Wilhelm R. Vogel, Biologe an der Universität Wien und danach 30 Jahre in der Umweltverwaltung tätig. Aufgewachsen in Baden, wohnhaft in Wien, verheiratet, zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Hobbys: Lesen, Reisen und Kochen, später auch Schreiben. 2009 wurde die erste Kurzgeschichte veröffentlicht, 2018 folgte der erste Roman.

Vom gleichen Autor:

Der Lockruf des Pirols oder ein September im Leben des Julius Wondraschek. Roman. 2018 in Wien bei myMorawa erschienen.

Unerwartetes – Unsentimentalische Kurzgeschichten aus der zweiten Lebenshälfte. 2018 in Wien bei myMorawa erschienen.

Das ultimative Risotto und andere wichtige Dinge im Leben – Kurzgeschichten. 2019 in Wien bei my-Morawa erschienen.

Der Puzzlespieler – Eine Kriminalerzählung. 2019 in Wien bei myMorawa erschienen.

Weitere Informationen finden Sie auf:
www.wrvogel.eu

Wer nichts weiß, muss alles glauben

Marie von Ebner-Eschenbach

Wilhelm R. Vogel

Verschollen in Marrakesch

Julius Wondraschek und die Freuden einer Gruppenreise

Vorwort

Verschollen in Marrakesch ist mein zweiter Roman mit Julius Wondraschek als Protagonisten. Dieser Band erzählt eine eigenständige Geschichte, schließt aber zeitlich an den ersten Band an.

Im Lockruf des Pirols hat Julius mit den für ihn neuen Herausforderungen des Pensionistendaseins zu kämpfen, bevor er in die Aufklärung eines Kriminalfalls verwickelt wird. Mit der Erfahrung, dass er sogar daheim in seinem Bett gewissen Gefahren ausgesetzt ist, entscheidet er sich dafür, auf Reisen zu gehen. Sehr zur Freude seiner Freundin Maria, die zwischenzeitlich ebenfalls in den Ruhestand getreten ist. Von dieser ersten Reise handelt Verschollen in Marrakesch. Ganz ruhig und gemütlich wollen sie es angehen. Eine geführte Gruppenreise nach Marrakesch erscheint ihnen dafür passend. Julius interessiert sich, wenngleich ungläubig, für Religion und hat bislang keinerlei Berührung mit dem Islam gehabt. Auch aus diesem Grund gefällt ihm die Destination. Zur Vorbereitung der Reise besucht er sogar die große Moschee in seiner Heimatstadt Wien.

In Marrakesch begibt sich Julius in die Souks, verirrt sich, macht erste unangenehme, aber auch angenehme Erfahrungen und bekommt langsam eine Vorstellung von dieser Stadt, die für ihn den Orient verkörpert. Auch seinen Mitreisenden gilt sein Interesse. Eine alte Dame, die mit ihrer Tochter reist, findet ebenso seine Beachtung wie zwei Frauen und ein Mann, die in einer pikanten Konstellation zu stehen scheinen. Auch die anderen Menschen erweisen sich als interessante Begleiter. Dann geschieht etwas Unerwartetes: Eine Person aus der Reisegruppe verschwindet plötzlich. Ein krimineller Hintergrund ist nicht auszuschließen. Julius kann nicht umhin, sich dieses Falles anzunehmen. Er beginnt zu recherchieren. Marokko fasziniert ihn, aber er merkt, wie schwer es für ihn ist, das Land und seine Menschen zu verstehen.

Beim Schreiben dieses Buches ist es mir vor allem darum gegangen, aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen und Menschen in ihrer Lebensrealität darzustellen. Das gilt in erster Linie für den Protagonisten Julius Wondraschek, der sein Interesse an der Welt nicht verloren hat und über vieles nachdenkt.

Ich bedanke mich bei meiner Familie für ihr Verständnis, bei Maria Deweis für das sorgfältige Lektorat, bei meiner Tochter Lena Grafeneder für die großartige Gestaltung des Covers. Bei Maria Purzner, die lange in islamischen Ländern gelebt hat, bedanke ich mich dafür, dass sie das Manuskript gelesen und wertvolle Anregungen gegeben hat. Ich bedanke mich auch beim Imam der Moschee am Bruckhaufen, Sheikh Salim Mujkanović, für die kritische Durchsicht des Kapitels über den Moscheebesuch.

Sollten Sie mehr über meine Bücher wissen wollen, so besuchen Sie mich bitte auf meiner Homepage www.wrvogel.eu.

Wilhelm R. Vogel

Wien, Herbst 2019

Er würde sich beschränken müssen. Missmutig wanderte Julius Wondraschek im Wohnzimmer auf und ab. Die Dielen seiner Altbauwohnung knarrten und knarzten bei jedem Schritt. Ein großer Koffer lag aufgeklappt auf dem riesigen Tisch in der Mitte des Raumes, daneben häuften sich Berge jener Dinge, die er mitzunehmen gedachte. Das Missverhältnis war offensichtlich. Das zweite Paar Schuhe, die Hausschuhe und die paar Kleidungsstücke waren kein Problem. Auch die Medikamente nicht: Blutdruckmittel, Vitamine, etwas gegen die Gicht, Mittelchen für und gegen Durchfall und ein paar Salben für etwaige Eventualitäten benötigten kaum Platz. Und er war eben nicht mehr der Jüngste.

