

Das Buch
Nach dem mysteriösen Tod ihres Vaters versucht die 25-jährige Architektin Rebekka Maibach mehr über dessen Arbeit herauszufinden. Sie entdeckt in seinem Arbeitszimmer das von ihm gebaute Eichhörnchen Benny, einen altklugen und vorwitzigen Roboter, der ihr immer wieder Rätsel aufgibt. Von ihm erfährt sie, dass ihr Vater an einem sturmsicheren Luftschiff gearbeitet hatte. Die Spur führt sie am Silvesterabend zu einer Luftschifftaufe nach Friedrichshafen auf den Grund des Bodensees. Neben Bundeskanzler Breuer und der Bundespräsidentin Maria Lichtenberg hat sich auch eine Terroristin unter die einhundert Gäste gemischt, die um jeden Preis den Einsatz der neuen Luftschifftechnik verhindern will. Das riesige Doppelrumpfluftschiff Richard von Weizsäcker begibt sich auf eine Reise in die Vorgeschichte der Menschheit – und zu einer tödlichen Gefahr, die eine Rückkehr scheinbar unmöglich macht!
Der Autor
Bernhard Kürzl wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren und veröffentlichte sein erstes Buch 1997, das Pferde-Fantasy-Abenteuer Mac Mountain. Als Hochzeitsgeschenk für seine Frau erschien 2007 die Fantasy-Geschichte Prinzessin Sina. 2010 folgte das spirituelle Abenteuer Der Lichtgarten von Helgoland, das nach einer kompletten Überarbeitung 2016 in einer neuen Version herauskam. Mit der Kurzgeschichte Mein zweites Leben beteiligte Bernhard Kürzl sich 2018 an der Weihnachtsanthologie der Rosenheimer Autoren.
www.kuerzl.de
www.rebekkas-erbe.de
Rebekkas Erbe
1. Teil
Das Luftschiff
Science-Fiction

© 2019 Bernhard Kürzl
Umschlaggestaltung: Bernhard Kürzl
- Covermodel: © Fotoatelier G. Nebl
- 3D-Grafiken: Bernhard Kürzl
- Wüste: © Anton Petrus, Shutterstock 043858380
- Galaxie: © NASA, Hubble-Teleskop
- Weltall, Eichhörnchen: Pixabay
- Familienwappen: © Pro Heraldica
Korrektorat: Elisabeth Peter
Lektorat: Michael Reinelt
Verlag & Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN |
|
Paperback |
978-3-7497-1539-8 |
Hardcover |
978-3-7497-1540-4 |
E-Book |
978-3-7497-1541-1 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meinen Vater,
für meinen verlorenen Zwilling
und für den, der zurückblieb
Prolog
Langsam türmten sich die schweren Gewitterwolken in der schwülen Sommernacht über dem Bodensee immer weiter auf und schienen sich lautlos auf ihren Angriff vorzubereiten. Kaum jemand nahm um zwei Uhr in der Frühe davon Notiz. Nur Steffi blickte besorgt nach oben und hielt ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen. Ihr Freund Mark stach immer wieder die Ruder durch die Wasseroberfläche, wobei er darauf achtete, möglichst wenig Geräusche zu machen, zog durch und brachte so das kleine Ruderboot immer weiter auf den See hinaus. »Ist dir kalt?«
Steffi schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich habe einfach nur Angst!«
»Weil wir nachts schwimmen gehen?«
Steffi blickte in den tiefschwarzen Himmel. »Nein, wegen des Gewitters.«
Mark lächelte leicht überheblich. »Ach Schatz, ich bin doch bei dir.«
»Das hilft mir dann aber ungemein!«, antwortete Steffi gereizt.
Als Mark sicher war, einen idealen Punkt zum Baden gefunden zu haben, zog er die Ruder ins Boot und begann sich auszuziehen. »Na los, worauf wartest du noch? Du wolltest doch mit.«
»Ja, aber nicht bei diesem Wetter!«
»Du bist ein Angsthase. Bei der Hitze ist so eine Abkühlung doch genau das Richtige. Und in der Nacht schwimmen ist geil. Hast du Angst vor Piranhas?«
»Ach Quatsch! Ich habe Angst, dass das Gewitter schneller hier ist, als wir wegkommen.«
Mark lachte und sprang mit einem Kopfsprung in das kühle Nass, ohne erkennen zu können, was sich unter der Oberfläche verbarg. Steffi beobachtete, wie er in der Dunkelheit verschwand. Dann war es plötzlich ganz still. In der Ferne hörte sie ein Auto, bis auch dieses Geräusch wieder verstummt war. Wo war Mark? Steffi wurde es immer unheimlicher zumute. Jetzt begann auch noch der Wind aufzudrehen. »Mark?« Sie sah sich nach allen Seiten um, doch von ihrem Freund keine Spur. »Mark!« Ihre Stimme wurde lauter. Der Wind blies ihr die langen dunklen Haare ins Gesicht, die sie immer wieder mit ihren Händen zu bändigen versuchte. »Mark!« Ihr panischer Ruf war so laut, dass man ihn bis zum Ufer hören konnte.
