Wandelseele
von
Julia A. Jorges
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Die Handlungen sind frei erfunden.
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Erste Auflage 2019
© Julia A. Jorges
© Coverbilder: Depositphotos
Covergestaltung: © Giusy Ame (www.magicalcover.de)
© Bilder Innenteil: Deposiphotos frankrohde (Energiefluss),
prometeus (Maske) und davidschrader (Schneefall), icasavechia (Katakomben), Julia A. Jorges (Autorenfoto),
Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten
© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel
ISBN: 978-3-946381-75-4
Unerkannt leben sie unter den einfachen Menschen:
Wandelseelen. Sie sind fähig zur Reinkarnation und verfügen über besondere Begabungen, doch dafür brauchen sie fremde Lebensenergie.
Studentin Sine hat gerade erst erfahren, dass sie eine solche Wandelseele ist. Doch sie ist nicht imstande, ihren Drang, fremde Energie zu zehren, zu kontrollieren. Das macht sie zu einer Gefahr für ihre Mitmenschen.
Als der Scout Darius Korweyn sich ihrer annimmt, hofft sie auf Unterstützung durch ihresgleichen in einem Gildenhaus bei Paris. Sie findet Vertraute und sogar neue Freunde. Doch schon bald gerät sie in einen Konflikt der Mächtigen, der sie um ihr Leben fürchten lässt und sie zwingt, in die Katakomben von Paris hinabzusteigen.
Inhalt
Teil 1: Wintererwachen
Teil 2: Die Gemeinschaft der Ewigen
Teil 3: Bestie in Gold
Teil 4: Hölle und Himmel
Autorenvorstellung
1
Im Schneckentempo quälte sich der Bus über den Innenstadtring. Sine versuchte die ruckelnden Bewegungen auszugleichen, um nicht gegen den Anzugtypen zu ihrer Linken oder die Schülerin rechts gedrückt zu werden. Die Sitzplätze an der Seite schienen irgendwie noch enger zu sein als die in Fahrtrichtung. Wäre sie bloß wie sonst mit dem Rad zur Uni gefahren! Sie hasste das Gedränge und die stickige, feuchte Luft, den Geruch von zu vielen Körpern auf engem Raum. Der kalte Novemberregen hatte sie bewogen, das Fahrrad im Keller zu lassen. Wahrscheinlich wäre es immer noch gesünder, nass zu werden, als sich dem Bombardement der Erkältungserreger auszusetzen, die als blinde Passagiere mitfuhren, herauskatapultiert bei jedem lautstarken Husten oder explosionsartigen Nieser. Ein leichtes Kratzen im Hals kündigte den Infekt bereits an.
Sines Laune war auf dem Tiefpunkt, daran konnte auch der gut aussehende dunkelhaarige Mann nichts ändern, der weiter hinten im Bus saß. Mehrfach hatten sich ihre Blicke gekreuzt. Sine war, als sei sie ihm schon einmal begegnet, doch ihr wollte nicht einfallen, wo. Außerdem war ihr nicht nach Flirten zumute; sie schaute weg und betrachtete trübsinnig den Vorhang aus Regentropfen, der die Sicht durch die gegenüberliegende Fensterscheibe verschleierte. Es dämmerte erst, die Lichter der Autos und Ampeln bildeten verwaschene Farbkleckse in dunkler Tinte.
Der Bus hielt und ein Schwall frischer, kalter Luft strömte ins Innere. Sine fröstelte. Ihre Zehen in den nur leicht gefütterten Stiefeletten hatten sich in Eiszapfen verwandelt. Ein Schwung neuer Fahrgäste stieg ein, nasse Schirme wurden unter Ärmel von Regenjacken und Mänteln geklemmt und hinterließen Pfützen auf dem schmutzigen Kunststoffbelag. Sine brachte ihre Füße gerade noch rechtzeitig vor dem Rinnsal aus einem Regencape in Sicherheit, dessen Besitzerin sich vor ihr an einer Halteschlaufe festklammerte. Die Fahrbewegungen ließen sie schwanken. Jedes Mal wenn der Bus um eine Kurve bog, drückte ihr Bein gegen Sines Knie. Durch den Stoff ihrer Jeans spürte sie die fremde Körperwärme – und noch etwas anderes … Ein Prickeln, ähnlich einer statischen Entladung. Es folgte ein nicht unangenehmes Kribbeln, das sich wellenförmig ausbreitete und mit der Einatmung stärker zu werden schien. Etwas strömte herüber, Wärme durchflutete Sine und hauchte sogar ihren klammen Zehen Leben ein.
Ohne darüber nachzudenken, vertiefte sie die Atmung, lenkte sie von den Lungenflügeln abwärts zu dem Punkt, an dem ihr Knie an die Wade der anderen stieß.
Da setzte die Frau ihren Fuß nach vorn und die Empfindung riss ab. Als sie an der nächsten Haltestelle erneut zur Seite gedrängt wurde, wich Sine nicht zurück, sondern schob ihre Beine extra ein Stück vor. Augenblicklich stellte sich der Effekt wieder ein. Lebendige Energie ging auf sie über, als sei sie ein leerer Akku, der ans Stromnetz angeschlossen wurde. Sie saugte die Kraft in sich auf, spürte förmlich, wie das beginnende Krankheitsgefühl von ihr abfiel. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto intensiver wurde es.
Die Frau wandte sich um, erschrocken und ein wenig blass. Ihr Blick flackerte, streifte Sine und deren Sitznachbarn. Als sie wenig später ausstieg, musste sie sich an der Tür abstützen, bevor sie mit nunmehr schleppenden Schritten ihres Weges zog.
Sine spürte einen Hauch schlechten Gewissens, aber vor allem Neugier. Es war wieder geschehen! Vor zwei Wochen hatte sie es das erste Mal bemerkt. Während eines Friseurbesuchs hatte sie festgestellt, dass bei der obligatorischen Kopfmassage etwas von den Fingerspitzen der Friseurin auf sie ausstrahlte, das ihre Nackenverspannungen und Kopfschmerzen zum Verschwinden brachte. Und dann, Dienstagnachmittag, war ihr im Rahmen der Krankengymnastik Merkwürdiges passiert: Als die Therapeutin eine Übung gezeigt und ihr dabei die Hand auf die Schulter gelegt hatte, war die Stelle warm geworden und hatte zu kribbeln begonnen. Hinterher hatte Sine sich so aufgedreht gefühlt, dass sie sich nach langer Zeit wieder einmal zum Joggen aufraffte. An diesem Abend war ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass es sich um Lebensenergie handelte, die sich auf unerklärliche Weise von anderen auf sie übertrug.
Lebensenergie. Gab es so etwas überhaupt, wissenschaftlich gesehen?
Tatsache war, dass es ihr auf einmal prächtig ging. Das änderte sich auch nicht, als sie am Hauptbahnhof ausstieg, wo der Wind ihren Schirm umklappte und ihn ihr fast aus der Hand riss. Der Mann, der vorhin Blickkontakt gesucht hatte, verließ ebenfalls den Bus. In ihrer Hochstimmung vergaß sie ihre sonstige Zurückhaltung und überlegte ihn anzusprechen.
