In Porthmellow, einem kleinen Küstenort in Cornwall, ist die Welt noch in Ordnung. Die Menschen hier mögen zwar etwas eigen sein, haben ihr Herz aber am rechten Fleck. Auch Sam Lovell, stolze Besitzerin einer kleinen Catering-Firma, lebt hier. Gemeinsam mit ihren Freunden veranstaltet sie Jahr für Jahr ein großes Streetfood-Festival, für viele der Ortsansässigen absoluter Höhepunkt der Sommersaison: Frische Meeresfrüchte, köstliche Pies, leckere Scones – kulinarisch hat Porthmellow einiges zu bieten.
Den Trubel rund um diese Veranstaltung kann Sam gut gebrauchen, lenkt er sie doch hervorragend ab von den Dramen in ihrer krisengeschüttelten Familie und von dem Loch, das ihr Exfreund Gabe in ihr Leben gerissen hat. Doch ausgerechnet dieses Jahr fällt der Starkoch des Festivals aus. Und ausgerechnet dieses Jahr springt jemand ein, von dem Sam gehofft hatte, sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Denn ja, es ist Gabe. Und nein, Sam ist alles andere als über die Gefühle von damals hinweg. Während die Planungen voranschreiten und der Tag der Tage immer näher rückt, hat Sam alle Hände voll zu tun, um zu beschützen, was ihr wichtig ist. Und herauszufinden, was sie eigentlich will …
© privat
Phillipa Ashley studierte Anglistik und arbeitete als Werbetexterin und Journalistin. Seit 2005 veröffentlicht sie Romane und wurde dafür mit dem ›Romantic Novelists Association New Writers Award‹ ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Staffordshire. Bei DuMont erschienen die Romane ›Hinter dem Café das Meer‹, ›Weihnachten im Café am Meer‹ (beide 2017) und ›Hochzeit im Café am Meer‹ (2018).
Ein Sommer
in Porthmellow
Aus dem Englischen
von Sibylle Schmidt
Von Phillipa Ashley sind bei DuMont außerdem erschienen:
Hinter dem Café das Meer
Weihnachten im Café am Meer
Hochzeit im Café am Meer
eBook 2020
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 DuMont Buchverlag, Köln
Copyright © Phillipa Ashley 2019
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Strand: © Robert Harding / Masterfile
Tisch: © plainpicture / Mike Hofstetter
Satz: Angelika Kudella, Köln
Gesetzt aus der Meridien
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-7020-2
www.dumont-buchverlag.de
In Erinnerung an Mike Fosbrook,
meinen inspirierenden Englischlehrer
Prolog
September 2008
Porthmellow.co.uk Blog Forum
Mecker-Minnie: Schon wieder ein Laden zu? Der dritte in einem halben Jahr! Dieser Ort geht vor die Hunde! Warum unternimmt denn keiner vom Stadtrat oder der Handelskammer was dagegen? Porthmellow wird ja bald zur Geisterstadt!
»Bestimmt säuft da bald einer ab«, verkündete der alte Troy Carman mit seinem breiten kornischen Akzent. »Und rate mal, wer den dann aus dem Hafenbecken fischen darf.«
Sam Lovell musste sich das Grinsen verkneifen, als sie die Miene ihres Nachbarn sah, der die Jugendlichen gegenüber vom Smuggler’s Inn beobachtete. Sie trugen Taucheranzüge und stachelten sich johlend und kreischend gegenseitig dazu an, von der Kaimauer ins tintenblaue Wasser zu springen. Von Frühling bis Herbst spielte sich jeden Sonntagabend das Gleiche ab in Porthmellow: Teenager hüpften ins Hafenbecken, während vor dem Pub die Brassband musizierte. Krönender Abschluss des Wochenendes, bevor alle am nächsten Morgen zur Arbeit oder in die Schule gehen mussten.
Sam stellte ihr Bierglas auf den splittrigen alten Holztisch. Wie vieles in Porthmellow hätte der Pub eine Aufhübschung gut gebrauchen können. »Bist du als junger Kerl nicht auch in den Hafen gesprungen?«
»Na ja, schon.« Troy schüttelte den Kopf, als die nächsten Wagemutigen mit schrillen Schreien auf die Mauer kletterten. »Aber wir hatten nicht so schicke Taucheranzüge. Bin in meiner Baumwollunterhose reingehopst. Meine Mum hat sich jedes Mal furchtbar aufgeregt, weil ich nur drei hatte. Eine war immer in der Wäsche, eine trug ich, und die dritte war für sonntags. Und Löcher hatten sie auch jede Menge, wenn Mum sie in der Mangel gehabt hat.«
»Ich hab dich echt lieb, Troy, aber das hätte ich jetzt nicht wissen müssen«, erwiderte Sam. Keinesfalls wollte sie sich vorstellen, wie ihr Nachbar in Unterhosen, schlammbraun wie das Hafenwasser, von der Kaimauer sprang.
Sam hielt das Gesicht der Septemberabendsonne entgegen, die ausnahmsweise auf die Terrasse des Pubs schien. Wegen des trüben Sommers waren in diesem entlegenen Teil von Cornwall in diesem Jahr die Touristen ausgeblieben. Viele Familien konnten sich wegen der miesen Wirtschaftslage sowieso gar keinen Urlaub leisten. Was nicht nur dem kleinen Fischerdorf übel zusetzte, sondern auch Sam selbst, die im Vorjahr ihren Job aufgegeben und eine kleine Catering-Firma namens Stargazey Pie gegründet hatte. Wer hätte denn auch den Börsencrash vorhersehen können? Sam ganz gewiss nicht. Sie hatte genug damit zu tun gehabt, ihre Familie zusammenzuhalten, nachdem sie binnen weniger Jahre drei geliebte Menschen verloren hatte.
Doch an Abenden wie diesem gelang es ihr beinahe, daran nicht zu denken.
Troy trank sein Proper Job aus und wischte sich den Schaum von der Lippe. Obwohl er schon siebzig war, arbeitete der alte Carman noch immer in Teilzeit als stellvertretender Hafenmeister, und niemand kannte die Gewässer rund um Porthmellow besser als er. Außer, dachte Sam mit verstohlenem Lächeln, der Mann, der jetzt gerade auf sie zusteuerte. Drew Yelland war ein paar Jahre älter als sie selbst und hatte sonnengebräunte Haut und strohblondes Haar. An seinem Ohr glitzerte ein Goldring.
»Hallo. Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme.« Drew begrüßte Sam mit einem Kuss auf die Wange und Troy mit freundlichem Nicken. »Wir sind erst spät zurückgesegelt. Hatte ’ne Gruppe Banker, die ihren Hintern nicht von ihrem Ellbogen unterscheiden konnten. Die Rezession schien denen keine Sorgen zu machen, die saufen bestimmt weiter ihr Craft Beer. Apropos … eure Gläser sehen leer aus. Ich brauch dringend einen Drink. Noch jemand?«
Troy grinste und rieb sich erfreut die Hände. »Hätte nix dagegen einzuwenden.«
»Ich helf dir tragen«, sagte Sam zu Drew und stellte die leeren Gläser auf ein Tablett. Sie wollte den Wirt entlasten, der wegen des Gästemangels gezwungen gewesen war, Personal zu entlassen. Und so konnte sie ungestört mit Drew reden.