Aber die Bücher! Völlig ausgeschlossen. Die würden niemals in den Koffer passen, vom Gewicht einmal ganz abgesehen.

Julius setzte sich in seinen bequemen Lehnstuhl und dachte nach. Er hatte die Dinge zusammengetragen, um einen ersten Überblick zu gewinnen. Und die Botschaft war klar: Er durfte kaum Literatur mitnehmen. Sieben bis acht Bücher gingen sich aus, mehr war nicht möglich. Das müsste eben ausreichen. Zwar würde er vor Ort keine Auswahl haben, aber zum Lesen war es genug. Damit gäbe es auch etwas Platz für etwaige Einkäufe. In zwei Wochen ging es los. Er würde mit Maria für knapp zehn Tage nach Marrakesch fliegen.

Noch vor einem Jahr wäre Julius einer derartigen Reise ausgesprochen kritisch gegenüber gestanden. Aber kurz nach Beginn seines Ruhestands war sein bester Freund gestorben. Die Polizei war von einem Suizid überzeugt, was für ihn unvorstellbar gewesen war. Und so hatte er, der immer noch voller Tatendrang war und dem die Arbeit fehlte, zu recherchieren begonnen. Lebensgefährlich zwar, aber letzten Endes erfolgreich, wie sich herausgestellt hatte.1

Dank der gewonnenen Erkenntnis, dass ihm auch seine gemütliche Altbauwohnung keinen wirksamen Schutz vor der Unbill dieser Welt zu bieten vermochte, hatte er sich langsam mit dem Gedanken angefreundet, wieder mehr zu reisen. Sehr zur Freude seiner Freundin Maria, deren Reiselust keine Grenzen kannte, die vor wenigen Wochen ebenfalls ihre Pension angetreten hatte und die jetzt kaum erwarten konnte, die gewonnene Freizeit zu nutzen. Eine Zeit freilich, die bei ihr als Wissenschafterin ohnehin anders aussehen würde.

Bei Julius, einem höherrangigen Verwaltungsbeamten in Wien, war die berufliche Tätigkeit mit dem Eintritt in den Ruhestand von einem Tag auf den anderen beendet gewesen, da es für ihn nichts mehr zu verwalten gab. Als pensionierter Beamter hatte er keine Funktion, aus der heraus er E-Mails schreiben, Meetings organisieren, Vorträge halten oder Strategien entwickeln konnte. Es war aus. Punkt! Und wenn man danach etwas anderes tun wollte als zu warten, dann musste man die Initiative ergreifen. Aber die Rentenüberweisungen kamen pünktlich. Das wusste er zu schätzen. Sonst geschah nichts von selbst. Freilich, wenn er Kinder und Enkelkinder hätte, dann wäre das sicher anders. Aber er war kinderlos geblieben. Wofür also leben? Das war die Frage, die er sich immer häufiger stellte.

Mit seinen kriminalistischen Recherchen hatte sich dieses Thema kurz nach dem Pensionsantritt erst einmal erübrigt. Aber nachdem der Fall nach einem Monat endlich gelöst war, war es mit unverminderter Heftigkeit wieder aufgetaucht. War das dem Leistungsdenken geschuldet, das er im Laufe seiner Karriere entwickelt hatte, was ihm nun zum Verhängnis wurde und ihn daran hinderte, endlich fröhlich und ohne Pflichten vor sich hin zu leben? Wäre dieses In-den-Tag-hinein-Leben nicht der Normalzustand des Homo sapiens, des vernunftbegabten Menschen, sobald dieser seinen Hunger und andere primäre Bedürfnisse gestillt hatte? Sollte es nicht genügen, Bücher zu lesen und sich ein wenig für die Gemeinschaft zu engagieren? Leistungsdenken als Fallstrick? Nicht nur für das einzelne Individuum, sondern für die ganze Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der ein Teil verbissen Überstunden machte, und in der ein anderer Teil keine Arbeit hatte, nach lange anhaltender Berufslosigkeit das Arbeiten verlernte und auch noch sein Selbstwertgefühl verlor. Er hatte ein erfülltes Berufsleben hinter sich. Das wusste er zu schätzen. Aber jetzt?

Hatte er sich nicht immer gewünscht, endlich Zeit zu haben, um all das zu tun, was ihm bisher sein Terminkalender verwehrt hatte? Konnte er nicht nach Belieben Bücher lesen, um etwas über die Welt zu lernen? Warum war er immer noch unzufrieden, wenn er nichts zu tun hatte? Aber das Reisen würde ihm helfen, sich die Zeit zu vertreiben und die Welt besser zu verstehen.

Bei Maria war das anders. Als habilitierte Universitätsprofessorin plante sie, weiter Vorlesungen zu halten. Für die Forschung hatte man ihr sogar einen kleinen Raum am Institut überlassen. Aber gegenwärtig stapelten sich in ihrer Wohnung vor allem Reisekataloge. Sie würden in den nächsten Jahren reisen. Viel reisen!

