David Goeßmann, geboren 1969, ist Autor, Journalist und Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenmagazins Kontext TV. Er arbeitete unter anderem für den Deutschlandfunk und die Deutsche Fernsehnachrichten Agentur, produzierte investigative Berichte für »ZDF WISO« und die TV-Sendung »ZAPP Medienmagazin«. Von 2005 bis 2007 agierte Goeßmann als freier Auslandskorrespondent in den USA für den ARD-Hörfunk, Spiegel Online und Die Welt. In Features, Artikeln und Buchbeiträgen analysiert er seitdem Fehlentwicklungen in Politik und Medien. 2019 erschienen von ihm die Bücher »Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden« und »Von links bis heute: Sahra Wagenknecht«.
Fabian Scheidler ist freischaffender Autor und Mitbegründer des unabhängigen Fernsehmagazins Kontext TV. 2009 erhielt er den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. Als Dramaturg und Theaterautor arbeitete er viele Jahre für das Berliner Grips Theater. Für das globalisierungskritische Netzwerk Attac übernahm Fabian Scheidler u.a. die Programmkoordination des Bankentribunals an der Volksbühne Berlin. 2013 wurde seine Oper »Tod eines Bankers« in Görlitz uraufgeführt. 2015 erschien im Promedia Verlag »Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation«, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 2017 folgte »Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen«.
Webseiten: www.fabian-scheidler.de | www.megamaschine.org
Als wir Kontext TV im Jahr 2009 gründeten, befand sich die Welt mitten in der größten Finanzkrise seit 1929. Der UN-Klimagipfel in Kopenhagen stand bevor, soziale Bewegungen und NGOs rund um den Planeten mobilisierten, um für ein ambitioniertes Abkommen zu streiten. Heute, zehn Jahre später, haben sich die sozialen und ökologischen Krisen weltweit zugespitzt. Eine kleine Zahl von Milliardären verfügt über einen immer größeren Teil der Vermögen und Einkommen. Und das auf einem Planeten, der durch die sich ausweitende Klimakrise und den Ressourcenraubbau an den Rand des Abgrunds gesteuert wird. Gleichzeitig destabilisieren Kriege weiter ganze Regionen, während ein neuer Kalter Krieg mit Russland die atomare Bedrohung verschärft.
Die Regierungen der Industrieländer erweisen sich jedoch als unfähig oder unwillig, der zunehmenden sozialen Spaltung, dem ökologischen Kollaps und den militärischen Eskalationen etwas entgegenzusetzen. In vielen Fällen wirken sie vielmehr als Krisenbeschleuniger, indem sie zugunsten von Wirtschaftslobbys und geopolitischen Interessen eine gesellschaftliche Neuausrichtung sowie eine nachhaltige Friedenspolitik blockieren. Statt in eine lebenswerte Welt für alle zu investieren, wird ein beträchtlicher Teil staatlicher Gelder weiter in die Finanzindustrie, in fossile Infrastrukturen sowie in steigende Rüstungsausgaben kanalisiert.
Dieses Politikversagen hat Konsequenzen. Auf der einen Seite sehen wir einen Aufstieg rechter Parteien und Demagogen, die von den Krisenursachen ablenken und die Wut der Menschen auf Sündenböcke umleiten, vor allem auf Migranten und Flüchtlinge. Auf der anderen Seite verlangen Menschen weltweit immer lauter – angefangen vom Arabischen Frühling über die Occupy-Proteste bis hin zum Widerstand gegen die Kürzungspolitik in Europa – einen Kurswechsel von den Verantwortlichen. Zunehmend verbinden sich auch ökologische und soziale Bewegungen miteinander, um »system change, not climate change« zu fordern. Am 21. September 2019 gingen weltweit mehr als vier Millionen Menschen für einen Klimastreik auf die Straße – eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Menschheit. Allein in Deutschland waren es 1,4 Millionen.
Das wachsende Engagement wurzelt dabei in der jahre- und jahrzehntelangen Organisation von Bewegungen, die aber wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Sie arbeiten meist im Schatten der medialen Scheinwerfer an einer zukunftsfähigen Welt. Kontext TV hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Stimmen hörbar zu machen. So sind wir etwa zu den Weltsozialforen nach Dakar (2011) und Tunis (2013) gefahren, waren beim Klimagipfel in Paris (2015) oder beim alternativen Weltwasserforum in Marseille (2012) präsent und haben die weltweite Finanzkrise aus der Perspektive von Ländern beleuchtet, die am meisten darunter zu leiden haben. Die Aktivisten und Expertinnen, denen wir dort begegneten, wirken in der Regel jenseits von Parteien und mächtigen Lobbyorganisationen.
In diesem Buch versammeln wir nun erstmals eine Auswahl dieser kritischen Stimmen aus vierzehn Ländern von sechs Kontinenten. Es sind Ökonominnen und Journalisten, Aktivisten und Wissenschaftlerinnen, die eine Fülle an Wissen und Einsichten zur Verfügung stellen, die für einen gesellschaftlichen Umbau dringend gebraucht werden, ob es um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen (Kapitel 1), eine gerechte Wirtschaftsordnung (Kapitel 2) oder die Beendigung von Kriegen und Ausbeutung (Kapitel 3) geht. Im letzten, vierten Kapitel wagen wir mit unseren Gästen einige beispielhafte Ausblicke auf eine bessere Welt – und darauf, wie sie erstritten werden könnte.