Einen Augenblick zu lange. Die Chance war vertan, er hatte sich bereits in die entgegengesetzte Richtung zum Gehen gewandt, ohne Sine noch einmal anzuschauen.
Sie zuckte mit den Schultern. Was machte das schon? Sie könnte heute Abend ins Charleston gehen zur After-Work-Party. Das letzte Mal war zwar ein ziemlicher Reinfall gewesen: nervtötende Musik, uninteressante Leute und langweilige Gespräche …, aber das hatte womöglich an ihrer niedergedrückten Stimmung nach der Trennung von Robin gelegen. Sie nahm sich vor, in der Mittagspause Olivia anzurufen und zu fragen, ob sie Lust hätte mitzukommen.
2
Sie hatten sich beeilt, um rechtzeitig zur Happy Hour und dem damit verbundenen Gratis-Prosecco einzutreffen und sich einen der begehrten Tische am Fenster zu sichern. Seitdem sank Sines Laune jedoch in dem Maße, wie sich der Club füllte. Was musikalisch geboten wurde, war nicht besser als das, was sie vom letzten Besuch in Erinnerung hatte. Die gängigen Charts waren noch nie ihr Ding gewesen. Sie bevorzugte ältere Rockmusik und Jazz, besuchte hin und wieder klassische Konzerte. Dieses Interesse hatte sie mit Robin geteilt.
»He, träumst du?«
Sine zuckte zusammen. Ihre Gedanken waren abgedriftet, während ihre Freundin von ihren Plänen für den Weihnachtsurlaub erzählte.
»Bin gleich wieder da«, sagte Olivia, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie griff nach ihrer Handtasche. »Pass auf mein Glas auf!«
»Klar.« Sine grinste. Kaum vorstellbar, dass einer der seriösen Gäste hier auf die Idee käme, einer Frau K.-o.-Tropfen ins Getränk zu mischen. Andererseits konnte man nicht wissen, was für Abgründe hinter einer harmlosen Fassade schlummerten. Sahen nicht gerade Psychokiller meist besonders unscheinbar aus?
Sie ließ ihren Blick durch den Club schweifen. Das Publikum war schätzungsweise um die dreißig und wies einen deutlichen Frauenüberschuss auf. In ihren eleganten Kostümen schienen einige direkt der Chefetage einer Modefirma entsprungen zu sein. Die meisten jedoch trugen ähnlich lässige Kleidung wie Sine, die sich wohlfühlte in ihrem langen, weit fallenden Rock und dem figurbetonten grauen Pullover, von dem Olivia behauptete, er sähe sexy aus, ohne billig zu wirken. Von den wenigen Männern erregte keiner ihr Interesse. Wollte sie überhaupt jemanden kennenlernen?
Sines Gedanken wanderten zurück zu Robin. Robin mit seinem Zahnpasta-Lächeln, dem Körper eines Unterwäsche-Models und dem Charakter eines Straßenköters. Ausgerechnet mit einer Kommilitonin hatte er sie betrogen, und das über Wochen. Ein halbes Jahr war es her, seit sie die zwei in flagranti erwischt hatte. Seine Lüge, es sei ein Ausrutscher gewesen, flog genauso schnell auf wie er aus der gemeinsamen Wohnung, der Mistkerl!
Sine gähnte. Alle amüsierten sich, während sie auch nach zwei Espresso das Gefühl hatte, ihre Lider würden schwer wie Blei. Die Energie der anderen … Wenn sie nur wie heute Morgen etwas für sich abzweigen könnte, nur so viel, dass sie sich nicht mehr so entsetzlich müde fühlte.
Sie betrachtete den großen, schlaksigen Brillenträger am Nebentisch, der immer wieder auf seine Armbanduhr schaute, als trüge sie die Schuld daran, dass man ihn versetzt hatte. Es fiel Sine nicht schwer, sich vorzustellen, wie Lebenskraft durch seinen Körper pulsierte wie Blut durch die Adern. Ein Strom, den sie vielleicht zu sich umleiten konnte. Sie wurde sich der Leere in ihrem Innern bewusst, die sich auftat wie ein schwarzes Loch, das die Energie des Mannes ablenkte und mit unwiderstehlicher Gewalt ansaugte. Ein Prickeln überzog ihre Kopfhaut, lief ihren Rücken hinab, breitete sich aus bis in die Fingerspitzen.
»Sine? Bist du noch da?« Olivia stieß sie mit dem Ellbogen an. »Sag bloß, der gefällt dir?«, raunte sie ihr ins Ohr.
Erst jetzt bemerkte Sine, dass sie den Mann die ganze Zeit angestarrt hatte – was ihm nicht entgangen war. Er lächelte ihr unsicher zu, dann schien er sich einen Ruck zu geben, nahm sein Glas und kam an ihren Tisch.
»Darf ich Sie beide vielleicht zu einem Drink einladen?« Sein Adamsapfel hüpfte aufgeregt. »Meine Verabredung hat mich anscheinend sitzen lassen. Jens Rutloff, angenehm.« Er ergriff erst Sines Hand, dann Olivias und schüttelte sie.
Sine sah den Ehering an seinem Finger und wechselte einen Blick mit ihrer Freundin, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie an der Einladung nicht interessiert sei.
Olivia übersah ihr dezentes Kopfschütteln. »Gern. Wir nehmen beide einen Manhattan.«
»Ach nein, bloß ein Wasser«, murmelte Sine, aber Olivia schüttelte energisch den Kopf.
»Na komm, du hattest bloß einen Begrüßungsprosecco.«
Sine seufzte. »Okay, aber danach muss ich wirklich nach Hause.« Sobald sich ihr Kavalier in Richtung Bar aufgemacht hatte, fuhr sie Olivia an: »Sag mal, was sollte das? Mein Typ ist er ganz sicher nicht, deiner? Außerdem ist er verheiratet.«
Olivia grinste. »Entschuldige bitte, aber du hast ihn ja quasi mit den Augen ausgezogen, kaum dass ich dich allein gelassen habe.«
»Quatsch, ich hab bloß zufällig rübergeschaut.«
»Für mich sah das anders aus. Und weil ich dich kenne, habe ich verhindert, dass du einen Rückzieher machst. Es wird Zeit, dass du Robin, den Arsch, vergisst. Mein Gott, du bist vierundzwanzig! Willst du wegen einer schlechten Erfahrung im Zölibat leben, bis Mister Right zufällig vorbeigaloppiert kommt? Du brauchst mal wieder ’nen Kerl.«
»Aber doch nicht auf Teufel komm raus«, stöhnte Sine. »Und ich möchte mir selbst aussuchen …« Sie verstummte. Schräg gegenüber auf der anderen Seite der Tanzfläche, die zu dieser frühen Stunde noch leer war, hatte sie ein bekanntes Gesicht entdeckt.
Halb von einer Säule verborgen stand ein Mann an einem der hohen Tische. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, um an dem Hindernis aus künstlichem Marmor vorbeischauen zu können. Dunkle Haare, darunter ein schmales, bartloses Gesicht, ein bisschen älter als sie selbst. Der Mann aus dem Bus! Er blickte ihr direkt in die grünen Augen, jedenfalls kam es Sine so vor. Sein dunkler Anzug wirkte elegant, wenn auch reichlich förmlich für einen Clubbesuch. Ein Weinglas stand vor ihm. Er hob es und prostete ihr zu, ohne zu trinken.