»Wie läuft’s auf der Marisco?«, fragte sie, während Frank das Bier zapfte. Drew hatte ein altes Segelboot, mit dem er Törns für Touristen, aber auch für Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen unternahm.
»Könnte besser sein.« Drew reichte Frank einen Zwanzig-Pfund-Schein. »Seit dem Börsencrash sind die Buchungen drastisch zurückgegangen, und im Winter sieht’s ja ohnehin mau aus. Wir sind jetzt von Sponsoren und Spenden abhängig, um die Segeltrips für die Kinder zu finanzieren. Die Geschäftskunden streichen die Teambuilding-Ausflüge, und für Otto Normalverbraucher ist so ein Luxus wie Segeln lernen gar nicht mehr drin. Heißt im Klartext, dass wir uns die Törns mit den Kids nicht mehr leisten können. Dabei sind die Segeltouren echt Balsam für ihr Selbstvertrauen und ihre Geschicklichkeit.«
»Das tut mir total leid, Drew«, sagte Sam betroffen. »Ich weiß, wie wichtig dir das ist.«
»Tja. Was soll man machen. Und bei dir so?«
»Könnte auch besser sein. Essen müssen die Leute zwar zum Glück immer, aber Einbußen hab ich trotzdem. Hätte ich in die Zukunft schauen können, wär ich dieses Wagnis gar nicht eingegangen. Mein Job in der Landbäckerei war ja gut.«
»Aber würden wir überhaupt irgendetwas wagen, wenn wir in die Zukunft schauen könnten?«, wandte Drew ein und nahm das Tablett mit den Gläsern in Empfang.
Sam schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass ich nicht ahnen konnte, was mit Mum und Ryan passieren würde.« Und mit Gabe, hätte sie fast noch hinzugefügt, wollte aber seinen Namen nicht aussprechen. Das tat noch immer viel zu sehr weh. Wenn du erleben musst, wie dein eigener Bruder von deiner großen Liebe an die Polizei verpfiffen wird und in den Knast wandert, während der Geliebte das Weite sucht … so was hinterlässt Spuren.
»Du hattest echt stressige Jahre, aber lass den Kopf nicht hängen. Stargazey wird bestimmt Erfolg haben. Wir müssen nur irgendwie den Sturm überstehen. Dass er kommt, können wir eben nicht verhindern.« Drew grinste. »Und das wird dir jeder sagen, der in Porthmellow geboren und aufgewachsen ist.«
Sam nickte und hielt ihm die Tür auf. Die Brassband schmetterte, was das Zeug hielt, und die Sonne glitzerte so grell auf dem Wasser, dass Sam nach dem Schummerlicht des Pubs geblendet blinzelte.
Sie blickte zu dem Fish-and-Chips-Laden hinüber, an dem ein »Zu vermieten«-Schild hing. In diesem Imbiss hatten Gabe und seine Eltern gearbeitet und im Obergeschoss gelebt, bis Sam und er sich getrennt hatten. Gabes Eltern waren in den Ruhestand gegangen und aufs Land gezogen, und seither stand der Imbiss leer.
Die Eisdiele neben dem Imbiss blieb geschlossen bis zum kommenden Frühjahr. Daneben befand sich Bryony Cronks Hundesalon, doch die beiden anderen Geschäfte in der Häuserzeile standen ebenfalls leer. Obwohl Porthmellow ein wenig verlassen wirkte, fühlte Sam sich in ihrem Fischerdörfchen pudelwohl. Sie liebte den Hafen und den malerischen Glockenturm, die strahlenden Sonnentage ebenso wie die wilden Winterstürme. Drew hatte recht: Niemand konnte das Klima vorhersagen, ökonomisch oder anderweitig. Und die Touristen konnte man nun mal nicht davon abhalten, sich andere Reiseziele zu suchen.
Inzwischen war Troys Frau Evie aufgetaucht. Da sie seit einiger Zeit an Arthrose litt, bewegte sie sich schwerfällig. Es war ein steiler Abstieg von der Stippy Stappy Lane, wo die Carmans in einem Reihenhaus wohnten, nicht weit entfernt vom Wavecrest Cottage, in dem Sam jetzt nur noch mit ihrer Schwester Zennor lebte, seit Ryan vor einem Jahr verschwunden war.
Drew bestellte Evie einen Gin Tonic, dann schauten wieder alle den Teenagern beim Hafensprung zu.
»Ist das da Zennor?«, fragte Evie und deutete auf ein großes schlankes Mädchen mit langen schwarzen Haaren, das auf der drei Meter hohen Kaimauer stand. »Hab meine Fernbrille nicht auf.«
»Ja, das ist sie«, antwortete Sam und zuckte unwillkürlich zusammen, als ihre Schwester mit lautem Platschen im Wasser landete. Dann tauchte sie mit Triumphgeheul wieder auf, und Sam seufzte erleichtert.
Zennor war genauso tollkühn wie ihr Bruder Ryan früher. Und auch Gabe war oft von der Hafenmauer gesprungen. Sie sah ihn noch vor sich, als schlanken Jungen in Shorts, wie er damals aus dem Wasser stieg und auf die Mauer kletterte, die olivfarbene Haut in der Sonne glänzend. Die anderen jubelten oder spornten ihn an, aber Gabe ließ sich nie beeinflussen. Die Meinung anderer war ihm damals schon einerlei – nur die von Sam nicht.
Sie hatte immer daneben gestanden und versucht, ruhig zu wirken, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Wenn er nun mit dem Kopf auf einen Stein oder irgendwelchen Schrott im Hafenbecken prallte? Einmal blieb er viel länger als üblich unter Wasser, und Sam schrie vor Angst, worauf alle sie anstarrten. Dann kam Gabe plötzlich weit entfernt bei einem Boot in Sicht. Sie war damals bereit gewesen, selbst in den Hafen zu springen, alles zu riskieren, um ihn zu retten.
Diese Zeiten waren vorbei.
Sam war erst einundzwanzig, trug aber viel zu viel Verantwortung, um sich solchen Leichtsinn zu erlauben.
Ein schriller Schrei riss sie aus ihren Gedanken, gefolgt von lautem Gelächter.
Troy schnalzte mit der Zunge. »Verdammt gefährlich, dieser Quatsch. Der Hafenmeister würd’s gern verbieten, aber das wär ohnehin sinnlos. Die Kinder würden’s ja trotzdem machen.«
»Zennor ist kein Kind mehr«, sagte Sam. »Aber ich kann sie auch nicht davon abhalten. Man könnte allerdings meinen, dass sie inzwischen aus solchem Unfug rausgewachsen wäre.«
»Sie will doch nur ein bisschen Spaß haben«, warf Evie ein. »Wenn mir die Knie nicht so wehtäten, würd ich selbst noch mitmachen. Wie alt ist Zennor jetzt? Fünfzehn?«
»Gerade geworden«, antwortete Sam.
»Sobald Jungs auftauchen, hört sie schon von selbst auf«, warf Drew ein.
»Ist schon so weit. Da drüben steht Ben Blazey«, sagte Sam, als sie den schlaksigen Jungen entdeckte.
Evie lachte. »Den verspeist Zennor doch zum Frühstück. Der Bursche traut sich gar nix.«
»Macht aber mit seinem Motorroller jede Menge Krach«, brummte Troy. »Keine Ahnung, wie der es schafft, überhaupt lebendig von Mousehole bis hierher zu kommen.«
Drew schmunzelte, und Sam musste sich das Lachen verkneifen.