Was alle unsere Gäste verbindet, ist ihr Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit. Beides hängt untrennbar miteinander zusammen. Wenn Menschen kein realistisches Bild der Krisenursachen haben, können sie schwerlich eine gerechte und friedliche Zukunft für alle schaffen. In seiner Unterstützungsbotschaft für Kontext TV hat Noam Chomsky es so formuliert:
Die gegenwärtige Gesellschaft steht Problemen mit schicksalhafter Bedeutung gegenüber. Es gibt eine Reihe von komplexen Sachverhalten und Faktoren, die oft wenig verstanden werden. Wenn weiter Hoffnung bestehen soll, Aufgaben ernsthaft anzugehen, die in ihrer Reichweite das Überleben der Gattung Mensch betreffen, ist es äußerst wichtig, dass demokratische Prozesse in einer konstruktiven Weise ablaufen. Die Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Bürger leichten Zugang zu korrekten und präzisen Informationen erhalten, zu einer substantiellen Vielfalt von Perspektiven, die sie ermutigen, klar und kreativ zu denken. Kurz: Demokratien benötigen unabhängige Medien, frei von den Einschränkungen, die durch Machtkonzentrationen und rigide ideologische Rahmenbedingungen erzwungen werden. Sie benötigen Medien, die politische Organisationen und Aktivisten anregen und zugleich von deren Erfahrungen und Ideen profitieren.
Die Gründung von Kontext TV im Spätherbst 2009 war inspiriert von dem US-amerikanischen Graswurzelsender Democracy Now, der frei von Werbung, wirtschaftlichem Einfluss und staatlicher Macht arbeitet, finanziert vor allem durch die Zuschauerinnen und Zuschauer. Auch Kontext TV ist seit der Gründung werbefrei. Zugleich sind alle unsere Sendungen als Creative Commons unter www.kontext-tv.de frei zugänglich.
Die Sendungen von Kontext TV und damit auch dieses Buch wären nicht möglich gewesen, ohne den Einsatz und die Unterstützung vieler Menschen. Die meisten von ihnen waren und sind ehrenamtlich tätig. Danken möchten wir hier insbesondere den Vorständen und Gründungsmitgliedern unseres gemeinnützigen Vereins Kontext Medien e. V. Heide Frey, Martin Hoffmann und Andrea Vetter, unserer Buchhalterin (und Vereinsmitbegründerin) Antje Laug sowie unseren Webmastern Ömer Gülmez und Christian Niemitz-Rossant. Neben uns als Kern-Redaktionsteam hat auch die Journalistin und Dokumentarfilmerin Theresia Reinhold Interviews mit vorbereitet und geführt. Danken möchten wir auch unseren Übersetzerinnen und Übersetzern, die Interviews vom Englischen, Französischen und Spanischen ins Deutsche übertragen haben. Sie werden namentlich am Ende der jeweiligen Beiträge aufgeführt. Dort sind auch die Weblinks zu den Original-Videos und Transskripten der Interviews auf Deutsch und – soweit verfügbar – auf Englisch zu finden. Nicht zuletzt haben es uns die Spender und Vereinsmitglieder von Kontext TV sowie gemeinnützige Stiftungen wie Nord-Süd-Brücken, Umverteilen und Brot für die Welt/EED ermöglicht, bis heute rund 180 Interviews mit Gästen aus der ganzen Welt zu führen und für alle Interessierten zugänglich zu machen.
Fabian Scheidler und David Goeßmann
Berlin, im November 2019
Klimamodelle hätten einige wichtige Aspekte des Klimawandels bisher unterschätzt, so der weltweit renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf. Arktis und Antarktis schmelzen deutlich schneller als bisher angenommen. Bereits bei einem Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern bis einem Meter seien Küstenstädte wie New York durch eine Zunahme von Sturmfluten existentiell bedroht. Die Veränderung von Luftströmungen wie dem Jetstream führe zu vermehrten Extremwetterereignissen wie Hitzewellen, Kälteeinbrüchen und Starkregen. Das Abschmelzen der Gletscher gefährde außerdem die Wasserversorgung und Ernährung in großen Teilen Süd- und Ostasiens sowie der Andenregion.
Stefan Rahmstorf ist Leiter der Abteilung für Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Professor für die Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Er gilt als einer der führenden Klimaforscher weltweit, insbesondere im Bereich Meeresströmungen. Er ist außerdem Autor zahlreicher Bücher zum Thema Klimawandel.
Das Interview führte Kontext TV im Mai 2018 in Berlin.
Fabian Scheidler: Der April 2018 war in Deutschland der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, mit teilweise hochsommerartigen Temperaturen. Während es hier im Februar arktisch kalt war, lagen die Temperaturen in der Arktis rund um den Nordpol teilweise 20 Grad über dem Durchschnitt. Wie kommt es zu diesen extremen Wetterkapriolen und was haben sie mit dem Klimawandel zu tun?
