Die Schwedische Akademie

Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur

Das erste Foto, das ich bewusst wahrgenommen habe, ist ein Foto meiner Mutter noch aus der Zeit vor meiner Geburt. Leider ist es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, dadurch lassen sich viele Details schwer erkennen, lediglich als graue Schemen. Das Licht ist weich wie bei Regen, ein Frühjahrslicht ist es wohl, das durchs Fenster sickert und den Raum nur schwach erhellt. Meine Mutter sitzt bei dem alten Radio – es ist einer dieser Apparate mit grünem Auge und zwei Knöpfen, einem für die Regulierung der Lautstärke, einem für die Sendersuche.

Dieses Radio wurde später zum Gefährten meiner Kindheit, aus ihm erfuhr ich von der Existenz des Kosmos. Drehte man an dem einen Ebonitknopf, bewegten sich die empfindlichen Antennenfühler und empfingen die

 

Wenn ich dieses Foto als kleines Mädchen betrachtete, war ich mir ganz sicher: Mama drehte an den Knöpfen des Radios, weil sie nach mir suchte. Wie ein feiner Radar tastete sie sich durch die Weiten des Kosmos, um herauszufinden, wann ich zu ihr kommen würde und von wo. Ihre Frisur und ihre Kleidung (ein breiter U-Boot-Ausschnitt) deuten darauf hin, in welcher Zeit die Fotografie gemacht wurde – zu Beginn der sechziger Jahre. Die leicht gebeugt dasitzende Frau hat ihren Blick auf einen Punkt

 

Als ich sie später nach dieser Traurigkeit fragte – viele Male fragte ich sie und bekam immer die gleiche Antwort –, sagte meine Mutter, sie sei traurig gewesen, weil ich noch nicht geboren war und sie mich schon vermisste.

 

»Wie konntest du mich vermissen, wenn ich noch gar nicht da war?«, fragte ich dann.

 

Ich wusste bereits, dass man jemanden vermissen kann, den man verloren hat, dass Sehnsucht also mit Verlust zusammenhängt.

 

»Es kann auch umgekehrt sein«, entgegnete sie mir. »Wenn man jemanden vermisst, bedeutet das, dieser Jemand ist schon da.«

 

 

Und so gab mir diese junge Frau, die nie religiös gewesen war – meine Mutter –, etwas, das man früher »Seele« nannte – und stellte mir damit den liebevollsten Erzähler der Welt zur Seite.

Die Welt ist ein Stoff, an dem wir tagtäglich weben – auf großen Webstühlen verarbeiten wir Fäden aus Nachrichten, Debatten, Filmen, Büchern, Klatsch und Tratsch, Anekdoten. Heutzutage ist die Reichweite dieser Gewebe enorm – dank dem Internet kann nahezu jeder seine Fäden mit einweben, verantwortungsvoll oder verantwortungslos, von Liebe oder Hass erfüllt, zum Guten und zum Schlechten, auf Leben oder Tod. Nimmt das Erzählte einen anderen Lauf, so ändert sich der Lauf der Welt. In diesem Sinne ist die Welt aus Wörtern geschaffen.

 

Wie wir über die Welt denken und – vermutlich noch wichtiger – wie wir von ihr erzählen, hat daher eine ungeheure Bedeutung. Was geschieht, aber nicht erzählt wird, hört auf zu sein und vergeht. Das wissen nicht nur die Historiker sehr genau, sondern auch (oder vielleicht vor allem) Politiker und Tyrannen jeglicher Couleur. Wer an der Geschichte webt, der hat die Macht.

 

 

Wir leben in einer Zeit der vielstimmigen Ich-Erzählungen, von überallher umschwirrt uns Stimmengewirr. Mit »Ich-Erzählungen« meine ich die Art von Geschichten, die eng um das »Ich« des Schreibenden kreisen, der mehr oder weniger verhohlen nur über sich und durch sich schreibt. Diese individualisierte Sichtweise, die

 

Ich denke, die Ich-Erzählung ist überaus bezeichnend für unseren gegenwärtigen Blick auf die Welt, bei dem der einzelne Mensch die Stellung eines subjektiven Mittelpunkts einnimmt. Die westliche Zivilisation fußt größtenteils auf der Entdeckung des Selbst. Es ist einer der entscheidenden Maßstäbe für die Realität. Der einzelne Mensch ist der Hauptakteur; sein Urteil – obzwar eines unter vielen – besitzt Gültigkeit. Die Ich-Erzählung scheint eine der größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zu sein; man liest sie ehrfurchtsvoll und befindet sie für glaubwürdig. Die Welt mit den Augen

 

Es kann nicht oft genug betont werden, was die Ich-Erzählweise für die Literatur, für die menschliche Zivilisation im Allgemeinen bewirkt hat: Sie machte die Erzählung über die Welt als einen Ort, an dem Helden oder Gottheiten ohne unseren Einfluss handelten, zu unserer individuellen Erzählung und überließ so die Bühne Menschen wie uns. Zudem können wir uns mit Menschen, die so sind wie wir, leicht identifizieren – und diesem Umstand ist es zu verdanken, dass zwischen dem Erzähler und seinem Leser oder Zuhörer eine emotionale, auf Empathie beruhende Übereinstimmung entsteht. Empathie wiederum schafft Nähe, lässt Grenzen verschwinden. Nichts leichter, als in einem Roman die Grenzen zwischen Erzähler-Ich und Leser-Ich zu verwischen – ein »fesselnder«

 

Auf Buchmessen sehe ich jedes Mal, wie viele neu erschienene Bücher das Ich des Autors oder der Autorin ins Zentrum rücken. Der Instinkt sich auszudrücken, der Instinkt der Expression – ein womöglich ebenso starker Instinkt wie unsere anderen lebenserhaltenden Instinkte – tritt am umfassendsten in der Kunst zutage. Wir wollen bemerkt werden, wollen uns