrak, als er dabei genau in mein Gesicht dicht über sich schaute:
„Uff, uff, was ist geschehen?“
Bei den Worten fasste er sich an den Schädel. Er durfte wohl furchtbare Kopfschmerzen haben.
„Winnetou und ich haben das junge Bleichgesicht befreit, das ihr zuvor gefangen nahmt.“
„Ist der junge Weiße ein Freund von euch?“
„Nein, wir kennen ihn gar nicht.“
„Warum helft ihr ihm dann?“
„Wir helfen jedem Menschen, der unschuldig in Not geraten ist.“
„Ihr könnt doch gar nicht wissen, ob er nichts Unrechtes getan hat.“
„Wir lagen eine Weile im Gesträuch hinter euch und haben dabei nichts gehört, was gegen den jungen Weißen sprechen würde.“
„Aber er befindet sich in unseren Jagdgründen.“
„Das ist doch kein Grund, jemanden gleich ermorden zu wollen.“
„Wir haben aber gegen alle Bleichgesichter das Kriegsbeil ausgegraben.“
„Ihr tragt gar keine Kriegsbemalung!“
„Wir wussten nicht, dass wir heute in unseren Jagdgründen auf Feinde treffen würden.“
„Sei es, wie es sei, nun haben wir jedenfalls die Oberhand, insofern ist der junge Weiße ein freier Mann und kann gehen, wohin er will.“
„Und wenn wir das nicht zulassen?“
„Sieht Za-ko-yea nicht, wer hier gerade die Geschicke des Handelns in der Hand hält?“
„Ein böser Geist muss euch zur Seite gestanden haben.“
„Nein, wir haben euch nur schlicht und einfach hier auf der Lichtung überwältigt und niedergeschlagen.“
„Und was habt ihr nun mit uns vor?“
„Gar nichts, wir sind doch nicht eure Feinde.“
„Also soll jeder friedlich seiner Wege ziehen können?“
„So fände ich es am allerbesten, großer Häuptling der Kiowas.“
„Dann sei es so, howgh!“
Das hatte ich so nicht erwartet, aber Za-ko-yea wollte sich wohl nicht länger als Unterlegener vor den Seinen blamieren und die lästige Angelegenheit daher lieber so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Die beiden von uns niedergestreckten Krieger kamen nun auch gerade wieder langsam zu sich, was mich freute, denn beim Niederschlagen eines Gegners ist es immer mit einem gewissen Risiko verbunden, dass dieser vielleicht nicht wieder aufwacht, weil man zu fest zugeschlagen hat.
„Dann lass uns die Pfeife des Friedens und der Versöhnung trinken!“, bemerkte ich nun mit möglichst würdevoller Stimme, die dem Anlass angemessen sein sollte.
Überrascht sah mich der Kiowa-Anführer an. Das hatte er sich so wohl nicht vorgestellt, nahm es ihm doch die Möglichkeit, es sich nach unserem Auseinandergehen umgehend wieder anders zu überlegen.
„Das wird nicht nötig sein…“
„Doch, außerdem sehe ich, dass du in deiner Decke, die dir als Gürtel dient, einen wunderschönen Pfeifentomahawk stecken hast.“
„Winnetou hat Kinnikinnk in einem Säckchen dabei“, ergänzte der Apatsche meine Worte.
Bestimmt hatte auch Za-ko-yea dieses fürchterliche Gemisch aus der Borke verschiedener Bäume – Weide und Erle beispielsweise –, Salbei, Pfefferminz, Süßgras, Bärentraube, Hartriegel, Huflattich, Lobelia und Kamille bei sich, dem nur ein wenig echter Tabak beigemischt war. Eine beliebte und oft verwendete Pflanze war im Kinnikinnik auch der Sumac bzw. Sumach7. Aber was auch immer alles so in diese Mixtur hineingegeben wird, es lässt auf jeden Fall schon einen gewissen Zweifel an der Gaumenfreundlichkeit aufkommen. Wobei ich von Winnetou wusste, dass er viel mehr echten Tabak als üblich dem Kinnikinnik beimischte, was die Sache deutlich erträglicher machte.