Stefan Rahmstorf: Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Zum einen gibt es natürlich den allgemeinen Erwärmungstrend durch die steigenden Treibhausgasmengen in unserer Atmosphäre, und diese allgemeine Erwärmung führt auch zu einer deutlichen Zunahme von Rekordwärme. Gerade wenn man sich Monatsrekorde anschaut wie »wärmster April seit Beginn der Aufzeichnungen«, dann stellen wir nach unseren Analysen der weltweiten Daten fest, dass diese Rekorde heute fünfmal öfter vorkommen als ohne globale Erwärmung, also als in einem stationären Klima. Auch in einem unveränderlichen Klima kommt es natürlich manchmal zu neuen Rekorden. Aber unter den Bedingungen des Klimawandels ist von fünf derartigen Hitzerekorden einer durch Zufall passiert, vier sind aufgrund der globalen Erwärmung hinzugekommen.
Zweitens gibt es zusätzlich zu der allgemeinen Erwärmung auch Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation, also in den Luftdruckverteilungen und Winden. Wir erforschen diese auch in meiner Abteilung und haben in den letzten Jahrzehnten festgestellt, dass der sogenannte Jetstream in der Atmosphäre – das ist ein Windband auf der Nordhalbkugel, das um den ganzen Globus herumgeht – instabiler wird. Das bedeutet, er schwingt stärker von Nord nach Süd, er schlägt große Wellen und das führt dann manchmal dazu, dass man an einem Ort extrem kalte Bedingungen hat und ein paar tausend Kilometer weiter extrem warme Bedingungen. Damit hängt auch zusammen, dass die polare Kaltluft, die normalerweise über dem Nordpol eingeschlossen ist, manchmal aus dieser Region entkommt und dann zu uns nach Europa oder nach Nordamerika hineinrutscht. In diesen Situationen gibt es in Polargebieten ganz extreme Wärmeanomalien und gleichzeitig Kälteanomalien über den Kontinenten, wie wir sie in Deutschland und Europa im März 2018 erlebt haben. Dieser März war bei uns ja erstaunlicherweise kälter als der Januar und das hing genau mit diesem Phänomen zusammen.
Fabian Scheidler: Wie funktioniert der Jetstream genau und warum verändert er sich durch die globale Erwärmung?
Stefan Rahmstorf: Der Jetstream wird durch den Temperaturkontrast zwischen den Subtropen und den polaren Breiten angetrieben, denn ein solches Temperaturgefälle führt auch zu einem Druckgefälle in der Atmosphäre, und das wird ausgeglichen durch einen solchen Wind. Dieser Temperaturkontrast wird aber immer kleiner, und dadurch wird der Jetstream schwächer und weniger stabil. Warum wird der Temperaturkontrast kleiner? Weil die Polargebiete sich rascher erwärmen als der Rest des Globus. Und das wiederum liegt vor allem daran, dass dort die Eisbedeckung schwindet, die normalerweise einen großen Teil der ankommenden Sonnenstrahlen ins Weltall zurück spiegelt. Wenn diese Schnee- und Eisbedeckung geringer wird, erhalten wir eine zusätzliche Erwärmung in den Polargebieten. Die Arktis hat sich in den letzten Jahrzehnten zwei- bis dreimal so schnell erwärmt wie der Rest des Globus.
Fabian Scheidler: Es gibt immer wieder neue Voraussagen dafür, wann die Arktis in der warmen Jahreszeit eisfrei sein wird. Was sind die aktuellen Prognosen und was würde es bedeuten, wenn die Arktis tatsächlich im Sommer eisfrei wird?
Stefan Rahmstorf: Wir haben in den letzten Jahrzehnten fast die Hälfte der sommerlichen Eisdecke auf dem arktischen Ozean verloren. Und beim Eisvolumen, also der Masse, haben wir schon drei Viertel verloren. Es hat sich gezeigt, dass die Klimamodelle diese Entwicklung in der Vergangenheit unterschätzt haben. Die Modelle sagten bisher, dass das Eis etwa um 2070 komplett weg sein wird. Aber die meisten Wissenschaftler, die ich kenne, gehen davon aus, dass es wahrscheinlich schon in wenigen Jahrzehnten der Fall sein wird.
Fabian Scheidler: In den letzten Jahren sind einige Studien erschienen, die sagen, dass auch das Eis in Teilen der Antarktis schneller schmilzt als bisher angenommen. Dies würde einen massiven Meeresspiegelanstieg bedeuten. Was ist der Stand der Forschung dazu? Was sind die Ursachen für diese Eisschmelze und was sind die Folgen?
Stefan Rahmstorf: Die gesamte Eismasse der Antarktis würde ausreichen, um den weltweiten Meeresspiegel um 60 Meter anzuheben, die Eismasse Grönlands reicht nochmals für etwa sieben Meter. In diesen Eismassen haben wir also eine Art Zeitbombe liegen. Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein paar Prozent von diesem Eis zu verlieren, ohne dass dies verheerende Auswirkungen auf unsere Küsten hätte. Beide Eismassen verlieren aufgrund der globalen Erwärmung an Masse, das zeigen die Satellitenmessungen, und tragen damit einen erheblichen und wachsenden Anteil zum Meeresspiegelanstieg bei.