Evie erhob den Zeigefinger. »Danke, dass du meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hast, Troy.« Sie kramte etwas aus ihrer großen Einkaufstasche hervor. »Habt ihr das hier schon gesehen?«
»Was ist das?«
»Hab ich in der Stadt mitgenommen, als ich beim Computerkurs war«, antwortete Evie und legte einen zerknitterten Flyer auf den Tisch. »Hat jemand Lust, da hinzugehen?«
Sam studierte den Flyer. »Herbstfest in Mousehole am Kai. Folkbands. Spanferkel. Streetfood-Festival. Kochshows. Cider-Zelt. Klingt gut, ja.«
»Stimmt, hab ich auch schon von gehört«, sagte Drew zu Sam. »Möchtest du mit mir und Katya hinfahren? Connor können wir auch mitnehmen.« Katya war Drews Frau, Connor der kleine Sohn der beiden.
Sam wäre gerne zu dem Fest gegangen, vermutete aber, dass Drew sie nur aus Höflichkeit fragte. Er gehörte zu den Menschen, die sich nach dem Tod von Sams Mutter um ihre Familie gekümmert hatten. Drew war ein Freund für Sam, aber auch ein bisschen Bruderersatz.
»Weiß nicht. Am Samstag ist das? Da müsste ich eigentlich arbeiten …« Sam buk ihre typisch kornischen Pies, halbmondförmige Teigtaschen mit unterschiedlichen Füllungen, in einem kleinen Raum in einer Seitengasse und verkaufte sie direkt von dort aus oder bei Veranstaltungen an einem Stand. Sie hätte gar zu gerne einen Verkaufswagen gehabt, konnte sich das aber noch nicht leisten. Sechs Tage die Woche buk sie jeden Morgen, verkaufte auf Märkten in der Umgebung und freitagabends am Hafen von Porthmellow. Das Geld für einen gebrauchten Stand und einen kleinen Ofen zum Wärmen der Pies hatte sie mit Mühe und Not zusammengekratzt, und jetzt träumte sie von einem kleinen Streetfood-Truck. Aber vorerst musste sie zusehen, dass sie überhaupt genug einnahm, um die Miete für die Küche zu bezahlen. Für Extras blieb kaum etwas übrig.
»Wir könnten doch nachmittags fahren«, erwiderte Drew. »Machst du samstags nicht um zwölf zu?«
»Du musst dir auch mal was gönnen«, stimmte Evie ein.
Bevor Sam sich weitere Ausreden einfallen lassen konnte, kam Zennor angesprintet, barfuß, tropfnass und rot im Gesicht vor Aufregung. »Hallo, Leute! Macht einer von euch mit? Troy? Du sollst ja früher beim Hafenspringen der Hammer gewesen sein, hab ich gehört.«
Troy legte die Hand auf sein Glas. »Tropf nicht in mein Bier, Mädel. Ist schon wässrig genug.«
»Wir haben gerade darüber geredet, ob wir zum Herbstfest in Mousehole gehen«, sagte Sam, noch immer unsicher, ob sie Drews Angebot annehmen sollte. Sie vermutete, dass Katya keinen gesteigerten Wert darauf legte, kostbare Familienzeit mit einer anderen Frau zu teilen.
»Hab den Flyer gesehen. Bands klingen scheiße«, verkündete Zennor und schüttelte so heftig den Kopf, dass der Flyer nass wurde und die Druckerfarbe verwischte.
»Hey!«, knurrte Troy.
Sam sah ihre Schwester scharf an. »Zen.«
»Was denn? Das Wasser oder dass ich Schei…«
»Beides. Du solltest dich jetzt auch anziehen, es wird kühl.«
Zennor zuckte die Achseln. »Ich frier aber nicht.«
Sam verkniff sich nur mit Mühe weitere Anweisungen. Sie musste sich immer wieder vor Augen halten, dass sie nicht Zennors Mum, sondern ihre Schwester war, auch wenn sie die Mutterrolle mit neunzehn hatte übernehmen müssen.
»Also, wer hat denn nun Lust mitzukommen?«, fragte Drew erneut. »Die Einladung steht.«
Evie klatschte in die Hände. »Lasst uns doch alle zusammen fahren! Wir könnten uns ein Taxi teilen, dann kann jeder nach Lust und Laune feiern. Die Cyder Farm sponsort das Fest nämlich.«
Sam wäre Evie am liebsten um den Hals gefallen. Sie hatte vermutlich gespürt, dass Sam sich in einer Gruppe wohler fühlen würde, selbst wenn zwei Rentner mit von der Partie waren.
»Klingt schon besser«, bemerkte Zennor. »Wenn’s Cider gibt, bin ich dabei.«
»Du bist doch noch keine achtzehn, Mädchen«, gab Troy zu bedenken.
»Ein kleines Glas wird ihr nicht schaden«, widersprach Evie. »Außerdem können wir alle auf sie aufpassen.«
Zennor kicherte. »Kann Ben auch mitkommen? Er hat gerade eine scheiß… ’tschuldigung, eine echt blöde Zeit.« Sie warf ihrer Schwester einen hastigen Blick zu.
»Aber sicher«, sagte Drew. »Soll ich schon mal das Großraumtaxi buchen?«
Während die anderen aufgeregt durcheinanderredeten, griff Sam zu dem Flyer und hielt ihn gegen das Licht. Die Abendsonne schien durch das feuchte Papier, auf dem die Worte verschwammen: Bands, Streetfood-Festival, Kochshows …
Ihre Mutter hatte Feste, Musik und Tanz geliebt. Den Shantychor hatte Roz Lovell ebenso gern gehört wie die Brassband, und am schönsten fand sie immer, wenn am Ende alle einstimmten und mit Inbrunst die kornische Hymne »Trelawny« schmetterten. Sie genoss es in vollen Zügen, an einem heißen Sommerabend inmitten von Menschenmengen auf der Straße unterwegs zu sein, mit Ryan und den Mädchen beim Flora Dance in Helston oder beim Obby-Oss-Umzug in Padstow. Roz hatte die Kinder alleine großgezogen, der Vater hatte die Familie verlassen, als Sam noch klein gewesen war. Sam sah plötzlich ihre Mutter vor sich, wie sie bei Sonnenuntergang am Kai tanzte, einen Blütenkranz im Haar, die Töchter an den Händen haltend … Bei der Erinnerung an solche unbeschwerten Zeiten tat Sam regelrecht das Herz weh, und sie spürte eine schmerzhafte Sehnsucht danach, Porthmellow wieder so zu erleben, die Straßen voller Menschen, Musik, Lachen und Freude …
»Sam?« Evie legte ihr die Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung? Du kommst doch mit?«
Sam zwang sich zu einem Lächeln. »Ja … ja. Na klar. Lasst uns zusammen dahinfahren. Aber … ich hab da noch eine Idee.«
»Was denn, Liebes?«, fragte Evie sanft.
Alle blickten Sam erwartungsvoll an, und bevor sie kneifen konnte, sprach sie die Gedanken aus, die sich in ihrem Kopf überschlugen.