»So, Ladys, Ihre Manhattan.« Der abenteuerlustige Ehemann stellte zwei Gläser vor ihnen ab. »Auf einen angenehmen Abend!«
Er stieß seinen Whiskey on the rocks eine Spur zu heftig gegen Sines Glas, sodass der Manhattan überschwappte und einige Spritzer auf ihrem Pullover landeten. Ihr neuer Bekannter entschuldigte sich errötend für sein Missgeschick.
Halb so schlimm, versicherte sie, sie würde rasch zu den Toiletten gehen, um den Fleck, so gut es ging, auszuwaschen. Tatsächlich kam ihr das Malheur ganz gelegen, denn auf diese Weise konnte sie einen unauffälligen Schlenker in Richtung des interessanten Fremden machen.
Als sie an ihm vorüberging, lächelte er verhalten in ihre Richtung. Eine geheimnisvolle Aura umgab ihn, vielleicht lag es an der Mischung aus kühler Arroganz und Empfindsamkeit, die sich in seinen Zügen widerspiegelte. Sine nahm all ihren Mut zusammen und lächelte zurück, dann huschte sie weiter in den Sanitärbereich.
Vor dem Spiegel tupfte sie mit Papiertüchern die bräunliche Flüssigkeit von ihrem Pullover, aber natürlich war das meiste bereits eingezogen. Damit der Fleck nicht so stark auffiel – wobei sie sich eingestand, dass das nicht der einzige Grund war –, knöpfte sie den Ausschnitt weiter auf und schlug ihn um. Anschließend zog sie den Lippenstift nach.
Was nun? Durfte sie Olivia mit ihrer Zufallsbekanntschaft allein lassen? Andererseits hatte ihre Freundin auf dem Drink bestanden! Und der Dunkelhaarige würde sie kaum ansprechen, wenn er sie mit einem anderen Mann zusammensitzen sah. Blieb nur, selbst das Gespräch zu eröffnen. Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken und sie ärgerte sich darüber.
Kein Grund, nervös zu werden, bestimmt stellte sich der Typ als verheiratet, unerträglich langweilig oder – noch wahrscheinlicher – als Frauenheld heraus. Dass jemand, der ihr auf den ersten Blick gefiel, ebenfalls Interesse an ihr hatte und noch dazu einen passablen Charakter vorwies, wäre schlicht zu schön, um wahr zu sein. Olivia hatte über diese selbstkritische Haltung schon oft den Kopf geschüttelt, aber Sine konnte nichts daran ändern. Ihre Nase war ein bisschen zu groß, ihre Lippen hätten voller sein dürfen, was man von ihren Oberschenkeln nicht behaupten konnte. Ganz bestimmt war sich der Mann aus dem Bus seiner Wirkung auf Frauen bewusst und nur auf ein Abenteuer aus, seriöser Anzug hin oder her.
Na und?, flüsterte eine trotzige Stimme in ihrem Kopf, die genauso gut Olivia hätte gehören können. Warum sollte sie sich nicht auch mal auf eine solche Erfahrung einlassen? Eine Menge Leute in ihrem Bekanntenkreis hielten es so und waren nicht unglücklich damit. Manche hatten bereits gescheiterte Ehen hinter sich und wollten gar nichts Festes. Nur sie klammerte sich an die Vorstellung von der großen Liebe mit allem Drum und Dran: Heirat, Kinder, glücklich bis ans Lebensende. Hatte sie so viel Angst vor einem weiteren Fehlschlag, dass sie jedes Risiko scheute? Aber dann verpasste sie womöglich auch eine große Chance, vielleicht die Chance überhaupt.
Sine warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, legte sich ein paar passende Worte zurecht und öffnete entschlossen die Tür.
3
Hinter der Säule knutschte ein Pärchen, auf dem Tisch stand verlassen ein volles Weinglas. Hektisch blickte Sine sich in dem mittlerweile gut besuchten Club um, ging ein paar Schritte in den hinteren Bereich und bis zum DJ-Pult.
Nichts. Auch nicht an der Tanzfläche.
Schon hatte Olivia sie entdeckt und winkte ihr, zurückzukommen. Lustlos bahnte Sine sich den Weg zu ihr und setzte sich auf ihren Barhocker, wobei sie möglichst viel Abstand zwischen sich und diesem Jens beließ, dessen Nachnamen sie bereits wieder vergessen hatte.
»Du hast ganz schön lange gebraucht, um dich hübsch zu machen«, sagte Olivia mit gespieltem Vorwurf. »Ist der Lippenstift eigentlich kussecht?«, setzte sie hinzu, laut genug, dass auch Jens, der auf seinem Smartphone herumtippte, es mitbekam. Sine hätte sie ohrfeigen können.
Er steckte das Gerät weg. »Ich hatte schon Ihre Freundin gefragt, ob Sie häufiger herkommen«, eröffnete er das Gespräch. »Ich heute nämlich zum ersten Mal. War mit einem Kollegen verabredet, aber ich glaube, das sagte ich bereits.« Er machte eine Pause, in der Sine sich ein höfliches Lächeln abrang. »Nun ja, ich bedaure den Entschluss trotzdem nicht – wo ich doch so reizenden Ersatz für den unzuverlässigen Knaben gefunden habe.« Er lachte, es klang nervös. Seine Finger spielten mit dem leeren Whiskey-Glas.
»Ich bin auch nicht oft hier«, antwortete sie abweisend. »Ist nicht ganz meine Stilrichtung.« Ihr Blick wanderte zur Tanzfläche, auf der sich nun zwei junge Frauen, vom Alkohol ermutigt, präsentierten, huschte darüber hinweg zu dem Tisch hinter der Säule, wo das Pärchen noch turtelte, glitt über die u-förmigen Sofas im Hintergrund bis zur Tür der Herrentoilette, zurück zur Bar und schließlich enttäuscht zum Ausgang.
»Sehe ich genauso«, bestätigte Jens eifrig. »Eigentlich gehe ich viel lieber ins Theater. Klassische Inszenierungen mag ich am liebsten. Wie sieht es mit Ihnen aus?«
»Mal so, mal so. Kino ist manchmal auch nicht schlecht«, entgegnete sie und schaute dabei aus dem Fenster. Ein paar Gäste standen draußen und zogen an ihren Zigaretten. Ihr Traumprinz war nicht darunter.
Irgendwie frustrierend – zweimal am selben Tag hatte sie die Chance verpasst, eine interessante, womöglich prickelnde Bekanntschaft zu machen. Nun saß sie mit diesem unscheinbaren und überdies verheirateten Mann zusammen, der sie fortwährend anstarrte, als könne er sein Glück nicht fassen.
Wie um ihr Ungemach zu komplettieren, hatte Olivia gerade einen alten Bekannten entdeckt und machte Anstalten, sich mit ihm davonzustehlen. Die Entschuldigung, die sie, schon im Aufbruch begriffen, murmelte, klang nicht sehr aufrichtig, und ihr süffisantes Lächeln ließ Sine mit der Frage zurück, was sie eigentlich mit ihr verband, abgesehen davon, dass sie sich seit der Grundschule kannten.
