Band 4:
Letzte Entscheidung
Fantasy-Serie
Die Serie „Das Erbe von Grüenlant“
Die junge Polizistin Natalie Berger arbeitet beim BKA. Mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten, Menschen zum Reden zu bringen, und ihrer unglaublichen Treffsicherheit beim Schießen beeindruckt sie ihre Kollegen. Als ihr bei einem Verhör der geheimnisvolle Fremde Keiran Lasalle gegenübersitzt, weiß sie sofort, dass dieser ihr Leben für immer verändern wird.
Von ihrem verschollen geglaubten Vater Gerbin beauftragt, nimmt Lasalle sie mit auf eine Reise in die magische Parallelwelt Grüenlant. Diese wird bedroht von der dunkeln Magierin Magna aus Vârungen …
Band 4: „Letzte Entscheidung“
Endlich wieder vereint, müssen sich Natalie und Keiran noch einer letzten Herausforderung stellen: In der Brandwüste wartet ein riesiges Heer, angeführt von Viggo, Magnas bestialischem Feldherren. Hilfe bekommen sie von alten und neuen Freunden.
Als Natalie schließlich ihrem alten Freund und Kollegen Tobias wieder begegnet, muss sie sich der Frage stellen, in welcher Welt sie fortan leben möchte. Kehrt sie in ihr altes Leben zurück oder herrscht sie an Keirans Seite als Königin über Grüenlant?
Christina Kunz wurde 1972 in Hanau geboren. Sie hat Germanistik und Mathematik auf Lehramt in Frankfurt studiert und arbeitet in Seligenstadt, wo sie mit ihren Söhnen auch lebt, und ist Mitglied in der Autorenvereinigung „Scriptorium Seligenstadt“. Neben dem Schreiben gilt ihre große Leidenschaft der Musik, unter anderem spielt sie Querflöte im Orchester.
Copyright © 2019 mainbook Verlag, mainebook Gerd
Fischer
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-947612-70-3
Lektorat: Gerd Fischer
Covergestaltung: Olaf Tischer
Bildrechte: © Christina Kunz
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Roll away the dawn,
roll away the dawn, and let me see,
the land of the free,
has anything changed at all?
Sweet liberty,
sweet liberty is in our hands,
it′s part of the plan,
or is it a state of mind?
Horses and men,
horses and men are on the field,
they didn′t yield,
many have fallen here.
Never forget,
never forget what they have done,
the time will come,
when it will change again,
never forget!
Chris de Burgh, Liberty
Die Autorin
Baustellen
Für immer
Glück und Leid
Leben und Tod
Schlafende Hunde
Du kannst nicht alle retten!
Erik
Königsdinge
Hochzeit
Nach dem Fest
Drei Heere
Vor der Schlacht
Die Schlacht
Nach der Schlacht
Alte Freunde
Abschied
Tobi
Kunningshort
Freiheit
Vergissmeinnicht
Epilog
Danksagung
Rot züngelten die Flammen und hilflos musste ich mit ansehen, wie sie Keiran langsam auffraßen. Ich wollte schreien, doch kein Ton kam aus meiner Kehle. Ich wollte zu ihm, doch jemand hielt mich zurück. Er drehte mich weg von dem Inferno und küsste mich, und ich vergaß Keiran, die Flammen, die Gefahr …
„Nein!“
Kerzengerade saß ich im Bett. Ich war schweißgebadet, und die Traumfetzen hielten mich gefangen, halb träumte ich noch, fühlte Vâkons Lippen auf meinen, halb war ich wach, schämte mich dafür und tastete panisch nach Keiran, der neben mir lag. Ich fasste seine Hand und suchte sein Gesicht, erleichtert stellte ich fest, dass keine Brandspuren darauf erkennbar waren. Ich zwang mich, tief und gleichmäßig zu atmen, und langsam beruhigte sich mein Herzschlag und die Traumfetzen verschwanden.
Keiran öffnete matt seine Augen. „Liebling, was ist los?“
Ich starrte ihn an. Das war Keiran, und das war echt. Endlich. Magna, Vâkon – die Schrecken der letzten Tage vorbei, wir hatten es geschafft. Ich seufzte.