»Jetzt werde doch nicht gleich hysterisch«, sagte Mark ruhig, während er sich gelassen an die Wand des Ruderbootes hängte.
»Du hast mich erschreckt! Findest du das lustig?« In dem schwachen Lichtschein sah Steffi, dass Mark überhaupt nicht grinste. Im Gegenteil, er sah besorgt aus. Als er nicht antwortete, fragte Steffi weiter: »Was ist los?«
»Ich weiß nicht, aber da unten ist eine starke Strömung! Ich bin hier ja schon öfter geschwommen und getaucht, aber so etwas habe ich hier noch nie gespürt. Ich wollte wirklich nicht so lange unter Wasser bleiben.«
Plötzlich fing das kleine Boot an zu schaukeln. Steffi ließ einen kurzen Schreckschrei los und Mark klammerte sich noch fester an das Boot. Durch den Kampf mit den stärker werdenden Wellen bemerkten sie nicht, wie ganz in der Nähe etwas Riesiges aus dem See wuchs. Mark zog sich ins Boot und versuchte es mit Steffi so ruhig wie möglich zu halten. Als er sich setzte und die Ruder schnappte, sah er hinter seiner Freundin eine gewaltige schwarze Wand. Mit offenem Mund starrte er reglos auf das Gebilde, das zu einem mittleren Hochhaus anwuchs. Steffi bemerkte sein erschrockenes Gesicht, drehte sie sich um und sah nichts. »Wo sind die Lichter von Friedrichshafen? Ist das ein Stromausfall?«
»Sieh genauer hin!«
Dann erkannte Steffi, die weiter in den Himmel wachsende Wand. »Das gibt’s doch nicht! Was ist das?«
»Ich … ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir hier schnellstens verschwinden sollten.«
»Ja, aber das Ding da steht mitten im Weg!«
Mark tauchte die Ruder ins Wasser und wandte seine ganze Kraft auf, um möglichst viel Abstand zwischen dem Boot und der schwarzen Wand zu bringen. Auch wenn die Distanz eigentlich immer größer wurde, hatte er den Eindruck, die Wand käme immer näher. Nach etwa einer Minute hatte die Wand ihre Endhöhe erreicht. Für einen Moment wurden die Wellen wieder flacher, doch schon peitschte der Wind des drohenden Unwetters sie wieder stärker auf. Mark hörte auf zu Rudern und betrachtete die undurchdringliche Schwärze hinter dem Boot.
»Was ist, warum ruderst du nicht weiter?«, fragte Steffi panisch.
»Ich will wissen, was das da ist. Es hat aufgehört zu wachsen. Das ist doch an die hundert Meter hoch und mindestens doppelt so breit!«
»Mark, lass es! Selbst wenn das Ding für uns nicht gefährlich sein sollte, das Gewitter ist es!«
Mark blickte nach oben. Die Kumulushaufen über ihnen waren in der Finsternis nur zu erahnen. Am Horizont sah er allerdings schon das lautlose Wetterleuchten, das wie Blitzlichter den Star der Nacht ankündigte. »Ich glaube, du hast recht!« Gerade, als er weiterrudern wollte, vernahmen beide ein leises, aber doch deutliches Summen eines Elektromotors. Mark erstarrte erneut in der Bewegung und glaubte in der Schwärze der Wand einen Schatten erkennen zu können. »Da passiert irgendetwas!«
Erschrocken drehte sich Steffi herum und sah, wie sich dort etwas ganz Großes bewegte. Sie kniff die Augen kurz zusammen und hoffte die Umrisse besser erkennen zu können, aber es war alles nur schwarz. Das Surren verstummte. Einige Sekunden hielten beide die Luft an und hatten das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu glotzen. Plötzlich hörten sie erneut das leise Geräusch eines Elektromotors, dann noch eins und noch eins. Ein schwaches hydraulisches Geräusch, gefolgt von einem kurzen metallischen Quietschen ließ bei den beiden Jugendlichen die Nerven bis zum Zerreißen anspannen. Dann wurden die Elektromotoren lauter. Etwas Gigantisches kam jetzt auf sie zu! In Todesangst krallten sie ihre Finger in das Holz des Bootes und erwarteten die unvermeidliche Kollision mit dem unsichtbaren Monster. Es war nicht die Wand selbst, sondern irgendetwas hatte sich von ihr gelöst und näherte sich langsam mit immer deutlicher werdenden Motorengeräuschen. Plötzlich schlug ein Blitz rund hundert Meter vor dem Ruderboot in den See. Die augenblickliche Helligkeit und der unmittelbar folgende Knall ließen Mark und Steffi zusammenzucken. Regungslos fixierte sie das schwarze Gebilde, das für einen kurzen Moment erhellt worden war und sich nun dicht vor ihnen aufbaute.
