FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 57 · März 2020
Quentin Tarantino
Herausgeber: Jörg Helbig
Print ISBN 978-3-96707-069-9
E-ISBN 978-3-96707-071-2
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Quentin Tarantino: ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD (2019)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
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Jörg Helbig
Rock ‘n’ roll and drugs and violence. Quentin Tarantino – einer der letzten Puristen des Kinos
Jörg Helbig
MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY. Quentin Tarantinos vergessenes Filmdebüt
Rainer Winter
PULP FICTION als Erfahrungsmodus. Quentin Tarantino und die Fabrikation des Populären
Andreas Rauscher
Across 110th Street. Genre-Grenzüberschreitungen in JACKIE BROWN
Felix Schniz
Bricolage einer Filmgeschichte. KILL BILL VOL. 1 & VOL. 2
Arno Rußegger
Falsch gezählt. Zur Episode »The Man from Hollywood« aus FOUR ROOMS
Sabrina Gärtner
Fuß-Noten. Zur Bedeutung von Frauenfüßen in DEATH PROOF
Matthias Klestil
»What shall the history movies sound like?« Metacinematischer Sprachgebrauch und amerikanische Kulturkritik in INGLOURIOUS BASTERDS
Angela Fabris
Musikalisches Mashup und filmische Synästhesie. Die multisensorische Konzeption von DJANGO UNCHAINED
Lioba Schlösser
Performatives Erzählkino im Breitfilmformat. Zur Rolle von Gewalt und Brutalität in THE HATEFUL EIGHT
Jörg Helbig
Willkommen im Spiegellabyrinth. Exzess, Ironie und Selbstreflexion in ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Jörg Helbig
Quentin Tarantino – einer der letzten Puristen des Kinos
»Wenn der Tag kommt, an dem ich nicht mehr
alles für den Film geben will, ist Schluss.
Das ist kein Teilzeitjob. Es ist mein Leben.«1
(Quentin Tarantino)
Im Januar 1992 präsentierte ein 28-jähriger, unbekannter Amerikaner beim Sundance Film Festival seinen Film RESERVOIR DOGS und wurde von der Kritik – je nach Geschmack – umgehend als »Wunderkind« oder »enfant terrible« beschrieben. Der junge Mann polarisierte Kritiker und Zuschauer wie kaum ein anderer Regisseur zuvor, er wurde in den Himmel gelobt oder in der Luft zerfetzt, doch eines konnte man ihm gegenüber nicht sein – gleichgültig. Mit RESERVOIR DOGS und dem Nachfolgefilm PULP FICTION (1994) fegte der Autodidakt wie ein Orkan durch das behäbige Studiosystem Hollywoods und pulverisierte im Alleingang viele klassische Regeln des Filmemachens und Drehbuchschreibens. Unweigerlich wurde Quentin Tarantino zum Vorbild einer ganzen Generation junger Filmemacher.
Aus dem 28-jährigen Rookie des Jahres 1992 ist heute, knapp 30 Jahre später, ein Regisseur geworden, dessen Name längst eine Marke darstellt. Wie Tarantinos Biograf Wensley Clarkson beobachtete, ist er der erste Regisseur in der Geschichte Hollywoods, der wie ein Rockstar behandelt wird.2 Seine Werke werden vom Publikum mit Spannung erwartet, und die Veröffentlichung eines neuen Films ist jedes Mal ein Event, das für weltweite Schlagzeilen sorgt. Etwas Vergleichbares hat es seit den Glanzzeiten von Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick wohl nicht mehr gegeben. Wie er anlässlich der Premiere von DJANGO UNCHAINED in einem Interview betonte, ist sich Tarantino dieser Tatsache vollkommen bewusst: »Ich hoffe, dass meine Filme ein kulturelles Ereignis sind, so wie eine Platte von Bob Dylan oder ein Roman von Hemingway in ihrer Zeit als Event wahrgenommen wurden.«3
Den Ruhm eines Weltstars hat sich Tarantino trotz – oder gerade wegen seines relativ schmalen Œuvres erarbeitet. Nach offizieller Zählung hat der Regisseur im Sommer 2019 gerade erst seinen neunten Spielfilm veröffentlicht. Dies entspricht einer durchschnittlichen Frequenz von einem Spielfilm alle drei Jahre, ein Wert, den er mit Stanley Kubrick teilt (der 16 Filme in 48 Jahren inszenierte). Bei den neun Filmen handelt es sich um RESERVOIR DOGS (1992), PULP FICTION (1994), JACKIE BROWN (1997), KILL BILL (2003/04), DEATH PROOF (2007), INGLOURIOUS BASTERDS (2009), DJANGO UNCHAINED (2012), THE HATEFUL EIGHT (2015) und ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD (2019).