„Ich – habe schlecht geträumt. Das ist alles.“
„Komm her.“ Er breitete seine Arme aus, und ich kuschelte mich eng an ihn. Sanft streichelte er mir über den Rücken, sein Geruch und sein gleichmäßiger Atem beruhigten mich, dennoch blieb ein flaues Gefühl zurück. Die Bilder und der Eindruck von Hilflosigkeit und Scham hatten sich in meinem Kopf eingenistet und es dauerte eine Weile, bis ich wieder einschlafen konnte.
Keiran trug sein rotes Wams. Er fühlte sich unbehaglich darin, aber er hatte sonst nichts. Natalie, die Haare nachlässig zusammengebunden wie am Tag ihrer ersten Begegnung, war in einen schwarzen Hosenanzug gekleidet. Er stand ihr ausgezeichnet und Keiran hätte sie am liebsten die ganze Zeit über angesehen. Vâkon hatte ihr den Anzug geschenkt, das versetzte Keiran einen Stich. Er hatte den Kuss der beiden nicht vergessen, auch wenn Natalie ihm versichert hatte, das sei nur eine Notwendigkeit gewesen, um Magna zu täuschen. Er wischte seine Zweifel beiseite.
Auch der Raum bereitete ihm Unbehagen. Die Gruppe hatte sich Magnas Besprechungszimmer ausgesucht, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Es war eine vernünftige Lösung, auch war keine der Personen, die ihn damals dort so gedemütigt hatten, noch am Leben. Es musste niemand erfahren.
Doch noch war es nicht vorüber.
Hier auf der Vârburg saßen eine Menge feindlicher Soldaten und Menschen in den Kerkern, die Hekon und Mallister mithilfe der beiden Junker der Grenzlande, Moritz von Dronge und Paolo von Puene, festgesetzt hatten. Er, Keiran, war nun König von Vârungen. Es lag an ihm, zu entscheiden.
Natalies Plan war aufgegangen, auch wenn Mina mit ihrer eigenmächtigen Rache an Vâkon den beiden zunächst einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Durch die Hochzeit mit Magna war er nun rechtmäßiger Herrscher in diesem schrecklichen Land, und niemand konnte dem etwas entgegensetzen. Er wollte das nicht. Er war Soldat, Kommandant, Natalies Paladin, er konnte Kriege führen und Verantwortung für seine Männer übernehmen, aber er konnte nicht regieren. Nichts lag ihm ferner. Er wünschte sich weit weg, auf den Bergfried in Mulinberc, zusammen mit Natalie, nur sie und er.
Keiran zwang seine Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Er würde einen Verwalter einsetzen müssen, besser noch einen Herzog, der sich um dieses Land kümmerte, als wäre es sein eigenes. Er wollte mit Vârungen nichts zu tun haben, musste so schnell wie möglich hier weg. Jeder Winkel erinnerte ihn an Magna und ihre obszönen Ideen.
In der Brandwüste lagerte vermutlich noch immer Viggo mit einem Heer, bereit, Grüenlant anzugreifen. Jemand musste dagegen antreten, das war seine Fluchtmöglichkeit. Ein guter König würde voranreiten.
Natalie sah ihn fragend an und er nickte ihr zu. Er war nicht gut im Sprechen.
Ich warf einen Blick in die Runde. Keiran hatte mir signalisiert, dass ich den Anfang machen sollte. Rund um einen großen Tisch standen Hekon, Gertrud, Timmon und Mallister sowie Moritz von Dronge und Paolo von Puene, die meiner Bitte, sich uns anzuschließen, gerne gefolgt waren. Ich warf Mallister einen fragenden Blick zu, ich vermisste Mina, doch er zuckte bedauernd mit den Schultern. Ich musste dringend mit ihr sprechen. Doch wie sollte ich das anfangen? Jetzt musste ich mich jedoch erst einmal auf die Besprechung konzentrieren.
„Wir haben eine ganze Menge Baustellen“, stellte ich fest und hoffte, von den anderen ein paar Ideen zu hören.
„Baustellen?“ Mallister sah mich verwirrt an.
„Ja – also … so sagt man das bei uns, wenn man – verschiedene Probleme gleichzeitig bewältigen muss.“
„Ach, so meinst du das! Ja, da gebe ich dir allerdings recht.“ Er nickte mir zu.