»Mark, was ist das?«, schrie Steffi und warf sich nach vorne flach auf das Boot. Mark blieb angespannt sitzen und blickte auf das nur wenige Meter über ihnen hinweggleitende Monstrum. Eigentlich konnte er es gar nicht sehen, aber er spürte die Nähe eines unfassbar großen Objektes. Weitere Blitze erleuchteten den Nachthimmel, sodass er die Umrisse erahnen konnte. Während das Objekt über ihnen hinwegzog, gewann es rasch an Höhe. Steffi wagte wieder ihren Kopf zu heben und beobachtete, wie sich das unbekannte Flugobjekt immer weiter von ihnen entfernte. »Ist das ein Flugzeug?«, flüsterte sie kaum hörbar. Mark antwortete noch immer nicht, sondern richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die ausladende schwarze Fläche, die durch die Gewitterblitze jetzt als gigantische Halle erkennbar wurde.
»Das gibt’s doch nicht, das ist ein riesiger Flugzeughangar!«, sagte Mark ehrfürchtig. Langsam schloss sich ein gigantisches Doppelflügeltor, das sich über die gesamte Hallenwand erstreckte. Kaum war das Tor mit einem tiefen und leisen Rums, wie das Geräusch der sich schließenden schweren Tür einer Luxuslimousine, eingerastet, da begann die Halle bereits wieder im See zu versinken. Innerhalb weniger Sekunden war der Hangar vollständig abgetaucht. Der Gewittersturm legte rasch an Stärke zu und peitschte das Wasser zu immer höheren Wellen auf. Das wild schaukelnde Ruderboot riss Mark und Steffi endlich aus ihrem tranceähnlichen Zustand. Ohne ein weiteres Wort schnappte Mark die Ruder und steuerte so schnell er konnte das nächstgelegene Ufer an.
Das fast menschenleere Zentraldeck lag, bis auf die spärliche Barbeleuchtung, komplett im Dunkeln. Oliver Barth, Geschäftsführer der ZLT, der Zeppelin Luftschifftechnik GmbH & Co. KG saß einsam auf einem Barhocker am mahagonifarbenen Tresen und beobachtete die Grafik auf dem Display seines Notebooks. »Wo bist du, Hugo?« Seit dem Verschwinden des milliardenschweren Schwesterschiffs Hugo Eckener mit seinen drei besten Mitarbeitern hatte er nur wenig geschlafen. Er blickte zu den Fenstern, nippte an seinem Cognac und stellte den Schwenker wieder auf der schwarzen Marmorplatte des Tresens ab. Schließlich rutschte er vom Barhocker und ging auf die, wie im Tower geneigte Fensterreihe zu. Viel zu sehen war in der Dunkelheit nicht, in dieser Gegend kaum ein Mensch.
»Wir haben das Ziel der neuen Peilung lokalisiert.«
Barth zuckte unmerklich zusammen, hatte er doch das Herannahen des Copiloten auf dem schallschluckenden Teppichboden nicht gehört. »Und?«, fragt er, ohne seinen Blick vom Fenster zu nehmen.
»Mainland auf dem Orkney-Archipel. In einer knappen Stunde sind wir dort.«
»Da gibt es nichts außer Gras und Steinen.«
»Ja, genau das. Die exakten Koordinaten liegen mitten im Ring of Brodgar.«
Verwundert drehte sich Barth um, blickte dem Copiloten direkt in die Augen und zog seine Brauen hoch. »Schon wieder ein Steinkreis?«
Der Copilot nickte wortlos, drehte sich um und stieg die Treppe in die Gondel hinab.
Barths Aufmerksamkeit galt wieder der Dunkelheit außerhalb des Zeppelins, jedenfalls für ein paar Sekunden, bis ihn seine innere Unruhe ziellos durch die endlosen menschenleeren Gänge des riesigen Luftschiffs pilgern ließ. Im Computerraum traf er auf seinen vollschlanken IT-Experten, Christian Weiß und einen Nachrichtentechniker. »Na wie sieht’s aus?«
»Alles im grünen Bereich«, antworte Weiß. »Alle Systeme arbeiten einwandfrei, das Powertrace-System zeichnet ordnungsgemäß auf. Ob wir allerdings die gleiche Route fliegen wie die XA, kann ich nicht sagen. Nach Boscombe Airport war sie ja vom Bildschirm verschwunden.«
»Na ja, vom Bildschirm verschwunden kann man wohl nicht sagen«, korrigierte Barth. »Sie war ja nie auf einem. Auch wenn es nicht der Sinn der Sache ist, aber das WDS macht uns für das Radar unsichtbar.«
»Wissen Sie, Herr Barth«, mischte sich der Nachrichtentechniker dazwischen, »ich bin immer noch so fasziniert von dieser Technik. Aufgrund der Messung zu bestimmten Sternen können wir jeden Ort im Universum kilometergenau bestimmen, also eigentlich ein Navi für Raumschiffe. Aber wozu braucht man das in einem Luftschiff?«
Barth, der den Nachrichtentechniker nicht besonders mochte, blickte auffordernd zu Weiß, der das Antworten übernahm: »Dieses Luftschiff verfügt über drei neue, noch nie zuvor eingesetzte Techniken: Neben dem Ihnen bekannten WDS zu Windstabilisierung nutzen wir eine Kombination aus dem Sternennavigationssystem Poseidonios und einem Powertrace-System, das alle Flugbewegungen kontinuierlich aufzeichnet. Es ist richtig, dass man das PNS, das Poseidonios-Navigationssystem nicht in einem Luftschiff benötigt. Uns reicht die Satellitennavigation. Notfalls könnten wir sogar mit einem Kompass auf Sicht fliegen! Wir testen das Gerät hier nur. Es ist tatsächlich für die Raumfahrt konzipiert – und die ZLT hat die weltweiten Patente dafür!«
Barth grinste für ein paar Sekunden, bis ihm beim Anblick des ungebetenen Gastes die Laune wieder verging. »Und was macht der Herr Spion?« Er sah dem kleinen schlanken Nachrichtentechniker fordernd in die Augen.
