EINES SCHÖNEN MORGENS findet Cathy Callaghan, Betreiberin eines kleinen Bed & Breakfast in Plymouth/Südengland, eine Leiche in ihrem Garten. Bald stellt sich heraus: Es handelt sich um einen stadtbekannten Obdachlosen, der mehr gesehen hat, als ihm guttat. Auch für Bene Lerchenfeld kommt’s knüppeldick: Seine langjährige Freundin Annika verlässt ihn, als er ihr gerade einen Heiratsantrag machen will. Und dann landet er mit seinem geliebten Oldtimer dank Navi auch noch im Rhein.
Bene ist am Tiefpunkt. Da kommt die Flasche selbstgebrannten Gins, die ihm sein toter Vater vermacht hat, gerade richtig. Jahrelang hat er sie sich aufgespart, doch jetzt ist sowieso schon alles egal, also: Prost! Der Gin schmeckt besser als alles, was Bene je getrunken hat. Er beschließt, die verlorene Rezeptur dieses ganz besonderen Tropfens ausfindig zu machen. Eine Suche auf den Spuren seines Vaters, die ihn nach Plymouth führen wird – wo Cathy und der tote Obdachlose auf ihn warten …
›Der Gin des Lebens‹ ist ein unterhaltsamer Kriminalroman über eine faszinierende Spirituose, perfekt gemixt mit Figuren, die einem sofort ans Herz wachsen, vielen Wendungen, feinem Humor und einer großen Portion Spannung.
Autorenfoto: © Sebastian Knoth
CARSTEN SEBASTIAN HENN ist Kulinariker durch und durch. Er besitzt einen Weinberg an der Mosel, hält Hühner und Bienen, studierte Weinbau, ist ausgebildeter Barista und einer der renommiertesten Restaurantkritiker Deutschlands. Seine Romane und Sachbücher haben eine Gesamtauflage von fast einer halben Million Exemplare.
DER GIN
DES LEBENS
eBook 2020
© 2020 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagmotiv: © ZeynepOzy/iStock by Gettyimages
Alle Illustrationen im Innenteil: © Rüdiger Trebels
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8499-5
www.dumont-buchverlag.de
FÜR MEINEN VATER
»Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend.
Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen.
Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft,
wie viel er in sieben Jahren dazugelernt hatte.«
Mark Twain
PROLOG
Wahrscheinlich dachten Cathy Callaghans Nachbarn, dass sie ihren kleinen Garten hasste. Der Rasen war längst zu einer wilden Wiese geworden, auf der das Unkraut den Kampf gegen die zarten Gräser gewann, der Brombeerstrauch breitete sich aus wie ein müder Großvater auf dem Sofa, und die einstmals perfekt gepflegten Blumenrabatten waren unter den hochgewachsenen Disteln kaum noch zu erkennen. An der Hauswand standen teils gesprungene Tontöpfe mit allerhand wuchernden Kräutern, bei denen nur Experten noch erkennen konnten, dass sie alle für Gin verwendet werden konnten.
Aber die Wahrheit war, dass Cathy ihren Garten liebte und ihn deshalb genauso sprießen ließ, wie er wollte. Einzig eine Schneise zu ihrem hellblauen Gartenhaus schlug sie in regelmäßigen Abständen, und Ranken, die sich in diese hineinzwängten, kappte sie.
Cathy liebte besonders den Blick aus dem großen Küchenfenster, immer gab es Neues zu sehen, und wenn sie Glück hatte, besaß das Neue ein Federkleid und baute sich ein Nest. Cathys kleine, heile, grüne Welt. Jetzt am Morgen fiel das Sonnenlicht so darauf, dass die Hufeisen am Gartenhaus es reflektierten. Für jedes ihrer Lebensjahre hatte sie eines drangenagelt. Sechsunddreißig waren es schon. Sie nahmen dem Älterwerden ein wenig den Schrecken. Denn sie machten ihr bewusst, dass man mit jedem Jahr auch etwas dazugewann. Und sei es nur ein Hufeisen.
An diesem Morgen verlor Cathy sich so sehr im Blick in den Garten, dass sie erst nach einiger Zeit bemerkte, wie sich Blasen in der großen, gusseisernen Pfanne mit den Baked Beans bildeten. Schnell stellte sie den Herd herunter, auf dem in einer zweiten Pfanne Würstchen und Bacon brutzelten sowie Tomatenhälften langsam schmorten.
Cathy hatte momentan drei Gäste in ihrem Bed & Breakfast, wobei Eudora Havisham schon fast zur Familie gehörte, da sie seit vierzehn Jahren jeden Sommer kam. Sie wollte von Plymouth aus den Ärmelkanal bis Guernsey durchschwimmen, wo sie einst geboren worden war. Vielleicht würde es ihr in diesem Jahr endlich gelingen, genügend Kerzen hatte sie in der Kathedrale von Plymouth für klaren Himmel, sanfte Wellen und eine hilfreiche Strömung zumindest aufgestellt.
Es brauchte immer ein wenig Kraft, um das alte, hölzerne Küchenfenster auf Kipp zu stellen, aber Cathy nahm die Mühe nun auf sich, damit ein wenig der Meeresbrise hereinfand, um Eudora in die richtige Stimmung zu versetzen.
Dafür musste sie sich vorbeugen. Wodurch sich ihr Blickwinkel änderte. Und sie etwas entdeckte, direkt vor der Tür des Gartenhauses. Es war schwarz und handtellergroß. Nichts, was in Cathys Garten wuchs, sah so aus. Also stellte sie sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals.
Wenn sie sich nicht irrte, war es eine Schuhsohle.
Ob einer der Nachbarn seinen Müll über den Zaun geworfen hatte? Als Kommentar zu ihrer Gartenphilosophie? Vermutlich der mürrische Mr. Quarmby. Na, dem würde sie es zeigen! Der bekäme jetzt nicht nur seinen alten Schuh zurück, sondern auch noch ihre leeren Baked-Beans-Dosen und die Würstchenpackung. Alles gratis und mit besten Grüßen!
Cathy stellte den Herd aus, griff sich den Müll und stürmte in Hausschluffen hinaus. »Guten Morgen, Mr. Quarmby!«, rief sie über den Zaun. »Ich hoffe, Sie erkälten sich nicht, so ganz ohne Schuhe!«
Gerne hätte sie zornig aufgestampft, aber der weiche Boden eignete sich kein bisschen dafür. So blieb ihr nur, empört zu schnaufen. Das machte sie dafür aber umso lauter.
Cathy schaute wütend in Mr. Quarmbys perfekten Garten und blickte erst wieder zu dem schwarzen Schuh, als sie schon vor ihrem Gartenhaus angekommen war.
Ihr Schrei zerschnitt die Welt wie eine Klinge.
Der alte Mann auf dem Boden trug trotz der sommerlichen Hitze einen blau-weiß gestreiften Pullover, einen dicken Wintermantel und eine Wollmütze. Sein grauer Bart war buschig und verfilzt. Ausdruckslos stierten seine toten Augen in den Himmel, um den Kopf befand sich ein großer Heiligenschein aus Blut, der auf den Gräsern und Blättern schon angetrocknet war.
Sie kannte ihn, er hieß Robert Miller, doch die meisten nannten ihn Bob. Er bettelte immer vor »Marks & Spencer« in der Cornwall Street. Dabei saß er stets so ruhig auf den Pflastersteinen, dass die Möwen jegliche Angst vor ihm verloren hatten und manchmal sogar auf ihm landeten.