»Das mag sich völlig verrückt anhören … aber wir könnten doch eigentlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zu dem Fest gehen und dabei gleichzeitig darauf achten, wie das alles gestaltet ist. Ich meine, schaut euch doch mal um. Es geht rapide bergab mit Porthmellow, und das zu einer Zeit, wo die Leute hier dringend Unterstützung bräuchten. Wir müssen mehr Touristen herlocken und dafür sorgen, dass dieser Ort wieder wahrgenommen wird. Ihn mit irgendetwas berühmt machen.«
»Haha«, tönte Zennor. »Womit willst du denn unser Dorf berühmt machen? Porthmellow ist nur ein kornisches Küstenkaff wie jedes andere, mit nervigen Möwen, schrulligen Einheimischen und Mistwetter.«
Sam musste grinsen. »Das stimmt doch gar nicht. Wir sind einzigartig. Porthmellow hat Charakter, kauzige Originale und dramatisches Wetter, das Schlagzeilen macht. Wir könnten genauso berühmt werden wie Padstow, Mousehole oder St Ives. Warum denn nicht?«
Drew stellte sein Bier ab. »Guter Gedanke, aber wie sollen wir das anstellen?«
»Indem wir auch ein besonderes Fest veranstalten.«
Drew und Evie machten große Augen, Zennor schnaubte, und Troy prustete. »Und wer soll das organisieren? Hört sich nach jeder Menge Arbeit und Unruhe an, Mädchen.«
Er hatte natürlich recht, aber es war zu spät. Die Idee hatte in Sams Kopf Wurzeln geschlagen und legte so schnell an Kraft und Tempo zu wie eine mächtige Welle. Sam konnte nicht von dem Gedanken ablassen, dass ihre Mutter sich mit Begeisterung in die Organisation gestürzt hätte. Als die Band jetzt »Trelawny« anstimmte, sah Sam vor ihrem inneren Auge, wie ihre Mutter strahlend am Kai tanzte.
Aber Evie hatte auch recht, und Roz hätte ihr auf jeden Fall beigepflichtet. Sam arbeitete wahrhaftig zu viel. Obwohl sie noch so jung war, trug sie förmlich die Welt auf ihren Schultern. Eine eigene Firma, eine jüngere Schwester, der sie bald ein Studium finanzieren musste, ein Bruder, der inzwischen zwar aus der Haft entlassen war, aber verschwunden blieb. Ein Festival zu organisieren würde viel Arbeit sein, aber auch Spaß machen. Und es konnte sowohl ein würdiges Andenken für ihre Mutter werden, als auch die Stadt attraktiver und Sams Leben spannender machen.
»Wir werden das auf die Beine stellen«, verkündete sie wild entschlossen. »Wir alle zusammen. Und es wird ein Riesenerfolg werden.« Sam warf Drew einen Blick zu. »Stürme hin oder her, wir müssen etwas für Porthmellow tun.«
1
Elf Jahre später, Anfang Mai
ZEHNTES PORTHMELLOW
STREETFOOD-FESTIVAL
29. – 30. Juni, am Hafen von Porthmellow
Kult! So groß und lecker wie nie!
Über 100 Stände und Foodtrucks
Nonstop Live-Musik
Kochshows, u. a. mit
Starkoch Kris Zachary
von der BBC Weekend Kitchen Show
»Coolstes Foodevent von Cornwall« The Sunday Times
Sam wischte Regenwasser von dem laminierten Plakat, das sie in Händen hielt. Zehn Jahre. Das war ein Drittel ihres gesamten Lebens, und wie schnell war das vergangen.
Sie musste sich noch immer kneifen, wenn sie daran dachte, wie rasend schnell sich das Festival nach der ersten verrückten Idee vor dem Smuggler’s Inn entwickelt hatte. Jetzt blinzelte sie, weil ihr Tropfen in die Augen rannen, und versuchte, nicht nach unten zu schauen. Die Trittleiter, auf der sie stand, war keine zwei Meter hoch, aber für jemanden mit Höhenangst war das dennoch kein Pappenstiel. Und dazu bei diesem Wetter. Sturm und Regen tobten wüst, seit sie um sechs Uhr morgens aus dem Haus gegangen war, um die Plakate nach Möglichkeit alle aufzuhängen, bevor sie mit dem Backen für Stargazey Pie anfing. Dass es Anfang Mai sein sollte, konnte man kaum glauben.
Sam biss die Zähne zusammen und schlang die Schnur um ein Halteverbotsschild am Hafenbecken. Eine falsche Bewegung, und sie würde auf dem Kopfsteinpflaster landen oder durch die Abdeckplane der Marisco fallen. Ein Sam-förmiges Loch in seinem kostbaren Boot würde Drew sicher nicht zu schätzen wissen. Ihre Finger waren glitschig vom Regen und starr vor Kälte, aber sie wollte, dass die Plakate endlich hingen, weil der Frühling – angeblich jedenfalls – begonnen hatte und bald Scharen von Menschen in Porthmellow auftauchen würden. Und die sollten bitteschön allesamt Ende Juni zum Festival wiederkommen.
Als plötzlich ohrenbetäubendes Gebell zu vernehmen war, rutschte Sam vor Schreck mit einem Fuß ab und musste das Plakat loslassen, um sich mit beiden Händen festzuhalten. Es fiel in eine ölige Pfütze. Während Sam sich an die Leiter klammerte, wandte sie den Kopf und sah hinter sich einen sabbernden Rottweiler, der auf und ab sprang, um an ihren Füßen zu schnüffeln oder vielleicht auch einen Happen abzubeißen.
Wuff! Wuff! Wuffwuffwuff!
Eine Frau mit langem Ledermantel und Megadeth-T-Shirt versuchte das Tier zu bändigen und starrte mit finsterem Blick zu Sam hinauf.
»Morgen, Bryony«, sagte Sam. »Ziemliches Pieselwetter heute, wie?«
Bryony stupste das Poster mit der Spitze ihrer Doc-Martens-Stiefel an. »Ich hatte ja gehofft, ihr macht mal ein Jahr Pause mit dem Festival.« Der Hund bellte erbost weiter, worauf auch Bryony die Lautstärke steigerte. »Mein Sascha kann die Gerüche und den Krach auf den Tod nicht ausstehen.«
Sie tätschelte den Kopf des Rottweilers, und Sam versuchte unterdessen die Bemerkung zu verdauen. Cornwalls selbsternannter Hundeexpertin und sonderbarstem Heavy-Metal-Fan unter der Sonne zu widersprechen, empfahl sich nicht. Wehe jenen, die es wagten, Bryonys Meinung über Hunde oder Musik zu kritisieren … das Gleiche galt für ihre Ansichten über das Festival, Touristen, das Wetter und so weiter und so fort. Wäre Professor Stephen Hawking jemals nach Porthmellow gekommen, dann hätte Bryony wohl auch seine Theorien angezweifelt. Sie wohnte in einem kleinen Haus kaum fünfzig Meter vom Wavecrest Cottage entfernt, und Sam hörte Sascha oft wie verrückt bellen.