»Äh … also, die schlechte Nachricht, kein Signal von XA! Die gute Nachricht, die Kilobitverschlüsselung zu NSA, BND und MAD funktioniert.«
Barth holte tief Luft. »Umgekehrt wäre es mir lieber gewesen! Dass dieser fliegende Traum auch zu Spionagezwecken missbraucht werden soll, stinkt mir gewaltig! Aber leider kommt von dort das meiste Geld. Ohne militärischen Nutzen kein Luftschiff in dieser Größenordnung. Idealistische Milliardäre findet man eher bei Elektroautos.«
Barth versank für einen Moment in nicht gerade aufbauenden Gedanken, bis ein lautes Piepsen ihn wieder in die Realität riss. »Was ist das?«.
Weiß versuchte ruhig zu wirken. »Es ist tatsächlich die Ergänzung der bisherigen zwei Datenströme. Es … es ist eine fortlaufende Koordinatenliste nach unserem PNS!«
»Könnte es die XA sein?«, fragte Oliver mit einer Spur aufkeimender Hoffnung.
Weiß schüttelte den Kopf, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Dafür liegen die Koordinaten viel zu weit entfernt. Wahrscheinlich handelt es sich um ein anderes Bezugssystem, sonst kämen die Koordinaten aus einer anderen Galaxie.«
»Andere Galaxie? Ist klar!«
»Aber mit diesem Koordinatenstrom kommt noch etwas: ein weiterer Datenstrom von Koordinaten, an sich vollständig, aber mit größeren Lücken. Der Ursprung liegt nur wenige hundert Meter von dem anderen Signal entfernt.
»Und das heißt?«, fragte Barth ungeduldig.
Weiß warf einen Blick auf einen anderen Bildschirm. »Mein Gott! Es ist …«
»Was?«
»Es hat die Kennung des Trace-Protokolls der XA! Aber Sie werden nicht glauben, wo sie jetzt ist!«
1. Wieder zu Hause
Das schwarze Mercedes S-Klasse-Coupé steuerte zügig durch den leichten, aber kühlen Regen, doch je näher der Wagen seinem Ziel kam, desto langsamer wurde er. Kurz vor dem Ortsschild bog der sportlich-elegante Zweisitzer auf einen Feldweg ein und hielt an. Rebekka starrte durch die Windschutzscheibe auf den tristen Acker vor sich, ohne ihn wirklich zu sehen. Kaum hörbar brummte der Motor, während die Scheibenwischer mehr und mehr zu quietschen anfingen und sich scheinbar um die letzten Regentropfen stritten, bis sie sich automatisch abschalteten. Während der letzten Kilometer ihrer Reise war ihr an diesem späten Vormittag kaum ein Auto begegnet. Es waren nur noch ein paar hundert Meter bis zum anderen Ende des Ortes, bis zum Ziel der Reise. Rebekka schüttelte ihren Kopf, als wollte sie ihre Gedanken loswerden, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück auf die autofreie Landstraße. Sie atmete tief durch und betrachtete das Ortsschild, das sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte: Winsen (Aller), Landkreis Celle. Fast eine Minute lang wirkte sie wie hypnotisiert, bis sie schließlich einen Blick in den Rückspiegel warf, den Automatikhebel auf D schob und zügig in den kleinen Ort fuhr. Zunächst beachtete sie die verklinkerten und verputzten Wohnhäuser und Geschäfte kaum, doch immer wenn die Gedanken ihr eine Sekunde Ruhe gönnten, erhaschte sie einen Blick der kleinen Stadt, in der sie so viele Jahre ihres Lebens gewohnt hatte. Vor sechs Jahren hatte sie alles zurückgelassen, um zu studieren und beruflich Karriere zu machen. Nur zu besonderen Anlässen, wie Geburtstage und Weihnachten war sie noch hier gewesen, bis vor zwei Jahren.