Sie hatte ihm immer mal wieder etwas in seinen Hut geworfen.
Nun blieb Cathy nur noch, sich hinunterzubeugen, um ihm die Augen zu schließen.
Ihre Finger zitterten, als sie seine kalte Haut berührten.
EINS
»Du bist nicht betrunken, solange du auf dem Boden liegen kannst, ohne dich festzuhalten.«
Bene Lerchenfelds Zeigefinger verharrte seit einer gefühlten Ewigkeit über dem kupfernen Klingelknopf des Mehrfamilienhauses, der zu Annikas Wohnung gehörte.
Er stand so starr im Dunkeln, dass der Bewegungsmelder das Licht nicht mehr aktivierte. Verdammt, die Sache war echt schwerer als gedacht! Er hatte das mit den weichen Knien immer für eine blöde Redensart gehalten, aber es fühlte sich gerade tatsächlich so an, als wären sie schlecht aufgepumpte Reifen.
Im Kopf ging er seinen Text nochmal durch. »Ich verrate dir jetzt, warum ich heute Abend hergekommen bin: Wenn man begriffen hat, dass man den Rest des Lebens zusammen verbringen will, dann will man, dass der Rest des Lebens so schnell wie möglich beginnt.« Das Zitat stammte aus »Harry & Sally«, den Film liebte Annika, wie überhaupt alle romantischen Komödien aus den Achtzigern und Neunzigern. Sie hatten ihn unzählige Male zusammen gesehen. Annika weinte immer an der Stelle, wenn Harry diesen Satz zu Sally sagte, mitten auf einer trubeligen Silvester-Party, wo die Welt trotzdem nur aus ihnen beiden zu bestehen schien. Wenn Bene dann zu ihr lugte, knuffte sie ihn. Und in all den Jahren, die sie sich jetzt kannten, hatte er trotzdem jedes Mal zu ihr herübergeschaut.
Bene holte Luft und senkte den Finger auf den kupfernen Knopf.
In der ersten Etage schrillte eine Türklingel, die man sicher auch hören konnte, wenn ein Düsenjet im Garten landete.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er würde mit Annika Wurzeln schlagen. Das siebenunddreißigste Lebensjahr würde sein letztes als unverheirateter Mann werden. Das war eine sinnvolle Entscheidung, ganz sicher, und Annika war genau die Art von Frau, mit der man den Plan vom Eigenheim mit Vorgarten angehen konnte.
Dafür musste er jetzt gleich nur auf die weichen Knie gehen und seine Sätze herausbringen, ohne dass ihm die Stimme wegblieb.
Als ein Summton signalisierte, dass die Haustür aufgedrückt werden konnte, räusperte er sich. Er klang schon total heiser, obwohl er ja noch kein Wort gesagt hatte.
Oben in der ersten Etage wurde eine Tür geöffnet und Annikas Mitbewohnerin Lily schaute heraus. Sie war Anfang zwanzig und hielt es für modisch, sich Metall durch alle Körperteile zu jagen, die sich nicht wehrten. Bene hatte sich schon oft gefragt, wie sie wohl durch die Sicherheitskontrolle an Flughäfen kam.
Als sie Bene erkannte, drehte sie sich um und rief in die Wohnung: »Es ist der Schrauber!«
Lily hasste ihn, er hasste Lily, eine der klarsten Beziehungen seines Lebens. Unangenehm, aber berechenbar.
Sie ließ die Tür der Wohnung offen stehen und knallte die ihres Zimmers hinter sich zu. Im Dielenspiegel checkte Bene kurz sein Äußeres. Die leichte Haartolle lag perfekt. Sie war bei weitem nicht so ausladend wie die von Elvis, mehr eine kleine Reminiszenz an die gute alte Zeit des Rock ’n’ Roll und Rockabilly. Als Teenager hatte er sie sich mal mit Haargel gebastelt – als Scherz. Und dann in der Schule einen dummen Spruch nach dem nächsten dafür gedrückt bekommen. Das hatte seinen Revoluzzergeist geweckt und ihn dazu gebracht, sie jeden Tag zu tragen. Irgendwann waren die passenden schwarz-weißen Creeper-Schuhe dazugekommen und er hatte begonnen, seine Jeans am Saum umzuschlagen. Auch hatte er angefangen, die passende Musik zu hören, vor allem die von Eddie Cochran. Den Amerikaner kannte heute kaum noch jemand, höchstens seinen größten Hit »Summertime Blues«.
Der ein oder andere mochte Benes Look schräg finden, Annika aber hatte er auf Anhieb gefallen. Bene war sich sicher, dass sie sich auch in ihn verliebt hatte, weil er anders war als die übrigen Jungs in Merdingen.
Heute trug er allerdings einen Smoking, den er sich von seinem Kumpel Malte geliehen hatte. Bene war etwas größer als der 1,80-Meter-Mann und hatte mehr Muskeln. Der edle Stoff spannte deshalb an allen Nähten und knarzte bei jeder Bewegung.
Bene fand Annika im Wohnzimmer, wo sie am Küchentisch auf ihr Notebook blickte, dessen Display ihr schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen in kühles Blau tauchte. Neben ihr standen ein halbleeres Schnapsglas und ein Aschenbecher mit drei fest ausgedrückten Zigaretten. Das war so ungewöhnlich, als sähe man Doris Day im Boxring mit Sylvester Stallone. Annika trank nie starken Alkohol und rauchte nur auf Partys. Nach einer solchen sah es hier aber überhaupt nicht aus.
»Du bist schon wieder zu spät«, sagte sie, ohne aufzuschauen. »Was war es diesmal? Ein Anruf deiner Mutter oder eine Reparatur, die unbedingt noch fertig werden musste?«
Annika war Apothekerin, ihr Leben war so geordnet, als organisierte sie es minutiös in einer Excel-Datei. Sie hatte schon am Ende der Grundschule einen Lebensplan gehabt, den sie Schritt für Schritt abarbeitete. Also komplett anders als er und damit genau die Frau, die er in seinem Leben brauchte. Ihre Beziehung mochte nicht mehr so aufregend sein wie zu Beginn, die Liebe nicht mehr so verzehrend, und auch die meisten Schmetterlinge waren mittlerweile wieder aus seinem Bauch ausgezogen, aber das war ja bei allen Paaren so. Dafür wusste sein Kopf jetzt genau, wie richtig sie für ihn war.
»Ich habe über meine Zukunft nachgedacht«, sagte Bene.
Annika klappte das Notebook zu und sah ihn an. Sie musste ein Lachen unterdrücken. »Wie siehst du denn aus?«
Der Smoking hatte Annika zum Lachen gebracht – und damit den perfekten Moment eingeleitet! Bene tastete in der Innentasche des Smoking-Oberteils nach dem Ring. Er hatte ihn selbst bei einer Goldschmiedin hergestellt, aus Teilen von Annikas Lieblingsoldtimer. Stoßstange, Felge und das Innenteil des Zigarettenanzünders hatte Bene in dünne Streifen gefräst und sie erhitzt verflochten. Es hatte viele Anläufe und Stunden gebraucht, aber das rot-silberne Ergebnis war ein Schmuckstück geworden, wie es nie ein zweites geben würde. Das schwierigste war das eingelassene Herz gewesen, doch ohne hätte sich der Ring nicht vollständig angefühlt. Wo steckte er jetzt bloß? Er hatte ihn doch eben noch … vielleicht hatte der Ring sich irgendwo verhakt? Oder in einer Falte versteckt?