„Ich liste mal auf. Als erstes haben wir eine Menge Gefangene in unseren Kerkern. Was machen wir mit ihnen?“ Ich warf einen fragenden Blick zu Keiran, schließlich war er hier König und im Grunde war es nicht meine Aufgabe, darüber zu entscheiden. „Schön wäre es natürlich, wenn sie sich uns anschließen würden. Was uns zum nächsten Problem führt – Viggos Heer in der Brandwüste. Keiran, du hast es auf fünftausend Mann geschätzt. Was sollen wir dagegen tun?“
Timmon meldete sich zu Wort. „Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche. Keiran hat auch berichtet, das Heer bestehe größtenteils aus Magnas Geschöpfen. Nun, Magna ist tot. Dann müssten es ihre Kreaturen auch sein.“
„Das klingt vernünftig“, warf ich ein. „Auf jeden Fall sollten wir versuchen, es herauszufinden.“
„Ich werde unser Heer führen“, unterbrach mich Keiran bestimmt. „Allerdings brauche ich einen Statthalter auf der Vârburg. Jemanden, der meine Interessen hier vertritt“, er sah mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde, „auf unbestimmte Zeit.“
Irgendwie fühlte ich mich erleichtert. Insgeheim hatte ich mir die Frage gestellt, wo wir beide zusammen sein sollten. Ich musste zurück nach Grüenlant, und hier wollte ich ohnehin nicht bleiben. Niemand wollte hier sein.
Wer also sollte dieses Amt übernehmen?
Da meldete sich Hekon zaghaft zu Wort. „Ich könnte auf der Vârburg bleiben. Ich kenne mich hier aus und wüsste, was zu tun ist. Vielleicht würden mir sogar einige Leute folgen. Schließlich habe ich auch die Seiten gewechselt.“ Er sah entschlossen in die Runde und erntete ein zustimmendes Nicken von den beiden Junkern. Offensichtlich hatte er bereits damit gerechnet und seinen Vorschlag wohl überlegt. Ich spürte, wie Keiran neben mir erleichtert aufatmete.
„Das – wäre wunderbar!“ Er nickte Hekon zu.
„Auch wenn wir dich natürlich ungern hergeben“, ergänzte ich, und es stimmte. Noch ein Freund, den ich verlieren würde – wenn auch nicht auf so grausame Weise wie Gernot. Hekon sah mich etwas hilflos an und hob entschuldigend die Schultern. „Jemand muss es tun.“
„Ja, ich weiß. Und ich bin dir sehr dankbar dafür. Wir müssen tun, was getan werden muss.“
In den Gesichtern meiner Freunde sah ich Erleichterung. Gertruds Lippen umspielte ein geheimnisvolles Lächeln. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dann würde sie mit Hekon hierbleiben und ich würde eine weitere Freundin verlieren. Die beiden gehörten zusammen, so wie Keiran und ich. Sicherlich würde es nicht schaden, wenn Hekon eine Magierin an seiner Seite hätte. Schaudernd dachte ich an Magnas dunkle Magie und die Faszination, die Vâkon auf mich ausgeübt hatte – und immer noch ausübte, wie ich mir widerwillig eingestehen musste.
Keiran schaute ernst in die Runde, dann bat er Hekon vorzutreten. Er legte ihm die Hände auf die Schultern.
„So sei es. Ich ernenne dich, Hekon Hanusson, hiermit zum Herzog von Vârungen.“ Dann umarmte er ihn, eine für Keiran sehr ungewöhnliche Geste.
Ich drückte Hekon beide Hände. „Danke, mein Freund. Ich könnte mir keinen besseren Herzog vorstellen!“
„Wir werden dich noch offiziell ernennen. Dann werde ich dir die Königskrone übergeben und ich werde mich hier ganz bestimmt nicht mehr einmischen“, erklärte Keiran dem neuen Herzog.
„Aber ich …“, setzte Hekon zum Widerspruch an.
„Kein Aber“, unterbrach ich ihn bestimmt. „Du hast mehr als einmal gezeigt, dass du Verantwortung übernehmen kannst. Du wirst deine Sache gut machen. Und“, fuhr ich lächelnd fort, „Keiran wird woanders gebraucht.“ Ich zwinkerte ihm zu, und er gab sich geschlagen.