Kurz bevor der Mercedes das andere Ende des Ortes erreicht hatte, bog er rechts ab und fuhr eine Minute später vor die Doppelgarage eines großen Anwesens. Rebekka ließ den Motor noch einen Moment weiterlaufen, als wollte sie fluchtbereit vor einer möglichen Bedrohung bleiben. Mit zusammengepressten Lippen drückte sie schließlich den Stopp-Knopf. Für einen Moment genoss sie die Stille, in der sie sogar ihren beschleunigten Herzschlag deutlich hören konnte. Was würde sie hier erwarten? Sie hatte vor der drohenden Auseinandersetzung mehr Angst, als vor den fast täglichen kleineren und größeren Kämpfen in ihrem Beruf. Mit einem kurzen Blick in den Spiegel fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihre mittelblonden Haare. Während sie die Wagentür schloss und sich dem Eingang des breiten Holzbungalows näherte, kamen noch immer Zweifel hoch, ob sie wirklich hier sein sollte. Es schien sich nichts verändert zu haben. Noch immer zierte eine Miniaturlandschaft aus Steinen, Bonsais und kleinen Holzhäuschen den Vorgarten. Die Fünfundzwanzigjährige lächelte bei dem vertrauten Bild des Werkes ihres vom Modellbau begeisterten Vaters. Eigentlich war es schon fast eine Besessenheit gewesen, ständig in den selbst gestalteten Modellwelten zu leben und in jeder freien Minute daran zu arbeiten. Als Kind hatte sie sich noch vom Hobby des Maschinenbauingenieurs begeistern können, aber je älter sie wurde, desto mehr hatte sie den Eindruck, dass dies eine Flucht aus der Realität war, die er nicht bewältigen konnte oder wollte. Im Modellbau führte er selbst die Regie und konnte das gestalten, was er im realen Leben nicht geschafft hatte.
Der große Bungalow mit Walmdach war in U-Form gebaut worden. Das Klinkervormauerwerk führte den Beobachter in die Irre, denn dahinter verbarg sich ein massives Blockbohlenhaus. Rebekka betrachtete das bronzefarbene Schild der Klingel: Sandra und Klaus Maibach. Früher stand hier einmal Familie Maibach! Als sie den Knopf drückte, schien der leise erklingende Doppelgong in ihrem Kopf durch den ganzen Ort zu schallen, um alle Leute darauf aufmerksam zu machen, dass die sündige Tochter nach Hause zurückgekommen war. Dann war es still. High noon, dachte Rebekka, schaute auf ihre sportlich-elegante Breitling Windrider und strich sich ihr schwarzes Kostüm mit kniefreiem Rock glatt. Es war tatsächlich gerade zwölf Uhr mittags. Die meisten Menschen schienen wohl momentan zu essen oder Weihnachtsgeschenke umzutauschen, jedenfalls bemerkte sie etwas überrascht, wie ruhig dieser Ort ihrer Kindheit und Jugend war. Sie hatte ihre Fluchtgedanken vergessen und erschrak umso mehr, als plötzlich die schwere Wohnungstür geöffnet wurde. Mehrere Sekunden lang blickte sie in die Augen der fünfzigjährigen Frau mit den schulterlangen, braunen Haaren.
»Hallo, Mama!«
»Was willst du?«, fragte Sandra Maibach barsch. »Du kommst zu spät, dein Vater liegt seit drei Monaten unter der Erde!«
Rebekka hatte nichts anderes als Vorwürfe erwartet und war dementsprechend auch nicht über die scharfe Reaktion anstelle einer liebevollen Wiedersehensfreude verwundert. »Es tut mir leid, dass ich nicht zur Trauerfeier kommen konnte, das hatte ich dir am Telefon erklärt.«
»Deine Karriere geht natürlich vor, ich verstehe! Nicht einmal zu Weihnachten bist du gekommen. Aber das war ja schon immer so bei dir. Deswegen hatte es ja auch Ralf nicht mehr bei dir ausgehalten!«
Sofort stieg in Rebekka die Wut hoch. »Lass Ralf aus dem Spiel! Ich bin nicht hier, um mit dir über meinen Job oder meine Beziehungen zu sprechen!«
Rebekkas Mutter erschrak über die aggressive Reaktion ihrer Tochter. »Und was willst du dann hier? Dein Erbe holen?«, fragte sie wesentlich leiser, aber genauso scharf wie zuvor.
»Mama! Ich glaube, du kennst mich überhaupt nicht!«
»Ich weiß, dass dir dein Pharmakonzern wichtiger war als deine Familie und deine Beziehung!«
»Mama, das ist so nicht ganz richtig«, sagte Rebekka ganz sanft und leise. »Ich hätte alles für Papa getan. Wäre ich gekommen, hätte ich sehr viel verloren, und Papa nichts gewonnen. Ich glaube, er hätte mich verstanden.«
Sandra sagte nichts, ging nur einen Schritt zur Seite und deutete ihrer Tochter, einzutreten. Wie vor Jahren zog sie ganz automatisch unaufgefordert die Schuhe aus und wartete, bis ihre Mutter vorausging und sie in das große Wohnzimmer führte. In ihrem Penthouse in München war es ganz normal, alle Räume auch mit Straßenschuhen zu betreten. Sie machte sich keine Gedanken mehr darüber, ob sie vielleicht Hundeurin, Rattengift oder Benzinreste mit ihren Schuhen auf den Teppichen verteilte, aber hier in ihrem Elternhaus war der Boden etwas Heiliges, das nicht unnötig beschmutzt werden durfte. Sie hatte das immer verstanden und respektiert, aber ihr selbst war es nicht wichtig gewesen.