Fabian Scheidler: Der letzte Bericht des UN-Klimarates (IPCC) von 2013 hat im Worst-Case-Szenario knapp einen Meter Anstieg bis 2100 vorhergesagt. Müssen aufgrund der jüngeren Studien diese Prognosen korrigiert werden? Eine NASA-Studie etwa ist vor einigen Jahren zu dem Schluss gekommen, dass das westantarktische Eisschild unwiderruflich abbricht.
Stefan Rahmstorf: Zumindest besteht die Gefahr, dass der Anstieg deutlich höher ausfallen könnte als in diesem IPCC-Bericht. Die Fließbewegungen des Eises waren dort noch nicht vollständig erfasst. Je mehr wir über diese Eismassen lernen, desto instabiler erscheinen sie. Wenn wir Pech haben, könnte die Vorhersage des IPCC durch dynamische Prozesse noch erheblich übertroffen werden.
Fabian Scheidler: Ein Großteil der Menschheit lebt in Küstenregionen. Was würde ein Meeresspiegelanstieg schon von 50 Zentimetern, einem Meter oder gar mehr für große Küstenstädte wie New York, Mumbai, Kalkutta, Lagos, Jakarta und viele andere bedeuten?
Stefan Rahmstorf: Wir können einmal damit anfangen, was der bisherige Meeresspiegelanstieg von 20 Zentimetern seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert bereits bedeutet. Das klingt erst einmal wenig, wenn man am Strand steht und denkt: »Was wäre jetzt hier los, wenn der Meeresspiegel 20 Zentimeter höher wäre?« An den meisten Orten nicht viel, aber den Unterschied bemerkt man, wenn eine Sturmflut kommt. Wenn man von einem 20 Zentimeter höheren Meeresspiegel startet, läuft die Sturmflut nicht nur 20 Zentimeter höher auf, sondern es gibt verschiedene sogenannte nicht-lineare Effekte, die dazu führen, dass es auch noch deutlich mehr sein kann. Man denke zum Beispiel an Hurrikan Sandy, der New York 2012 getroffen hat und dabei Tunnel der U-Bahn unter Wasser setzte. Je weiter der Meeresspiegel ansteigt, desto häufiger werden solche Sturmflutereignisse, und man hat ausgerechnet, dass bei einem typischen Meeresspiegelanstieg das, was im 20. Jahrhundert noch eine Jahrhundertflut in New York war, also statistisch gesehen einmal in hundert Jahren passieren würde, gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Mittel alle drei Jahre passieren würde. Von einer Jahrhundertflut kann man sich wieder erholen. Hurrikan Sandy hat zwar Milliardenschäden verursacht, aber man kann die Sachen wieder aufbauen, die U-Bahn-Tunnel wieder in Betrieb nehmen und so weiter. Aber wenn so etwas alle paar Jahre passiert, wird man eine solche Stadt wahrscheinlich eher aufgeben, wenn man sie nicht durch massive Deichbaumaßnahmen schützen kann. Das ist an manchen Orten möglich, an vielen Orten aber so gut wie unmöglich. Die Stadt New York etwa hat rund 1000 Kilometer Küstenlinie, die nur sehr schwer zu verteidigen sein werden. Und das gilt auch für viele andere Städte. Selbst mit einem Meeresspiegelanstieg von »nur« einem halben oder einem Meter werden tief liegende Küstenstädte massive Probleme bekommen – auch tief liegende Flussdeltagebiete wie Bangladesch zum Beispiel, ganz zu schweigen von manchen kleinen Inselatollen.
Fabian Scheidler: Die Gletscher des Himalayas schmelzen ebenfalls. An ihnen hängt die Wasserversorgung von etwa 1,5 Milliarden Menschen in Nordindien, China und Südostasien. Wenn diese Gletschermassen schmelzen, was bedeutet das für die Wasserversorgung und für das Leben der Menschen in diesen Regionen?
Stefan Rahmstorf: Gletscher funktionieren im Wesentlichen als große Wasserspeicher, weil dort die winterlichen Schneefälle gespeichert werden. Im Sommer, wenn es warm ist und die Schmelze überwiegt, wird dieses Wasser allmählich abgegeben. Gerade im Sommer braucht man ja meist besonders viel Wasser, etwa für die Landwirtschaft. In vielen Gegenden der Welt – im Himalaya, aber auch in den Anden oder bei uns in den europäischen Alpen – hängt die Wasserversorgung stark von diesem Gletscherwasser ab. Wenn es wärmer wird, nehmen die Schmelzwasser im Sommer erst einmal zu. Das kann man in den letzten Jahrzehnten tatsächlich überall auf der Welt beobachten. Wenn man an den Bedarf für Bewässerung denkt, erscheint das erst einmal als eine gute Sache. Das Problem ist nur: Wenn der Gletscher dann weg ist, ist es vorbei mit der Wasserzufuhr. Viele wiegen sich jetzt noch in der Illusion, alles sei in Ordnung, weil das Schmelzwasser im Moment üppig fließt.