Za-ko-yea sperrte sich nicht weiter und nestelte den Pfeifentomahawk aus dem Gürtelschal. Winnetou reichte ihm das kleine Ledersäckchen und der Kiowa stopfte die kleine Metallpfeife mit Kinnikinnik aus dem Vorrat des Mescaleros. Inzwischen entzündete Winnetou unter Zuhilfenahme eines Punks, also Präriefeuerzeugs, etwas trockenes Gras, mit dem Za-ko-yea den Tabak umgehend in Brand setzte. Dann ging die Pfeife reihum. Jeder vollführte die vorgeschriebenen Züge in alle vier Himmelsrichtungen, zum Himmel und zur Erde, und dann gingen wir in Frieden mit den Kiowas auseinander.
Wir beschlossen, nicht auf der kleinen Lichtung zu bleiben, sondern das Wasser aufzusuchen, das ja schon der junge Weiße zu finden beabsichtigt hatte. Erst einmal holte Winnetou unsere beiden Rappen zu uns, dann übernahm der Apatsche die Führung. Es war immer wieder erstaunlich: Mein Blutsbruder ging nie fehl. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er den munter sprudelnden Bachlauf, obwohl er, wie ich, noch nie in dieser Gegend gewesen war.
Wir ließen die Tiere tüchtig saufen, legten uns dann selbst an den Uferrand und tranken, bis wir uns genug erfrischt fühlten, leerten den Rest warmen Wassers aus unseren Feldflaschen und füllten sie mit dem frischen, kühlen Nass.
Nun konnten wir uns mit dem Befreiten erst einmal ausgiebig bekannt machen. Immer wieder setzte der junge Mann zu überschwänglichen Dankesreden an, die ich genauso oft – vom Thema ablenkend – unterbrach. Mich interessierte mehr, was ihn ohne jede Begleitung in die Wildnis getrieben hatte.
Eines hatte er ja schon in den Banden an der Pinyan-Kiefer den Kiowas offenbart, nämlich, dass er auf der Jagd nach dem Mörder seines Bruders war.
„Wollt Ihr uns nicht erzählen, wieso Ihr hier mutterseelenallein im Jagdgebiet der Komantschen und Kiowas unterwegs seid?“
„Ach, das ist doch ausschließlich eine persönliche – äh – sprich meine eigene Angelegenheit.“
„Wer weiß, vielleicht kann das ja auch noch unsere Angelegenheit werden.“
„Was habt Ihr schon mit mir und meinem Schicksal zu schaffen.“
„Mit Eurer Befreiung aus den Fängen der Kiowas hat es zumindest schon einmal angefangen.“
„Das ist wohl wahr!“
„Ansonsten wissen wir nur, dass Ihr den Mörder Eures Bruders verfolgt.“
„So ist es! Das habt Ihr also gehört, als Ihr die Kiowas belauscht habt.“
„Ja, aber mehr wissen wir nicht. Wollt Ihr uns nicht erzählen, wie es zu dem Mord und Eurer Verfolgung kam?“
„Eigentlich bin ich nicht schwatzhaft und versuche, immer allein mit aller Unbill des Lebens zurechtzukommen, aber Euer geradezu legendärer Ruf eilt Euch natürlich voraus. Selbst ich habe schon viel Gutes von Euch gehört, und dass Ihr beide immer auf der Seite von Recht und Gerechtigkeit steht; so kann es ja wohl zumindest nicht schaden, wenn ich Euch die Geschichte kurz erzähle.“
Winnetou holte einige gebratene Fleischstreifen aus seinem Proviantbeutel, die wir kalt verzehren konnten, während wir uns mit dem jungen Mann unterhielten.