Jetzt witterte sie eine Pause in Bryonys Tirade und nutzte sie. »Das Festival führt viele Leute her, die sonst niemals nach Porthmellow kommen würden. Menschen aus der Region genauso wie Touristen, und wir haben uns damit einen Namen in der Food- und Kulturszene gemacht.«
Bryony schnaubte verächtlich. »Kulturszene? Die Touris sind doch das Grauen, und die Musik ist der reinste Alptraum. Ich überleg mir sogar, ob ich nicht in der Zeit zumachen und verreisen soll.«
»Soll das eine Drohung oder eine frohe Botschaft sein?«, murmelte Sam vor sich hin, bereute aber auf der Stelle, in die Falle getappt zu sein. Sie konnte es sich in ihrer Position als Festivalleiterin nicht erlauben, Leute gegen sich aufzubringen. Deshalb zwang sie sich zu einem entschiedenen, aber höflichen Tonfall. »Du weißt aber doch, dass die Leute während des Festivals viel Geld in den Geschäften der Stadt lassen.« Inklusive deinem Hundesalon, hätte sie gerne hinzugefügt, weil sie wusste, dass dort während des Festivals der Irrsinn tobte. Und tatsächlich drohte Bryony alljährlich in diesen Tagen zu schließen, hatte es aber noch nie getan.
»Im letzten Jahr ist Sascha fast an einer hölzernen Pommes-Gabel erstickt«, sagte sie jetzt anklagend. »Hat wahrscheinlich einer der Idioten weggeschmissen, die sich diese jämmerliche Folkband angeschaut haben.«
»Tut mir leid, dass Sascha krank war, aber die Gabel kann von sonst woher gestammt haben, und wir bemühen uns wirklich nach Kräften, alles so schnell wie möglich aufzuräumen. Du weißt ja, dass das Team aus ehrenamtlichen Helfern besteht …« Bryony verzog höhnisch das Gesicht, und Sam gab auf. »Könntest du mir vielleicht das Plakat hochreichen?«
»Sorry. Muss den Laden aufmachen. Gibt ja Leute, die einen echten Beruf haben.« Bryony streichelte den Rottweiler. »Komm, Schätzlein. Wir müssen heute einen Pudel und zwei Cockerspaniels zurechtmachen.«
Und damit stapfte sie mit Sascha davon. Sam kannte Bryony seit ihrer Schulzeit und war mit ihrer Griesgrämigkeit vertraut. Es gab zwar diverse Leute, die etwas gegen das Festival hatten, aber Bryony tönte grundsätzlich am lautesten von allen. Im Großen und Ganzen waren die Einwohner von Porthmellow unterstützend, aber es war so, wie Roz ihr immer gesagt hatte: Man konnte es nicht allen recht machen. Im Laufe der Jahre hatte es auf der Facebook-Seite des Festivals und in letzter Zeit auch auf Instagram und Twitter etliche abfällige Kommentare gegeben. Beim ersten Mal war Sam gekränkt und aufgebracht gewesen, aber inzwischen hatte sie sich eine dickere Haut zugelegt. Es war ihr einerlei, was die Leute redeten. Das Festival auf die Beine zu stellen war damals die Rettung für Sam gewesen, weil sie eine Aufgabe brauchte. Und es hatte wieder Leben in den Ort gebracht, was genauso wichtig war.
Der Regen prasselte auf ihre Jacke und drohte das Plakat in den Hafen zu schwemmen. Hastig stieg Sam von der Leiter, um es noch rechtzeitig zu erwischen, aber eine Gestalt in scharlachroter Öljacke, weißer Jeans und geblümten Gummistiefeln stürzte sich bereits darauf. Chloe. Sam lächelte. Ein freundliches Gesicht war genau das, was sie nach ihrer Begegnung mit dieser Schreckschraube brauchte.
»Hier. Hab gesehen, wie Bryony dich angeknurrt hat. War sie wieder unausstehlich?«
Sam nahm das Plakat in Empfang. Chloe Farrow wohnte erst seit dem vergangenen Herbst in Porthmellow, sie war nach ihrer Scheidung aus Surrey hierher gezogen. Sie war Eventmanagerin und arbeitete noch immer gelegentlich als Freelancerin für ihre frühere Firma. Klein und zierlich, war Chloe dennoch ein Energiebündel, das ständig vor Ideen sprühte. Insgeheim war Sam überzeugt, dass Chloe von einer Art innerem Atomreaktor angetrieben wurde.
»Hat mich wieder angemotzt wegen des Festivals«, antwortete Sam, »und wollte nicht mal das Plakat aufheben. Die hat doch den falschen Beruf. Sie sollte Alcatraz leiten.«
Chloes dunkelbraune Augen funkelten amüsiert. Die glänzenden schwarzen Haare waren kunstvoll hochgesteckt, was ihre zarten Gesichtszüge betonte. Ihre Mutter stammte aus Hongkong, der Vater war Waliser, und Chloe hatte von den chinesischen und den keltischen Genen in puncto Aussehen das Beste mitbekommen. Obwohl ihr trotz des Schirms immer wieder der Regen ins Gesicht peitschte, war ihr dezentes Make-up nicht verwischt, und sie sah elegant und makellos aus. Sams krause rostrote Locken waren von der Kapuze platt gedrückt, und sie trug die Klamotten, auf die ihr Blick am Morgen zuerst gefallen war: Jeans vom Stuhl im Schlafzimmer, ein langärmliges T-Shirt direkt aus dem Trockner und die alte Regenjacke vom Haken auf der Veranda.
Chloe dagegen sah aus wie eine wandelnde Werbung für die Designer-Boutiquen am schickeren Ende des Kais. Seit es das Streetfood-Festival gab, hatten bereits drei Boutiquen neu eröffnet, außerdem eine renommierte Kunstgalerie, ein stilvoller Einrichtungsladen und ein Biocafé. Inzwischen gab es kaum noch Leerstand in Porthmellow, und sogar der Imbiss bot neben Fish and Chips oder Brühwurst auch Salate und Wraps an.
Sam hielt das nicht für Zufall – sie war der Überzeugung, dass die neuen Geschäfte durch die Besucherscharen angelockt worden waren, die im Sommer zum Festival kamen. Auch Stargazey Pie profitierte davon. Vor ein paar Jahren hatte Sam sich statt der winzigen Küche in der Seitengasse eine modern ausgestattete Backstube am Ortsrand mieten können und einen Verkaufswagen angeschafft, in dem sie jetzt in ganz Cornwall auf Märkten und bei Festen ihre Pies anbot. Es war harte Arbeit, und reich würde sie damit nicht werden, aber sie fand es wunderbar, unabhängig zu sein und von etwas leben zu können, das sie gerne machte.
»Ich hab gestern die meisten Plakate und Flyer in den Geschäften verteilt«, sagte Chloe. »Du hast wohl den Kürzeren gezogen, weil du sie draußen aufhängen musst. Wollte gerade Nachschub holen. Ich schätze mal, bis heute Nachmittag hab ich alle Läden bestückt. Soll ich dir erst mal hier helfen? Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich durch die Geschäfte spaziere, während du hier dem tosenden Atlantik trotzen musst.«
»So schlimm ist es noch nicht.« Sam lächelte. »Wenn die Wellen über den Uhrturm hereinbrechen … dann kannst du anfangen, dir Sorgen zu machen.«
»Großer Gott. Ich hab Fotos von dem gewaltigen Sturm von vor ein paar Jahren gesehen.« Chloe schauderte und beäugte argwöhnisch die gischtenden Wogen hinter den Wellenbrechern, die den Hafen vor dem Meer schützten. »So was droht uns doch wohl hoffentlich nicht während des Festivals, oder?«
Tatsächlich hatte Sam schon dreißig Meter hohe Wellen erlebt, die Gischt war höher gewesen als der Glockenturm. Bei extremen Stürmen wurde sogar im Fernsehen darüber berichtet, aber die Dorfbewohner waren stets gut vorbereitet. Nur hirnlose Touristen gerieten in Schwierigkeiten, wenn sie sich trotz des Schilds, das auf Lebensgefahr hinwies, bei solchen Unwettern am Hafen herumtrieben. Was leider immer wieder vorkam.