Diese Zählweise wurde u. a. durch das Filmposter zu THE HATEFUL EIGHT legitimiert, auf dem es hieß: »The 8th Movie by Quentin Tarantino«. Ein Einwand ist an dieser Stelle dennoch angebracht, denn diese Zählweise ist nicht zwingend. Sie verschleiert die Tatsache, dass KILL BILL aus zwei separat veröffentlichten Teilen besteht, und sie kehrt einige von Tarantinos Regiearbeiten unter den Teppich, insbesondere sein Regiedebüt MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY (1987), aber auch seine Mitwirkung an Teamarbeiten wie FOUR ROOMS (1995) und SIN CITY (2005). Darüber hinaus inszenierte Tarantino einige Episoden für amerikanische Fernsehserien, schrieb die Drehbücher für die Filme TRUE ROMANCE (1993), NATURAL BORN KILLERS (1994) und FROM DUSK TILL DAWN (1996) und hatte bemerkenswerte schauspielerische Auftritte – neben kleineren Rollen in seinen eigenen Filmen spielte er insbesondere in Robert Rodriguez’ Filmen DESPERADO (1995), FROM DUSK TILL DAWN und PLANET TERROR (2007) mit, außerdem im Musikvideo für Leonard Cohens »Dance Me To The End Of Love« (1995).
Das Kernstück von Tarantinos künstlerischem Schaffen bleiben aber natürlich seine Spielfilme. Sie sind die Grundlage und der wichtigste Maßstab für den Kult, der den Regisseur mittlerweile umgibt. Doch was macht die Faszination dieser Filme aus? Kaul/Palmier verweisen in diesem Zusammenhang auf die Art und Weise, wie Tarantino seine Geschichten erzählt, und benennen acht Kriterien, die sie als kennzeichnend für die Filmästhetik des Regisseurs erachten.4 Im Einzelnen sind dies: »Genremischung und interfilmische Verweise, Episodenhaftigkeit, Dialogizität5, Zitate und Anspielungen, selbstreferenzielle Fiktionalität, Erwartungsbrüche, komische Dialoge, komische Gewaltdarstellung«. Diese Kriterien werden sowohl in Kritiken als auch in der Forschungsliteratur immer wieder genannt und kommen auch in den Beiträgen des vorliegenden Bands zum Ausdruck. Um Tarantinos Standing als Ikone Hollywoods besser zu verstehen, sollte man diesen Katalog um drei Aspekte erweitern, nämlich Tarantinos puristische Attitüde, sein Status als auteur und sein Verhältnis zum Publikum.