»Was zappelst du so rum?«, fragte Annika und blickte ihn skeptisch an. »Alles okay bei dir?« Sie stand auf.
In der anderen Innentasche vielleicht? Auch nicht. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein!
»Willst du auch einen Schluck Trester? Hallo? Bene? Redest du noch mit mir?«
Er hatte ihn doch in die Tasche gesteckt! Ganz sicher! Und zwar so, dass er ihn elegant hervorholen konnte wie ein Zauberkünstler ein buntes Seidenband, das niemals endete.
Die Brusttasche!
Bene tastete und spürte den Ring unter dem fest gewebten Stoff.
Er musste das jetzt hinter sich bringen, bevor ihn der Mut verließ oder sein Puls noch die Arterien zum Platzen brachte.
Schnell kniete er sich vor Annika, griff in die Brusttasche, und umfasste das kühle Metall des Rings, der farblich perfekt zu Annikas blasser Haut passen würde.
»Was soll das?« Sie hörte sich nicht überrascht an, sondern erschrocken. Ja, fast geschockt. Und ihr Atmen klang, als würde sie nach Luft ringen. »Du machst mir doch jetzt nicht etwa einen Antrag, oder?«
»Nein«, antwortete Bene und ließ den Ring wieder los, ließ auch seinen Plan los, seinen Mut. Er schaffte es nicht, Annika in die Augen zu schauen. »Ich binde mir nur meinen Schnürsenkel neu, der war locker.« Leicht schwankend stand er auf, ein Lächeln in sein Gesicht zwingend. »Hast du echt gedacht, ich würde …?« Er zog die Augenbrauen belustigt empor.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Annika und trank ihren Trester auf den Schock leer. »Obwohl der Smoking dazu passen würde.«
»Den hab ich mir für die Oldtimer-Rallye in Freiburg geliehen, bei der ich Sonntag mitfahre. Ich dachte mir, ich ziehe ihn heute mal zur Probe an.«
»Steht dir nicht«, sagte Annika.
»Nee, ne?«
»Sieht albern aus. Komm setz dich.«
Sie nahm im Schneidersitz auf dem alten Schlafsofa Platz, das – wie er aus leidvoller Erfahrung wusste – weder als Sofa noch als Bett taugte.
»Ich muss noch einen trinken«, sagte sie und sprang wieder auf, um ihr Glas mit Trester nachzufüllen. Sie kippte den Hochprozentigen in einem runter und setzte sich danach nicht zurück aufs Sofa. »Wie lang sind wir jetzt schon zusammen?«
»Drei Jahre, zehn Monate und einundzwanzig Tage.« Bene hatte es für seinen Antrag auswendig gelernt.
Annika lächelte nicht. »Ganz schön lange, was?«
»Ja, wir machen das echt gut.«
»Bene, du weißt, ich bin sehr direkt. Ich rede nie um den heißen Brei rum.«
»Das mag ich so an dir.«
»Ich weiß nicht genau, ob du das mögen wirst, was jetzt kommt.« Sie nippte ruckartig am Glas, obwohl es längst leer war. Dann blickte sie hinein. »Das heißt, eigentlich bin ich mir sicher, dass du es nicht mögen wirst. Aber es hat keinen Zweck: Es geht so einfach nicht weiter mit uns. Unsere Beziehung führt nirgendwohin.«
»Aber genau das will ich ja ändern!« Bene lächelte wieder und bereitete sich darauf vor, jetzt endlich den Antrag zu machen.
»Nein, das willst du nicht! Du willst vor dich hinschrauben in deiner abgerockten Werkstatt. Und zwar nur so viel, dass du irgendwie über die Runden kommst. Du hast keine Zukunftsvision, keinen Ehrgeiz, nix! Vielleicht bist du ja zufrieden so, wie es ist. Aber ich bin es nicht.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin es überhaupt nicht.«
Bene hörte gar nicht mehr hin, er ging auf die Knie und zog den Ring heraus. »Annika, hör mir zu: Ich hab den Smoking nicht wegen der Oldtimer-Rallye an und ich hätte mir eben auch nicht den Schuh binden müssen. Ich verrate dir jetzt, warum ich heute Abend hierhergekommen bin: Wenn man begriffen hat, dass man den Rest des Lebens zusammen verbringen will, dann …«
»Nicht!«, sagte Annika. »Bitte. Mach es nicht schwerer, als es sowieso schon ist.«
»Ich bin gerade dabei, dir einen Antrag zu machen! Ich werde mich für dich ändern!«
»Ich will aber keinen Mann, der sich für mich ändern muss. Ich will einen Mann, der ganz von alleine zu mir passt.«
»Den Ring hab ich aus deinem Lieblingsauto gemacht.« Bene hielt ihn so stolz auf der flachen Hand, als bestände er aus Diamanten und nicht aus Blech. »Habe mir extra Teile aus den USA und Thailand kommen lassen, damit er die richtige Farbe hat.«
»Lieblingsauto? Ich hab überhaupt kein Lieblingsauto!« Annika standen die Tränen in den Augen.
»Ein roter Porsche 911! Also, in Bahiarot. Ich hab dich doch mal gefragt, was dein Lieblingsauto ist, und du hast gesagt, der wär’s!«
»Das habe ich doch nur so dahingesagt, weil du unbedingt was hören wolltest. Du hast so lange gebohrt, bis ich einfach den erstbesten Wagen genannt habe, der mir einfiel. Mir sind Autos völlig egal, die müssen mich nur verlässlich von Punkt A nach Punkt B bringen, ohne dass ich nass werde.« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Das zeigt mal wieder, dass du mich überhaupt nicht kennst! Und das nach drei Jahren Beziehung!«
Lily kam ins Wohnzimmer, die Augen kampfbereit funkelnd. »Alles okay bei dir?«, fragte sie Annika. »Hast du’s ihm gesagt? Kann ich ihn endlich rauswerfen?«
»Hau ab!«, sagte Bene. »Das hier geht dich nichts an.«
»Du bist Geschichte, wie deine Karren. Und das ist gut so.«
Erst als Annika ihr mit zusammengepressten Lippen zunickte, verließ sie das Wohnzimmer wieder, Bene dabei zwei Stinkefinger zeigend.
Der stand auf und trat zu Annika, die sofort die Hände abwehrend hob.
»Ich will mit dir Wurzeln schlagen!«
»Nein, das willst du gar nicht. Vielleicht denkst du jetzt, dass du es willst, aber morgen hast du wieder eine andere Idee. Du meinst das nicht böse, aber so ist es. Bene, ehrlich, du bist fast vierzig und deine Vorstellung von vollkommenem Glück ist, eines Tages auf der Route 66 in den Sonnenuntergang zu fahren – mit Eddie Cochran auf dem Beifahrersitz.«
»Ich weiß aber, dass die Chancen dafür schlecht stehen, weil Eddie tot ist.« Ein Witz konnte wie ein Rettungsring sein, und er war fraglos am Ertrinken.