„Also gut. Ich nehme die Herausforderung an.“
„Dann werden Keiran und ich uns um das Heer in der Wüste kümmern und anschließend weiter nach Grüenlant reiten“, führte ich unsere Pläne fort, die, das wusste ich selbst, sehr optimistisch klangen. Ich warf Keiran einen fragenden Blick zu. „Aber was machen wir mit den Soldaten, die uns nicht folgen wollen?“
„Das, was wir immer tun.“ Keiran bekam einen harten Zug um den Mund. „Wir töten sie.“
Keiran bemerkte, wie Natalie ihn erschrocken ansah. Dann veränderte sich ihr Blick. Wurde sie wütend? Er wunderte sich. Was hatte sie denn geglaubt? Einsperren? So viele Kerker würden sie nicht bauen können – und abgesehen davon war es ehrlos. Und wie lange sollten sie dort sitzen?
Er wusste, dass es in ihrer Welt anders war. Dort brachte man niemanden so schnell um, nicht einmal Mörder. Zwar hatte sie bei ihrer Arbeit Menschen getötet, aber es waren nicht viele gewesen und sie hatte Keiran erzählt, wie schwer ihr das jedes Mal gefallen sei. Nun, sie würde es ja nicht selbst tun müssen. Und es war nicht so, dass die Männer und Frauen keine Wahl haben würden. Sie konnten sich für Keiran und Natalie entscheiden und weiterleben. Es war also ihr freier Wille, zu leben oder zu sterben.
„Nein.“ Ihre Worte klangen wie ein Peitschenhieb.
Natalies Widerspruch wunderte Keiran nicht. Er würde sie gerne überzeugen. Bloß wie? Wieder einmal verfluchte er sein mangelndes sprachliches Talent.
„Aber Natalie …“, setzte er hilflos an.
„Nein. Niemand soll sterben.“ Ihr Blick war starr nach vorne gerichtet.
„Aber das hier ist mein Königreich“, konterte er bestimmt, „und ich gebe den Befehl. Es gibt keine Alternative! Es ist ein altes Gesetz und jedem sind die Konsequenzen klar.“
Keirans Erklärungsversuche liefen ins Leere, denn Natalie funkelte ihn jetzt wütend an.
„Nur weil es schon immer so war, muss es nicht so bleiben!“
Keiran sah hilfesuchend zu Mallister, aber auch der schien ratlos.
Hekon versuchte es. „Schau, Natalie, ich verstehe dich. Ich habe selbst erlebt, wie du den Kreislauf durchbrochen und mich dadurch zu einem besseren Menschen gemacht hast. Das war gut und richtig! Aber wenn du mich getötet hättest, dann hätte ich das hingenommen und dir nicht die Schuld gegeben. Die Dinge sind nun einmal so – in den Köpfen, aber auch … überlege doch mal, wie willst du das denn alles organisieren in so kurzer Zeit? Es gibt jetzt zu viele andere Probleme! Veränderungen brauchen Zeit.“
Natalie hatte ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Keiran konnte fast sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Nun sah sie ihn an, fast verzweifelt.
„Vielleicht habt ihr recht. Ich sollte mich einfach raushalten.“ Trotzig sah sie zu Keiran, der ihren Blick ärgerlich erwiderte. Vielleicht sollte sie das wirklich. Schließlich fasste er Natalie an den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
„Natalie – du tust den Soldaten keinen Gefallen, wenn du sie am Leben lässt. Kein Soldat will in Gefangenschaft leben. Sie verdienen einen ehrenvollen Tod. Wir können nicht mehr für sie tun, als sie mit dem Schwert zu richten, statt sie zu hängen wie Diebe und Verräter“, versuchte er es ein letztes Mal.
Natalie starrte ihn an und Keiran bedauerte es, eine solche Entscheidung fällen zu müssen, die ihr offensichtlich so gegen den Strich ging. Aber er würde um ihretwillen nicht davon abweichen.
Vielleicht war er ja doch nicht der Richtige für sie. Liebe löste nicht alle Probleme, das musste er jetzt schmerzhaft erfahren. Er ließ ihre Schultern los. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht das sagen kann, was du hören willst!“ Seine Stimme klang entschlossen.
Natalie hielt seinen Blick eine Zeit lang, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, gefangen. Dann wurde ihre Miene plötzlich weich.
