Der Nobelpreis für Literatur 2018 wird verliehen an Olga Tokarczuk für eine erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform darstellt.
Die Schwedische Akademie
Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur
Das erste Foto, das ich bewusst wahrgenommen habe, ist ein Foto meiner Mutter noch aus der Zeit vor meiner Geburt. Leider ist es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, dadurch lassen sich viele Details schwer erkennen, lediglich als graue Schemen. Das Licht ist weich wie bei Regen, ein Frühjahrslicht ist es wohl, das durchs Fenster sickert und den Raum nur schwach erhellt. Meine Mutter sitzt bei dem alten Radio – es ist einer dieser Apparate mit grünem Auge und zwei Knöpfen, einem für die Regulierung der Lautstärke, einem für die Sendersuche.
Dieses Radio wurde später zum Gefährten meiner Kindheit, aus ihm erfuhr ich von der Existenz des Kosmos. Drehte man an dem einen Ebonitknopf, bewegten sich die empfindlichen Antennenfühler und empfingen die unterschiedlichsten Sender: Warschau, London, Luxemburg oder Paris. Manchmal verstummte der Ton auch, als wären die Fühler zwischen Prag und New York, zwischen Moskau und Madrid auf schwarze Löcher gestoßen. Dann überlief mich jedes Mal ein Schauer. Ich glaubte fest daran, dass durch das Radio andere Sonnensysteme und Galaxien zu mir sprachen und mir zwischen Knacken und Rauschen Botschaften sandten, die ich einfach nicht entschlüsseln konnte.
Wenn ich dieses Foto als kleines Mädchen betrachtete, war ich mir ganz sicher: Mama drehte an den Knöpfen des Radios, weil sie nach mir suchte. Wie ein feiner Radar tastete sie sich durch die Weiten des Kosmos, um herauszufinden, wann ich zu ihr kommen würde und von wo. Ihre Frisur und ihre Kleidung (ein breiter U-Boot-Ausschnitt) deuten darauf hin, in welcher Zeit die Fotografie gemacht wurde – zu Beginn der sechziger Jahre. Die leicht gebeugt dasitzende Frau hat ihren Blick auf einen Punkt jenseits des Bildrands gerichtet. Sie sieht etwas, das dem Betrachter verborgen bleibt. Als Kind meinte ich, sie betrachte die Zeit. Auf dem Foto ereignet sich nichts; es bildet einen Zustand ab, keinen Prozess. Die Frau wirkt traurig, in Gedanken versunken, abwesend.
Als ich sie später nach dieser Traurigkeit fragte – viele Male fragte ich sie und bekam immer die gleiche Antwort –, sagte meine Mutter, sie sei traurig gewesen, weil ich noch nicht geboren war und sie mich schon vermisste.
»Wie konntest du mich vermissen, wenn ich noch gar nicht da war?«, fragte ich dann.
Ich wusste bereits, dass man jemanden vermissen kann, den man verloren hat, dass Sehnsucht also mit Verlust zusammenhängt.
»Es kann auch umgekehrt sein«, entgegnete sie mir. »Wenn man jemanden vermisst, bedeutet das, dieser Jemand ist schon da.«
Diese wenigen Sätze, dieses kurze Gespräch zwischen meiner Mutter und mir, ihrer kleinen Tochter, Ende der sechziger Jahre in der westpolnischen Provinz ist mir im Gedächtnis geblieben und hat mir Kraft für mein ganzes Leben geschenkt. Es erhob mein Dasein über die gewöhnliche Dinglichkeit der Welt, über den Zufall, über Ursache und Wirkung und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, ja siedelte es außerhalb der Zeit an, in süßer Nähe zur Ewigkeit. Ich begriff mit meinem kindlichen Verstand, dass »Ich« mehr war, als ich es mir bis dahin hatte vorstellen können. Selbst wenn ich sagen würde: »Ich bin nicht da«, stünden zu Beginn doch die beiden Wörter »Ich bin« – die wichtigste und zugleich eigentümlichste Wortzusammenstellung der Welt.
Und so gab mir diese junge Frau, die nie religiös gewesen war – meine Mutter –, etwas, das man früher »Seele« nannte – und stellte mir damit den liebevollsten Erzähler der Welt zur Seite.
Die Welt ist ein Stoff, an dem wir tagtäglich weben – auf großen Webstühlen verarbeiten wir Fäden aus Nachrichten, Debatten, Filmen, Büchern, Klatsch und Tratsch, Anekdoten. Heutzutage ist die Reichweite dieser Gewebe enorm – dank dem Internet kann nahezu jeder seine Fäden mit einweben, verantwortungsvoll oder verantwortungslos, von Liebe oder Hass erfüllt, zum Guten und zum Schlechten, auf Leben oder Tod. Nimmt das Erzählte einen anderen Lauf, so ändert sich der Lauf der Welt. In diesem Sinne ist die Welt aus Wörtern geschaffen.
Wie wir über die Welt denken und – vermutlich noch wichtiger – wie wir von ihr erzählen, hat daher eine ungeheure Bedeutung. Was geschieht, aber nicht erzählt wird, hört auf zu sein und vergeht. Das wissen nicht nur die Historiker sehr genau, sondern auch (oder vielleicht vor allem) Politiker und Tyrannen jeglicher Couleur. Wer an der Geschichte webt, der hat die Macht.