»Kannst du nicht einmal etwas ernst nehmen? Das ist auch etwas, das ich echt nicht mehr ertrage. Und nein, die Chancen stehen nicht nur schlecht, weil der Typ tot ist, sondern weil deine Werkstatt miserabel läuft. Die Buchhaltung wächst dir total über den Kopf. Und nicht allein die.«
»Zusammen packen wir das!«
»Nein, tun wir nicht. Du bist nicht gut für mich. Ich bin jetzt in einem Alter, wo man die Weichen für die Zukunft stellt, Bene. Familie, Haus, Kinder. Und du bist kein Mann, mit dem man sowas planen kann.«
»Doch, genau das bin ich!«
»Du lebst immer in den Tag hinein, das ist deine Art, sowas kann man nicht ändern. Du wirst immer ein großes Kind bleiben.«
»Gib mir noch eine Chance!« Er nahm ihre Hand, sie war feucht und kalt. »Ich liebe dich doch!«
»Ich habe dich … das ist alles zu viel für mich. Am besten, du gehst jetzt.« Sie zog ihre Hand weg und ging zur Zimmertür, die in den Flur führte.
Bene rührte sich nicht vom Fleck. »Lass uns reden! Von mir aus die ganze Nacht, dann wirst du sehen, dass ich es ernst meine. Ich hab eine Chance verdient, oder?«
»Du hattest deine Chance, Bene, drei lange Jahre! Wir hatten eine gute Zeit, aber sind auf der Stelle getreten. Ich fand’s am Anfang toll, dass du so anders bist als ich. Aber das ist keine Basis für eine Ehe.« Die Worte klangen wie aus einer Schublade geholt, wo sie vorbereitet gelegen hatten.
»Lass es uns doch einfach versuchen, das mit der Basis kriegen wir schon hin!«
»Ich will nichts mehr versuchen, ich will etwas tun. Das Leben muss auch mal vorwärtsgehen.«
Bene ging zu ihr und wieder auf die Knie. »Wenn man begriffen hat, dass man den Rest des Lebens zusammen verbringen will, dann will man, dass der Rest des Lebens so schnell wie möglich beginnt.«
Annika verschränkte die Arme und blickte zur Wohnungstür. »Ich bin jetzt mit Ralf zusammen.«
An der nächsten Kreuzung rechts abbiegen.
In Benes Hirn war der Rückweg zu seiner Werkstatt eigentlich abgespeichert, doch es war gerade damit beschäftigt, den dramatischen Film, in dem er eben die Hauptperson gewesen war, wieder und wieder ablaufen zu lassen. Deshalb hatte er dem Navi des Handys die Aufgabe übertragen, ihn zur Werkstatt und damit nach Hause zu lotsen.
Jetzt rechts abbiegen.
Lily hatte ihm durchs Treppenhaus hinterhergeschimpft. Woher nur diese Wut? Etwa immer noch wegen dieser einen Nacht vor zwei Jahren, als er extrem betrunken gewesen war, sich in der Zimmertür vertan und sich im Bett an sie gekuschelt hatte? Es war ein Versehen gewesen! Er war nicht klar bei Verstand.
Und nackt.
Die Sache war ihm extrem peinlich – als er wieder nüchtern war. Nachts hatte er es irre komisch gefunden. Das hatte nicht geholfen.
Ich habe eine Route gefunden, die drei Minuten schneller ist.
Neue Route nehmen?
Ralf! Ausgerechnet Ralf! Hätte es nicht jemand Cooleres sein können? Ein berühmter Schauspieler? Matthias Schweighöfer, Elyas M’Barek oder wenigstens Dietmar Bär? Aber nein, Ralf. Der Malermeister mit dem Charme einer ungestrichenen Raufasertapete.
Jetzt, wo er so darüber nachdachte, musste er sich eingestehen: Ralf war immer die naheliegende Wahl für Annika gewesen. Der Junge aus dem Nachbarhaus, mit dem sie zusammen zur Grundschule gegangen war, dem sie Nachhilfe gegeben und der ihr den ersten Kuss beim Flaschendrehen auf die zitternden Lippen gedrückt hatte. Ralf, für den »Heiße Liebe« nur der Name einer süßlichen Teesorte war, der es aber trotzdem irgendwie geschafft hatte, ihm die Freundin auszuspannen. Bene war ein Idiot gewesen zu glauben, Ralf und Annika wären nur gute Freunde.
Nehme neue Route. In hundert Metern links abbiegen.
Aber Annika hatte geweint, was bedeutete, dass ihr die Trennung nicht leichtfiel. Was wiederum bedeutete, dass er noch eine Chance hatte. Er musste ihr nur beweisen, dass er sein Leben im Griff hatte. Gleich morgen würde er das kaputte Schild der Oldtimer-Werkstatt reparieren und den toten Buchsbaum vor der Eingangstür, also die toten Buchsbäume beziehungsweise den toten Buchsbaumwald, entsorgen.
Auf ihrer Strecke liegt eine Fähre.
Trotzdem Strecke beibehalten?
Er würde Annika ein Foto der im neuen Glanz erstrahlenden Werkstatt schicken. Danach stand der Verkauf seines wertvollsten Wagens an, eines BMW 3.0 CSi im Zustand 1. Deutschlandweit waren nur noch vierhunderteinundvierzig Fahrzeuge dieses Typs zugelassen. Der Oldtimer war das Aushängeschild seines Ladens. Ein Gefährt, das selbst Experten zum Schnalzen brachte und für viele ein Grund war, mal bei ihm vorbeizuschauen. Durch den Verkauf würde er das Geld für eine klasse Homepage zusammen bekommen.
Bleibe auf aktueller Route.
Bene tätschelte das Lenkrad seines geliebten Brezelkäfers, als wäre der ein treues Pferd. Vielleicht würde alles doch noch gut werden. Etwas mit Ralf anzufangen – das konnte doch nicht ihr Ernst sein. Er musste optimistisch bleiben, nur so ließen sich Kräfte freisetzen und Bäume ausreißen.
Der Käfer rumpelte über unebenen Boden, links und rechts schlugen Äste und Zweige gegen das Blech. Bene konnte wenig erkennen, denn es war stockdunkel und die Scheinwerfer des kleinen Wagens reichten nicht weit. Er trat auf die Bremse, doch der Käfer fand keinen Halt und schlidderte weiter über den matschigen Untergrund. Die Äste wurden größer, krachten und knallten gegen das Auto, doch zum Halten brachten selbst sie es nicht.
Jetzt langsam auf die Fähre fahren.
Das hätte Bene getan, doch da war keine Fähre. Da war nur Wasser. Davon aber sehr viel. Und er war mit dem Käfer jetzt mittendrin. Es drang von überall ein, gurgelte und sprotzelte. Eiskaltes Wasser schoss aus unzähligen Ritzen, traf sein Gesicht, spritzte in seine Augen.
Das Heck des Wagens kippte ruckartig nach unten, plötzlich blickte Bene in den wolkenlosen Nachthimmel und sank mit dem Käfer in die Tiefe.
Er musste sofort raus! Doch die Fahrertür ließ sich nicht öffnen, egal, wie heftig er daran rüttelte. Der kleine Wagen war schon zur Hälfte geflutet und die Kälte des Wassers griff mit großen Händen nach Bene. Krächzend gab der Motor einen letzten Mucks von sich. Dann gingen die Lichter aus. Bis auf das des Handys in der Halterung.
Motor abstellen.