Rebekka nahm auf dem cremefarbenen Ledersofa Platz und warf einen Blick durch die riesige Fensterfront über die Terrasse in den Garten. Die raumhohen Fenster erstreckten sich über die gesamte Südseite des Wohnzimmers, sodass sie auch die beiden Seitenflügel, die die Terrasse einrahmten, sehen konnte. Der linke Flügel beherbergte die Bibliothek, der rechte den großen Wintergarten. Sandra setzte sich in einen der Sessel ihrer Tochter gegenüber. »Nun? Wenn du nicht wegen deines Erbes kommst, worüber willst du dann mit mir sprechen?«
»Mama, ich habe genügend Geld! Ich brauche weder Papas Spielzeuge noch will ich dir das Haus streitig machen. Ich bin gekommen, weil ich nicht zur Beerdigung kommen konnte. Du weißt, dass ich die vergangenen zwei Jahre im Ausland war.«
»In China!« Sandras Bemerkung klang betont abfällig.
»Ja, in China. Und es ist nicht möglich, bei einem Projekt dieser Größe einfach mal schnell vorbeizukommen. Jetzt ist das neue Werk in einer Phase, in der ich mich auch vertreten lassen kann, aber vor drei Monaten war das unmöglich.«
»Also gehörst Du jetzt doch zu diesen Giftmischern?«
Für einen Moment drohte Rebekka rot anzulaufen. »Mama, ich bin keine Angestellte der Geyer-Pharma, sondern eine freie Architektin. Dies ist der größte Auftrag, den ich jemals bekommen habe. Wenn ich den nicht zur vollsten Zufriedenheit zu Ende bringe, bin ich erledigt! Bisher läuft alles gut, und das soll auch so bleiben. In einem Jahr brauche ich mir über Aufträge keine Gedanken mehr machen. Und übrigens, die Geyer-Pharma-München ist ein absolutes Vorbildunternehmen und keine Küche für Giftmischer!« Als Sandra nicht reagierte, fuhr Rebekka wesentlich ruhiger fort: »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Sandras Regung war unter der kühlen Fassade kaum zu bemerken. »Warst du schon auf dem Friedhof?«
Rebekka blickte kurz verlegen auf den Couchtisch vor sich und schüttelte den Kopf. Dann sah sie wieder in die Augen ihrer Mutter. »Wenn ich mit Papa sprechen möchte, muss ich nicht auf den Friedhof! Ich suche auch Gott nicht in einer Kirche, sondern in der Natur oder in mir selbst. Aber bevor ich nach Hause zurückfahre, werde ich sein Grab besuchen.«
Eine Weile schwiegen sich Mutter und Tochter nur an, bis Rebekka ihre Frage wiederholte: »Kann ich dir helfen? Kann ich irgendetwas für dich erledigen?«
Plötzlich entspannte sich Sandras Miene. Ein feines Lächeln zuckte kurz über ihre Mundwinkel. »Ja, ich glaube, du kannst mir wirklich helfen. Möchtest du einen Tee?«
Als Rebekka erwachte, strahlte die Sonne bereits durch das Fenster. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, ohne dabei ihren Kopf zu heben. So lange hatte sie nicht mehr in diesem Bett geschlafen, aber auch lange nicht mehr so entspannt. Mit einem Lächeln lauschte sie der absoluten Stille und merkte, wie sie diese Ruhe in ihrem hektischen Alltag vermisst hatte. Geschwind sprang sie aus dem Bett, duschte und zog sich an. An der offenen Küchentür beobachtet sie einen Moment ihre Mutter, wie sie den schwarzen Tee zubereitete.
»Das Teewasser kocht gleich. Ich hole noch schnell ein paar Brötchen, dann können wir frühstücken.«
Rebekka war sich sicher, kein Geräusch gemacht zu haben, und doch hatte ihre Mutter sie bemerkt. »Guten Morgen, Mama!«
Sandra drehte sich herum und lächelte. »Guten Morgen, mein Schatz. Wie hast du geschlafen?« Sie ging an ihrer Tochter vorbei zur Haustür und zog ihre Schuhe an.
»Sehr gut! Ich glaube, seitdem ich von hier weggezogen bin, habe ich nicht mehr so entspannt geschlafen.«
»Du kannst jederzeit wieder hier einziehen!«
Rebekka antwortete nichts, sondern lächelte ihre Mutter nur an. Sandra warf sich noch eine Jacke über und ließ ihre Tochter mit einem »Bis gleich!« zurück. Rebekka ging in die Küche, holte die Teekanne und brachte sie ins Esszimmer. Der Tisch war bereits gedeckt. Ziellos ging sie durch den Raum und betrachtete die vertraute Umgebung wie eine Museumsbesucherin. Auch hier hatte sich in den vergangenen Jahren kaum etwas verändert. Sie genoss den Moment, keinen Zeitdruck zu haben. Als wollte ihr jemand diesen Augenblick der Ruhe streitig machen, klingelte ihr Handy. Sie eilte zur Garderobe und zog es in gewohnter Hektik aus ihrer Handtasche.
»Ja?«
»Hallo, Frau Maibach, hier ist Geyer. Sie müssen das Meeting für Freitag verschieben! Es gibt da Probleme mit der Zulassung von Koratomin. Die Produktion läuft hier bereits und in einigen Monaten soll im neuen Werk die Massenproduktion anlaufen. Irgend so ein Klugscheißer hat plötzlich kalte Füße bekommen.«
»Oh!«, war Rebekkas einzige Reaktion. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass ihr Chef sie gerade mit äußerst schlechten Neuigkeiten bombardiert hatte.