„Unsere Namen kennt Ihr ja bereits, aber wie dürfen wir Euch ansprechen?“
„Oh, verzeiht, was für eine Unterlassungssünde. Natürlich sollt ihr meinen Namen erfahren. Ich bin auf den Namen Jeff getauft, mein Familienname ist Robinson.“
„Ihr betont das so seltsam, nennt Ihr Euch anders?“
„Nein, nein, meine Freunde rufen mich alle schlicht und einfach Jeff. Also tut das bitte auch.“
Wir setzten uns derweil auf ein grasiges Stück, nur wenige Schritte vom Bachlauf entfernt. Dann aßen wir unsere Bratenstücke.
Nachdem Jeff sein Stück geradezu gierig verschlungen hatte, fragte ich:
„Wollt Ihr noch mehr Fleisch?“
„Nein, nein, vielen Dank, ich bin satt. Ich weiß, es ist eine Unart von mir, ich bin geradezu ein Schnellesser, schon meine Mutter hat mich immer ermahnt, mein Essen nicht so herunterzuschlingen, aber ich kann mir das einfach nicht abgewöhnen. Doch nun also zu meiner Geschichte. Habt Ihr denn auch Zeit dafür?“
„Alle Zeit der Welt!“
„Dann sei es! Meine Eltern kamen vor fast fünfundzwanzig Jahren aus Gaillimh in der Provinz Connacht …“
„Oh, Eure Familie stammt also aus Irland!“
„Ihr kennt Euch aber gut in der Weltgeschichte aus, Mr. Shatterhand.“
„Ich bin schon viel herumgekommen. Aber Gaillimh wird doch heute bestimmt anders genannt, oder?“
„Ihr sagt es; im Englischen heißt unsere Geburtsstadt nun Galway. Meine Eltern hatten in der alten Heimat viel darüber gehört und gelesen, was vor allem die Deutschen in Texas neu aufgebaut haben, und wollten mit uns unbedingt eine der neuen Siedlungen deutscher Emigranten in Amerika aufsuchen, um dort ein besseres Leben zu beginnen, als es die alte Heimat ihnen ermöglichte. So landeten wir tatsächlich mit vielen deutschen Aussiedlerfamilien nach langen Monaten in Austin. Mein Vater konnte dort ein wenig Land pachten und dieses bebauen. Es reichte zwar gerade nur so zum Leben, aber doch ging es uns immer noch tausendmal besser als in Irland, wo wir oftmals nicht einmal etwas zu essen gehabt hatten. Manchmal freuten wir uns in Gaillimh schon über einen Haufen Kartoffelschalen, aus denen die Mutter eine Suppe kochte. Doch das Glück währte keine fünf Jahre, da verstarb unser Vater urplötzlich. Wir wissen bis heute nicht, woran er gestorben ist, auch die Ärzte waren ratlos. Nun war die Not mehr als groß, denn wie sollte meine Mutter mit zwei zehnjährigen Knaben das Land allein bestellen? Das konnte nicht gutgehen. Aber sie hatte Glück – naja, wenn man es denn wirklich als Glück bezeichnen kann. Sie lernte jedenfalls eines Sonntags nach dem Kirchgang einen Mann aus San Antonio kennen. Später haben wir herausbekommen, dass er die Kirche nur aufgesucht hat, um irgendwie an eine Frau heranzukommen, mit Glauben und Kirche hatte der gar nichts am Hut.“
„Und warum suchte er da in Austin und nicht einfach in San Antonio?“
„Gute Frage, Mr. Shatterhand, die Aufklärung darüber erhielten wir auch erst viel später. In Austin war der Mann so unbeliebt, dass ihm alle Menschen möglichst aus dem Wege gingen. Viele haben die Straßenseite gewechselt, wenn sie ihn nur aus der Ferne kommen sahen. Nur sein Geschäft, ein großes Fuhrunternehmen, das florierte und hatte ihn in San Antonio zu einem reichen Mann gemacht, aber sonst soll er das reinste Scheusal gewesen sein. Für meine Mutter war sein Werben um sie anfangs wie eine Erlösung, wusste sie doch mit der Farm, mit all der schweren Arbeit so gut wie alleingelassen, nicht mehr ein noch aus. Schon drei Wochen nach dem ersten Kennenlernen heiratete Mama diesen Edward P. Jenkins, und wir zogen zu ihm nach San Antonio.“
„Hat Eure ausführliche Lebensgeschichte auch mit den späteren Ereignissen, sprich der Ermordung Eures Bruders zu tun?“