Beide freuten sich auf Marokko. Julius, der sich, wenngleich ungläubig, für Religionen interessierte und schon lange kein islamisches Land besucht hatte und Maria, die Land, Leute und vor allem Flora und Fauna des Landes, in dem auch sie noch nie gewesen war, kennenlernen wollte. Maria war Biologin und hatte sich auf Spinnen und deren Verhalten spezialisiert.

Mit Religion konnte sie nichts anfangen. Aus einer Atheistenfamilie kommend fehlte ihr dazu jeglicher Zugang. Daher würde er die Moschee in Floridsdorf in ein paar Tagen auch alleine besuchen. Julius hatte eine Einladung zu einer Führung gefunden und freute sich darauf. Gewissermaßen als Vorbereitung für Marokko, wo allerdings, soweit er wusste, nur Muslime die Moscheen betreten durften.

Dass es eine Gruppenreise, also eine geführte Reise, sein würde, hatte sich zufällig ergeben. Julius, dem diese Reiseform sicherer schien, hatte das Angebot entdeckt und Maria, die diese Reise ohnehin nur als den Anfang einer intensiven Reisetätigkeit betrachtete, hatte begeistert zugestimmt.

Eine Gruppenreise, dachte Julius, während er in seinem Lehnstuhl saß und die Mühen des Wegpackens ein wenig zu verzögern suchte, war sicherlich geeignet, um interessante Gespräche zu führen. Wie bei vielen intensiv berufstätigen Menschen war sein Freundeskreis immer kleiner geworden und hatte sich zuletzt auf ein paar Arbeitskollegen beschränkt. Von diesen teilte allerdings keiner seine privaten Interessen. Auch bei Maria gab es dafür Grenzen – so war etwa Religion etwas, mit dem sie nichts anfangen konnte. Julius erschien das nur natürlich. Dass manche an ihren Partner den Anspruch stellten, er müsse für alle Themen der ideale Gesprächspartner sein, schien ihm als Anmaßung.

Es musste sein! Julius stand auf und räumte den Tisch leer, er würde erst am Abend vor der Reise packen.

Erneut setzte er sich in seinen Lehnstuhl und schrieb eine Liste der mitzunehmenden Bücher. Die Auswahl fiel ihm leichter als erwartet. Er würde das grüne, recht dünne Heftchen mitnehmen, das er gekauft hatte, um die arabischen Schriftzeichen zu lernen, auch wenn er bisher bloß die ersten sechs Zeichen durchgearbeitet hatte. Eine unerwartete Schwierigkeit war dadurch aufgetreten, dass die Zeichen, je nach ihrer Stellung im Wort, anders geschrieben wurden. Ein und derselbe Laut konnte alleinstehend, am Anfang, in der Mitte und am Ende eines Wortes unterschiedlich aussehen, womit nicht bloß 25, sondern fast 100 Zeichen zu lernen waren. Darüber hinaus schien es eine Menge Hilfszeichen zu geben. Auch gab es offenbar so etwas wie unterschiedliche Schreibtraditionen. Und an eine Entschlüsselung der eindrucksvollen und mit vielen Schlaufen und Windungen versehenen Dekorativschriften hatte er sich ohnehin noch nicht herangewagt. Aber es war ja auch sein erster Versuch auf diesem Gebiet. Zwei Reiseführer setzte er auf die Liste. Ein Buch über marokkanische Märchen und Legenden, zwei Bücher über den muslimischen Glauben und ein Buch über die Zeit der Aufklärung im Islam ergänzten seine kleine Reisebibliothek. Den Rest würde er eben vor oder nach dem Aufenthalt in Marokko lesen.

Morgen, so hatte ihm der Verkäufer versichert, könne er sein neues Smartphone abholen. WLAN sollte es ja in jedem Hotel geben. Er hatte sich lange geweigert, ein solches Mobiltelefon zu kaufen, aber jetzt, nachdem er sich einmal entschieden hatte, schien es ihm unverzichtbar. Nicht zum Telefonieren, dafür würde er es selten verwenden. Aber die Aussicht, jederzeit und überall im Internet recherchieren zu können, versetzte ihn in Aufregung. Was er bisher nur daheim am Laptop eruiert hatte, war damit in jedem Kaffeehaus, in der Straßenbahn und sogar auf der Straße möglich. Zumindest in der EU, wo bei seinem Vertrag kaum Roaming-Gebühren anfielen. Er konnte es kaum erwarten, das Gerät in den Händen zu halten.