»Ich erwarte Sie heute Nachmittag in meinem Büro!«
»Äh … Herr Geyer, ich bin momentan siebenhundert Kilometer entfernt und habe mit der Produktion überhaupt nichts zu tun!«
»Ich komme Ihnen entgegen: Um achtzehn Uhr in meinem Büro. Und planen Sie den Feierabendverkehr auf den Münchner Ringen ein!« Damit legte Geyer auf. Rebekka stand mit offenem Mund im Flur und hatte noch immer das Mobiltelefon am Ohr. Ganz langsam ließ sie es sinken, legte auf und steckte es in die Handtasche zurück. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war gleich halb neun. Sollte sie sofort aufbrechen und ihrer Mutter eine Nachricht hinterlassen? Wenn dieses Projekt fehlschlug und das Medikament zu spät oder überhaupt nicht zugelassen wurde, wäre das neue Werk in China ein Millionengrab. Sie würde ihren Auftrag verlieren – und könnte in Zukunft Einfamilienhäuser planen. Geyer hatte gute Kontakte und war nachtragend. Als sie wieder im Esszimmer angekommen war und den liebevoll gedeckten Tisch sah, entschloss sie sich, erst nach dem Frühstück nach München zu fahren. Da ihre Mutter noch nicht zurück war, ging sie in den Wintergarten und setzte sich in den Schaukelstuhl. Das war immer der Lieblingsplatz ihres Vaters gewesen. Sie blickte durch die hohen Sprossenfenster auf den kleinen Teich im Garten. Rechts dahinter lag die große Scheune, die Werkstatt ihres Vaters. Rebekka schloss die Augen und versank in Erinnerungen ihrer Kindheit.
Wenn Du mich finden willst, folge der Skizze und löse das Rätsel! Rebekka betrachtete sich die Skizze auf dem Zettel, den ihr Vater auf ihren kleinen Tisch gelegt hatte. Sie grinste und schnallte sich den Schulranzen ab. »Rebekka! Du hast die Schuhe noch an!«, hörte sie ihre Mutter verärgert rufen.
Rebekka stapfte durch den Garten und blickte zu zwei Bäumen, die ihrer Meinung nach zu der Skizze auf der Schatzkarte ihres Vaters passten. »Von der großen, dreihundert Jahre alten Buche und von der kleinen, fünfzig Jahre alten, jeweils dreißig Schritte gehen!« Rebekka überlegte. Obwohl sie erst acht Jahre alt war, konnte sie so manche Rätsel lösen, auf die nicht unbedingt jeder gleich kam. Sie sah in beide möglichen Richtungen. Es gab zwei Schnittpunkte. Mit der Seite, die ihr am wahrscheinlichsten erschien, begann sie und schritt die Strecken so lange ab, bis sie zu einem Schnittpunkt kam. Dort war allerdings nur Wiese. Rebekka sah sich um. Sollte sie einen Spaten holen? Nein, sie wollte ja keinen uralten Schatz heben, sondern nur einen Hinweis ihres Vaters finden. Sie versuchte auf der anderen Seite der Bäume den anderen Schnittpunkt herzustellen, aber auch hier landete sie auf dem festen Boden der Wiese. Wieder betrachtete sie die Skizze auf der Karte. Eigentlich war alles ganz eindeutig. In diesem Bereich waren es die einzigen beiden allein stehenden Bäume, die infrage kamen: Eine große Buche und eine kleine. Nach einigen Sekunden des Grübelns dämmert es ihr. Die große Buche war garantiert noch keine dreihundert Jahre alt, vielleicht fünfzig! Und die kleine Buche war höchstens zehn Jahre alt. »Die große Buche ist die kleine! Aber wo ist die alte?« Rebekka ging über die Wiese und suchte Hinweise auf den vermissten Baum. Und sie fand sie: Im hohen Gras stieß sie auf einen großen alten Baumstumpf. »Die alte Buche!«, jubelte Rebekka. Sofort machte sie sich auf die erneute Suche nach dem richtigen Schnittpunkt und fand schließlich einige große Steine, zwischen denen ein Zettel mit dem nächsten Hinweis steckte.
»Ich bin wieder da! Wo bist du?«
Rebekka schlug die Augen wieder auf. »Im Wintergarten!« Sie erhob sich vom Schaukelstuhl und ging ins Esszimmer zurück. Sandra stellte gerade ein Körbchen verführerisch duftender Brötchen und Croissants auf den Tisch. »Setz dich, es ist alles da!«
Rebekka sog die Luft tief ein. »Da knurrt mein Magen gleich doppelt so laut.«
»Bei so seltenem Besuch aus der großen Stadt muss ich mir doch Mühe geben, damit er sich wohlfühlt. Oder sollte ich eher sagen: Ich freue mich, dass meine verlorene Tochter wieder nach Hause zurückgekehrt ist?«
Rebekka setzte sich. »Was du musst oder solltest ist deine Entscheidung, aber ich bin sehr glücklich, dass dir mein Besuch Freude macht, besonders nach dem missglückten Start gestern! Und übrigens, verloren war ich nicht!«
Sandra reichte Rebekka das Brotkörbchen, die dankend ein Croissant nahm. »Für mich schon. Und für Klaus auch!« Sandras Vorwürfen folgte eine unangenehme Stille, die Rebekka wie eine nicht enden wollende Zahnbehandlung vorkam. Als hätte jemand eine Kreissäge eingeschaltet, ratschte plötzlich Sandras Messer durch das Brötchen und teilte es in zwei Hälften.