„Nein, Keiran, das kannst du nicht und das ist auch nicht nötig. Es ist deine Welt und noch zu wenig meine. Hilf mir, sie verstehen zu lernen. Und hilf mir, das auszuhalten, was ich nicht ändern kann.“
Keiran schickte seine Verbündeten nach draußen. Moritz hatte ihm zugesagt, ihn zu begleiten. Paolo würde zurückkehren nach Puene und dort die frohe Botschaft verkünden. Er würde Hekon nach Kräften unterstützen und außerdem Stellans Aufgaben in Vârungport übernehmen. Der Graf und seine Frau weigerten sich, in Keirans Gefolgschaft zu treten. Kurzerhand ernannte Keiran Paolo zum neuen Grafen von Vârungport.
Im Grunde könnte er zufrieden sein.
Natalie bereitete ihm allerdings Kopfzerbrechen. Ständig stellte sie alles in Frage.
Wieder einmal bezweifelte er, dass es richtig gewesen war, sie hierher zu holen. Ihre Werte unterschieden sich in zu vielen Dingen von seinen.
Er hoffte, dass er eines Tages die Zeit haben würde, ihre Sicht der Dinge besser kennenzulernen.
Nachdem Moritz und Paolo zusammen mit Mallister den Raum verlassen hatten, war ich mit Hekon, Gertrud und Keiran allein. Ich war froh darüber, mein unprofessionelles Verhalten gegenüber Keiran in der Öffentlichkeit war mir peinlich. Ich hätte mich mehr im Griff haben müssen, solche Meinungsverschiedenheiten vor fast Fremden waren unserem Ansehen nicht zuträglich.
„Keiran, es tut mir leid! Ich wollte nicht …“
„Schon in Ordnung. Vielleicht sprechen wir uns beim nächsten Mal vorher ab.“ Er zuckte mit den Schultern, und ich war froh, dass er nicht nachtragend war. Denn die Frage, die ich jetzt noch zu stellen hatte, war mehr als heikel.
„Wie verfahren wir mit den – äh – Toten?“, fragte ich vorsichtig. „Verbrennen wir sie?“
„Ja“, stimmte Hekon zu, „vor den Toren befindet sich der ‚Feuerhügel‘, ein Lavahügel, der als Bestattungsstätte der Vârburg diente. Die Leichen wurden bereits dorthin gebracht.“
„Nicht alle“, entgegnete ich langsam, „Prinz Vâkon liegt noch im Thronsaal.“ In Ermangelung einer Kapelle hatten wir ihn dort aufgebahrt, schließlich war er der Prinz von Vârungen und der Gemahl der Königin von Grüenlant. Den Titel „König von Grüenlant“ wollte ich ihm auch gedanklich nicht zugestehen.
Keirans Gesicht verzerrte sich. „Wir können ihn über die Burgmauer werfen und seinen Körper den Tieren überlassen“, grummelte er, „oder seinen Kopf auf die Zinnen stecken.“
„Nein!“ Meine Worte knallten wie ein Peitschenhieb, noch bevor ich darüber nachgedacht hatte. „Ich meine“, rang ich mir eine Erklärung ab, „also, er – er war mein Ehemann. Ich habe ihn freiwillig geheiratet.“ Ich räusperte mich. „Zumindest sah es so aus.“
„Was macht das für einen Unterschied?“, wollte Keiran wissen. „Monster ist Monster.“
„Und Mensch ist Mensch“, entgegnete ich scharf. „Wenn wir ihn unehrenhaft bestatten, sind wir nicht besser als sie.“
Keirans böser Blick traf mich tief, aber gleichzeitig machte er mich wütend. Er kannte Vâkon doch gar nicht! Eine latente lästige kleine Stimme in meinem Innern erinnerte mich an das, was er Mina angetan hatte, aber ich verdrängte den Gedanken schnell. Ohne ihn wäre es uns nicht gelungen, Magna zu besiegen.
Gertrud kam mir zur Hilfe.
„Niemand kennt ihn so wie du“, sagte sie weich und legte mir ihre Hand auf den Oberarm. „Du bist – warst die meiste Zeit mit ihm zusammen. Egal wie du entscheidest – wir werden es akzeptieren.“ Sie warf Keiran einen strengen Blick zu. Dieser sah zu Boden.
„Meine Unterstützung hast du auch“, stimmte Hekon leise zu.
Flehend sah ich Keiran an. Seine Meinung war mir wichtiger als alles andere. Dennoch würde ich mich darüber hinwegsetzen, wenn es notwendig war.
„Tu, was du tun musst“, presste er schließlich hervor.
Ich würde es ihm erklären müssen. Aber nicht jetzt.
So entschied ich mich für eine öffentliche Verbrennung auf dem Feuerhügel.