Julius fand diese Demokratisierung des Wissens erstaunlich. Was früher nur große Bibliotheken zu leisten imstande gewesen waren, konnte man jetzt mit einem dieser kleinen Geräte erreichen. Und das mit unvergleichlich höherer Geschwindigkeit. Entgegen der allgemeinen Ansicht, dass man nicht mehr viel lernen müsse, da ohnehin alles im Internet stünde und Wissen daher einen unnötigen Ballast darstelle, fand er, dass eine gute Bildung durch das Netz noch wichtiger geworden war. Im Internet wurden, neben relevanten und korrekten Informationen, unentwegt Unmengen haarsträubenden Unsinns verbreitet. Ohne eine solide Bildung würde man den vielen Scharlatanen auf den Leim gehen. Gewisse Zugangsgrenzen blieben demnach weiterhin bestehen. Aber war es nicht in allen gesellschaftlichen Prozessen genauso? Er dachte an die Zeitungen und Wochenblätter, die er in den Kaffeehäusern der Stadt las. Trieben nicht auch hier viele Scharlatane ihr Unwesen und waren nicht auch hier die einzigen Gegenmittel ein solides Wissen und eine kritische Herangehensweise?

1 Siehe: Der Lockruf des Pirols

Der Handykauf am nächsten Tag war ausgesprochen erfreulich. Julius musste etwas warten und vertrieb sich die Zeit damit, seine Umgebung zu beobachten.

Er sah einer Gruppe von fünf Jugendlichen zu, die im Hintergrund des Geschäfts vor einem Spiegel Kopfhörer ausprobierten. Sitz und Akustik sind natürlich wichtig, aber dafür benötigte man keinen Spiegel. Offenbar waren auch Kopfhörer zu einem modischen Accessoire geworden.

Am Verkaufstisch vor ihm stand eine junge Frau mit zwei Mädchen, eines davon war offensichtlich ihre Tochter. Die Frau hatte ein Problem damit, sich für einen der auf dem Tisch liegenden Taschenrechner zu entscheiden. „Die sind doch ohnehin alle gleich“, hatte sie gemeint. Julius, der immer ein ordentlicher Beamter gewesen war, seit seiner Pensionierung aber zunehmend Gefallen daran fand, Verwirrung zu stiften, warf ein: „Er sollte halt richtig rechnen können.“

„Die rechnen alle richtig!“ Der Verkäufer, ein junger Anzugträger mit viel Selbstbewusstsein, hatte das sehr herablassend gesagt.

„Rechnen Sie 5 plus 2 mal 2!“

„Neun“, das Mädchen, von dem Julius annahm, dass es die Tochter der jungen Frau war, hatte das gesagt, ohne zu zögern. Das andere Mädchen, offenbar ihre Freundin, hielt sich zurück.

„Falsch, es ist vierzehn.“ Der Verkäufer grinste.

„Richtig ist neun“, wiederholte das Mädchen trocken. Sie war sich ihrer Sache sicher.

„Stimmt, es ist neun!“, bestätigte Julius, „probieren Sie einen anderen Rechner.“

Siegessicher nahm der Verkäufer den nächsten Rechner, ebenfalls ein einfacheres Modell.

„Vierzehn, so ist es eben.“

„Siehst du!“, die Mutter sagte das in einem zurechtweisenden Ton und sah den Verkäufer um Entschuldigung heischend an.

„Nehmen Sie einen besseren Rechner, z. B. den da!“ Julius wies auf ein Gerät mit deutlich mehr Funktionen.

Der Verkäufer tat, wie geheißen. „Neun!“, sagte er verblüfft, und nahm von sich aus einen weiteren, noch teureren Taschenrechner, um die gleiche Rechnung hineinzutippen. Das Ergebnis war wiederum neun.

Das Mädchen sah zufrieden aus. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und sah zu Julius hinüber, der ihr mit dem Daumen nach oben ein Zeichen machte.

Die Welt des Verkäufers war erschüttert worden, das konnte man ihm ansehen. „Das verstehe ich nicht, das muss ich der Firma melden.“

„Punktrechnung vor Strichrechnung, aber das wissen offenbar nur die besseren Taschenrechner“, klärte das Mädchen seine Freundin auf.

Julius gefiel das. Das Geschäft war weitgehend leer und so machte er einen weiteren Vorschlag: „Multiplizieren Sie alle Zahlen auf den Tasten miteinander. Von eins bis neun und dann noch mit null.“ Er warf dem Mädchen einen aufmunternden Blick zu.

Nach der eben erlittenen Niederlage wagte der Verkäufer nicht zu widersprechen. Er begann zu tippen.

„Für so lange Rechnungen benötigt man eben einen Taschenrechner. Im Kopf kann man das nicht ausrechnen, und wozu sollte man sich heutzutage damit auf dem Papier plagen?“ Der Mutter war diese neuerliche Verzögerung gar nicht recht.

„Die Lösung ist null!“, sagte das Mädchen triumphierend. Julius deutete wieder mit dem Daumen nach oben.

„Das kann nicht sein, ich bin schon bei über fünftausend.“ Der Verkäufer hatte wirklich keine Ahnung von Mathematik. Jetzt fehlte nur noch die abschließende Multiplikation mit der Null. Endlich war er fertig.

„Null!“, meinte er verwirrt.

„Kompliment, Sie haben eine ausgesprochen kluge Tochter!“ Julius hatte sich zu der Frau gewandt. „Aus ihr wird sicher einmal etwas Besonderes, vielleicht eine Wissenschafterin.“ Er verbeugte sich. Das Mädchen strahlte. Die Mutter hingegen erweckte den Anschein, dass ihr eine dümmere, aber weniger vorlaute Tochter lieber gewesen wäre. Bei der Tür drehte sich das Mädchen unter den missbilligenden Blicken ihrer Mutter um und zeigte Julius ihrerseits den nach oben gerichteten Daumen.