Bene schnallte sich panisch ab und trat mit den Beinen gegen das Seitenfenster, doch es rührte sich nicht. Er kam nicht raus! Die Schwärze des Wassers reichte draußen schon fast das Fenster hoch, im Wageninneren stand es bis zu seiner Brust und stieg rasend schnell. Bene drückte sich vom Sitz ab – und stieß gegen das Faltdach. Er war so ein Idiot! Schnell riss er es auf und presste sich hinaus an die Luft.
Verdammt, sein Handy steckte noch in der Halterung!
Bene dachte nicht nach, sondern tauchte hinab. Die Augen hielt er geschlossen und tastete auf der Frontscheibe, bis er das Gerät endlich gefunden hatte. Währenddessen zog der Wagen ihn immer tiefer mit sich. Bene versuchte, wieder hochzukommen, doch der Smoking verhakte sich in der Schiene des Faltdaches. Er zerrte, er strampelte, er setzte alles ein, was an Kraft noch übrig war.
Dann ein Riss und er war frei.
Bis zum Ufer waren es nur drei Meter. Mehr hätte er auch nicht geschafft. Wenige Sekunden später lag Bene tropfend am Ufer und blickte auf den versinkenden Käfer.
Und gestand sich etwas ein.
Es war vorbei.
Annika würde nie zu ihm zurückkehren, egal, was er tat.
Wenn sie eine Entscheidung traf, blickte sie nicht mehr zurück. Sie schloss eine Tür und warf den Schlüssel weg. Sie würde ihn nicht einmal vermissen. Er war Vergangenheit.
Die vordere Stoßstange des weißen Käfers verschwand als Letztes im schwarzen Wasser.
Die Titanic war gesunken.
Mit einem Mal spürte Bene die klamme Feuchtigkeit seiner Kleidung und die Kälte des Windes. Mit nassen Fingern strich er über das Handy, um zu prüfen, ob es noch funktionierte. Offiziell war es wasserdicht, aber vielleicht bedeutete sowas nur, dass es ein paar Spritzer aushielt. Der Bildschirm flackerte kurz, dann sprach es.
Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht.
Eine halbe Stunde später setzte das Taxi Bene an seiner Werkstatt ab. Er fror in den klammen Klamotten und seine Laune lag tiefer als ein reifenloser Aston Martin. Trotzdem hatte Bene keine Lust reinzugehen, denn die Werkstatt war zwar sein Zuhause, aber auch das Zuhause seiner Probleme. Er blickte in den wolkenlosen Himmel. Die funkelnden Sterne schienen ihn zu verspotten.
»Danke, Welt!«, rief er ihnen entgegen. »Danke für dieses Scheißleben! Danke für den Unfall, danke für Annika, danke für ihren Ralf, danke für diese Werkstatt, die nix mehr abwirft.« Er blickte zum Schild »Autowerkstatt Alexander Lerchenfeld«, dessen rote Buchstaben sich an allen Ecken und Enden lösten. »Vielen Dank auch an dich, Vater!« Er stieß einen trockenen Lacher aus. Im Mondlicht sah die Werkstatt noch trostloser aus, der abblätternde Putz, der rissige Beton, die blinden Glasfenster. Seit Jahren fehlte das Geld, um alles wieder in Schuss zu bringen, er war tief in den roten Zahlen und segelte eigentlich jeden Monat haarscharf an der Insolvenz vorbei. »Weißt du was? Das war es für mich. Ich höre auf mit dem Mist. Heute! Jetzt! Mir macht das Schrauben an alten Karren nämlich überhaupt keinen Spaß. Hat es nie gemacht. Ich dachte, es wäre mein Schicksal, aber es war verdammtes Pech.«
Rollläden wurden hochgezogen, ein Fenster wurde geöffnet. »Halt endlich die Schnauze, du Schwachmat! Ich will schlafen! Hab morgen Frühschicht!«
Bene schaute zu dem Fenster. »Und danke für diese Nachbarn, Welt!«
»Du bescheuertes Arschloch!«
Frustriert schloss Bene die Werkstatt auf. Über dem Tresen hing ein Regalbrett, und darauf stand das einzig Wichtige, was er von seinem Vater jemals erhalten hatte. Eine Flasche seines selbst destillierten Gins.
Es war an der Zeit, sie gegen eine Wand zu werfen und das Glas in tausend Scherben zerspringen zu sehen.
Als Dankeschön für das alles hier. Auch dafür, dass sein Vater nicht mehr da war, obwohl er ihn verdammt noch mal gut gebrauchen könnte. Und besonders dafür, dass er ihn nie wirklich hatte kennenlernen dürfen, weil sein Vater ihn immer kilometerweit auf Distanz gehalten hatte.
Bene griff sich eine Trittleiter und holte die Flasche herunter.
Dieser Gin hatte ihm die Kindheit versaut. Das Destillat war das Lieblingsprojekt seines Vaters gewesen und er selbst mit weitem Abstand die Nummer zwei. An jedem Wochenende hatte sein Vater sich im Keller eingeschlossen und daran gearbeitet, weder Bene noch seine Mutter durften ihn dabei stören oder gar besuchen. Sie hatten leise zu sein. Einmal hatte Bene im Garten Fußball gespielt, Weltmeisterschaft, es lief die letzte Minute und die Argentinier jubelten schon, schließlich lagen sie vorne. Doch dann hatte Bene ein Tor und direkt noch eins erzielt und den Pokal geholt. Leider hatte der mit aller Wucht geschossene Siegtreffer das Kellerfenster durchschlagen und war ins Labor des Vaters gekracht. Trotz des Erfolgs, den er ja nicht für sich, sondern für ganz Deutschland errungen hatte, gab es von seinem Vater eine Standpauke, die ganz Merdingen gehört haben musste, und Fernsehverbot für einen ganzen Monat – was ihn die reale Fußball-WM gekostet hatte.
Er hatte die Flasche nie geöffnet, weil es ihm vorgekommen wäre, als würde er damit den Tod seines Vaters akzeptieren. Als würde dieser mit jedem Schluck Gin ein bisschen mehr verschwinden. Und er war nicht bereit gewesen, ihn gehen zu lassen, wo er doch zu Lebzeiten kaum für ihn dagewesen war.
Jetzt war die Zeit für einen Schluck gekommen, und dann würde die Flasche an der Wand zerschellen.
»Ich trinke auf dich, Vater!«
Mit einem Brotmesser löste Bene das rote Siegelwachs von der alten, braunen Apothekerflasche. Schnell zog er den Stopfen heraus und stürzte einen Schluck herunter.
Bene holte schon aus, als seine Geschmacksnerven etwas mitbekamen. Das schmeckte verdammt, unfassbar, atemberaubend gut! Es schmeckte so gut, dass Bene unwillkürlich lächeln musste. Und er plötzlich etwas für seinen Vater fühlte, das nie zuvor dagewesen war: Stolz. Sein alter Herr hatte anscheinend etwas verdammt richtig gemacht.
Allerdings hatte Bene keine Ahnung von Gin. War der hier tatsächlich so besonders? Es gab jemanden, der ihm eine Antwort auf diese Frage geben konnte. Selbst um diese Uhrzeit.
Nur wenig später stand Bene im Schlafzimmer seines Kumpels Malte, der in Freiburg eine Luxus-Burger-Bude besaß und immer kräftig nach Barbecue-Soße roch. Hätte im Bett statt Malte eine 1,80 Meter große Rostbratwurst gelegen, der Duft wäre kein bisschen anders gewesen.