»Na ja, in Porthmellow weiß man nie so genau, was vom Ozean zu erwarten ist«, sagte Sam, die Chloes entsetzte Miene ziemlich amüsant fand. »Aber keine Sorge, im Juni ist das eher unüblich. Und zumindest die Leute aus der Region kommen auch bei Regen. Wir sind ein zähes Völkchen.«
Chloe seufzte erleichtert, doch bevor sie etwas erwidern konnte, summte ihr Handy. Als sie die Nachricht las, trat ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.
»Kris Zacharys Assistentin schreibt, ich soll sie anrufen. Will wahrscheinlich die Ausstattung checken. Kris zu buchen war eine echt geniale Idee, obwohl er eine Menge Geld kostet. Wir haben schon viel Presse deshalb, vor allem wegen … ähm, seines Privatlebens in letzter Zeit. Diese funkelnden blauen Augen … und wie er durch die Küche wirbelt! Das ist ein echter Hingucker.«
»Hmm. Ja, medienwirksam ist der im Moment auf jeden Fall, wenn auch aus den falschen Gründen«, erwiderte Sam und dachte an die Berichte über die Trennung des Starkochs von seiner Frau und die neue Freundin, die er sich auch gleich zugelegt hatte.
»Dass er überhaupt zugesagt hat, heißt doch, dass Porthmellow inzwischen in der Food-Szene auf nationaler Ebene Rang und Namen hat«, erwiderte Chloe.
»Ich hoffe nur, dass Porthmellow ihm vom Niveau her ausreicht«, sagte Sam. Regenwasser tropfte ihr von der Nase. Die Zeit raste, und sie musste die Plakate noch anbringen und gleich mit dem Backen für Stargazey Pie loslegen.
Chloe spähte unter dem Schirm hervor. »Muss schon sagen, das Festival ist doch erheblich aufwändiger, als ich erwartet hatte. Hab ja schon einige Events organisiert, aber das ist bislang das größte.«
»Ich glaube, ich hab mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt dafür, dass du ins Planungskomitee eingestiegen bist«, sagte Sam. »Ohne dich würden wir ja gar nicht mehr klarkommen.«
Chloe freute sich sichtlich über Sams Bemerkung. »Ach, ich wollte das unbedingt. Ich kann nicht rumsitzen und nichts tun, und auf die Art und Weise lerne ich auch viele Leute kennen.«
Sie hatte erzählt, dass sie nach Porthmellow gezogen war, weil sie mit ihrem Ex-Mann und ihrer Tochter Hannah hier so glückliche Urlaube verlebt hatte. Und weil Porthmellow nicht nur Ferienort war, hier lebten und arbeiteten Menschen das ganze Jahr über. Sam stellte es sich aber nicht leicht vor, so weit entfernt von Zuhause zu sein, vor allem da Hannah gerade ihr Studium in Bristol begonnen hatte. Sam hatte sie noch nicht kennengelernt, spürte aber, dass Chloe sehr an ihrer Tochter hing. Da Chloe enorm jugendlich wirkte, musste sie früh Mutter geworden sein.
»Danke dir. Kommt Hannah denn zum Festival?«, fragte Sam.
Chloe zögerte. »Ich glaube eher nicht. Sie hat wahrscheinlich in der Zeit Prüfungen und wollte wohl gleich danach verreisen. Und ich hätte ja ohnehin in der Phase keine Zeit für sie.«
»Tja, das stimmt natürlich«, sagte Sam und bereute, gefragt zu haben, denn Chloe klang etwas enttäuscht. In den acht Monaten, seit sie in Porthmellow wohnte, hatte Hannah sich noch nicht blicken lassen. Vielleicht gab es Konflikte in der Familie. Damit kannte Sam sich zur Genüge aus.
»Ich sollte jetzt die Assistentin von Kris anrufen«, sagte Chloe. »Wir sehen uns beim Planungstreffen, ja?«
Als sie gegangen war, hängte Sam weiter Plakate auf und verlor sich dabei unwillkürlich in Erinnerungen. Seit zehn Jahren wurde das Festival von Jahr zu Jahr größer. Aber nicht alles hatte sich in diesen letzten zehn Jahren so gut entwickelt wie das Festival. Sams Liebesleben war quasi nicht existent. Sie war jetzt zweiunddreißig, und es mangelte durchaus nicht an Interesse und Angeboten. Aber ihre ganze Energie floss in die Arbeit für Stargazey Pie, das Festival und Zennor. Und letztlich musste Sam sich auch eingestehen, dass sie noch nicht bereit war, Energie in eine dauerhafte Beziehung zu stecken. So wenig es ihr gefiel – sie hatte die Sache mit Gabe nach wie vor nicht verkraftet.
Als Sam auf die Leiter stieg, um das letzte Plakat zu befestigen, musste sie wieder an diesen Abend vor elf Jahren denken, als Ryan verhaftet worden war. Sie war alleine zu Hause gewesen und hatte sich auf einen kuscheligen Abend mit Gabe gefreut. Als er vor der Tür stand, öffnete sie ihm strahlend und fiel ihm um den Hals.
»Du bist ja spät dran. Ich hab dich schon vermisst«, raunte sie ihm ins Ohr.
Doch er schob sie behutsam von sich weg und sagte: »Sam, ich muss dir was erzählen. Leider nichts Gutes.«
Ihr blieb fast das Herz stehen. Wollte er sich von ihr trennen? Hatte er eine andere Frau?
»Es geht um Ryan«, sagte Gabe.
Sam stockte der Atem. »Oh Gott, was ist denn mit ihm?«
»Er ist wohlauf. Bislang«, antwortete Gabe.
Damit fing alles an.
Doch eigentlich hatten die Probleme schon bald nach dem Tod ihrer Mutter begonnen.
Damals, als Ryan mit Anfang zwanzig die Leitung des Spielsalons übernommen hatte. Wobei »Leitung« eindeutig der falsche Ausdruck war, denn er brachte genauso viel Zeit an den Spielautomaten zu wie die Kunden. Was dazu führte, dass er Schulden machte und sich Geld borgte. Sam war extrem beunruhigt über die schlechte Gesellschaft, in die Ryan geraten war, einen Haufen Tagediebe und Taugenichtse. Aber ihr Bruder tat, als sei alles in bester Ordnung.
Erst als Gabe es ihr sagte, erfuhr Sam, dass Ryan mit Komplizen plante, den eigenen Spielsalon auszurauben. Sie flehte Gabe damals an, nicht zur Polizei zu gehen, aber er hatte es dennoch getan, und die ganze Bande wurde auf frischer Tat ertappt. Sam war schockiert, als ihr Bruder zu einer Haftstrafe von achtzehn Monaten verurteilt wurde, hoffte aber, dass er daraus lernen und das Ganze mit ihrer Unterstützung einigermaßen gut überstehen würde. Doch nach ihrem ersten Besuch im Gefängnis wollte Ryan sie nicht mehr sehen. Er sagte, seine Schwester solle sich nicht an einem solchen Ort aufhalten. Und als er wieder auf freiem Fuß war, wollte er weg von Porthmellow, weil er sich schrecklich schämte, seinen Schwestern so etwas Schlimmes angetan zu haben. Und weil er sich vor der Reaktion der Einheimischen fürchtete.