Erstens: Quentin Tarantino ist einer der letzten Puristen des Kinos. In einer Zeit, in der Hollywood von mehr oder wenigen gleichförmigen Blockbustern dominiert wird, die von digitalen Effekten leben und deren Regisseure kaum jemand kennt, bildet Tarantino einen Fels in der Brandung. Seinen Ruf als »der Regisseur, der das Kino wiedererfand«6 verdankt er der Vehemenz, mit der er traditionellen kinematografischen Techniken die Treue hält. Tarantino besteht darauf, seine Filme auf herkömmlichem Zelluloid zu drehen, anstatt sie digital zu produzieren. Und, wichtiger noch, als einer der Letzten seines Fachs produziert er seine Filme dezidiert und ausschließlich für die Kinoaufführung, nicht etwa für Streamingdienste. Dies ist kein nostalgisches Festhalten an einer aussterbenden Technologie, sondern eine konsequente Nutzung der Stärken des Mediums, in dem Tarantino arbeitet. Das markanteste Beispiel hierfür ist wohl THE HATEFUL EIGHT, für den der Regisseur das visuell überwältigende 70 mm Ultra Panavision Breitwandformat reanimierte, das ein Seitenverhältnis von 2,76:1 aufweist.7 Dieses Format war zuvor seit einem halben Jahrhundert nicht mehr zum Einsatz gekommen – und wurde ein Jahr später prompt für die Star-Wars-Folge ROGUE ONE (2016) kopiert. Eine weitere cineastische Trumpfkarte, die Tarantino gerne ausspielt, ist die epische Länge seiner filmischen Erzählungen. Die Mehrzahl seiner Filme überschreitet die 2-Stunden-Marke deutlich, seit INGLOURIOUS BASTERDS nähern sie sich sogar einer dreistündigen Spieldauer. Diese Wertschätzung der Traditionen des Kinos – die sich auch inhaltlich niederschlagen – muss man Tarantino hoch anrechnen.
Zweitens: Tarantino gehört zu den vergleichsweise wenigen zeitgenössischen Filmregisseuren, die man als auteurs bezeichnen kann – und dies in doppeltem Sinne: Im Gegensatz zu den meisten Regisseuren besitzt er das seltene Privileg, Filme zu inszenieren, die auf seinen eigenen Drehbüchern basieren. Sein dahinter stehendes Credo lautet, dass es einem Regisseur Handschellen anlegt, wenn er die Ideen fremder Leute inszeniert.8 Diesen durchaus elitären Standpunkt kann sich Tarantino leisten, weil er ein begnadeter Drehbuchautor ist. Seine Skripte verkaufen sich erfolgreich in Buchform, wurden zweimal (für PULP FICTION und DJANGO UNCHAINED) mit dem Academy Award ausgezeichnet und dienten unzähligen Epigonen als Leitfäden. Tarantinos kreative Dramaturgie bildet das Fundament für den markanten Stil, die signature seiner Filme, die so unverkennbar ist, dass es, wie Wensley Clarkson behauptete, mit Ausnahme von Woody Allen niemanden gäbe, dessen Filme man leichter identifizieren könne.9 Tatsächlich hat sich zur Beschreibung seiner typischen Stilmittel sogar ein spezielles Adjektiv – tarantinoesk – eingebürgert. Zu der tarantinoesken Filmästhetik trägt nicht unwesentlich die scheinbare Mühelosigkeit bei, mit der Tarantino es schafft, visuell einprägsame Einstellungen und Szenen zu kreieren, die sich feste Plätze in der Ikonografie der Filmgeschichte gesichert haben. Zweifellos kann man jeden seiner Filme anhand eines einzigen Bildes identifizieren – eine Fähigkeit, die nur sehr wenige Regisseure besitzen.