Bene besaß einen Schlüssel für die Wohnung, weil er sich manchmal um Maltes Kakteensammlung und seine Schildkröte kümmern musste. Besonders wichtig war, die beiden nicht aufeinandertreffen zu lassen. Die Schildkröte lag im Terrarium auf einem großen Stein und bewegte sich scheinbar nie. Bene hatte sich schon oft gefragt, ob sie nicht aus Plastik war und Malte ihn nur veralberte.
Er prüfte, ob Malte allein im Bett lag oder sich mal wieder einen Typen mit nach Hause gebracht hatte, dann kitzelte er ihn an den Füßen.
Ein missmutiges Brummeln ertönte. »Bene? Bist du das?«
»Das Leben will mir etwas sagen.«
»Dann red mit dem Leben, es ist …« Er blickte auf den Radiowecker. »Kurz vor zwölf.«
»Eine Uhrzeit, zu der du früher erst richtig wach geworden wärst.«
Malte trat nach ihm. »Geh weg, komm morgen wieder. Oder besser übermorgen. Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen.« Er sah träge zu Bene – und sein Blick blieb an dem nassen Smoking hängen. »Scheiße, was hast du mit meinem Smoking angestellt?«
»Ich hatte einen Autounfall. Also, mein Wagen ist im Rhein abgesoffen, mit mir drin. Da sollte eine Fähre sein, aber da war keine. Da gab’s auch nie eine. Danke, Navi!«
»Was? Echt jetzt? Ist dir was passiert?« Malte setzte sich auf, seine Haare standen in alle möglichen Himmelsrichtungen ab.
»Ich habe etwas begriffen. Das ist passiert.«
»Und wie bist du hergekommen, wenn dein Wagen …«
»Mit dem Taxi nach Hause. Und da habe ich mir den Schlüssel vom Ford Capri genommen, den morgen der olle Stickelbroeck abholt.«
Malte tippte gegen den nassen Smoking. »Und warum hast du dich nicht umgezogen?«
»Wollte keine Zeit verlieren.«
»Auch wenn ich klinge wie meine Mutter: Junge, du holst dir noch den Tod!«
»Ich ziehe mich ja gleich aus.«
»Ein Satz, den ich sehr gerne höre, aber nicht von dir.« Malte runzelte die Stirn und deutete auf das, was Bene in der Hand hielt. »Zum Umziehen hast du keine Zeit gehabt, aber um dir eine Pulle zu greifen?«
»Die ist was ganz Besonderes. Glaube ich.«
»Willst du feiern, dass dein geliebter Wagen abgesoffen ist und du fast gestorben wärst?«
»Nein, ich will wissen, was du von dem Zeug hältst.«
»Dafür weckst du mich? Für einen Geschmackstest? Um Mitternacht? Nachdem du einen Unfall hattest?«
»Komm, Küchentisch.«
Malte wuchtete sich aus dem Bett und griff den weiß-rot gestreiften Bademantel vom Haken. Er machte sich nicht die Mühe, ihn zuzubinden. Während er in die Küche schlurfte, blähte sich der Stoff auf wie der Umhang eines Superhelden. »Aber mach schnell.«
Bene öffnete die Flasche mit einem satten Plopp. »Der ist von meinem Vater. Für einen ganz besonderen Moment. Überleben ist einer.«
»Du hast bis jetzt jeden Tag deines Daseins überlebt und trotzdem nicht jeden Abend eine Buddel geöffnet.«
»Ich habe aber noch nie so knapp überlebt.«
»Die Flasche sieht echt alt aus«, sagte Malte und griff sie sich.
»Ist sie auch. Genau wie der Inhalt. Und den musst du jetzt trinken.«
Malte strich mit dem Finger über das verwitterte Etikett der Flasche, eins wie man es sonst von Einmachgläsern kannte. Die ordentliche Schrift darauf war ziemlich verblichen. »Lerchenfelds No. 1 Gin? Ist das etwa diese eine, ganz besondere Buddel? Die früher oben auf deinem Bücherregal stand, damit die Herr-der-Ringe-Gesamtausgabe nicht umkippte? Und dann in deiner Garage auf dem Brett neben dem gerahmten Meisterbrief?«
»Genau die.« Bene holte zwei Gläser aus dem Holzregal und goss ein.
»Das erinnert mich daran, wie mein Alter mich früher mit in die verrauchte Kneipe neben der Kirche genommen hat, um mir da zu zeigen, was einen richtigen Mann ausmacht. Abteilung: Was ein Mann nicht spricht, das raucht und säuft er. Und damit ein echter Mann nicht vom Barhocker fällt, muss der Bauch nach allen Seiten überlappen.«
Bene blickte auf den bauchlosen Malte. »Dein Vater ist sicher total enttäuscht von dir.«
»Beruht auf Gegenseitigkeit.« Malte gähnte. »Wie wär’s, wenn wir beide pennen gehen und den Gin morgen stilecht zum Frühstück trinken? Hm?«
»Nee, jetzt. Ist echt wichtig.« Bene schob das Glas näher zu Malte. »Weißt du, dass diese Flasche das Persönlichste ist, was mein Vater mir je geschenkt hat? Ich war noch ein Teenager und er gab mir Hochprozentigen. Damit hat er mir gezeigt, dass er mir vertraute, das Zeug nicht direkt wegzuhauen. Als er mir damals den Gin geschenkt hat, war er wie ausgewechselt, so fröhlich und fast warmherzig. Und kurz danach ist er dann ja …«
»Gut, ich trink mit dir, bevor ich mir das wieder anhören muss.« Malte zog die Schublade des Küchentischs heraus. »Ich mach uns mal Stimmung.«
Bene war fünfzehn gewesen, als sein Vater den Autounfall gehabt hatte. Danach hatte sich alles geändert. Wenig zum Guten. Vielleicht bis auf Benes Faszination für Eddie Cochran, die damals begonnen hatte. Im Gegensatz zu Elvis hatte der seine Songs selbst geschrieben. Cochran besaß alles: das Talent, die Stimme, das Aussehen. Er hätte größer als Elvis werden können, doch er starb bei einem Autounfall. Bene war auf ihn gestoßen, als er nach dem Tod seines Vaters in der Stadtbücherei über berühmte Menschen recherchiert hatte, die auf die gleiche Art umgekommen waren. Irgendwie gab es ihm das Gefühl, nicht allein zu sein in seinem Unglück.
Malte warf einige Teelichter auf den Tisch und zündete sie an. »Na dann, auf dein Überleben!«
Sie stießen an, doch Bene trank nicht, sondern stierte stattdessen sein Glas an, in dem sich das flackernde Licht der Kerzen so widerspiegelte, als schwämmen Goldfische durch die Flüssigkeit.
»Alles gut bei dir?«, fragte Malte und griff Benes auf dem Tisch liegende Hand. »Soll ich den Notarzt rufen?«
»Kann ich ganz offen reden?«
»Nein.« Er grinste. »Natürlich! Dem guten Onkel Malte kannst du alles sagen.«
»Mein Leben ist in einer Sackgasse. Nicht nur mein Auto, mein ganzes Leben.«
»Das hätte dir dein Leben auch subtiler zeigen können. Und trockener.«
»Ich bin ein Loser«, sagte Bene und blickte seinem Glas tief in die Augen. »Ein Loser, der nach Motoröl stinkt. Und warum?«
Malte setzte sein Glas kopfschüttelnd ab. »Willst du trinken oder reden? Du weißt schon, dass Gin schlecht wird, wenn er sich zu lange an der frischen Luft befindet, ohne getrunken zu werden?« Er grinste.