»Ich bin Gift für die Familie«, sagte er damals. »Bitte versteh, dass ich nicht hierbleiben kann. Ich muss anderswo einen Neuanfang machen.«
Danach verschwand er zunächst spurlos. Es war grauenhaft für Sam, nicht zu wissen, ob er überhaupt noch lebte. Sie suchte im Internet nach ihm, rief ihn zweimal am Tag an, bis er seine Nummer änderte. Einmal behauptete jemand, er habe Ryan in einem bestimmten Viertel in Plymouth gesehen, worauf Sam sofort dorthin fuhr und in den Pubs nach ihm fragte. Was natürlich ergebnislos war und sie nur noch mehr bedrückte.
In dieser Zeit ging auch ihre Beziehung mit Gabe in die Brüche. Er hatte versucht, seine Beweggründe begreiflich zu machen, hatte gesagt, dass es auch zu Ryans Bestem gewesen sei. Man hätte nicht nur die Dorfbewohner vor Ryan, sondern auch ihn vor sich selbst schützen müssen.
Sam wusste sehr wohl, dass Gabe recht hatte, doch das änderte nichts an ihren Gefühlen. Ryan war ihr Bruder, und sie konnte Gabe nicht vergeben, dass er ihn verraten hatte. So war Sam letztlich gezwungen, Stellung zu beziehen, und entschied sich für Ryan. Sie hatte ihn mit großgezogen, und obwohl er älter war als sie, hatte sie ihm die Mutter ersetzt. Gabe jedoch hatte gegen ihren Willen gehandelt, und deshalb trennte sie sich von ihm. Er versuchte sie umzustimmen, doch sie blieb bei ihrer Entscheidung, und Gabe nahm eine Stelle als Souschef in London an. Seither hatte Sam nichts mehr von ihm gehört. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie ihre Mutter, ihren Bruder und ihre große Liebe verloren.
Irgendwann meldete sich Ryan, jedoch nur, um zu sagen, dass es ihm so weit gut ging, er aber nicht mehr nach Porthmellow zurückkehren werde. Danach schickte er den Schwestern nur noch Karten zu den Geburtstagen und zu Weihnachten. Sam hatte ihn seit diesem einzigen Besuch im Gefängnis nicht mehr zu Gesicht bekommen und wusste nichts über sein Leben.
Der Skandal schadete auch Zennor und Porthmellow. Einige Leute verdammten Ryan, andere verteufelten Gabe, weil er jemanden aus der Familie verraten hatte. Nach wie vor warf das Ereignis Schatten auf Sams Leben. Ihre wenigen Beziehungsversuche waren von kurzer Dauer gewesen. Seit der Trennung von Gabe konnte sie sich auf niemanden mehr richtig einlassen. Ihr Engagement für das Festival hatte ihr zunächst eine passende Ausrede geliefert, aber allmählich musste sie sich eingestehen, dass sie sich einsam fühlte. Sie wünschte sich Liebe und eine eigene Familie, konnte sich aber gar nicht mehr vorstellen, wie das noch gelingen sollte.
Und dafür konnte sie letztlich nicht Gabe die Schuld geben, sondern musste ihr eigenes Verhalten ändern. Vielleicht konnte sie das zehnte Festival zum Anlass dafür nehmen. Sie sollte sich mal verabreden, etwas riskieren …
Als sie fröstelte, merkte Sam, dass sie bis auf die Haut durchnässt war. Die Regenjacke war inzwischen auch aufgeweicht, und ihre Jeans troff schon vor Wasser.
Nachdem das letzte Plakat aufgehängt war, machte Sam sich schleunigst auf den Weg zu Stargazey. Plötzlich hörte sie hinter sich jemanden rennen und drehte sich um. Chloe kam angehastet und sah so besorgt aus, dass Sam sofort einen Anflug von Panik verspürte.
»Was ist los?«
»Dieser Anruf von Kris Zacharys Assistentin. Keine guten Nachrichten. Er hat abgesagt.«
2
Sam stöhnte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. »Was?«
»Ich überbringe wirklich ungern schlechte Nachrichten«, sagte Chloe betreten. »Er hat gerade die Insolvenz erklärt, sein gesamtes Unternehmen ist bankrott. Vermutlich wird er sogar wegen Steuerhinterziehung angeklagt.«
»Ach, du meine Güte. Wer hätte das gedacht.«
»Niemand vermutlich, aber es ist so. Seine Assistentin sagte, er musste für die nächsten Monate alle Auftritte absagen. Sogar noch bis nächstes Jahr, falls er vor Gericht kommt.«
»Mist.« Sam rieb sich entnervt die Stirn. »Und woher kriegen wir jetzt auf die Schnelle einen neuen Starkoch?«
»Tut mir leid … ist echt ein Schock …« Chloes Miene erhellte sich. »Aber zum Glück haben wir bislang nur einen Teil seines Honorars bezahlt.«
Sam stöhnte noch lauter. »Das sind immer noch ein paar Tausend! Wir machen zwar inzwischen einen kleinen Profit, aber wir können es uns auf keinen Fall leisten, so viel Geld zu verlieren! Das bräuchten wir außerdem für den neuen Koch.«
»Hmm …« Chloe überlegte. »Das ist natürlich gar nicht gut.« Sie sah ziemlich niedergeschlagen aus, und wenn Chloe nichts mehr einfiel, dann war die Lage wirklich miserabel.
»Gibt es keinerlei Chance, dass wir die bereits bezahlte Summe zurückkriegen?«, fragte Sam.
Chloe zog die Nase kraus. »Das hab ich natürlich sofort gefragt. Seine Assistentin meint, sie will sehen, was sie tun kann, klang aber nicht zuversichtlich. Und ich vermute, dass wir auf einer langen Liste von Gläubigern ganz unten landen. Ich glaube kaum, dass eine Klage Aussicht auf Erfolg hat.«
»Wir müssen das morgen mit dem Komitee besprechen«, sagte Sam und hielt sich innerlich dazu an, nicht den Kopf hängen zu lassen. Unter keinen Umständen durfte sie zulassen, dass dieser Tiefschlag das Festival ruinierte, wenn sie auch noch keinerlei Geistesblitz hatte, was man unternehmen konnte.
»Inzwischen versuch ich, mir irgendwas einfallen zu lassen. Vielleicht können wir einen Chefkoch aus der Region engagieren, obwohl Kris natürlich viel mehr Publicity bekommen hätte. Aber jedenfalls danke für deinen Einsatz …« Sam schlug sich an die Stirn. »Ach, herrje. Dann müssen wir ja auch alle Plakate ändern, da steht Kris’ Name drauf.«
»Ja, das müssen wir wohl.« Chloe verzog das Gesicht. »Obwohl das, glaube ich, gerade unsere geringste Sorge ist. Ich werd mal bei meinen Event-Kontakten herumtelefonieren, ob da jemand eine Idee hat.«
»Das wäre toll, Chloe. Ohne dich wären wir aufgeschmissen.«
Chloe strahlte. »Der Dank ist ganz auf meiner Seite. Durch das Festival habe ich endlich eine sinnvolle Aufgabe hier. Aber du musst mir sagen, wenn du das Gefühl hast, dass ich zu viel an mich reiße, ja?«
»Tust du nicht. Keine Sorge, ich mach mich dann bemerkbar.« Tatsächlich hatte Sam schon den Eindruck gehabt, dass Chloe etwas zu leidenschaftlich zu Werke ging, war nun aber immens dankbar für ihre Unterstützung.