»Ich bin hier weg, weil ich studieren wollte«, verteidigte sich Rebekka. »Und danach habe ich eben diesen ganz tollen Auftrag bekommen. Ich wollte schließlich meinen eigenen Weg gehen, und das will ich auch noch immer! Nachdem unsere Telefonate regelmäßig im Streit geendet hatten, wollte ich nicht mehr und habe mich zurückgezogen.«
»Architekt hättest Du auch in Hannover oder Hamburg studieren können!«
»Ich wollte diesen Abstand ganz bewusst. Das hatte nichts mit Euch zu tun, aber es war für mich persönlich wichtig.«
»Aber dein Vater hatte dich vermisst!«, klagte Sandra weiter.
»Vielleicht ein bisschen, aber wir waren ja regelmäßig in Kontakt.«
»Was?« Sandra sah ihre Tochter verblüfft an und hätte sich um ein Haar an den Brötchenkrümeln verschluckt.
»Wir hatten uns regelmäßig per E-Mail oder Skype unterhalten.«
Ihre Mutter legte das Brötchen zurück und sah es an, als hätte sie gerade in eine Ratte gebissen. Dann drehte sie ihren Kopf hin und her und blickte ziellos durch das Esszimmer. »Das gibt’s doch nicht!« Sie stand auf, um einmal um den Stuhl herumzugehen und sich gleich wieder zu setzen. »Wieso hatte er mir das nicht gesagt? Wieso hatte er Geheimnisse vor mir?«
»Mama!« Rebekka legte liebevoll ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Du kanntest doch Papas Vorlieben für Geheimnisse. Es hatte ihm immer viel Spaß gemacht uns plötzlich mit irgendwelchen Überraschungen zu konfrontieren. Es war ein Spiel, aber nie wirklich etwas so Geheimes, das wir nicht erfahren durften. Mit dem E-Mail-Kontakt war es wohl eher seine Angst, dass du wütend darüber hättest sein können.«
Beide schwiegen einen Moment, bis sich Sandras Gesichtszüge wieder entspannten. Sie drückte die Hand ihrer Tochter und griff wieder nach dem Brötchen auf ihrem Teller. »Du hast Recht, vielleicht war es gut, dass ich es nicht gemerkt hatte. Aber ich glaube, es hätte meinen Ärger über dein Fortgehen etwas besänftigt. Egal, worüber habt ihr Euch geschrieben?«
»Meist über Probleme mit meinem Bauprojekt und mit Ralf. Manchmal erzählte er auch, wie es euch so ging und dass er an einer neuen Überraschung für mich bastelte.«
»Überraschung?« Sandra sah Rebekka verwundert an. »Ach ja, ich kann es mir schon denken. Na du wirst es schon herausfinden!« Sie lächelte belustigt und schüttelte den Kopf. »Er war eben immer ein Kind geblieben. Vielleicht liebte ich das sogar an ihm besonders, auch wenn es mich manchmal genervt hat.«
»Erinnerst du dich, wie er sich oft versteckt hatte und ich ihn mit Schatzkarten und geheimnisvollen Hinweisen finden musste?«
Sandra lachte. »Oh ja, das hat euch beiden immer einen Riesenspaß gemacht, auch wenn das Mittagessen dann meistens kalt wurde.« Ihre Miene wurde traurig. »Aber diesmal wirst du ihn sicher nicht finden!«
»Hast du seinen Leichnam gesehen?«
Sandra sah ihre Tochter erschrocken an. »Wie meinst du das?«
»Na, nach dem schweren Autounfall wäre es sicher kein angenehmer Anblick gewesen.«
»Ein Tankwagen hat ihn überrollt und ist explodiert! Da war weder von ihm, noch von dem Twike etwas zu sehen. Ich hatte ihm so oft gesagt, dass ich Angst habe, wenn er mit diesem Plastikauto unterwegs war. Aber für ihn war das die Freiheit.« Sandras Hände zitterten. »Außer dem ausgebrannten LKW fand man nur ein zusammengeschmolzenes Stück Aluminium, das einmal sein Auto gewesen war, und ein Metallklümpchen, das angeblich seine Armbanduhr gewesen sein soll.«
»Und das Grab?«
»Ist leer. Es ist halt nur eine Gedenkstätte.«
Rebekka war verwundert. Irgendwie erschien ihr das alles etwas seltsam. »Ein Tankwagen überrollt ein Elektroleichtmobil. Kann passieren, aber warum ist er explodiert? Und was ist mit dem Fahrer? Und von Papas Körper soll überhaupt nichts mehr vorhanden gewesen sein? Nicht mal eine Keramikkrone?«