Weblink: www.kontext-tv.de/de/node/2894
Selbst wenn die Ziele des Pariser Klimagipfels 2015 von den Staaten eingehalten würden, drohen gravierende Folgen vor allem für den Globalen Süden. Die Klimawissenschaftler Kevin Anderson und Alice Bows-Larkin warnen, dass bei fortschreitender Erwärmung Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden könnten, die die Erwärmung unkontrollierbar beschleunigen. Um eine Chance zu haben, unter dem globalen Klimaziel von zwei Grad zu bleiben, müssten die Industrienationen ihre Emissionen um 80 Prozent bis 2030 senken – also doppelt so schnell, wie die EU anstrebt. Statt beim Klimaschutz auf Risikotechnologien wie Kohlenstoffabscheidung zu bauen, fordern die Klimawissenschaftler einen rasanten Umbau der Infrastrukturen etwa bei der Energieversorgung, der Wärmegewinnung und dem Verkehr. Vor allem die wohlhabenden Bevölkerungsschichten und Staaten müssten deutlich mehr für den Klimaschutz leisten und ihren Konsum einschränken. Denn sie seien Hauptverursacher der globalen Erwärmung.
Alice Bows-Larkin ist Professorin für Klimawissenschaften und Energiepolitik an der Universität in Manchester in Großbritannien. Zudem gehört sie dem renommierten »Tyndall Centre for Climate Change Research« an, das sie zeitweise als Direktorin leitete.
Kevin Anderson ist Professor für Klimawissenschaften und Energiepolitik an der Universität in Manchester, Großbritannien, und des »Centre for Sustainability and the Environment« der Universität in Uppsala, Schweden. Er ist stellvertretender Direktor des »Tyndall Centre for Climate Change Research« und berät Regierungen und die EU-Behörden in Klimafragen.
Das Interview führte Kontext TV im Dezember 2015 in Paris am Rande der UN-Klimakonferenz.
David Goeßmann: Selbst wenn die Klimaziele, auf die sich die Länder auf dem UN-Klimagipfel in Paris 2015 unverbindlich geeinigt haben, erreicht würden, könnte die Erde um bis zu 4 Grad wärmer werden. Worauf müssten wir uns dann einstellen?
Alice Bows-Larkin: Wenn wir uns Studien anschauen, die von einem Temperaturanstieg von 3 bis 4 Grad Celsius ausgehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass dies ja nur weltweite Durchschnittswerte sind. Aufgrund der thermischen Trägheit der Ozeane steigt die Meerestemperatur langsamer an, sodass der Anstieg an Land effektiv höher ist. Was wir als Menschen wahrnehmen, sind ja nicht globale Durchschnittstemperaturen, sondern Wetterlagen oder extreme Wetterereignisse. Also müssen wir uns daran orientieren. Der heißeste Tag eines Jahres, in einer Hitzewelle, könnte bei einem 4-Grad-Szenario 6, 8 oder gar 10 Grad wärmer ausfallen. Man stelle sich vor, man lebt in einer Großstadt und eines Tages ist es 6 bis 10 Grad wärmer als jemals zuvor. Derartige Temperaturanstiege haben große Auswirkungen auf die Landwirtschaft und damit auf unsere Ernährungssicherheit. Wenn die Temperatur um 4 Grad ansteigt, könnte das einen Rückgang der Mais- oder Reisernten um 30 bis 40 Prozent bewirken. Das wäre verheerend für die weltweite Ernährungssicherheit.
David Goeßmann: Wenn der Klimawandel weiter voranschreitet, könnten auch sogenannte »Kipppunkte« erreicht werden. Was verbirgt sich dahinter?
Kevin Anderson: Mit den steigenden Temperaturen schmilzt der Permafrost, also die ganzjährig gefrorenen Böden etwa in Sibirien und Alaska. Die Tundra in großen Teilen Russlands beginnt zu tauen, und in diesem Boden sind Unmengen von Methan gebunden. Methan ist ein sehr starkes Treibhausgas. Wenn nun also die Tundra auftaut, gelangt noch wesentlicht mehr Methan als bisher n die Atmosphäre. Dieses Methan hat wiederum einen weiteren Treibhauseffekt zur Folge, was den Permafrost noch schneller zum Schmelzen bringt und noch mehr Methan freisetzt.