„Für das Gesamtverständnis, glaube ich, schon.“
„Entschuldigt, dann erzählt bitte weiter.“
„Das Leben unter einem Dach mit diesem Choleriker und Despoten, wie sich schnell herausstellte, war eine einzige Qual. Pausenlos rutschte ihm die Hand aus, und er behandelte Mutter und uns eher wie Lakaien oder sogar Sklaven, nicht aber wie ebenbürtige Familienmitglieder. Doch mit unserer Mutter konnten wir darüber kein vernünftiges Wort wechseln, sie war diesem schmerbäuchigen Edward P. Jenkins richtiggehend hörig. Immer wieder beknieten wir sie, als wir älter wurden, es woanders neu zu versuchen, aber auf dem Ohr war und blieb unsere Mutter taub. So haben mein Bruder Ryan und ich dann eines schönen Tages selbst das Weite gesucht. Die letzten Jahre ‚trauter Familienzugehörigkeit‘ durften wir für unseren Stiefvater in seiner Firma schuften, bis die Finger bluteten, ohne dafür bezahlt zu werden. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit, schließlich stellten wir unsere Füße ja unter seinen Tisch.“
„Und wo hat es Euch von San Antonio aus hingetrieben?“
„Nicht allzu weit weg, nur nach Laredo. Wir wollten natürlich in der Nähe unserer Mutter bleiben, um den Kontakt mit ihr zu halten und da zu sein, sollte sie es sich eines schönen Tages doch anders überlegen und diesen ekelhaften Kerl verlassen wollen, was wir uns doch so sehr wünschten.“
„Habt Ihr zwei Ausreißer denn in Laredo eine Arbeit gefunden?“
„Ja, ein Rancher hat uns als Vaqueros8 angestellt, weil wir so famos reiten konnten, das hatten wir noch auf Vaters Farm als kleine Knaben von der Pike auf gelernt.“
„Und hat Eure Mutter ihren neuen Gatten später denn verlassen?“
„Nein, musste sie dann auch nicht mehr, denn im Februar dieses Jahres starb Edward P. Jenkins. Der Arzt stellte Leberversagen fest. Unser Stiefvater hat sich mit Whiskey und Brandy wortwörtlich totgesoffen.“
„Seid ihr dann zu Eurer Mutter nach San Antonio zurückgekehrt?“
„Natürlich, allein schon, um unsere Mutter zu unterstützen, denn schließlich stand sie doch jetzt zum zweiten Mal mit allem allein da, nur waren wir diesmal keine kleinen Kinder mehr.“
„Da Euer Stiefvater reich war, musste sich nun doch eigentlich alles in Wohlgefallen auflösen, oder?“
„Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, aber es kam leider anders. Edward P. Jenkins hatte sich noch eine Kleinigkeit für sein Testament ausgedacht. Nur, wer seinen klobigen, goldenen Siegelring mit den Initialen E. P. J. präsentierte, der sollte der rechtmäßige Erbe seines Vermögens sein.“
„Und was war daran das Problem? Hattet Ihr Euren Stiefvater etwa mit dem Siegelring am Finger beerdigt?“
„Nein, den hatte meine Mutter noch vor dem Abtransport der Leiche von seinem fetten Ringfinger gestreift. Aus Jux hat mein Bruder Ryan ihn dann aber übergestreift und noch gescherzt, wir sollten ihn nun mit Edward P. ansprechen.“
„Dann konnte er den ja bei der Testamentseröffnung dem Lawyer9 vorlegen.“
„Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.“
„Warum nicht?“
„Ryan ist zwei Tage vor der Testamentseröffnung in einem der vielen Saloons San Antonios Karten spielen gegangen.“
„Tat er das öfter?“
„Ja, das war eine seiner Schwächen, aber eigentlich war er immer vorsichtig und hat nie viel Geld verloren. Er war also nicht spielsüchtig, wenn Ihr darauf hinauswollt.“
„Kannte er die Kontrahenten am Tisch?“
„Bis auf einen ja, der kam nicht aus San Antonio, sondern war nur auf der Durchreise. Das Kartenglück war Ryan an dem Abend nicht hold, und eher, als ihm lieb gewesen sein kann, war sein mitgeführtes Bargeld alle.“