Die ikonische Tanzsequenz, die man sofort mit PULP FICTION assoziiert
Es ist kein Widerspruch zu seinem auteur-Status, dass sich Tarantino bei zahllosen Regiekollegen bedient. Seine Filme leben von Intertextualität, von Anspielungen, Referenzen, Anleihen und Zitaten. Unter Nutzung seiner enzyklopädischen Kenntnisse der Filmgeschichte stiehlt der Regisseur, wie er selbst zugibt, hemmungslos: »Great artists steal, they don’t do homages (…). If my work has anything it’s that I’m taking this from that and that from that and mixing them together and if people don’t like it then tough titty, don’t go and see it, all right?«10
Tarantino bekennt sich freimütig zu den Vorbildern, die ihn beeinflusst haben. Neben Amerikanern wie Howard Hawks, Brian De Palma, und Martin Scorsese zählen dazu insbesondere auch europäische Regisseure wie Jean-Luc Godard, Sergio Leone und Sergio Corbucci. Die individuellen Filme, die Tarantino beeinflusst haben11 – THE KILLING, RIO BRAVO, BANDE À PART, THE GOOD, THE BAD AND THE UGLY, COFFY, LADY SNOWBLOOD, CARRIE, THE THING, um nur wenige zu nennen – decken ein breites Spektrum von Filmgenres ab und verraten Tarantinos Faible für die B-Movie-Genres der 1960er und 1970er Jahre wie den Italowestern, den asiatischen Martial-Arts-Film und den Blaxploitationfilm, die fast schon der Vergessenheit anheimgefallen waren, bis Tarantino sie quasi en passant ins Rampenlicht des Mainstream gerückt hat.12
Doch obwohl sich Tarantino in jedem seiner Filme aus dem Fundus der Kinogeschichte bedient – in seinem jüngsten Film ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD exzessiver denn je –, ist er alles andere als ein Plagiator. Vielmehr stellt er die Zitate in neue Kontexte und kombiniert sie zu etwas genuin Eigenem. Tom Shone bezeichnete dies als »a creative method that was to be his mainstay for the next three decades. Drawing inspiration and sometimes whole plot ideas from the plot-bank to a degree that might make some writers sweat, Tarantino would then proceed to render his version of it, so wholly other as to burn off accusations of plagiarism in the heat of the adjective ›Tarantinoesque‹.«13
Drittens: Ungeachtet der Ausnahmestellung, die er als Kultregisseur einnimmt, verliert Tarantino nie den Dienst am Publikum aus den Augen. »Ich sehe mich in erster Linie als Entertainer«, gab er einmal Auskunft. »Ich will cineastische Momente erschaffen und mein Publikum gut unterhalten.«14 Seine oft kolportierte Aussage, dass er Filme mache, die er selbst gerne sehen wolle, bedeutet mithin keineswegs, dass ihn die Erwartungen seines Publikums nicht interessieren. Tarantino, der seit seiner Jugend selbst ein enthusiastischer Kinogänger ist, beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie seine Filme oder eine bestimmte Szene auf die Zuschauerinnen und Zuschauer wirken. Um dies herauszufinden, besucht er gerne unerkannt Aufführungen seiner Filme in verschiedenen Kinos, und nach Testvorführungen scheut er nicht davor zurück, Szenen zu ändern, auf die das Publikum negativ reagiert. Beispiele hierfür gab es in DJANGO UNCHAINED, wo (zu) drastische Darstellungen der Brutalität der Sklaverei das Testpublikum verstörten. Tarantino bemerkte hierzu: »Ich habe diese Szenen danach geändert, weil es mir ja nicht darum geht, die Zuschauer zu traumatisieren.«15
Damit kommt das bei Tarantino wohl unvermeidliche Thema der Gewalt ins Spiel. Der Slogan sex and drugs and rock ‘n’ roll müsste für Tarantino umgeschrieben werden zu rock ‘n’ roll and drugs and violence. Während der Sex in seinen Filmen in auffälliger Weise abwesend ist, wurden Gewaltdarstellungen so etwas wie sein Markenzeichen, und zwar schon seit Beginn seiner Karriere. Die berüchtigte Szene in RESERVOIR DOGS, wo ein Gangster einem Polizisten mit dem Rasiermesser ein Ohr abtrennt, löste seinerzeit heftige Reaktionen aus. Der Regisseur zeigte sich hiervon überrascht, denn schließlich wird die grausame Tat gar nicht visuell dargestellt, weil die Kamera zuvor dezent zur Seite schwenkt.
