Wiener Vorlesungen
Band 195
Herausgegeben für Stadt Wien Kultur
von Daniel Löcker
Vortrag im RadioKulturhaus
am 14. Oktober 2019
Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
ISBN 978-3-7117-3015-2
eISBN 978-3-7117-5427-1
Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft in Münster, ist Gründerin und seit 2014 Direktorin des European Democracy Lab Berlin und seit 2016 Professorin und Leiterin des Departement für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Zuvor arbeitete Ulrike Guérot in verschiedenen europapolitischen Thinktanks in Berlin, Washington, Brüssel, Paris und London und unterrichtete an verschiedenen Universitäten, darunter The Paul H. Nitze School of Advanced International Studies in Washington, D.C., die Bucerius Law School in Hamburg und die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. 2016 wurde ihr Buch »Warum Europa eine Republik werden muss!« ein Bestseller. Seither erschienen mehrere Bücher, darunter 2019 ihre jüngsten Essays »Wie hältst du’s mit Europa?« sowie »Was ist die Nation?« (Steidl). 2003 wurde sie mit dem französischen Verdienstorden »Ordre national du Mérite« ausgezeichnet, 2019 erhielt sie den Paul Watzlawick Ehrenring der Wiener Ärztekammer sowie den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung.
Zur Umcodierung von Demokratie
und Freiheit im Zeitalter der digitalen
Nicht-Nachhaltigkeit
Picus Verlag Wien
Einleitung
I. Aufklärung versus Apokalypse
II. Bürger versus Konsumenten: Wer ist der Souverän?
III. Hoffnung auf Himmel unter digitalen Bedingungen?
Schlussfolgerungen
Literatur zum Weiterlesen
Vor mehr als dreißig Jahren wurde ein ebenso unverwechselbares wie hochkarätiges Wissenschaftsformat ins Leben gerufen: die Wiener Vorlesungen. Fächerübergreifend setzen sie sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen unserer Zeit auseinander und bereichern so den Kulturkalender der Stadt Wien um einen wichtigen Erkenntnisraum.
Als Forschungsstandort und Universitätsstadt hat Wien eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum inne und sieht es auch in ihrer Verantwortung, Impulsgeberin für aktuelle und zukunftsrelevante Fragestellungen zu sein. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Wissenschaft steht dabei außer Frage: Bildung und Wissen sind wesentliche Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben und für eine funktionierende demokratische Zivilgesellschaft. Als ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt der Aufklärung waren und sind die Wiener Vorlesungen »geistiger Initialzünder« für einen offenen und öffentlichen Diskurs, der nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel geführt wird, sondern ein breites Publikum als Beitrag für eine offene Gesellschaft erreicht.
Auch nach drei Jahrzehnten geben die Wiener Vorlesungen Anstöße für Kontroversen und behandeln jene Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind. Ein an Fakten und Informationen übersättigter Raum, die oft rasche Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse und die mitunter damit einhergehenden Problematiken verlangen einen stärkeren öffentlichen Diskurs über die Voraussetzungen und Folgen von Forschung. Hier bietet das lebendige und innovative Veranstaltungsformat der Wiener Vorlesungen ein Navigationssystem und fungiert als »Informationskatalysator« für neue Erkenntnisse aus zeitgenössischen Forschungswerkstätten und Labors. Es kann dazu beitragen, Dimensionen abzuschätzen, Fragen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Und vielleicht auch zum richtigen Handeln in unübersichtlichen Zeiten zu kommen.
Die Wiener Vorlesungen werden künftig insbesondere Wissenschaftlerinnen noch stärker einbeziehen. Der weiblichen Stimme der Forschung Gehör zu verschaffen, ist bedauerlicherweise nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Wir arbeiten daran, auch in diesem Bereich Vorurteile abzubauen.
Die Schauplätze der Wiener Vorlesungen sind vielfältig wie das Programm selbst: Sie verwandeln das Rathaus in eine temporäre offene Stadtuniversität ebenso wie sie eine Vielzahl anderer Orte in vielen Bezirken der Stadt zu Stätten der Bildung und des aktiven Austauschs transformieren.