Sie dachte darüber nach, wie sie sich am höflichsten verabschieden konnte, als Jens kleinlaut zugab: »Ich, ähm, bin keine besonders anregende Gesellschaft, ich weiß. Ich könnte gut verstehen, wenn Sie sich nicht einmal meinen Namen gemerkt hätten. Eine so tolle Frau wie Sie …« Er blickte dermaßen niedergeschlagen drein, dass Sine es nicht übers Herz brachte, sofort zu gehen.
»Danke für das Kompliment – Jens. Ich finde, Sie sind ein ganz netter Kerl.« Obwohl Sie mich anscheinend für dumm oder unaufmerksam genug halten, nicht zu bemerken, dass Sie Ihren Ehering vom Finger genommen haben.
»Ehrlich? Ja, ähm, das freut mich, sehr sogar. Ihre Freundin sagte, Sie studieren Medizin?«
Sine nickte. »Ja. Aber erst im Grundstudium.« Eine halbe Stunde, ich bleibe noch genau eine halbe Stunde, dann bin ich weg, und wenn er vor mir auf die Knie fällt.
»Faszinierend. Ich für meinen Teil habe mich ja für die Juristerei entschieden. Ich kann nämlich kein Blut sehen.« Er lachte glucksend. »Nicht mal auf dem Papier. Deshalb ist mein Fachgebiet als Anwalt auch das Steuerrecht. Gar nicht so trocken, wie man gemeinhin vermutet.«
Sines zweifelnden Gesichtsausdruck fasste er als Aufforderung auf, ihr seinen Werdegang zu schildern und als Dreingabe die in seinen Augen spektakulärsten Fälle, die er bisher vertreten hatte.
Eine gefühlte Stunde später warf Sine beiläufig einen Blick auf die Uhr. »Oh, fast schon elf? Jetzt muss ich aber schleunigst gehen, wenn ich es morgen pünktlich und ausgeschlafen zur Uni schaffen will.«
»Das ist schade.« Jens machte eine resignierte Geste. Dann aber beschloss er, nicht so leicht aufzugeben, und rückte dichter an sie heran. Sein Knie berührte ihres unter dem Tisch. »Kommen Sie, Sine, erlauben Sie mir, uns einen kleinen Absacker zu bestellen.«
Sie konnte nicht gleich antworten. Zu erregend war das Gefühl, das die Berührung in ihr auslöste. Pure Energie strömte aus seinem Körper in sie hinein. Das Blut schoss ihr in die Wangen, sie fühlte sich warm und lebendig, mehr noch, voll enthusiastischem Tatendrang. Auch ihre Sinne waren geschärft. Sämtliche Farben im Club schienen an Leuchtkraft zu gewinnen, selbst der plärrenden Musik lauschte sie auf einmal mit einem gewissen Wohlwollen. War sie wirklich schon müde gewesen? Die Nacht war jung! Der attraktive Unbekannte war weg – na und? Der wusste nicht, was ihm entging!
Jens schaute sie erwartungsvoll an. Wie ein Hündchen, das auf eine Belohnung hoffte.
So schlecht sah er gar nicht aus. Das dunkelblonde Haar war zwar schon etwas licht, von einer Glatze aber noch weit entfernt. Und auch wenn er nicht unbedingt athletisch wirkte, wölbte sich immerhin kein Bierbauch unter dem Hemd.
Sine wurde klar, dass sie nicht die geringste Lust hatte, die Nacht allein zu verbringen.
»Nein, keinen Drink mehr.« Sie hätte fast gekichert, als seine Gesichtszüge in schlecht verhohlener Enttäuschung entgleisten. »Jedenfalls nicht hier. Aber vielleicht gibt es ja einen Ort, an dem wir ungestört sind?« Sie konnte kaum glauben, was sie da sagte.
Jens errötete bis zu den Ohrläppchen. »Ich, ähm, weiß … nicht. Bei mir …, da sieht es gerade ganz chaotisch aus, ich bin erst neu eingezogen, wissen Sie«, stotterte er. »Kann … Können wir vielleicht, ich meine, wäre es Ihnen recht, wenn wir zu Ihnen …?«
Sie lächelte ihn an, indes sie ihr Knie weiter gegen seins drückte und den elektrisierenden Strom in sich aufsog.
»Nein.« Sie wollte ihn, ja, aber sie konnte noch klar genug denken, um zu wissen, dass sie es morgen bereuen würde, ihm ihre Adresse verraten zu haben. »Kennst du ein passendes Hotel?«, fragte sie. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. So etwas Verrücktes war ihr noch nie passiert. Sie neigte nicht zu unvernünftigen Aktionen, hatte sich stets unter Kontrolle, selbst wenn sie, was selten vorkam, mal etwas zu viel trank – und auch das konnte man heute nicht behaupten.
Einen Augenblick dachte sie, er wäre von ihrem plötzlichen Sinneswandel überfordert und würde einen Rückzieher machen, doch dann räusperte er sich und legte seine Hand auf ihre. Sofort setzte auch dort das Kribbeln ein.
»Ähm, gute Idee, perfekt. Am besten rufe ich uns ein Taxi.«
Als er aufstand und der Körperkontakt abbrach, befürchtete Sine, ihr Hochgefühl würde sogleich enden. Aber es blieb. Wahrscheinlich hatte sie bereits genug Energie getankt. Sie fühlte sich aufgeputscht, fast als stünde sie unter Drogen.
Kaum hatten sie sich auf den Rücksitz des Taxis fallen lassen, kroch Jens’ Hand auf ihren Oberschenkel und er beugte sich zu ihr herüber.
Der Gedanke, ihm – und der geheimnisvollen Kraftquelle in seinem Innern – bald noch näher zu sein, schickte Wellen von Hitze durch ihren Körper. Seine Bartstoppeln kitzelten ihre Handflächen, als sie damit über seine Wangen strich. Sein Mund näherte sich ihrem Gesicht; fast glaubte sie kleine Funken sprühen zu sehen.
Bei der Berührung ihrer Lippen durchpulste sie ungefilterte Energie, bis sie das Gefühl hatte, bersten zu müssen. Zitternd löste sie sich von ihm und sank gegen die Rücklehne.
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte sie, um sich eine Verschnaufpause zu verschaffen.
Er fischte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. »Passus-Hotel«, antwortete er. »Wir sind schon da.«
Passus. Ein bisschen exklusiver hätte es gern sein dürfen, aber genau genommen war es ihr egal.
Jens bezahlte den Fahrer und stieg aus, um ihr die Tür zu öffnen. Eng umschlungen strebten sie dem Eingang zu. Sie wartete ungeduldig, bis die Formalitäten am Empfang erledigt waren. Kurz berührte sie der Gedanke peinlich, der Nachtportier wisse genau, was sie in Zimmer neunundzwanzig vorhatten. Er verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.