Unser heutiges Problem scheint darin zu bestehen, dass wir nicht nur für die Zukunft, sondern auch für das ganz konkrete »Jetzt«, für die rasend schnellen Veränderungen der Welt, noch keine passenden Erzählformen haben. Es fehlt uns die Sprache, es fehlen Sichtweisen, Metaphern, Mythen und neue Märchen. Und so müssen wir immer wieder erleben, wie überholte, angerostete Erzählformen vor Zukunftsvisionen gespannt werden, vielleicht weil man meint: Besser etwas Altes als nichts Neues, oder weil man versucht, auf diese Weise mit den eigenen beschränkten Horizonten zurechtzukommen. Kurz gesagt: Es mangelt uns an neuen Methoden, von der Welt zu erzählen.
Wir leben in einer Zeit der vielstimmigen Ich-Erzählungen, von überallher umschwirrt uns Stimmengewirr. Mit »Ich-Erzählungen« meine ich die Art von Geschichten, die eng um das »Ich« des Schreibenden kreisen, der mehr oder weniger verhohlen nur über sich und durch sich schreibt. Diese individualisierte Sichtweise, die Stimme aus dem »Ich«, halten wir für besonders natürlich, menschlich, authentisch, selbst wenn sie auf eine breitere Perspektive verzichtet. Wer in der Ich-Form erzählt, webt ein vollkommen einzigartiges Muster, hat als Individuum ein Gefühl von Autonomie, ist sich seiner selbst und seines Schicksals bewusst. Zugleich tritt dieses »Ich« aber in Opposition zur Welt – und das kann zu einer Entfremdung führen.
Ich denke, die Ich-Erzählung ist überaus bezeichnend für unseren gegenwärtigen Blick auf die Welt, bei dem der einzelne Mensch die Stellung eines subjektiven Mittelpunkts einnimmt. Die westliche Zivilisation fußt größtenteils auf der Entdeckung des Selbst. Es ist einer der entscheidenden Maßstäbe für die Realität. Der einzelne Mensch ist der Hauptakteur; sein Urteil – obzwar eines unter vielen – besitzt Gültigkeit. Die Ich-Erzählung scheint eine der größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zu sein; man liest sie ehrfurchtsvoll und befindet sie für glaubwürdig. Die Welt mit den Augen eines »Ich« zu sehen und sie in dessen Namen wahrzunehmen, stellt eine Verbundenheit mit dem Erzähler her wie keine andere Erzählweise. Durch sie werden wir in seine individuelle, einzigartige Lage versetzt.
Es kann nicht oft genug betont werden, was die Ich-Erzählweise für die Literatur, für die menschliche Zivilisation im Allgemeinen bewirkt hat: Sie machte die Erzählung über die Welt als einen Ort, an dem Helden oder Gottheiten ohne unseren Einfluss handelten, zu unserer individuellen Erzählung und überließ so die Bühne Menschen wie uns. Zudem können wir uns mit Menschen, die so sind wie wir, leicht identifizieren – und diesem Umstand ist es zu verdanken, dass zwischen dem Erzähler und seinem Leser oder Zuhörer eine emotionale, auf Empathie beruhende Übereinstimmung entsteht. Empathie wiederum schafft Nähe, lässt Grenzen verschwinden. Nichts leichter, als in einem Roman die Grenzen zwischen Erzähler-Ich und Leser-Ich zu verwischen – ein »fesselnder« Roman zählt geradezu darauf, dass sie aufgehoben werden, dass der Leser, seiner empathischen Einfühlung zum Dank, für eine gewisse Zeit zum Erzähler wird. Die Literatur ist somit zu einem Ort geworden, an dem Erfahrungen ausgetauscht werden, zu einer Agora, auf der jeder Einzelne von seinem Schicksal erzählen oder einem Alter Ego das Wort erteilen kann. Ein demokratischer Raum: Jeder und jede darf das Wort ergreifen, sich eine Stimme erschaffen. In der Geschichte der Menschheit haben sich wohl noch nie so viele Menschen mit Schreiben und Erzählen befasst wie heute – um das festzustellen, genügt ein Blick in die erstbeste Statistik.
Auf Buchmessen sehe ich jedes Mal, wie viele neu erschienene Bücher das Ich des Autors oder der Autorin ins Zentrum rücken. Der Instinkt sich auszudrücken, der Instinkt der Expression – ein womöglich ebenso starker Instinkt wie unsere anderen lebenserhaltenden Instinkte – tritt am umfassendsten in der Kunst zutage. Wir wollen bemerkt werden, wollen uns außergewöhnlich fühlen. Narrative des Typus »Ich erzähle dir meine Geschichte«, »Ich erzähle dir meine Familiengeschichte« oder schlicht »Ich erzähle dir, wo ich gewesen bin« bilden heute die beliebteste literarische Gattung. Und diese Gattung ist auch deswegen so verbreitet, weil wir heute nahezu alle des Schreibens mächtig sind und immer mehr Menschen die früher nur wenigen vorbehaltene Möglichkeit besitzen, sich in Worten, in Geschichten auszudrücken. Paradoxerweise ist das Ergebnis ein Chor aus lauter Solisten – die Stimmen bilden ein Gewirr, sie rivalisieren um Aufmerksamkeit, schlagen ähnliche Pfade ein, um einander schließlich doch zu übertönen. Wir erfahren alles über die Erzähler, können uns mit ihnen identifizieren, ihr Leben wie unser eigenes durchleben. Trotzdem ist das, was der Leser erfährt, überraschend häufig unvollständig und wenig befriedigend, stellt sich doch heraus, dass die Expression des Autoren-Ichs keine Universalität garantiert. Was uns fehlt, ist – so scheint es – die parabolische Dimension der Erzählung.