Im Fokus der Wiener Vorlesungen steht mehr denn je die Kommunikation mit einem offenen und neugierigen Publikum. Es werden daher prominente Denkerinnen und Denker im Sinne einer zeitgemäßen Wissenschaftsvermittlung eingeladen, ihre Erkenntnisse und Einsichten mit der Bevölkerung zu teilen und einen offenen Dialog zu führen. Dazu ist kein Studium nötig, das ideale Publikum hat kein Alter, keine Titel, aber eine große Wachheit und eine unbändige Neugier auf das Neue, das Unbekannte und brennende gesellschaftliche Fragen.
So bieten die Wiener Vorlesungen einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt der Wissenschaft, der die Vielfalt des Gesellschafts- und Geisteslebens unserer Zeit widerspiegelt und den Blick für die Differenziertheit und Diversität der Gegenwart schärft.
Veronica Kaup-Hasler
Stadträtin für Kultur und Wissenschaft
»Die Freiheit des Volkes liegt in seinem privaten Leben; niemand soll es stören. Möge der Staat nur die Gewalt sein, welche diesen Zustand der Einfalt gegen die Gewalt selbst beschützt.«
LOUIS-ANTOINE DE SAINT-JUST,
französischer Politiker zur Zeit der Französischen Revolution
»Wir können, so befürchte ich, allenfalls darauf hoffen, dass die Freiheit in einem politischen Sinne nicht wieder für Gott weiß wie viele Jahrhunderte von dieser Erde verschwindet.«
HANNAH ARENDT
Aufklärung! Welche schönere, anspruchsvollere Ideologie hätte die Menschheit je hervorgebracht als jenes kollektive Streben nach Vernunft, das Heraustreten des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, das Ablegen des Ballasts kirchlicher Dogmen, die Durchbrechung engstirnigen Denkens durch den Ruf der Freiheit und den Zugang zu Wissen sowie schließlich jenes – zumindest in Europa – parallele Versprechen auf Demokratie und Sozialismus: »Alle Menschen sind geboren frei und gleich in ihren Rechten«, so heißt der erste Satz der Erklärung der Menschenrechte von 1789, die auf den revolutionären Schlachtruf Liberté, Égalité, Fraternité folgte, der indes mit der Guillotine endete. Noch heute, unter Bedingungen der »globalen Moderne« (Cornelia Koppetsch), mutet dieser Satz – obgleich knisternd aktuell – fast wie eine beschwipste Laune an.
Seit nunmehr knapp 230 Jahren gehören in Europa Texte über die Aufklärung zu den Juwelen ideengeschichtlicher Literatur, angefangen mit Kants erstem Aufschlag Was ist Aufklärung? von 1784, über den emanzipatorischen Rousseau und den skeptischen Hegel bis hin zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, geschrieben aus einer Position der absoluten Fassungslosigkeit heraus, dass eben jene Aufklärung das zivilisatorische Versprechen, mit dem sie angetreten war, ausgerechnet im beginnenden 20. Jahrhundert verraten hat. »Ich bin ganz sicher, dass diese ganze totalitäre Katastrophe nicht eingetreten wäre, wenn die Leute noch an Gott oder vielmehr an die Hölle geglaubt hätten, das heißt, wenn es noch letzte Prinzipien gegeben hätte. Es gab aber keine. (…) Man konnte niemanden anrufen«, sollte Hannah Arendt später darüber schreiben.1 Dass die große politische Denkerin und Idealistin hier letzte metaphysische Prinzipien postuliert, muss an dieser Stelle irritieren. Da ist Hannah Arendt für eine Sekunde weder liberal noch aufklärerisch. Es würde ja darauf ankommen, innerweltliche Sicherheiten zu fordern, die nach dem Verlust des großen Glaubens eine politische Glaubwürdigkeit schaffen, die auf Verständigung, Vertrauen und praktischer Kooperation beruht. Die frühmoderne Aufklärung hatte den mittelalterlichen Kosmos vom christlich-scholastischen Kopf auf neuzeitliche Füße gestellt. Doch jeden Glaubens beraubt, hatte stattdessen eine absolute, ankerlose Unvernunft in ein menschliches Verderben von bis dato ungekanntem (und ungeahntem) Ausmaß geführt.
Ein Vierteljahrhundert nach Adorno schließlich, gegen Ende der siebziger Jahre, verfasste Michel Foucault seinen Text Was ist Aufklärung? und verweist in seiner Interpretation das Kant’sche aude sapere, jenes Recht, ja, die Pflicht, seinen Verstand zu gebrauchen, überraschenderweise in das Reich des Gehorsams, nicht in das der Freiheitvolonté généraleabZustandAufgabe