Die Türen des Fahrstuhls hatten sich noch nicht vollständig hinter ihnen geschlossen, als sie wie ausgehungert übereinander herfielen. Nicht länger Herrin über ihr Handeln ließ Sine zu, dass der Mann, den sie vor zwei Stunden nicht einmal gekannt hatte, sie an sich zog. Mehr noch, sie drängte sich ihm entgegen, während seine Energie auf sie überging, als sei ihr Körper ein Fass ohne Boden, bereit, den Kraftstrom bis zum letzten Tropfen in sich aufzunehmen.
Hinter ihrer Stirn, ein Stückchen oberhalb der Augenbrauen, breitete sich ein sonderbares Ziehen aus. Das Duftgemisch aus Parfüm, Aftershave und Schweiß überlagerte mit einem Mal ein fremdartiger, leicht chemischer Geruch. Lichtblitze zuckten hinter ihren geschlossenen Lidern und ordneten sich zu leuchtend violetten Wirbeln an.
Keuchend schlug sie die Augen auf und zerrte an ihrer Jacke. So heiß! Die Luft um sie herum schien plötzlich in Flammen zu stehen.
Jens ließ von ihr ab, stolperte rückwärts. Er schwankte, taumelte Halt suchend gegen den Handlauf.
Was war los mit ihm? Erschüttert betrachtete Sine sein aschfahles Gesicht, das um Jahre gealtert schien. Tiefe Furchen kerbten die Haut zwischen Nase und Mundwinkeln. Aus trüben Augen stierte er sie an, ein gequältes Stöhnen drang aus seinem Mund.
Sines Herz raste, in ihren Ohren rauschte das Blut und erstickte jeden klaren Gedanken bis auf einen: Die unbändige Energie, die in ihr toste, war gestohlen. Sie gehörte Jens, der jetzt an der Wand des Fahrstuhls nach unten rutschte, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Sie hockte sich vor ihn, griff seine Hände und versuchte sich vorzustellen, wie die Kraft aus ihr heraus und zurück in ihn floss.
Es klappte nicht. Schlimmer noch, die Berührung bewirkte, dass auch der letzte Rest seiner Lebensenergie zu ihr strebte, wie von einem starken Magneten angezogen.
Geschockt ließ sie seine Hände los, die schlaff herabsanken, und stand auf.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie hilflos.
Seine Lider hinter der verrutschten Brille flatterten, als er versuchte zu ihr aufzuschauen. »Nicht deine Schuld«, nuschelte er. »Ich habe gelogen. Bin gar kein Single.« Sein Gesicht verzerrte sich. Mit der Hand fuhr er sich an die linke Brustseite.
Ein Herzinfarkt! Sine drückte mehrere Schalter gleichzeitig in der Hoffnung, den Lift schnell zu öffnen, und atmete auf, als die Türen, begleitet von einem sanften Gong, auseinanderglitten. Mit zittrigen Fingern kramte sie ihr Telefon aus der Handtasche, deren Inhalt sich über den Boden verteilte, mitsamt dem Päckchen Kondome, das ihr Olivia vorhin zugesteckt hatte. Schrill und fremd klang ihre Stimme in ihren Ohren, als sie die Notrufzentrale anrief.
Zimmertüren öffneten sich, verschlafene Gesichter blickten heraus. Einer der Gäste rannte im Bademantel die Treppen hinunter, um den Portier zu informieren. Ein anderer brachte Kissen in den Aufzug, um Jens’ Oberkörper hochzulagern.
Sine litt Höllenqualen. Sie wagte es nicht, ihn ein weiteres Mal zu berühren, und die Blicke der aufgescheuchten Hotelgäste lasteten auf ihr wie ein unausgesprochener Vorwurf. Das Heulen des Martinshorns kam daher einer Erlösung gleich.
4
Wie betäubt lief Sine durch die leeren Straßen nach Hause. Die kalte Nachtluft ließ sie frösteln, aber immerhin sorgte sie dafür, dass sich ihre Gedanken allmählich wieder ordneten. Sie hatte ihre Personalien angeben und einige Fragen beantworten müssen. Unter anderem, ob sie die Frau oder Freundin des Patienten sei und ihn in die Klinik begleiten wolle. Peinlich berührt hatte sie gemurmelt, sie sei bloß eine Bekannte.
Hoffentlich kam er durch – wenn nicht, würde sie sich das nie verzeihen können. Obwohl …, konnte es nicht sein, dass sie sich bloß eingebildet hatte, ihm die Lebenskraft zu stehlen? Mit solch esoterischem Kram hatte sie noch nie etwas anfangen können. Vermutlich besaß ihr verhinderter Liebhaber ein schwaches Herz und der Infarkt war Folge der ungewohnten Aufregung.
Je länger sie auf ihrem langen, einsamen Heimweg darüber nachdachte und dabei automatisch einen Fuß vor den anderen setzte, umso absurder erschien ihr der Gedanke an so etwas wie Energievampirismus. Dass sie sich noch immer aufgekratzt fühlte, obwohl es auf zwei Uhr morgens zuging, lag zweifellos am Adrenalin und der frischen Luft.
Eine Straße von ihrer Wohnung entfernt bemerkte Sine, dass sie verfolgt wurde. Da war ein leises, rhythmisches Tappen im modrigen Laub auf dem Gehweg wie von verstohlenen Schritten. Als sie sich umdrehte, verstummte es. Doch Sine meinte aus dem Augenwinkel einen menschengroßen Schatten wahrgenommen zu haben, der hinter einen der Alleebäume huschte. Ihre Finger verkrampften sich um den Riemen der Handtasche. Sobald sie weiterging, hörte sie es wieder. Schritte, die stehen blieben, wenn sie selbst anhielt.
Ihr brach der Schweiß aus. Für die heutige Nacht hatte sie weiß Gott genug Aufregung erlebt. Zu ihrer Rechten ragte ein großer, grauer Wohnblock auf; hinter einigen Fenstern brannte noch Licht. Ob man sie hören würde, wenn sie um Hilfe rief? Sollte sie einfach irgendwo klingeln?
Im gelblichen Licht der Straßenlaterne, die sie soeben passiert hatte, klebte ihr Schatten lang und verzerrt an ihren Füßen. Hier war der Fußweg säuberlich gefegt und so hörte sie keinen anderen Laut als das helle Klack-Klack ihrer Absätze. Nur noch ein paar hundert Meter, dann wäre sie zu Hause …
Eine eisige Klaue griff nach ihrem Herzen: Ihr Schatten hatte Gesellschaft bekommen. Schnell und geräuschlos war der Verfolger zu ihr aufgeschlossen.
Jemand packte sie am Arm und riss sie herum. Er war mindestens einen Kopf größer als sie und schwarz gekleidet.
Ihr stockte der Atem. Vor ihr stand der dunkelhaarige Mann, der zu ihrer Enttäuschung so plötzlich aus dem Charleston verschwunden war. Jetzt lächelte er nicht, sondern funkelte sie zornig an.
»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, zischte er und zog sie in die Dunkelheit einer Tordurchfahrt.
Panik stieg in Sine hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Sie wand sich in seinem Griff, doch der Unbekannte ließ nicht locker, drückte fester zu. Schmerzerfüllt zuckte sie zusammen, warf den Kopf hin und her, um zu sehen, ob irgendwo Hilfe käme. Doch selbst wenn jemand vorbeigelaufen wäre, hätte er sie hier nicht bemerkt, es sei denn, sie machte auf sich aufmerksam.