Eine andere Kettenreaktion geht von den Meeren aus: Mit der globalen Erwärmung erwärmen sich auch die Weltmeere. Und je wärmer sie werden, desto mehr gebundenes CO₂ geben sie in die Atmosphäre ab. Es folgt also eine ganze Kette von möglichen Rückkopplungen, die die Situation immer weiter verschlimmern. Und diese können am Ende sogar noch mehr Gewicht haben als unsere eigenen CO₂-Emissionen. Ich finde es sehr unklug, dass wir diesen Aspekt in unseren jetzigen politischen Maßnahmen nicht berücksichtigen – obwohl wir wissen, dass es diese Kettenreaktionen gibt, diese »Kipppunkte« im Klimasystem, die die Gesamtsituation verheerend beeinflussen können. Allerdings wissen wir in den Klimawissenschaften noch nicht im Detail, wann genau diese Reaktionen auftreten werden. Es gibt zum Beispiel immer noch unterschiedliche Meinungen dazu, welcher Temperaturanstieg in der westlichen Antarktis welche Schmelzgeschwindigkeiten hervorruft; oder in Grönland; oder eben beim Permafrost und dem Ausstoß von Methan. Es ist noch unklar, ob das bei einem konstanten Temperaturanstieg von 1 oder 1,5 Grad geschieht; oder ob wir bis zu einem Anstieg von 2,5 oder 3 Grad relativ sicher sind. Jede einigermaßen kluge, umsichtige Gesellschaft – mal angenommen, das sind wir –, jede einigermaßen kluge Politik würde sich für den sicheren Weg entscheiden. Wir haben nur diesen einen, einzigen Planeten und sollten mit ihm keine Experimente anstellen. Wenn wir also Hinweise darauf haben, dass diese Phänomene relativ früh auftreten können, dann sollten wir diese Hinweise als Grundlage unserer politischen Entscheidungen benutzen. Und wenn wir die Kettenreaktionen, von denen ich sprach, berücksichtigen, verringert sich unser CO₂-Budget auf einen Schlag radikal – also die Menge an Treibhausgasen, die wir noch emittieren dürfen, ohne gefährliche Schwellen zu überschreiten. Dieses Budget würde zusammenschrumpfen, weil die Natur selbst bereits einen Großteil davon in Anspruch nehmen würde.
David Goeßmann: Die Industriestaaten machen immer wieder China und Indien für den Anstieg der globalen Treibhausgase verantwortlich. Sie seien die eigentlichen Klimasünder. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?
Alice Bows-Larkin: Chinas und Indiens Emissionen sind niedrig, wenn man sich die Emissionen pro Kopf ansieht – ein wichtiger Unterschied, wenn man Gerechtigkeit ernst nimmt. Auch ihre historische Verantwortung ist natürlich um vieles geringer. Auf der anderen Seite verbleibt uns global in einem 2-Grad-Szenario nur ein sehr geringes CO₂-Budget. Und jedes größere Land, das in absoluten Zahlen hohe Emissionen hat, wird sein CO₂-Budget relativ schnell aufbrauchen, gerade wenn es sich wirtschaftlich entwickelt. Die Frage, die sich stellt, ist daher: Wie können sich diese Länder trotzdem industrialisieren? Zumal ihre Pro-Kopf-Emissionen und ihr Lebensstandard wesentlich niedriger sind als in der EU, den USA oder Australien. Wie ist das 2-Grad-Ziel trotzdem haltbar? Wir sind so im Verzug mit den Maßnahmen, dass inzwischen auch von Indien und China erwartet wird, ihre Emissionen zu reduzieren. Wenn wir aber Gerechtigkeit wirklich ernst nehmen, dann müssen reichere Länder – die USA, die EU, Australien, Kanada, Japan – noch viel größere Reduktionen vornehmen. Wir haben das Problem geschaffen, aber wir erwarten von anderen, sich entwickelnden Ländern, dass sie denselben Anteil zur Lösung beitragen. Am Ende ist es eine moralische Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, so vorzugehen.
David Goeßmann: Kevin Anderson, Sie haben schon früh davor gewarnt, dass die Klimaziele der Industriestaaten, insbesondere der Europäischen Union, viel zu niedrig sind, um das offizielle 2-Grad-Ziel, auf das sich die Staaten geeinigt haben, global zu erreichen. Warum?
Kevin Anderson: Der Weltklimarat hat errechnet, welche Menge CO₂ zwischen 2011 und 2100 ausgestoßen werden darf. Allein von 2011 bis 2015 haben wir bereits 150 Milliarden Tonnen CO₂ in die Atmosphäre ausgestoßen – das sind 15 Prozent der noch verbleibenden Menge für das 2-Grad-Ziel. Wir brauchen unser Budget also sehr schnell auf. Wenn man dann noch die weitere Abholzung von Wäldern, den Zement1 zur Schaffung einer kohlenstoffarmen Infrastruktur und für die Industrialisierung der ärmeren Länder einbezieht, dann haben wir eigentlich viel weniger Spielraum bei den Emissionen als ursprünglich vom Weltklimarat angenommen. Wenn diese Menge dann unter den Ländern der Welt aufgeteilt werden soll und wir ein Mindestmaß an Gerechtigkeit walten lassen, dann muss in den reichen Ländern der Welt bis 2030 eine Reduktion um mindestens 80 Prozent erfolgen. Bis etwa 2035 müssen wir in den Industrieländern mehr oder weniger kohlenstofffrei sein und in den ärmeren Ländern bis etwa 2050. Das sagen nicht nur wir. Die Daten des Global Carbon Project legen sehr ähnliche Schlussfolgerungen nahe. Die von der EU anvisierte Zahl von 40 Prozent ist nicht einmal die Hälfte des Beitrags, den sie gerechterweise zur Erreichung des 2-Grad-Ziels leisten müsste.