Offenbar, so stellte Julius fest, konnte auch Mathematik die Generationen verbinden. Wie die Musik, dachte er. Mathematik und Musik hatten offenbar viele Gemeinsamkeiten. In gewisser Weise war Musik angewandte Mathematik. Julius fragte sich, ob es mit der Begabung für Mathematik ähnlich war, wie mit jener für Musik. Bei Musik hatte man keinerlei Zweifel, es gab musikalische und unmusikalische Personen. Auch beim Sprachenlernen gestand man den Menschen mehr oder weniger Talent zu. Bei Mathematik ging man eher davon aus, dass man diese jedenfalls erlernen konnte. Julius, der schon genug Menschen mit Hochschulabschluss erlebt hatte, die bei einfachen Prozentrechnungen gescheitert waren, war sich dessen nicht so sicher.

Endlich hatte der Verkäufer Zeit für ihn. Ehrfürchtig nahm Julius das Gerät in Empfang, von dem er wusste, das es eine Rechenleistung hatte, die jene sämtlicher Computer bei der Mondlandung 1969 übertraf.

Gut gelaunt schlenderte er heimwärts. Schön, dass es noch Menschen gab, die mit Mathematik etwas anzufangen wussten! Den Rest des Tages würde er seinem Smartphone widmen und alle Funktionen erlernen. Er hatte ein gutes Modell gekauft, quasi das Spitzenmodell vom vergangenen Jahr. Das sollte einiges können.

Spät am Abend hatte er die für ihn wichtigsten Funktionen annähernd verstanden, zur Kenntnis genommen, dass er für die meisten Features keine Verwendung hatte, und bei vielen nicht einmal deren Zweck verstand. Mit diesen würde er sich erst im Anlassfall beschäftigen. Alle Funktionen zu beherrschen war offenbar weder erforderlich noch möglich.

So ein Smartphone war ein offenes System. Wenn man etwas Neues benötigte, lud man es einfach aus dem Netz herunter. Das nannte man App. Er hatte das mit einer Taschenlampenfunktion versucht, einer Anwendung, die zwar vorinstalliert war, die er aber nicht gleich gefunden hatte. Als diese App aber behauptete, um funktionieren zu können auf sein Adressbuch, den Mailverkehr, die Kamera und die Fotos zugreifen zu müssen, hatte er sie sofort deinstalliert. „Deppen“, murmelte er vor sich hin. Aber vermutlich war das nur einer von tausenden Tricks, um an die im Gerät gespeicherten Daten zu kommen. Und vermutlich war er auf einige der Tricks bereits hereingefallen. Julius ging zu Bett.

Im Bett liegend, die Augen zur Decke gerichtet, ließ er seine Erfahrungen mit der IT Revue passieren. In seiner Mittelschulzeit hatte es noch keine Taschenrechner gegeben, zumindest nicht in seinem Umfeld. Man rechnete auf dem Papier, benutzte Logarithmentafeln oder den Rechenschieber. Auf der Universität gab es dann die ersten Spezialisten, die bereits mit Computern umgehen konnten. Als Datenträger verwendete man Lochkarten.

Einmal war Julius Zeuge einer Datenbankabfrage geworden. Ein kundiger Mensch hatte das System am Institut vorgestellt. Die technische Einrichtung dafür sah aus wie eine Kugelkopfschreibmaschine. Im Prinzip war sie das auch. Allerdings hatte diese Schreibmaschine hinten ein Loch, in welches man den Telefonhörer, nach dem Zustandekommen der Verbindung, einhängen konnte. Über diesen Akustikkoppler, der die Anschläge in Töne umwandelte, kommunizierte das Gerät mit einer wissenschaftlichen Datenbank in den USA. Man spannte ein Blatt Papier ein und schrieb, den strengen Abfrageregeln folgend, drauflos. Nach einiger Zeit begann die Maschine, wie von Zauberhand, selbstständig die Antworten niederzuschreiben. War das Papier zu Ende, musste man ein neues Blatt einlegen.

Dann kam der erste Computer in die Abteilung, in der er als Assistent arbeitete. Der IBM portabel hatte etwa die Größe eines Reisekoffers und trug auf der Schmalseite ein winziges Display, alphanumerisch und bernsteinfarben. Gespeichert wurde auf Floppy Disks. Auf einer dieser Disketten waren das Betriebssystem, der Wordstar und die Textdateien gespeichert. Als die Floppy Disk voll war, stellte sich die Frage nach dem Ankauf einer Festplatte. Eine 20-MB-Platte wurde erworben. Dafür zahlte man den Gegenwert von mehr als zwei Monatsgehältern eines jungen Assistenten.