Bevor sie jedoch einen Laut von sich geben konnte, presste sich eine Hand auf ihre Lippen und erstickte den Schrei. Sine roch Leder, der Angreifer trug Handschuhe. Sie versuchte ihn zu beißen, knallte ihren Fuß mit aller Kraft gegen sein Schienbein. Er zuckte nicht mal.
Den Mund dicht an ihrem Ohr flüsterte er: »Ich werde Ihnen nichts tun, wenn Sie mir zuhören. Falls Sie schreien, töte ich Sie, verstanden?«
Sine nickte. Er nahm die Hand von ihrem Mund, ließ ihren Arm los und trat einen halben Schritt zurück, behielt sie aber im Auge. Als er sah, dass sie keine Anstalten machte, zu rufen oder zu entkommen, entspannte sich sein zorniger Gesichtsausdruck ein wenig.
Sine spürte, wie infolgedessen auch ihr Herzschlag einen Gang herunterschaltete – von sich fast überschlagend auf bloß noch stark beschleunigt. Sie musterte ihr Gegenüber. Aus der Nähe betrachtet war er doch älter, als sie zunächst angenommen hatte, schätzungsweise Mitte bis Ende dreißig. Sein volles Haar war sorgfältig frisiert. Bei dem kurzen Gerangel hatte sich eine Strähne gelöst, die über seine Stirn fiel und ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Das schmale, helle Gesicht mit der markanten Nase hatte etwas Aristokratisches. Um die Mundwinkel lag ein spöttischer Zug. Doch seine Augen verströmten Intelligenz, gepaart mit leiser Melancholie, und versicherten Sine, dass sie es nicht mit einem Verbrecher zu tun hatte. Was wollte er von ihr? Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte, so forsch sie konnte: »Was soll ich mir wobei gedacht haben?«
»Den armen Trottel komplett auszuzehren und damit seinen Tod in Kauf zu nehmen.« Verärgerung umwölkte seine Züge.
Verwirrt fragte sie sich, woher er wusste, was geschehen war. Die Erinnerung daran brachte auch die eigene Stärke zurück, die sie bis vor Kurzem gefühlt hatte. Zugleich keimte in ihr Empörung auf, weil er sie derart in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Ich habe bis heute Abend nicht einmal gewusst, dass ich zu so etwas fähig bin! Wenn es überhaupt an mir lag.«
»Sie wollen mir weismachen, Sie wüssten nicht, was Sie sind?« Er blickte ihr forschend in die Augen. Anscheinend überzeugte ihn nicht, was er sah. »Unsinn«, fuhr er sie an. »Niemand, bei dem die Fähigkeit so stark ausgeprägt ist, weiß nicht, was es damit auf sich hat!« Er drängte sie gegen die Wand, setzte seine Handflächen rechts und links ihres Kopfes an die Ziegelmauer und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war.
Für einen Moment glaubte Sine, er wolle sie küssen. Seine Nähe irritierte sie; es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl sie wusste, dass sie etwas auf seine seltsamen Anschuldigungen würde entgegnen müssen. »Ich … Ich hatte wirklich keine Ahnung«, stotterte sie. Erneut breitete sich Angst in ihr aus. War er verrückt? Sie spürte die kalte Wand im Rücken und verfluchte sich selbst, dass sie kein Taxi gerufen hatte. »Erklären Sie es mir, bitte.«
Die wenigen Zentimeter Luft zwischen ihren Körpern knisterten vor Spannung. Er strahlte eine ungeheure Energie aus. Als würde es dadurch angeregt, breitete sich über ihrer Nasenwurzel das saugende Gefühl aus, das sie von vorhin kannte. Sie wusste, was folgte, und ließ es zu. Seine Kraft schoss förmlich in sie und erfasste ihren Körper. Das Gesicht des Fremden kam näher, seine Stirn berührte die ihre. Seufzend schloss sie die Augen … Dann geschah etwas, mit dem sie nicht im Entferntesten gerechnet hatte: Der Energiestrom versiegte, um sich gleich darauf umzukehren. Sie wehrte sich, stemmte sich dagegen, indem sie sich vorstellte, wie in ihrem Inneren ein Schleusentor die Flut aufhielt, doch es half nichts. Er saugte sie aus wie ein Vampir sein Opfer. Und ein Vampir war er – nur dass er anstelle von Blut ein feinstofflicheres Elixier bevorzugte.
Es gelang ihr nicht, den Kopf wegzudrehen, ihre Schädel waren wie zusammengewachsen. Alle Kraft strömte aus ihr heraus, sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und sie an der Mauer herabzusinken drohte, so wie ihr unglücklicher Verehrer an der Wand des Fahrstuhls herabgesackt war. Doch die Hände des Unbekannten griffen zu und bewahrten sie vor dem Fallen. Fliehen konnte sie nicht. Sie wollte ihn anflehen von ihr abzulassen, doch ihre Ohren schienen mit Watte verstopft zu sein, die Lippen versiegelt. Und so eigenartig es war, ein Teil von ihr wollte gar nicht, dass es aufhörte. Dieser Teil gab sich dem Fremden hin, der sie an sich heranzog, als sei sie eine Puppe, und genoss das Gefühl, wie ihr Leben in ihn hineinfloss.
Vor ihre Augen legte sich ein grauer Schleier. Genug jetzt, aufhören – ich sterbe!, schrie ihr Selbsterhaltungstrieb.
Wenn das Wesen mit ihr fertig war, würde auf dem schmutzigen, kalten Pflaster die leblose Hülle einer alten Frau zurückbleiben.
Je schneller die Kraft sie verließ, umso mehr schrumpfte ihr Entsetzen zu dumpfer Resignation. Szenen aus ihrem Leben zogen vorbei: Olivias Party letzte Woche, der Streit mit Robin, ihr erster Kuss, der Auszug aus dem Elternhaus. Ihre Mutter – in einem Moment tränenüberströmt, weil ihr einziges Kind sie verließ, im nächsten, wie sie glücklich strahlend eine Gans zerlegte, im Hintergrund ein funkelnder Weihnachtsbaum. Weitere Familienfeiern tanzten vor Sines Augen, wechselten einander ab. Jünger wurden ihre Eltern, kindlicher sie selbst. Riesengroß ragte der Christbaum über ihr auf, Jahr um Jahr behangen mit denselben rot und golden glitzernden Kugeln. Mit pummeligen Fingern zerrte sie an der Verpackung eines Geschenks, um gleich darauf ein rosafarbenes Plüschpferd an sich zu drücken.
Und dann, von einem Moment auf den anderen, fand sie sich in einem dunklen Gang wieder, an dessen Wänden sich die Umrisse von Türen abzeichneten. Schaudernd begriff sie, dass sie diesen Ort schon oft in halb vergessenen Träumen gesehen hatte.
Obwohl sie meinte noch aufrecht zu stehen, verlor sie den Boden unter den Füßen und stürzte in einen schwarzen Tunnel, und da war kein Licht am Ende. Das Nichts umfing sie.