„Ich ahne schon, was kommt. Er hat danach den goldenen Siegelring gesetzt, um weiterspielen zu können.“
„Genauso ist es, leider. Und dann kam es auf einmal zum Eklat. Ryan hatte einen Drilling, bestehend aus drei Zehnern. Der Fremde, so will ich ihn erst einmal benennen, präsentierte dann einen Flush, also fünf Karten gleicher Farbe. Aber welche Überraschung: Sein Flush war ein Pik Flush, in dem sich die Pik-Zehn befand, die mein Bruder schon in seinem Drilling zuvor präsentiert hatte. Da jede Karte nur einmal im Stock vorhanden ist, hatte also einer der beiden Spieler eindeutig betrogen.“
„Da gibt es keine zwei Meinungen!“
„Der Fremde sprang auf, schrie meinen Bruder laut mit ‚elender Betrüger‘ an. Ryan schwor Stein und Bein, dass er nicht geschummelt hätte, die falsche Karte also von dem Fremden herrühren musste.“
„Und was taten oder sagten die anderen zwei Mitspieler?“
„Die waren nur entsetzt und haben sich gar nicht dazu geäußert. Dann wurde der Fremde handgreiflich, raffte dabei aber zuvor alles Geld und auch den goldenen Siegelring vom Tisch, was Ryan nicht zugeben wollte. Da zückte der Falschspieler auf einmal ein kleines Klappmesser, ließ es aufspringen und stach es meinem Bruder in den Hals. Alles im Saloon achtete nur noch auf Ryan, so konnte der Fremde in diesen Wirren einfach flüchten. Niemand hielt ihn auf. Meinen Bruder konnte man aber nicht mehr retten. Wenige Minuten später war er tot, noch bevor überhaupt ein Arzt zur Stelle war und irgendwie helfend eingreifen konnte.“
„Das tut mir leid!“
„Ein einziger tödlicher Stich, wie der Stich eines Skorpions, hat ihn umgebracht.“
„Und wie seid Ihr über den Mord an Eurem Bruder informiert worden?“
„Der Sheriff kam vielleicht zwei Stunden später zu unserem Haus, um uns die schreckliche Nachricht zu überbringen. Gemeinsam fanden wir dann heraus, in welchem Lodging-House1 der Stadt der Fremde sich einquartiert hatte. Er selbst war aber längst über alle Berge, ohne vorher die Rechnung zu bezahlen.“
„Habt Ihr wenigstens seinen Namen herausgefunden?“
„Wenn das denn der richtige ist, Mr. Shatterhand; er nannte sich Liam Norris, so hat er sich zumindest ins Gästebuch der Pension eingetragen.“
„Und wieso seid Ihr dann in diese einsame Gegend hier geritten, um ihn zu verfolgen? Habt Ihr irgendwo noch eine konkrete Spur von ihm entdecken können?“
„In seinem Zimmer lag bei seinen zurückgelassenen Kleidungsstücken nebst vieler anderer Utensilien eine Quittung, ausgestellt in Fort Worth für die Neubesohlung seiner Stiefel.“
„Stand auch der Name Norris auf der Quittung?“
„Ja, entweder ist das also tatsächlich sein richtiger Name oder er benutzt ihn zumindest mit steter Regelmäßigkeit.“
„Und nun versucht Ihr auf eigene Faust diesen Liam Norris zu finden?“
„Ja, meine Mutter kommt nur mit diesem verwünschten Siegelring zu ihrem Erbe, und einen anderen Anhaltspunkt als Fort Worth habe ich doch nicht; wobei ich nur hoffen kann, dass sich dieser Liam Norris nicht lediglich unterwegs irgendwo während eines längeren Aufenthalts die Stiefel neu hat besohlen lassen, sondern tatsächlich in Fort Worth ansässig ist. Sonst bin ich mit meinem Latein am Ende.“
„Wisst Ihr denn wenigstens, wie der Kerl aussieht?“
„O ja, wartet einen Augenblick.“ Er kramte in seinen Taschen herum und entfaltete dann ein Blatt Papier, das schon recht zerknittert war. „Hier, dieser Steckbrief ist in San Antonio am Tag nach dem Mord anhand von Angaben der Mitspieler und der anderen Saloon-Gäste von dem Halunken angefertigt worden.“
Die Zeichnung war zumindest von einem Könner geschaffen worden. Wenn die Angaben und Aussagen der Zeugen stimmten, dann konnte man mit diesem Steckbrief wirklich etwas anfangen.