David Goeßmann: Es gibt unterschiedliche wissenschaftliche Einschätzungen, was die Industriestaaten an Treibhausgasreduktionen leisten müssen, um den Klimawandel auf 2 Grad zu begrenzen. Was ist der Grund für die Abweichungen?
Kevin Anderson: Bei den Zahlen für das Emissionsbudget, das uns noch bleibt, gibt es wichtige Unterschiede, etwa zwischen den Zahlen vom Global Carbon Project und uns auf der einen Seite und denjenigen vom Potsdam Institut auf der anderen. Ein Unterschied besteht darin, ob davon ausgegangen wird, dass in der Zukunft, etwa um das Jahr 2050, große Mengen CO₂ aus der Atmosphäre gesaugt werden können – mit irgendeiner neuartigen Technologie. Diese Technologie ist eine höchst spekulative Sache, denn wir können uns nicht genau vorstellen, wie sie funktionieren wird. Und die soll zwischen 2050 bis 2070 große Mengen CO₂ absorbieren. Manche sind sich sicher, dass es so kommen wird und verlassen sich darauf. So kann man das zur Verfügung stehende CO₂-Budget erheblich erhöhen. Man muss kurz- bis mittelfristig keine erheblichen Veränderungen veranlassen. Doch wenn wir davon ausgehen, dass diese Technologien sehr spekulativ sind, sprich, dass sie nicht funktionieren werden, und wir ein gesundes Maß an Vorsicht walten lassen, dann müssen wir wohl sagen: Es ist eine schöne Vorstellung, lasst uns hoffen, dass es funktioniert – doch das wird es sehr wahrscheinlich nicht. Wenn man so herangeht, dann kommt man auf Zahlen, wie wir sie berechnet haben: eine notwendige Reduktion um 80 Prozent bis 2030. Ich kann verstehen, dass es verlockend ist zu sagen, dass diese Technologie funktionieren wird. Denn dann passt die eigene Berechnung besser in das gegenwärtige politische und ökonomische Umfeld unserer Gesellschaft. Doch wenn man davon ausgeht, dass die Technologie nicht funktionieren wird, wird dermaßen schnell eine hohe Emissionsreduktion notwendig, dass sich sofort die Frage stellt: »Wie sollen wir unser Leben leben? Wie ändern wir das Niveau an Emissionen und Konsum, das wir haben; welchen Tätigkeiten gehen wir nach?« Diese Herangehensweise birgt also viel höhere politische Auswirkungen als die andere. Wir sehen ganz klar die Tendenz – den Wunsch –, ein Funktionieren dieser zukünftigen Technologie anzunehmen, um so große politische Veränderungen zu umschiffen.
David Goeßmann: Was halten Sie von einer CO₂-Steuer?
Kevin Anderson: Eine progressive CO₂-Steuer könnte auf Kraftstoff angewandt werden. Zum Beispiel im Luftverkehr: Beim ersten Flug zahlt man den einfachen Flugpreis. Beim zweiten Flug den doppelten Preis. Beim dritten Flug den sechsfachen Preis. So setzt man einen Anreiz für Vielflieger, ihr Verhalten komplett zu verändern. Trotzdem könnte man mit der Familie jährlich noch in den Urlaub fliegen. Die Staaten müssen solche Werkzeuge klug anwenden. Sie müssen viel kreativer vorgehen. Wenn man sich der Ansätze von unten bedient, gibt es Dinge, die clevere Regierungen tun könnten, um für Hochemittenten Anreize zu schaffen, Emissionen zu drosseln. Leute wie wir treiben die Innovationen voran. Wir wenden neue Technologien als Erste an. Wir können auch Verhaltensweisen verändern. Wenn die Menschen dazu gezwungen sind, ihr Verhalten, ihre Technologien zu überdenken, dann treiben wir damit nachhaltige Lebensweisen voran. Das fördert Innovationen.
David Goeßmann: Sie kritisieren nicht nur die Rolle von Klimawissenschaftlern bei der Debatte um angemessene Klimaziele für die Industriestaaten. Sie fordern auch mehr Realitätssinn bei den technologischen Lösungen.
Kevin Anderson: Manche Wissenschaftler unterliegen der naiven Annahme, dass man mit der gegenwärtig vorhandenen Technologie einen Weg aus der Krise bahnen könne. Sie glauben an sehr schnelle Lösungen.
David Goeßmann: Haben Sie ein Beispiel?