Wenig später herrschte helle Aufregung in der Abteilung. Ein erstes Virus war entdeckt worden. Der Computer, der immerhin bereits über einen Sprachprozessor verfügte, meldete:

„Water detected in drive C!“

Diese Meldung war von einem Glucksen begleitet. Dann wurden, so die Meldung, die Pumpen angeworfen und zum Schluss wurde ein Trockenprogramm gestartet, das akustisch an den Schleudergang einer Waschmaschine erinnerte. Danach kam die Meldung, dass man weiterarbeiten könne.

Was zu tun war, war klar. Ein Blick ins autoexec.bat, dort musste der Pfad für die Datei stehen, sonst würde sie nicht automatisch starten. Damals gab es dort nicht mehr als drei bis vier Eintragungen. Eine neue Datei fiel sofort auf. Diese Datei wurde auf Disketten kopiert und man schwärmte aus, um unbewachte Computer zu suchen. Passwörter waren damals nicht üblich. Da es noch kein Netzwerk gab, war das die einzige Möglichkeit der Übertragung eines Virus.

Wenig später, als angehender Beamter in der Verwaltung, machte Julius seine ersten Erfahrungen mit dem Netz. Das Internet gab es noch nicht, aber einen Vorläufer, der hieß Gopher. Seine erste Datenbankabfrage würde er nie vergessen. Austrian Culture‘ hatte er eingetippt und bloß eine Antwort bekommen: ein Rezept für yeast dumplings. Das Rezept war in Englisch, die Maßangaben für die Produktion der Germknödel in Unzen.

Sein neu erworbenes Smartphone lag außer Reichweite am Schreibtisch, aber es musste sein. Julius stand auf und tippte ‚Austrian Culture‘ in die Suchmaschine. Das Ergebnis: knapp 62 Millionen Treffer.

Bereits wieder im Bett stellte sich Julius die Frage, wie diese Entwicklung weitergehen würde. Würde sich die Technik in den nächsten vierzig Jahren weiter so schnell entwickeln und würden die jetzt noch jungen und mit allen Wassern des Internets gewaschenen Kids in seinem Alter ebenso sprachlos auf diese Entwicklung zurückblicken? Würde es überhaupt noch eine bewusste Interaktion mit diesem Medium geben, oder würde alles im Hintergrund ablaufen und man selbst als Teil eines undurchschaubaren Ganzen agieren, ohne zu verstehen, was geschah? Was bedeutete das für die Entwicklung des Menschen? Julius hatte einiges über Ideen zur Weiterentwicklung des Menschen gelesen. Eine Weiterentwicklung, die man sich technisch oder chemisch vorstellte, und bei der die Fähigkeiten der Menschen durch gezielte Eingriffe gewaltig gesteigert würden.

Erste Schritte war man bereits gegangen. Im Wesentlichen hatte man sich dabei aber auf Reparaturen beschränkt. Ob falsche Zähne oder Hüftgelenke aus Titan, immer ging es darum, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Ebenso ging man bei chemischen Mitteln, wie Blutdrucksenkern oder Antidiabetika, vor.

Aber wäre das nicht auch anders möglich? War Doping vielleicht nur ein Anfang und man würde leistungssteigernde Mittel in Zukunft nehmen wie heute Vitaminpillen? Gab es nicht auch die Möglichkeit, durch Operationen zahlreiche Fähigkeiten zu verbessern und den Körper an die neuen Herausforderungen besser anzupassen? Das könnte auch die Verwertung bisher unerschlossener Nahrungsquellen betreffen. Implantierte Gelenke könnte man mit Motoren ausstatten und so die körperlichen Fähigkeiten steigern. Und natürlich würde das gleichermaßen den geistigen Bereich erfassen. Nachdem, wie er täglich beobachtete, viele, vor allem jugendliche, Menschen keinen Augenblick ohne ihr Smartphone sein konnten, wäre es naheliegend, gewisse Funktionen zu implantieren.

Diesem Transhumanismus würde, so eine der Theorien, ein Posthumanismus folgen, in dem der Mensch die körperlichen Grenzen verlassen und womit sogar die – zumindest theoretische – Unsterblichkeit denkbar würde. Im Extremfall wäre das erreichbar, indem man das Bewusstsein in technische Geräte transferierte. Julius war sich nicht klar darüber, was das für den Einzelnen und für die Menschheit bedeuten würde. War es ein Fortschritt oder war es der Anfang vom Ende? Und war es nicht vielleicht eine Gnade, so alt zu sein, dass einen das nicht mehr tangieren würde?

Heute, am Tag vor der Abreise, stand der Besuch der Moschee auf dem Programm. Aus diesem Grund suchte sich Julius seine Socken mit besonderer Sorgfalt aus. Kopftücher für Frauen wären nicht erforderlich, hatte man ihn informiert, aber die Schuhe müsse man ausziehen, der Teppiche wegen. Und da wollte er nicht unbedingt mit löchrigen Socken daherkommen.

Eigentlich ist es absurd, dachte er, in Österreich leben etwa 700.000 Muslime, und die meisten Nichtmuslime haben keine Ahnung von deren Leben. Man kennt seine Nachbarn nicht und ist daher auf die Berichte in den Medien angewiesen, die in vielen Fällen von genauso ahnungslosen Menschen geschrieben werden und häufig bloß Vorurteile abbilden. Aber zumindest er würde heute etwas dazulernen.