»Warum?«, fragte Bene, dessen Kopf mit einem Mal so voller Trübsinn war, dass kein Platz mehr für den eigentlichen Grund seines Besuchs blieb. Er tippte an sein Glas. Doch es erwachte nicht zum Leben und beantwortete ihm seine Frage.
Das erledigte Malte. »Du weißt, warum. Dein Vater hat Oldtimer geliebt, und obwohl er dich immer links liegen gelassen hat, schraubst du heute aufgrund irgendeiner verdrehten Psychologie an alten Karren rum, um ihm nah zu sein. Mit anderen Worten: Du, mein Lieber, lebst total im Gestern. Dabei kommst du deinem Vater über schrottreife Autos kein Stück näher. Und weil ich so viel Küchenpsychologie nüchtern nicht ertrage, trinke ich jetzt das Zeug, egal, ob du mit mir anstößt oder nicht.« Malte trank allerdings nicht, er kippte. Doch ein paar seiner Geschmackspapillen musste der Gin auf dem Weg Richtung Speiseröhre berührt haben, denn mit einem Mal erstarrte er.
Und goss sich nach. Jetzt ließ er den Gin so bedächtig über die Zunge gleiten, als erhalte er für jede Sekunde einen Hunderter.
Bene blickte immer noch in sein volles Glas. »Du hast so recht, wie man nur recht haben kann.« Als Bene hochblickte, bemerkte er, dass Malte die Flasche ganz vorsichtig in die Hand nahm. »Ich mag Gin eigentlich nicht besonders.« Malte atmete tief durch. »Aber den hier mag ich. Verdammt, mag ich den!«
Bene atmete tief durch und stieß mit Malte an. »Das hatte ich extrem gehofft!« Seine Hand zitterte, als er ihn sehr langsam an die Lippen setzte.
Eben hatte er den Gin nur in sich hineingeschüttet, jetzt trank er ihn, und die Aromen breiteten sich in all ihrer Komplexität aus. Wie ein feingesponnenes Tuch, das sich warm und beruhigend auf dem Gaumen entfaltete. Es war keinerlei Schärfe in dem Gin, nur schmeichelnde Weichheit. Zitronen und Orangen konnte er schmecken, wie frisch gepflückt, dazu ein Strauß mit Kräutern, von denen Bene keines kannte. Und noch etwas war in diesem Gin: Leidenschaft, ja, Liebe. Bene konnte spüren, wie akribisch sein Vater daran gearbeitet hatte, wie die vielen Stunden Mühe sich verflüssigt hatten und zu diesem Gin geworden waren. Er schloss die Augen und mit einem Mal war es, als stünde sein Vater vor ihm.
Und schlösse ihn in die Arme.
»Weinst du etwa?«, fragte Malte. »Lass uns einfach sagen, dir ist was ins Auge geflogen, ja?«
Bene öffnete die Augen wieder. »Mir ist was Großes ins Auge geflogen.«
Malte boxte ihn auf den Oberarm. »Der Gin ist der Hammer! Sowas Gutes hab ich noch nie getrunken. Und wie du weißt, habe ich in meinem Leben schon sehr viel getrunken.« Er holte sein Handy aus dem Wohnzimmer, wo es am Ladekabel hing.
»Was machst du?«, fragte Bene, der in den Gin blickte, als ließe sich dessen Geheimnis in der klaren Flüssigkeit erkennen.
»Wonach sieht’s denn aus?«
»Telefonieren. Aber wen willst du um die Uhrzeit noch erreichen?«
»Meinen Kumpel Wilhelm zu Tecklenberg, den genialsten Barkeeper von ganz Freiburg. Der muss deinen Gin probieren, und zwar sofort. Ich will wissen, ob ich spinne oder ob dein Gin wirklich so genial ist, wie ich glaube. Bist du dabei?«
Bene sah ihn an, immer noch ein wenig aus der Fassung. Nach einiger Zeit lächelte er. »Ich hab das Gefühl, gerade beginnt ein neues Leben für mich.« Er strich sich theatralisch die Haare zurück. »Neues Leben, ich komme!«
Die »Bar jeder Vernunft« erstrahlte wie ein riesiges, blaues Aquarium, das jemand mitten in der Freiburger Altstadt abgesetzt hatte. Die wenigen Gäste hinter dem Glas bewegten sich so träge, als würde es nicht mehr lange dauern, bis sie mit dem Bauch nach oben an der Oberfläche trieben.
»Hier? Sicher?«, fragte Bene, der nun in einem neongelben Jogginganzug von Malte steckte und sich noch bescheuerter als im nassen Smoking vorkam. Die Gin-Flasche hatte er in zwei Handtücher gewickelt und in einer Aldi-Plastiktüte verstaut. Er hielt sie so vorsichtig, als schliefe darin ein Baby.
»Beste Bar von der Welt«, sagte Malte. »Also, in Freiburg.«
Bene trat vor das in kühlem Blau leuchtende Fenster. »Der Barkeeper hat keine tätowierten Unterarme. Und auch keinen Bart. Sieht aus wie ein Bankangestellter mit Anzug und Krawatte.«
»Wilhelm ist immer vor dem Trend. Tattoos und Bärte hat doch längst jeder. Außerdem leben in Männerbärten mehr Bakterien als in Hundefell. Hat gerade eine Studie ergeben. Jetzt stier nicht durchs Fenster, als wären wir im Zoo, rein mit dir.«
»Manche Studien sollten echt nicht publiziert werden …« Bene strich sich über seinen Dreitagebart, dann folgte er Malte hinein.
Bei rotem Licht sahen Männer wie Frauen besser aus, locker zehn Jahre jünger. Bei blauem Licht dagegen zwanzig Jahre älter. Die »Bar jeder Vernunft« war kein Ort für Liebe auf den ersten Blick. Es sei denn, man stand auf fahle Haut.
Malte wuchtete sich mit dem Hintern auf die leuchtende Theke und gab dem Barkeeper einen langen Kuss. Bene beließ es bei einem freundlichen Handschlag.
»Dann lasst mal sehen«, kam Wilhelm zu Tecklenberg direkt zur Sache. Mit einer Stimme, die so dick mit Skepsis bestrichen war wie eine gute Stulle mit Butter. Er schob ein Glas zu ihnen. »Her mit dem Gin deines Vaters, von dem Malte so extremst am Telefon geschwärmt hat.«
Vorsichtig holte Bene die eingewickelte Flasche aus der Tüte und stellte sie neben das Glas. Er schüttete nur einen kleinen Schluck hinein.
Wilhelm roch kurz daran, rümpfte die Nase, dann trank er. Wobei er den Gin im Mund wie ein Lutschbonbon bewegte. Währenddessen floss Trip-Hop aus den Boxen und kühlte die Raumtemperatur ab.
Bene wartete auf ein breites Lächeln, wie es sich bei ihm und Malte automatisch eingestellt hatte. Doch es kam nicht, stattdessen erklang ein Schnauben.