Dass das Publikum seine Filme anders wahrnimmt als er selbst, stellt für Tarantino aber kein Problem dar, im Gegenteil. Sobald er einen Film in die Öffentlichkeit entlässt, gibt er die Deutungshoheit ausdrücklich an die individuellen Zuschauerinnen und Zuschauer ab: »If a million people see my movie, I want them to make a million different movies in their head«16. Nach heutigem Stand wird Quentin Tarantino nur noch einen Film in die Öffentlichkeit entlassen. Seit Jahren kündigt er an, insgesamt nur zehn Filme inszenieren zu wollen. Danach werde er sich zurücklehnen und allen potenziellen Nachfolgern zurufen: »Match that shit!«17
Doch wer könnte es ihm gleichtun? Tarantino selbst sieht momentan offenbar keine ernsthafte Konkurrenz: »Auch wenn es eine Menge interessanter, junger Filmemacher gibt, sehe ich ehrlich gesagt im Moment keine Avantgarde, die mich zu überrennen droht.«18 Sollte Tarantino nach seinem nächsten Film tatsächlich die Regiearbeit an den Nagel hängen, wird er wohl eine große Lücke hinterlassen.
1 Zit. n. Tom Shone, Quentin Tarantino. A Retrospective, London 2017, S. 244 (übers. J. H.) — 2 Wensley Clarkson, Quentin Tarantino. The Man, the Myths and His Movies, London 2007, S. xiv. — 3 Martin Schwickert, »Es gibt Gewalt, die Spaß machen kann.« Interview mit Quentin Tarantino, in: Zeit online, 9.1.2013, https://www.zeit.de/kultur/film/2013–01/Quentin-Tarantino-Interview-Django-Unchained/komplettansicht (letzter Zugriff am 9.9.2019). — 4 Vgl. Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier, Quentin Tarantino, Paderborn 2016, S. 13. — 5 Dieser Begriff meint hier nicht eine intertextuelle Disposition im Sinne Michail Bachtins, sondern die häufige Verwendung »selbstzweckhafter« Dialoge in Tarantinos Filmen. Vgl. ebd., S. 16f. — 6 So der Untertitel einer Monografie des italienischen Filmkritikers Alberto Morsiani: I film di Quentin Tarantino. Il regista che ha reinventato il cinema, Rom 2016. — 7 Gerold Marks, »Quentin Tarantinos THE HATEFUL 8 in analogen 70mm in Deutschland!«, http://digitaleleinwand.de/2015/12/17/quentin-tarantinos-the-hateful-8-in-analogen-70mm-in-deutschland/ (letzter Zugriff am 31.8.2019). — 8 Vgl. Clarkson, Quentin Tarantino (s. Anm. 2), S. xvi. — 9 Ebd., S. xv. — 10 Shone, Quentin Tarantino (s. Anm. 1), S. 58. — 11 Für eine umfassende Übersicht vgl. u. a. Larry Fitzmaurice, »Quentin Tarantino: The Complete Syllabus od His Influences and References«, https://www.vulture.com/2015/08/quentin-tarantino-the-complete-syllabus.html (letzter Zugriff am 28.8.2019). — 12 Eines der populärsten B-Movie-Genres der 1970er Jahre, der Softcore Sexploitationfilm, fehlt in dieser Aufzählung. Während Tarantinos Filme von den genannten Genres zum Teil stark beeinflusst sind, hat er den Sexploitationfilm bislang gemieden. In einem Interview gab er an, dass er mit der Idee, einen Erotikfilm zu drehen, gespielt habe, sie dann aber aus persönlichen Gründen verworfen habe: »If I actually do an erotic movie, I’m going to have to reveal what I find sexy, what turns me on. And when it comes to sex in movies, it’s got to be kind of kinky, because that’s what’s cinematic, that’s what’s fun,« erklärte er. »But my problem wouldn’t be revealing myself. My problem would be doing a press tour talking about me revealing myself. And how creepy that would be, how creepy the questions would be. « Matthew Jackson, »Quentin Tarantino films that never happened«, https://www.looper.com/144456/quentin-tarantino-films-that-never-happened/ (letzter Zugriff am 10.9.2019). — 13 Shone, Tarantino (s. Anm. 1), S. 60. — 14 Schwickert, »Es gibt Gewalt, die Spaß machen kann« (s. Anm. 3). — 15 Vgl. ebd. — 16 Shone, Quentin Tarantino (s. Anm. 1), S. 16. — 17 Ebd., S. 256. — 18 Schwickert, »Es gibt Gewalt, die Spaß machen kann« (s. Anm. 3).