Die Moschee war Ende der siebziger Jahre vom stadtbekannten Baumeister Richard Lugner errichtet worden. Zwar gab es in Wien an die hundert Moscheen, manche davon waren nur kleine, versteckte Gebetsräume. Die Moschee am Bruckhaufen in Floridsdorf war jedoch die Einzige in Wien, die auch von außen als Moschee erkennbar war: mit einer großen Kuppel und einem Minarett versehen.

Vor der Moschee lud ein Schild interessierte Personen zum Besuch ein. Zwölf Leute waren es an diesem Tag, fast nur ältere Menschen. Das mochte aber auch an der Zeit liegen – die Führung fand an einem Wochentag um zehn Uhr statt. Die Gruppe bestand überwiegend aus Frauen. Nur drei Männer waren gekommen.

Der Imam stellte sich vor und bat die Gäste in die Bibliothek. In der Mitte des Raumes waren Tische zu einem großen Rechteck zusammengestellt, an dem etwa vierzig Menschen Platz gehabt hätten. Er war einer der drei Imams der Moschee, noch relativ jung, stammte vom Balkan, sprach perfekt deutsch und offenbar auch arabisch. Routiniert erklärte er den Anwesenden die Grundelemente des Islam. Julius kannte die meisten Fakten und konzentrierte sich daher auf die Art der Präsentation. Der Imam hatte einen gepflegten, teilweise ausrasierten Bart, trug Alltagskleidung mit einem weißen Hemd und einem Sakko, jedoch keine Krawatte, und nichts wies auf seinen Beruf hin. Er sprach ohne Pathos, offensichtlich bemüht, seinen Gästen ein gewisses Grundverständnis zu vermitteln und wohl auch die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Zu Beginn stellte er die Beziehungen der drei großen monotheistischen Religionen dar. Nach islamischer Auffassung gab es einen Gott und mehrere Propheten, welche über diesen berichtet hatten. Demnach hatte das Christentum das Judentum ergänzt und der Islam hatte diese Entwicklung schließlich vervollständigt. Zu den vom Islam anerkannten Propheten gehörten auch Noah, Abraham, Lot, Moses, David, Salomon, Johannes der Täufer und Jesus, der eine besondere Wertschätzung genoss. Dessen Mutter Maria – die jungfräuliche Empfängnis gehörte offenbar auch zum islamischen Glaubenskanon – war sogar eine eigene Sure gewidmet.

Mohammed wurde als letzter Prophet angesehen, der mit dem Koran die Prophezeiungen vervollständigt hatte. Adam und Eva kannte man im Islam ebenfalls, allerdings hatte in ihrer Überlieferung Gott den ersten Sündenfall verziehen, weshalb es keine Erbsünde gab.

Zwei Engel hätte jeder Mensch, erklärte der Imam weiter, die die guten und schlechten Taten mitschrieben. Mit drei Ausnahmen: Kinder würden nicht bewertet, ebenso Geisteskranke und Schlafende. Die Menschen würden am Jüngsten Tag, der nicht bekannt war, aber jedenfalls auf einen Freitag fallen würde, Rede und Antwort stehen müssen.

Danach erzählte der Imam über seine Moschee. An Freitagen kamen an die 2.500 Menschen, um mittags hier zu beten, dazu wurden das große Zelt, das Julius vor der Moschee aufgefallen war, und die Gänge als zusätzlicher Gebetsraum benützt. Die Predigt wurde über Lautsprecher übertragen. Gepredigt wurde auf Arabisch mit einer Übersetzung ins Deutsche. In anderen Moscheen predigte man oft in türkischer oder bosnischer Sprache, allerdings würde Deutsch immer wichtiger, weil es vor allem für die Jungen die Sprache war, die sie am besten beherrschten. Das war vor allem dann wichtig, wenn es um komplexe Zusammenhänge ging. Deutsch war ihre Schulsprache. In dieser Sprache lernten sie, die Welt zu verstehen.

Julius empfand die Atmosphäre sehr angenehm. Nach vielen, sehr offen gestellten und ebenso offen beantworteten Fragen wechselte die Gruppe in den Gebetsraum. Sie zogen die Schuhe aus und folgten der Einladung des Imams, sich auf den weichen Teppichen niederzulassen. Umständlich setzte sich Julius auf den Boden. Das Aufstehen würde nicht so einfach sein.

Dicht gedrängt stünde man hier, erklärte der Imam, und dass ein wenig Körperkontakt dazugehöre. Deshalb hätten die Frauen auch einen eigenen Raum auf dem Balkon. Er zeigte die für das Gebet vorgeschriebenen Bewegungen – eine Abfolge von Handbewegungen und Niederwerfungen, die beim Morgengebet, das war das kürzeste, zweimal und beim Mittagsgebet, das war das längste, viermal zu vollziehen wären.

Immer wieder kam jemand herein, um zu beten. Julius bewunderte die meist älteren und mitunter übergewichtigen Männer, die sich scheinbar mühelos auf den Boden warfen und wieder aufstanden.