5
Ein Strahl vorwitzigen Sonnenlichts weckte Sine. Er stahl sich durch die halb geschlossene Jalousie ihres Schlafzimmerfensters und kitzelte ihr Gesicht. Sine blinzelte, drehte den Kopf zur Seite und erschrak: Schon fast elf! Sie hatte verschlafen und nicht bloß ein bisschen. Die Anatomie-Vorlesung konnte sie abschreiben.
Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Der Besuch im Charleston, Jens, sein Zusammenbruch im Hotel … Der Fremde!
Gehetzt blickte sie sich um. Sie war allein im Zimmer. Er musste sie hergebracht haben, nachdem sie ohnmächtig geworden war. Nachdem er diese beängstigende und doch so aufregende Sache mit ihr gemacht hatte. Ihr die Kraft aussaugte, bis sie glaubte, sterben zu müssen. An sich hinunterblickend stellte sie ohne große Überraschung, aber nichtsdestotrotz erleichtert fest, dass sie vollständig bekleidet war, lediglich Schuhe und Jacke hatte er ihr ausgezogen. Ihre Handtasche hing über der Stuhllehne.
So leise wie möglich stand sie auf und tappte zu der nur angelehnten Tür. Was, wenn er sich noch in der Wohnung aufhielt? Obwohl ein unbestimmtes Gefühl ihr sagte, dass das nicht der Fall war, durchsuchte sie Wohnzimmer, Küche und Bad, schaute auch in der Abstellkammer und auf dem Balkon nach. Niemand da! Die Wohnungstür war zugezogen, der Schlüssel hing am Haken. Sie griff danach und schloss von innen ab.
Nachdem Sine geduscht und zwei Tassen starken Kaffee mit reichlich Milch und Zucker hinuntergekippt hatte, fühlte sie sich einigermaßen wiederhergestellt. Vor allem deshalb, weil ihr Spiegelbild sich wie immer und nicht um Jahre gealtert präsentierte, nachdem sie sich endlich dazu überwunden hatte, einen Blick zu riskieren. Kurz überlegte sie, sich für heute Nachmittag krankzumelden, ließ es dann aber. Der Nebenjob als Kassiererin war wichtig für die Finanzierung ihres Studiums, und sie hatte in letzter Zeit schon viel zu oft wegen irgendwelcher banalen Infekte gefehlt.
Später, auf dem Weg zur Arbeit, machte sie einen Umweg über die Klinik, in die Jens Rutloff vor nicht einmal zwölf Stunden eingeliefert worden war.
Sein Zustand sei stabil, verriet ihr die Dame am Empfang. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Ob sie ihn besuchen wolle? Seine Frau sei gerade bei ihm. Nein, nein, sie sei nur eine Kollegin und wolle nicht stören, log Sine, nicht unglücklich, um den Besuch herumzukommen. Sollte seine Frau sich um ihn kümmern, Hauptsache, er war über den Berg.
Tage vergingen und wurden zu Wochen. Die Adventszeit brach an und der erste Schnee fiel, um kurz darauf wieder zu schmelzen.
Sobald sie ihre Wohnung verließ, hielt Sine Ausschau nach dem mysteriösen Mann, der sie bedroht hatte. Sie vermutete ihn im Bus, hinter der Frontscheibe jedes vorbeifahrenden Autos, beim Einkaufen … Furcht begleitete ihre Wege, obwohl es genau genommen nicht nur Furcht war, die der Gedanke an den Unbekannten auslöste.
Allerdings war er nicht ihr einziges Problem: Jedes Mal wenn Sine mit anderen Menschen zusammentraf, regte sich in ihr diese beunruhigende Fähigkeit, Lebensenergie zu saugen. Also hielt sie Abstand, vermied Berührungen und ließ Hände ungeschüttelt, obwohl sie schon anzuecken begann aufgrund ihrer vermeintlichen Unhöflichkeit.
Besonders kompliziert wurde es, wenn sie sich aufregte, denn das verstärkte den Drang noch. Neulich hatte ihr Physiologie-Professor, nicht gerade bekannt für seine zartfühlende Art, ihre Seminarvorbereitungen als zu oberflächlich kritisiert. Zwar hatte er nicht ganz unrecht, dennoch fühlte sie sich gedemütigt, weil mehrere Kommilitonen den Anpfiff mitbekamen. Da hatte sie plötzlich gespürt, wie aus ihrer Stirn seltsame Dinge wuchsen, die sie nur als unsichtbare, dünne Schläuche bezeichnen konnte. Sie schlängelten sich auf die Köpfe der Anwesenden zu, setzten sich daran fest und öffneten Kanäle, die Energie herausleiteten. Mit der Ausrede, ihr sei nicht gut, war sie fluchtartig aus dem Raum gestürmt. Seitdem tuschelten einige Mitstudenten hinter vorgehaltener Hand über eine Schwangerschaft, andere argwöhnten ein Alkohol- oder Drogenproblem.
Immer wenn das pulsierende Saugen und Kribbeln hinter ihrer Stirn einsetzte, stahl Sine sich unter einem Vorwand davon, bevor sie völlig die Kontrolle verlöre. Wenn sie darüber nachdachte, dass sie fast mit einem Wildfremden ins Bett gegangen wäre, aufgeputscht von dessen Lebenskraft, verstand sie sich selbst nicht mehr. Manchmal jedoch ertappte sie sich bei dem Gedanken, alle Hemmungen abzustreifen, in irgendeinen Club zu gehen, wo niemand sie kannte, und es einfach darauf ankommen zu lassen. Doch wenn der Überfall Anfang November eine Warnung gewesen war, dann diente diese Zeit womöglich der Prüfung. Wenn sie zuließ, dass noch einmal Ähnliches passierte wie mit Jens Rutloff, würde es keine weiteren Warnungen geben.
6
»Sag mal, Sine, was ist eigentlich los mit dir?« Olivia wirkte ehrlich besorgt. »Ich habe das Gefühl, du bist gar nicht richtig da. Dauernd siehst du aus dem Fenster. Oder schaust durch mich hindurch.«
Sie hatten sich in dem kleinen Bistro getroffen, in dem sie sich hin und wieder an Samstagvormittagen zum Brunch verabredeten, um hinterher noch shoppen zu gehen. Einen Tag vor dem dritten Advent war die Stadt voll von Kauflustigen.
»Bist du mir immer noch böse, weil ich dich mit diesem Herzkranken verkuppelt habe?«
Sine war es unangenehm, daran erinnert zu werden. Abwehrend hob sie die Hände und sagte: »Natürlich nicht! Wer hätte das ahnen können? Abgesehen davon bin ich jetzt erst recht der Überzeugung, dass solche spontanen Abenteuer nichts für mich sind.«
Olivia nickte. »Hast du gehört, wie es ihm geht?«
»Er ist längst aus der Klinik entlassen. Wie es um seine Ehe bestellt ist, weiß ich allerdings nicht.«
»Auf jeden Fall ist er kuriert, was außereheliche Vergnügungen anbelangt«, stellte Olivia fest. »Dann verstehe ich aber nicht, warum du so komisch bist.«
Sine runzelte die Stirn. »Bin ich doch gar nicht.«
»Doch. Du bist anders als sonst, so fremd. Als ob da eine Mauer zwischen uns wäre. Ich weiß, das klingt albern. Hast du Probleme an der Uni? Oder ist was mit deinen Eltern? Du weißt, du kannst mir alles erzählen, ich kann Geheimnisse für mich behalten.« Olivia rollte mit der Gabel eine Cocktailtomate über den Teller, während sie Sine musterte.