Ich sah meinen Blutsbruder an. Mehr brauchte ich nicht zu tun. Winnetou nickte und sagte zu Jeff Robinson:
„Wir werden den weißen Mann nach Fort Worth begleiten. Die Gegend ist gefährlich, und er ist in der Wildnis unerfahren.“
„Wollt ihr das wirklich tun? Äh – bitte haltet mich nicht für egoistisch oder vermessen, aber ich müsste ja völlig dumm im Kopf sein, wenn ich die großzügige Hilfe Winnetous und Old Shatterhands ablehnen würde.“
Ich schmunzelte. Mir gefiel dieser junge Mann. Er schien eine durch und durch ehrliche Haut zu sein, ein Mensch, dem die augenblickliche Gemütslage rasch auf der Zunge lag, was ihn mir aber irgendwie auch gleich sympathisch machte.
„Weiß mein Bruder, wo wir uns derzeit genau befinden?“, fragte ich Winnetou, um das Gespräch auf unsere gemeinsame Weiterreise zu lenken.
„Vielleicht einen knappen Tagesritt von Waco entfernt, Scharlih.“
„Ah, das ist eine größere Stadt. Habe gehört, sie soll inzwischen das Viehhandelszentrum der Gegend sein“, warf Robinson ein.
„Wenn wir uns von hier immer nordwestlich halten, müssten wir bald auf den Brazos River treffen, an ihm liegt dann später die große Siedlung der Bleichgesichter.“
Waco also war die nächste Ortschaft auf unserem Weg. Der Name dieser Stadt leitet sich von den Huaco ab, einem Indianerstamm, der zuvor in der Gegend gelebt hat. Nördlich der Stadt floss der Bosque River in den Brazos Fluss, daran konnte ich mich aus meinen vielen Kartenstudien in der Heimat in Radebeul erinnern.
Winnetou hielt sich immer an den kleinen Bachlauf, und keine Stunde später erreichten wir so tatsächlich den Brazos River. Wie bei vielen Orten und Flüssen in der Gegend war der Name spanischen Ursprungs und ging auf den Ausdruck ‚Los brazos de dios‘ zurück, was so viel wie ‚die Arme Gottes‘ bedeutet. Möglicherweise war damit die Freude über das erste trinkbare Wasser nach einer Durchquerung des wüsten Llano Estacado gemeint, wie mir Winnetou erklärte.
Der Brazos River war hier bestimmt einhundert Meter breit, doch wir wollten ihn ja nicht überqueren, sondern nur an seinem Ufer entlangreiten.
Zumeist kamen wir zu Pferd gut voran, da die Nadelbäume nur licht standen und selten bis dicht an den Rand des Flusses heranreichten. Auch das Buschwerk wuchs spärlicher als bei unserem Anschleichen früher am Tag, wo wir uns mitten im Wald befunden hatten.