Julius versuchte, den Unterschied zu einer Kirche zu erfassen. An Einrichtung fand er eine Gebetsnische für den Imam – offensichtlich so geartet, dass der Ton, wenn der Vorbeter, vor allen anderen stehend, aber ebenfalls nach Mekka gerichtet, seine Gebete verrichtete, zurückgeworfen wurde und damit für die anderen gut hörbar war. Auch eine hölzerne Kanzel für die Predigt gab es. Sonst war der Raum leer und, abgesehen von den bemalten und teilweise mit Fliesen eindrucksvoll dekorierten Wänden, schmucklos.

An der hinteren Wand war eine Reihe offenbar bequemer Klappfauteuils montiert. Julius hatte sie beim Eintreten nicht gesehen. Trotz der unerwarteten Weichheit des Teppichs schmerzte ihn das ungewohnte Sitzen, aber er hielt durch. Für einen Wechsel war es ohnehin zu spät.

Anders als katholische Kirchen, die man mit rituellen Gesten betrat und die, auch wenn gerade menschenleer, immer feierlich wirkten, schien es Julius, dass der große Raum seine religiöse Atmosphäre erst durch die dort betenden Menschen erhielt. Er ähnelte darin den protestantischen Kirchen, die für ihn ihre Feierlichkeit auch erst durch die jeweiligen Aktivitäten bekamen.

In der Einladung war darauf hingewiesen worden, dass Frauen bei dieser Führung keinen Schleier tragen mussten. Von den bei der Führung anwesenden Frauen trug tatsächlich keine eine Kopfbedeckung.

Erneut beantwortete der Imam Fragen. Das Familienbild war erwartungsgemäß konservativ. Männer waren verpflichtet, für ein entsprechendes Einkommen der Familie zu sorgen, Frauen konnten das, wenn sie wollten. Es gab für sie aber keine Verpflichtung dazu.

Männer durften Christinnen heiraten, anders herum war es aber nicht möglich. Auch das hing mit der Verantwortung des Mannes für die Familie zusammen. Daher musste der Mann jedenfalls ein Moslem sein.

Auf die Frage nach gewaltbereiten religiösen Gruppierungen antwortete der Imam sehr direkt. Bedauerlicherweise gäbe es Gruppen, die oft von verblendeten Menschen ohne religiöse Bildung angeführt wurden, und die ihre Ansichten mit Gewalt durchsetzen wollten. Seiner Meinung nach widersprach das dem Glauben. Der Imam betonte, dass in der Religion keinerlei Zwang ausgeübt werden durfte. Die Realität sah nicht immer so aus, dachte Julius. Nicht im Islam und, zumindest in der Vergangenheit, auch nicht im Christentum.

Missionstätigkeiten ließen sich aus den Prophezeiungen nicht ableiten und wären daher abzulehnen, fuhr der Imam fort. Aber wer freiwillig käme, wäre willkommen. Auch wenn er bloß Fragen hätte oder sich Sorgen darüber machte, was denn in der Moschee in seiner Nachbarschaft geschah.

Julius fand, dass viel zu wenige von diesem Angebot Gebrauch machten. Viele der unsinnigen Diskussionen, die er mitbekommen hatte, hätte man sich so ersparen können.

Wie es denn für die Familie wäre, fragte eine der Frauen, wenn ein Jugendlicher den Islam verlassen wolle. Der Imam räumte ein, dass man hier Religion und gelebte Praxis unterscheiden müsse. Aus Sicht der Lehre stünde die Freiwilligkeit im Vordergrund. Niemand dürfe zum Glauben gezwungen werden. In manchen Familien würde das vielleicht anders gehandhabt. Julius vermutete das auch.

Nachdenklich verließ Julius die Moschee. Er hatte wieder etwas gelernt und hing seinen Gedanken nach.

Die drei abrahamitischen Religionen bildeten ursprünglich allesamt die Moralvorstellung zur Zeit ihrer Gründung ab. Unterwerfung war das, was die Herrscher forderten, ein selbstständig denkendes und entscheidendes Volk war undenkbar. Aber die Zeiten hatten sich geändert und eine Religion, die sich nicht den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechend weiterentwickelte, musste zwangsläufig irgendwann im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Vorstellungen stehen.

Der Imam hatte darauf hingewiesen, dass man in Österreich keine Ausbildung zum Imam absolvieren konnte, was aber wünschenswert wäre.

Julius sah das auch so. Natürlich färbt die Gesellschaft in der man lebt und studiert auf die Glaubensinhalte ab. Und vermutlich machte es einen Unterschied, ob man das in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft tat, in der Demokratie und Frauenrechte kein Thema waren, oder in einer Demokratie, die um Gleichberechtigung rang. Drei Imams hatte die Moschee. Der Imam, der die Führung gemacht hatte, sprach perfekt Deutsch, Arabisch und als Muttersprache Bosnisch. Ein weiterer Iman sprach neben etwas Deutsch auch Bosnisch, Arabisch, Türkisch, Bulgarisch und Russisch, was Julius einiges an Achtung abrang.