Kevin Anderson: Ein Beispiel wäre die Kernkraft. Ich bin weder dafür noch dagegen. Sie ist auf jeden Fall quasi kohlenstofffrei. Doch die Vorstellung, dass neue Energiequellen das Problem lösen würden – Hochsee-Windkraftwerke und so weiter – ist irreführend. Als ob man so schnell eine Infrastruktur schaffen könne, dass man am Ende noch im CO₂-Budget liegt. Viele Wissenschaftler glauben an diesen Lösungsansatz. Der ehemalige Leiter des NASA-Klimaprogramms, James Hanson, und viele andere sagen, dass Kernkraft die Zukunft ist. Ja, sie ist CO₂-arm und mag ihre Rolle spielen. Doch man unterschätzt, wie lange es dauert, diese Reaktoren zu bauen. Wir haben weder die Kapazität noch die ingenieurstechnische Expertise, um die notwendige Anzahl an Kernkraftwerken zu bauen. Gegenwärtig werden weltweit 70 errichtet. Um unsere CO₂-Emissionen deutlich zu reduzieren, würden wir in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren etwa 2000 Kernkraftwerke benötigen. Doch es sind nicht nur die Kernkraftwerke, auch über die Erneuerbaren gibt es sehr naive Annahmen – auch seitens von NGOs. Denn es geht nicht nur um Elektrizität. Momentan ist nur etwa 20 Prozent der Energie, die wir konsumieren, Elektrizität. 80 Prozent sind Erdöl, Gas und Kohle für unsere Heizung, für Verkehr, Industrie, Luftfahrt und Schiffsfahrt. In allen diesen Bereichen müssen die CO₂-Emissionen auf ein Minimum reduziert werden. Sie müssten also zum Großteil elektrifiziert werden. Und das braucht eine Menge Zeit. Unser Stromnetz müsste in seiner Kapazität erhöht werden; die Infrastruktur, den Strom von A nach B zu bringen, also zu den jeweiligen Sektoren, müsste um den Faktor 3 oder 4 wachsen. Das braucht mindestens zwanzig bis dreißig Jahre, selbst mit einem sehr ambitionierten Plan. Gleichzeitig muss die CO₂-arme Erzeugung von Elektrizität ausgebaut werden. Deshalb ist die Nachfrageseite sehr wichtig. Die Nachfrage nach Energie können wir nämlich kurzfristig senken – und so unsere Emissionen reduzieren. So schaffen wir ein Zeitfenster für den notwendigen technologischen Umbau. Es geht also nicht nur um unrealistische Vorstellungen unserer technologischen Fähigkeiten im Jahre 2050, sondern auch um naive Vorstellungen davon, wie schnell eine CO₂-arme Energieerzeugung realisiert werden könnte. Und wie der Übergang von der gegenwärtigen Infrastruktur zu einer CO₂-armen geschehen soll. Dieser Übergang muss vorangetrieben werden. Doch wenn man die Zahlen realistisch auslegt, sieht man, dass dies innerhalb eines 2-Grad-Szenarios unmöglich ist, wenn nicht zugleich auf der Nachfrageseite reduziert wird.
Alice Bows-Larkin: Die Nachfrageseite zu verändern ist keine einfache Aufgabe. Aber es gibt viele Ansatzmöglichkeiten, die wir uns bei weitem noch nicht so genau angesehen haben wie die Angebotsseite – zum Beispiel Energieeffizienz, Normen und Vorschriften für Konsumgüter, so dass diese effizienter werden. Aber auch die Frage, wie viele dieser Dinge wir brauchen. Wie wir sie nutzen. Ist es zum Beispiel sinnvoll für Akademiker, mehrmals im Jahr zu Konferenzen zu jetten? Anstatt nur einmal jährlich, wie es üblich war, als ich in der akademischen Welt Fuß gefasst hatte.
David Goeßmann: Kollidiert Klimaschutz unter den gegebenen Bedingungen nicht mit Wirtschaftswachstum, einem ständig steigenden Energiekonsum?
Kevin Anderson: Alice und ich sind uns einig darin, dass die ärmeren Teile der Welt kurz- bis mittelfristig durchaus Wirtschaftswachstum brauchen. Dies bedeutet auch, dass ihre CO₂-Emissionen ansteigen, denn sie werden einiges an fossilen Brennstoffen benötigen, während sie hoffentlich immer mehr auf erneuerbare Energien umsteigen. All das ist wichtig für ihre Lebensqualität. Eine Abkehr vom Wachstum brauchen wir aber in den reichen Teilen der Welt, insbesondere bei den Wohlhabenden in den reichen Länder. Die ärmeren Schichten kämpfen oft um elementare Dinge und verbrauchen nicht viel Energie. Ihr ökologischer Fußabdruck ist klein. Doch für die Art von Menschen, wie sie hier bei der Klimakonferenz in Paris sind, für die Top-10-Prozent der Weltbevölkerung, die den Hauptanteil der Emissionen verursachen, bedeutet der Kampf gegen den Klimawandel scharfe Einschnitte. Wir als Hochemittenten werden unseren Lebensstil schrumpfen müssen. Natürlich gibt es bei einem CO₂-armen Lebensstil gewisse Aspekte, die das Leben lebenswerter machen. Doch wir sollten uns nichts vormachen. Denn es wird nicht einfach werden.
Übersetzung: Nikolas Scheuer, Jérôme Mermod
Weblinks: Deutsch: www.kontext-tv.de/de/node/2732
Englisch: www.kontext-tv.de/en/node/2767