„Mina! Wie geht es dir?“
Mina hatte lange darauf gewartet, dass Natalie endlich Zeit für sie fand. Nach der Versammlung war sie zu ihr gekommen und jetzt standen sie auf der Wehrmauer und ließen ihre Blicke über das schwarze Land schweifen.
Mina zuckte nur mit den Schultern. Es ging ihr nicht gut. Sie hatte Albträume und sie, die früher Nähe so gern gehabt hatte, konnte niemanden mehr an sich heranlassen, am allerwenigsten Mallister. Einzig Gertrud durfte sie in den Arm nehmen. Mallister hatte dafür wenig Verständnis. Aber sie verstand es ja selbst nicht. Warum konnte sie nicht einfach vergessen?
Sie hatte jedoch keine Lust, Natalie an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Sie hatte den Hochzeitskuss nicht vergessen, den beide genossen zu haben schienen.
„Gibt es etwas Neues?“, fragte sie deshalb, ohne weiter auf die Frage einzugehen.
„Keiran hat Hekon zum Herzog von Vârungen ernannt. Er wird hierbleiben und das Land verwalten.“
„Ernsthaft? Hekon will hierbleiben? Dann bleibt Gertrud auch hier! Wie können sie nur! Nach allem, was passiert ist …“ Mina schüttelte den Kopf. Sie wollte hier weg, so schnell wie möglich, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie jemand auch nur eine Minute länger als notwendig hier sein wollte. Und Gertrud – sie hatte noch nichts gesagt. Mina hatte gehofft, bei ihr bleiben zu können. Aber sie wusste, dass ihre Freundin Hekon niemals verlassen würde.
„Und was wirst du tun?“
„Ich werde mit Keiran und dem Heer in die Brandwüste reiten. Dort lagert immer noch Magnas Handlanger Viggo und ist bereit, Grüenlant anzugreifen. Das müssen wir verhindern.“
Mina starrte vor sich hin. Alle hatten eine sinnvolle Aufgabe.
Was sollte sie tun?
Natalies Zofe konnte sie nicht mehr sein. Sie würde dabei immer an Vâkon denken müssen, auch war sie keine einfache Dienerin mehr, nach allem, was geschehen war. Außerdem hatte Ellie sie schon längst abgelöst.
„Wirst du uns begleiten?“, fragte Natalie freundlich.
„Was soll ich da?“, antwortete sie brüsk. „Was wirst du mit Vâkons Leiche tun?“ Die Frage war heraus, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte.
Natalie schaute lange über das schwarze Land. Mina sah die Falten auf ihrer Stirn.
„Ich werde ihn verbrennen“, antwortete sie ausweichend.
Mina wusste, dass ihre einstige Freundin ihre Abscheu vor Vâkon nicht teilte. Dennoch hatte sie gehofft, sie würde sie irgendwie rächen. Mina hatte viele Ideen.
„Du willst ihn ehrenvoll bestatten?“, fragte sie ungläubig.
Natalie warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Ich verstehe dich, Mina“, sagte sie steif, „aber er war nun einmal mein Ehemann. Das ist anständig.“
„Anständig?“ Mina war außer sich. „Vâkon war ein Monster, er hat keinen Anstand verdient!“
„Wenn wir ihn den Raben vorwerfen, sind wir nicht besser als sie“, setzte Natalie mit monotoner Stimme nach. „Er war immer noch ein Mensch. Und zu mir war er immer gut.“
Das brachte das Fass bei Mina endgültig zum Überlaufen. Zitternd und mit wutverzerrtem Gesicht sah sie Natalie in die Augen.
„Das glaubst du, ja? Ein Mensch? Schön, dass er zu dir gut war! Vielleicht hättest du ihn besser behandeln sollen, dann wäre er nicht zu mir gekommen!“
Mina bemerkte, wie Natalie mühsam um ihre Beherrschung kämpfte und die Fäuste ballte. „Pass gut auf, was du sagst“, zischte sie.
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging.
Minas Worte klangen mir noch lange in den Ohren. Auch wenn ich ihn besser behandelt hätte, wie sie es ausgedrückt hatte, wäre Vâkon zu ihr gekommen. Sein Blick war eindeutig gewesen. Warum hatte sie nicht getan, was ich ihr gesagt hatte, und war ihm aus dem Weg gegangen?