In ein bis zwei Stunden mussten wir uns ein Nachtlager suchen, denn der Nachmittag war inzwischen schon sehr weit fortgeschritten. Ich suchte mit meinem Fernrohr die Umgebung nach einem passenden Lagerplatz ab. Entweder eine Lichtung in einem kleinen Wäldchen oder ein Berghang, in dessen Schutz man es sich gemütlich machen konnte, wären dafür gut geeignet gewesen.
Ich glaube bekanntlich nicht an Zufälle, also will ich es lieber einmal Vorsehung nennen, dass ich einen 360°-Rundblick vornahm und so auch das Terrain in unserem Rücken mit meinem Fernrohr bestrich. Zunächst sah ich nur eine Staubwolke, aus der sich aber mehr und mehr Reiter herausschälten.
„Wir werden, fürchte ich, verfolgt, Winnetou!“
„Uff, uff, hat der ‚Große Bogen‘ etwa sein Wort, das er uns mit der Pfeife des Schwurs gegeben hat, gebrochen?“
„Ich denke, mein Bruder ahnt das Richtige, denn es sind eindeutig Kiowas, die sich da auf unserer Fährte befinden.“
Ich übergab das Fernrohr meinem Blutsbruder, sodass er nicht erst sein eigenes zücken musste. Jeff Robinson blieb ruhig, obwohl sich sicherlich eine große Aufregung seiner bemächtigte.
„Das sind bestimmt vier mal zehn Krieger; genau kann der Häuptling der Apatschen das auf die Entfernung nicht ausmachen, der stark aufgewirbelte Staub verhindert es.“
„Vorsicht ist besser als Nachsicht, daher sollten wir schnell zusehen, entweder auf die kahle Ebene hinauszukommen, wo wir jede Feindesannäherung sofort sehen …“
„… oder wir finden einen geeigneten Hügel, auf dem wir uns verschanzen können und alles gut im Blick haben“, ergänzte Winnetou.
„Wenn ich mich hier so umschaue, kann ich allerdings nirgends ein richtig kahles Gelände ausmachen.“
„Aber sieh, Scharlih, in nordöstlicher Richtung, sieht das nicht wie ein geeigneter Berg aus?“
Wenn man an die gigantischen Mountains der Rockys dachte, dann war das, was Winnetou da ausgemacht hatte, mehr ein ‚Hügelchen‘, aber immerhin besser als nichts.
„Dann lasst uns keine Zeit verlieren. Auf, auf!“
Jeff lenkte während des Galopps sein Pferd neben meines und schrie zu mir herüber:
„Kann man sich denn nicht auf das Rauchen der Friedenspfeife verlassen, Mr. Shatterhand?“
„Doch, eigentlich sogar einhundertprozentig.“
„Also handelt es sich bei denen da hinter uns vielleicht gar nicht um Za-ko-yeas Bande?“
„Das halte ich wiederum für unwahrscheinlich. Nirgends auf unserem Ritt ist uns zu Ohren gekommen, dass sich die Kiowas und Kiowa-Apatschen11 am Brazos River zum jährlichen Sonnentanz treffen würden.“
„Und was heißt das?“
„Zum Sonnentanz kommen immer viele Stämme an einem Ort zusammen, aber dafür ist es von der Jahreszeit her eigentlich schon zu spät. Insofern müsste ich mich schwer irren, wenn es sich nicht um Za-ko-yeas Kiowas handeln sollte, die da hinter uns herpreschen.“
Winnetou war uns inzwischen schon einige Pferdelängen voraus. Immer wieder bestrich ich das Gelände hinter uns durch das Fernrohr. Die Kiowas waren uns noch nicht nähergekommen. Bestimmt würde ihnen aber auffallen, dass wir den Pfad am Brazos River inzwischen in nordöstlicher Richtung verlassen hatten und nun unseren Ritt auf schwieriger zu meisterndem Untergrund fortsetzten.
Als wir an dem Hügel anlangten, war Winnetou mit Iltschi schon halb hinaufgeklettert. Da der Anstieg nur sanft war, brauchten auch wir nicht einmal abzusteigen.
Wir schreckten dabei einen Roadrunner12