»Ich meld mich wieder«, sagte Chloe.
»Und ich schreib allen vom Komitee über die WhatsApp-Gruppe und überlege beim Backen. Bin furchtbar spät dran, Stefan ist sicher schon fuchsteufelswild.«
Sam eilte zu den Räumen von Stargazey Pie in dem kleinen Gewerbegebiet. Das Streetfood-Festival war wichtig, aber sie hatte schließlich auch noch eine Firma zu betreiben.
Stargazey Pie war ihr Brotberuf, mit dem sie Zennor unterstützt hatte, bis die ihr Studium abgeschlossen und mit Ben eine Grafikdesignfirma gegründet hatte. Die beiden betrieben ZenBen Graphics in einer ehemaligen Autowerkstatt hinter dem Hafen, entwarfen Websites, Werbematerial und Schilder und waren damit in kleinem Maßstab recht erfolgreich.
Sam betrat das Gebäude, nahm im Vorraum ihre Schürze vom Haken und wusch sich die Hände.
»Was glaubst du wohl, wie viel Uhr es ist?« Stefan erschien in der Tür zur Küche und hielt empört die Hände hoch, die in mehlbestäubten Latex-Handschuhen steckten. Stargazey stellte seinen eigenen buttrigen Pastetenteig her, den Sam über die Jahre perfektioniert hatte.
»Hatte ein paar Probleme. Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«
»Du bist ja völlig durchnässt«, bemerkte Stefan missbilligend. Er war ein Freund ihrer Mutter und Sams rechte Hand im Unternehmen, aber auch ein Stückweit Vaterersatz. Meist führte Stefan sich wie der Boss auf und konnte auch ordentlich scharfzüngig sein, hatte aber ein Herz aus Gold, und Sam mochte sich ihr Leben ohne ihn gar nicht vorstellen.
»Weiß ich.«
»Waren das zufällig Probleme mit dem Festival?«
»Ja, waren es. Ich hab gerade die Plakate aufgehängt, als …«
»Bei diesem Wetter? Hab ich dir schon mal gesagt, dass du nicht alle Tassen im Schrank hast?«
»Ziemlich oft, ja.« Sam grinste, als ihr wieder einfiel, wie sie wegen Saschas Gebell fast von der Leiter gefallen war. »Aber der Regen ist leider mein geringstes Problem. Unser Starkoch ist gerade ausgestiegen.« Sam drapierte ein blaues Haarnetz über ihren Schopf störrischer Locken und nahm einen frischen weißen Overall aus dem Regal.
»Kris Zachary?« Stefan verzog abfällig das Gesicht. »Kann nicht behaupten, dass ich das furchtbar bedaure. Ich finde den Burschen enorm eingebildet. Der hält sich doch für das größte Focaccia-Genie unter der Sonne. Aber Kieran findet ihn ganz toll, wegen der ›funkelnden Augen‹. Er hat schon gehofft, dass du ihn und Kris bekanntmachen würdest. Aber ich hab immer Angst, dass Haare aus seinem albernen Ziegenbärtchen in den Gerichten landen.«
Sam lachte lauthals und vergaß für einen Moment ihre Sorgen. Kieran und Stefan waren seit acht Jahren verheiratet. Kieran machte die Buchhaltung für Stargazey und hatte auch ehrenamtlich die Regelung der Festival-Finanzen übernommen.
»Ich fürchte, Kieran wird nicht so schnell ein Selfie mit Kris Zachary kriegen. Dem droht offenbar Anklage wegen Steuerhinterziehung. Als hätten wir nicht schon genug an der Backe.«
Stefan schnalzte mit der Zunge. »Na, du weißt ja, dass ich dich für völlig plemplem halte, weil du dir die Firma und das Festival zugleich ans Bein gebunden hast. Dieser Ort kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.«
Sam gestattete sich ein kleines Lächeln. Eine Zeitlang hatte sie eher das Gefühl gehabt, schädlich für Porthmellow zu sein. Ihr Bruder hatte für so viel Aufregung und Ärger im Ort gesorgt, und Sam fühlte sich damals wie heute anteilig dafür verantwortlich. Sie hatte sich schon öfter gefragt, ob sie auch aus diesem Grund das Festival ins Leben gerufen hatte.
»Lass uns lieber loslegen. Wir sind echt spät dran.«
»Und an wem liegt das?«, entgegnete Stefan kopfschüttelnd.
»Schon gut, schon gut, hab’s kapiert.«
Sam band sich die Plastikschürze über den Overall, wusch sich nochmals die Hände und zog frische Latexhandschuhe an. Stefan war in der Küche für den Teig zuständig, Sam für die Füllungen der Pies. Zurzeit gab es die Frühlingsvarianten, zwei vegetarische und zwei mit Fleisch. Es wurden keinerlei künstliche Zusätze benutzt und nur erstklassige Zutaten wie Biomehl, Fleisch und Fisch aus der Region und frisches Gemüse, das im milden Klima von Cornwall bestens gedieh. Sogar die Backformen hatten exquisite Qualität. Sams Pies waren teurer als Fertigware, doch dafür bekamen die Kunden auch etwas Gesundes und Hochwertiges und wussten das bislang zu schätzen.
Die Konkurrenz in der Slowfood- und Streetfood-Szene hatte enorm zugenommen, seit Sam ihr Unternehmen gegründet hatte, aber sie war stolz auf ihre Produkte und erfand ständig neue Rezepte, um ihren Kunden etwas zu bieten. Der enorme Arbeitseinsatz lohnte sich dafür, fand sie.
Sie dachte zurück an die Wochen, in denen sie mit Hilfe ihrer Freunde einen Pferdetransporter in einen schönen Verkaufswagen umgebaut hatte, der inzwischen das ganze Jahr über auf Bauernmärkten und bei Veranstaltungen zu finden war. Das Angebot gestaltete sie saisonal. Im Sommer gab es kalte Quiches, Pies, pikantes Gebäck und selbstgemachte Salate. Gelegentlich wurde sie auch für Hochzeiten und Partys gebucht, bei denen man Wert auf Individualität legte, und es gehörte zu ihren absoluten Lieblingstätigkeiten, sich für das Hochzeitspaar oder das Geburtstagskind etwas Originelles einfallen zu lassen.
An diesem Abend gab es keine Termine, und Sam und Stefan brachten den Tag damit zu, Pies zu füllen und mit Ei zu bepinseln, damit für den nächsten Tag alles vorbereitet war. Die Zeit verging wie im Fluge, und als Stefan Mittagspause machte, rief Sam Zennor an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen und die Umgestaltung der Plakate zu besprechen. Der Vorteil des schlechten Wetters war immerhin, dass noch nicht mal die Hälfte aller Plakate aufgehängt war. Ben und Zennor versprachen, in ihrer Mittagspause so viele wie möglich wieder zu entfernen, und wollten auch Drew bitten, nach Feierabend mitzuhelfen.