Sine wich dem Blick aus. Ihre Freundin lag so verkehrt nicht. Sie wusste, dass sie sich zunehmend abkapselte. Nicht nur weil sie kaum noch ausging, nein, sie verkroch sich in sich selbst. Aber welche Möglichkeit blieb ihr sonst, mit der finsteren Macht umzugehen, die in ihr wohnte? Auch jetzt, während sie darüber nachdachte, spürte sie, wie diese aus ihr herausdrängte und mit ihren Krakenarmen nach Olivia tastete – nach ihrer Freundin!
»Entschuldige bitte, ich muss eben für kleine Mädchen.« Hastig stand sie auf und stieß dabei den Salzstreuer um.
»Oh, oh, das bringt Unglück!«, rief Olivia ihr nach.
Als sie zurückkam, machte ihre Freundin einen verstimmten Eindruck. Aber sie konnte nicht mit ihr darüber sprechen. Olivia würde sie auslachen, für durchgedreht halten oder – und das wäre das Schlimmste – sich von ihr abwenden, falls sie ihr doch glaubte. Schließlich war sie ein Freak, eine Gefahr für andere.
»Hör zu, Oli …«, begann sie. »Ich weiß, dass ich im Moment ein bisschen durch den Wind bin. Es ist nichts Schlimmes, bloß … Ich habe Ärger auf der Arbeit.«
»Warum sagst du das nicht gleich!«, rief Olivia erleichtert und mitfühlend zugleich. »Wirst du gemobbt? Komm, erzähl, wir überlegen zusammen, was du tun kannst.«
»Echt lieb von dir, aber im Moment möchte ich nicht darüber sprechen, noch nicht.«
»Wie du meinst …«, antwortete Olivia leicht enttäuscht. »Aber friss es nicht in dich hinein. Wenn du reden möchtest – jederzeit.«
In der Woche nach ihrem gemeinsamen Frühstück telefonierten sie ein paarmal und immer war Olivia diejenige, die anrief. Hatte sich die Mobbing-Geschichte erledigt? Wann hätte sie endlich mal wieder Zeit für ein Treffen? Sine antwortete ausweichend, redete sich mit Kopfschmerzen heraus und beendete die Gespräche so schnell wie möglich. Auch sonst reduzierte sie den Kontakt zu ihren Mitmenschen auf das Unumgängliche.
Jetzt war es Donnerstagabend. Olivia hatte sich noch nicht gemeldet. Vielleicht hatte sie aufgegeben. Sine konnte es ihr nicht verübeln. Sie fühlte sich unglücklich und einsam und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sich dieser Zustand je wieder ändern sollte. Die grässliche Fähigkeit hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Wie gern wäre sie diesen Fluch losgeworden! Mehr und mehr sehnte sie ein Zusammentreffen mit dem Mann im schwarzen Anzug herbei, dem Einzigen, der zu wissen schien, was mit ihr los war.
Warum zeigte er sich nicht? In der vergangenen Woche war sie extra mit dem Bus gefahren in der Hoffnung, ihm zu begegnen. Es hatte sie erhebliche Überwindung gekostet, jetzt, wo mehr als die Hälfte der Fahrgäste schniefte und hustete.
Vielleicht sollte sie eine Anzeige in die Zeitung setzen und ihn auffordern, sich bei ihr zu melden? Wenn dies wirklich eine Prüfung war, wie lange sollte sie dauern? In gut einer Woche standen die Feiertage bevor, die sie normalerweise bei ihren Eltern verbrachte. Dieses Jahr würde sie allein in ihrer tristen Wohnung sitzen, während ihre Mutter den alljährlichen Gänsebraten auftischte. Das war immer noch besser, als die beiden in Gefahr zu bringen.
Der Fernseher strahlte nichts als Langeweile aus. Auf den begonnenen Roman konnte Sine sich nicht konzentrieren. Den ganzen Abend schon tigerte sie durch die Wohnung und fühlte sich auch gegen Mitternacht noch zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Morgen musste sie dringend Anatomie büffeln, außerdem sechs Stunden lang Einkäufe über den Scanner ziehen. Wenn sie nicht aufpasste, würde die Filialleiterin sie wegen ihrer dauernden Zerstreutheit abmahnen.
Sine ging zum Medizinschränkchen und nahm die Tabletten heraus, die ihr der Neurologe gegen die Schlafstörungen verschrieben hatte. Nach kurzer Überlegung stellte sie sie wieder an ihren Platz. Es war viel zu spät für eine Tablette, sie würde morgen früh noch völlig benebelt sein. Und viel zu oft hatte sie das verschreibungspflichtige Medikament in letzter Zeit eingenommen. Die Träume, die sie in ihrer Kindheit geplagt hatten, traten nun wieder häufiger auf. Damals hatte sie halbe Nächte lang wach gelegen, nicht gewagt einzuschlafen, weil sie fürchtete, etwas würde über sie herfallen. Es lauerte unter dem Bett, im Schrank und in den Schatten, die ihr Kinderzimmer in einen Ort des Bösen und der Gefahr verwandelten. Ein nebelhaftes Etwas unter der Zimmerdecke, das sich manifestierte, sobald das Licht ausging, und seine spinnenbeinartigen Finger nach ihr ausstreckte. Wenn es jetzt erneut in ihren Träumen zu ihr kam, verwandelte es sie zurück in ein kleines, zitterndes Mädchen, das schreiend hochschreckte, das Nachthemd kalt und nass am Körper klebend.
Meist begann es damit, dass sie eine Stimme hörte, die ihren Namen rief, eine grausame Stimme, kalt und tot wie aus einem uralten Grab. Sie schallte durch einen finsteren Gang mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten, der sich ewig hinzuziehen schien. Verfolgt von dem formlosen Schattenwesen erwachte Sine immer erst im letzten Augenblick, wenn sie seinen klammen Atem bereits im Nacken spürte.
Es hatte Phasen gegeben, da blieben die Träume monatelang aus, und andere, wie damals, als ihre Beziehung in die Brüche ging, in der sie jede Nacht auftraten. Aus dieser Zeit stammten auch die schmelzenden Vorräte an Benzodiazepinen, die sie im Sommer endlich hatte absetzen können. Sie war glücklich gewesen, eine Zeit lang mit harmloseren Baldriandragees oder mit frei verkäuflichen Schlafmitteln zurechtzukommen, wenn die Albträume sich ankündigten. Jetzt halfen diese Mittel nicht mehr, der nächtliche Schrecken war zurückgekehrt und schlimmer als je zuvor.
Sine knipste das Licht aus und stellte sich das charismatische Gesicht des Fremden vor, versuchte es mit hinüberzunehmen in den Schlaf. Wenn es ihr gelänge, würde es vielleicht das andere, grauenhafte Etwas fernhalten.
7