»Schmeckt wie ein besserer Gordon’s. Verarschen kann ich mich alleine.«
Bene starrte den Barkeeper an, als hätte dieser ihm gerade empfohlen, zurück in den Wagen zu steigen, der im Rhein versunken war. Eine Fahrt nach Freiburg hatte also gereicht, um die Illusion von einem großen Gin zu entlarven. Ein einziger Schluck von jemandem, der weder emotional an dem Destillat hing noch so übermüdet war wie Malte, dessen Geschmacksnerven sich wahrscheinlich immer noch im Tiefschlaf befanden. Bene konnte es nicht glauben, griff sich das Glas, trank daraus und stöhnte auf. »Das schmeckt nicht nach dem Gin meines Vaters, das Glas muss benutzt gewesen sein!«
»Mann, du Vollhonk«, sagte Malte zu Wilhelm. »Kein Wunder, dass der nichts kann. Da ist vorher irgendein Scheiß drin gewesen. Neues Glas, sofort!«
Widerwillig stellte Wilhelm ein frisches Glas auf den Tresen. Bene roch ausgiebig daran, dann erst goss er einen kleinen Schluck ein.
»So, jetzt!«, sagte Malte. »Und nimm die Sache ernst.«
Wilhelm trank.
Plötzlich war es, als hätte jemand die Zeitlupentaste am Barkeeper gedrückt. Alles an ihm bewegte sich mit einem Mal extrem langsam. Die Augenlider, die Nasenflügel, die Hand mit dem Glas. Dann ging er ansatzlos in schnellen Vorlauf über und holte große Gläser, in die er verschiedene Ingredienzien füllte. Er schnappte sich Benes Gin und gab ihn dazu.
»Hey, nicht so viel davon. Ich hab nur die eine Buddel!«
Wilhelm zu Tecklenberg antwortete nicht, nickte nur verständnisvoll und wurde sehr sparsam. Ab jetzt schuf er nur noch Miniaturcocktails. Seine Hände wussten genau, was sie taten, seine Blicke prüften nur, ob alles stimmte. Alle Flüssigkeiten, die er verwendete, egal, wie bunt sie eigentlich waren, changierten in der »Bar jeder Vernunft« blau. Fifty Shades of Blue, dachte Bene und musste grinsen. Bevor Wilhelm mit der Verkostung begann, fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Ey, Wilhelm, was machst du da?«, fragte Malte.
Der Barkeeper hob den Zeigefinger an die Lippen. »Jetzt mal kurz Ruhe!«
Er nippte am ersten Glas.
Ein Lächeln ging in Wilhelms Buchhaltergesicht auf wie eine pralle Sonne.
Nach und nach verkostete er jeden Cocktail, ohne ein Wort zu sagen.
Dann sah er Bene an.
»Hörst du mir zu?«
»Ja, klar.«
Wilhelm schaltete die Musik aus, einige der Gäste nölten.
»Schnauze!«, herrschte er sie an. Dann wandte er sich wieder zu Bene. »Es ist wichtig, dass du mir zuhörst.«
»Dafür bin ich hier.«
Wilhelm nickte und lehnte sich vor. Er sprach nun leise, doch mit enormem Druck. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Es gibt Gins, die kann man solo hervorragend trinken. Vor allem Klassiker wie Tanqueray oder Beefeater. Dann gibt es welche, die funktionieren perfekt mit einem Tonic Water – wobei es für jedes einen anderen Gin braucht. Was es nicht gibt, ist ein Allrounder, der zu allem hervorragend passt. Der wäre das Ei des Kolumbus. Ein Gin, der in allen Varianten seine Stärken ausspielt und sich trotzdem anpasst wie der perfekte Tanzpartner. Das wäre ein Gin, mit dem man Gold scheffeln kann. Denn das leisten selbst die ganzen Ferdinands, Gin Suls oder Botanists nicht. So ein Gin existiert nicht, weil er schlicht unmöglich ist.« Wilhelm holte tief Luft. »Das dachte ich zumindest bis jetzt.«
Er griff Benes Hände und drückte sie fest. »Dieses Zeug hier ist ein Sechser im Lotto. Du musst den Schein nur einlösen. Also, geh mit deinem Gin in Massenproduktion, sie werden ihn dir aus den Händen reißen.«
»Okay, ich geb mein Bestes.« Bene zog einen Block aus der Jackentasche, den er immer für Notizen bei sich trug. »Schreib mir auf, was drin ist und wie viel.«
Wilhelm lachte, zuerst leise, dann immer lauter und verrückter, schließlich hüpfte er auf der Stelle, weil er es vor Lachen nicht mehr aushielt. Die letzten Gäste verließen kopfschüttelnd die »Bar jeder Vernunft«.
»Ich kann das nicht rausschmecken«, sagte Wilhelm, als er endlich wieder Luft bekam. »Und das kann auch kein anderer Barkeeper in Freiburg. Vermutlich keiner in ganz Deutschland.«
Sackgasse, dachte Bene. Sein Leben hielt eine ganze Menge davon für ihn bereit. Es wäre aber nicht nötig gewesen, ihm alle an einem Tag zu präsentieren.
»Mir fällt nur ein einziger Mensch ein, der das vielleicht hinbekommt. Eine echte Legende. Er ist Brenner und hat vor Jahren einen unglaublich guten Gin auf den Markt gebracht, streng limitierte Menge. Geiles Zeug, aber hat sich nicht durchgesetzt. Ich habe keine Ahnung wieso. Dieser Typ heißt Fritz Bercher und hat einen Geruchssinn, mit dem er vermutlich erschnuppern kann, wenn eine Maus im Nachbarhaus einen fahren lässt. Aber menschlich ist er …« Wilhelm suchte nach dem richtigen Wort, doch fand es nicht in seinem Mund.
»Schwierig?«, fragte Bene.
»Nein.« Wilhelm schüttelte entschieden den Kopf. »Er ist ein totales Quadratarschloch. Dass sein Gin gefloppt ist, hat ihn enorm frustriert. Jetzt ist er noch bitterer als eine Flasche Angostura.«
»Könntest du bei ihm ein gutes Wort für mich einlegen?«
»Ich? Nein, Fritz Bercher weiß wahrscheinlich nicht mal, wer ich bin. Der Bursche ist ein verdammter Eremit. Soweit ich weiß, hat er keine Freunde, kein Handy, kein Internet. Ich kenne echt nur einen, der ein gutes Wort für dich einlegen könnte, und der ist sehr schwer zu erreichen.«
Bene zog sein Handy hervor, um die Kontaktdaten einzutippen. »Sag mir einfach Namen und Telefonnummer. Oder von mir aus die Mailadresse.«
»Hat er alles nicht.«
»Was? Wieso?«
Wilhelm grinste. »Weil der Einzige, der ein gutes Wort bei Fritz Bercher für dich einlegen könnte, seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen wurde. Den Namen kann ich dir aber geben. Vier Buchstaben: Gott.«
1998
Es war morgens um 4.17 Uhr, als Alexander Lerchenfeld begriff, dass dieser Gin sein Leben retten würde. Der letzte Tropfen aus der Destillationsanlage fiel mit einem Glucksen in die Apothekerflasche und der Duft sprang geradezu heraus. Nicht nur eine herrliche, geradezu betörende Wacholdernote, sondern außerdem all die anderen Aromen, in grandioser Klarheit.