Jörg Helbig
Quentin Tarantinos vergessenes Filmdebüt
»Rather than spend $ 60,000 for film school, spend $ 6,000
for a movie. That’s the best film school in the whole world.«1
(Quentin Tarantino)
Am Beginn von Quentin Tarantinos filmischem Œuvre steht das 1992 erschienene Gangsterdrama RESERVOIR DOGS – so stellt es sich zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung dar. Tatsächlich hatte Tarantino aber bereits Mitte der 1980er Jahre einen Film mit dem Titel MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY gedreht. Dieser Film wird in der Internet Movie Database mit dem Erscheinungsjahr 1987 gelistet,2 wurde jedoch niemals offiziell aufgeführt, und seine schiere Existenz ist vermutlich nur Personen bekannt, die sich intensiver mit dem Regisseur auseinandersetzen. Tarantino selbst hat sich dieses Films niemals gerühmt, aber immerhin hält er ihn – wie das obige Motto verrät – für einen mehr als adäquaten Ersatz für die Filmhochschule, die er nie besucht hat. Tarantinos damaliger Kumpel Craig Hamann, von dem die ursprüngliche Idee zu MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY stammte, beschrieb diesen Effekt so: »Quentin has said, and I agree, that this was our film school. We learned more doing that than if we had gone to film school.«3
In der Literatur über Tarantino fand MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY mit wenigen Ausnahmen4 bislang kaum Beachtung. Der Film wird entweder gänzlich ignoriert5 oder auf engstem Raum abgehandelt6, meist auf wenig schmeichelhafte Weise: Scholten bezeichnet ihn als »dilettantisch«7, für Kaul/Palmier ist er »qualitativ gescheitert«, ja gar ein »Desaster«8, Tom Shone spricht etwas nachsichtiger von »a mess« und attestiert dem Film zudem, dass er durch Quentin Tarantinos eindrucksvolle schauspielerische Performance gerettet wird9. Unabhängig davon, wie man die Qualität von Tarantinos Debütfilm einschätzt, bleibt festzuhalten, dass eine filmwissenschaftliche Auseinandersetzung mit MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY bislang nicht stattgefunden hat. Ein unvoreingenommener Blick auf diesen Film soll daher am Anfang dieses Bands stehen.
Die Produktionsgeschichte des 1984 begonnenen Filmprojekts könnte selbst den Stoff für ein Drehbuch abgeben: Zwei Schauspielschüler (Quentin Tarantino und Chris Hamann), beide ohne nennenswerte praktische Filmerfahrung, beschließen einen Film zu drehen, mit dem sie ihr Talent beweisen und sich eine Visitenkarte für die Hollywoodstudios erarbeiten wollen. Gemeinsam schreiben sie das Drehbuch für eine Komödie. Da die beiden nicht einmal das lächerlich geringe Budget von $ 5.000 aufbringen können, muss an allen Ecken gespart werden. Die Filmcrew wird aus dem Freundes- und Bekanntenkreis rekrutiert, an den Wochenenden wird eine alte 16-mm-Bolex-Kamera ausgeliehen, in Kopieranstalten werden unbelichtete Filmreste erbettelt, und die Filmsets werden in Privatwohnungen improvisiert oder in Guerillamanier gekapert. Die beiden Amateurfilmer nehmen möglichst viele Funktionen zugleich wahr, sie sind Ko-Autoren und Ko-Produzenten und spielen selbst die beiden Hauptrollen, Tarantino betätigt sich zudem als Regisseur und Cutter. Immer, wenn das Geld ausgeht, werden die Dreharbeiten für längere Zeit unterbrochen, was nicht nur der Kontinuität abträglich ist,10 sondern auch dazu führt, dass sich die Produktion über dreieinhalb Jahre hinzieht. Als der 69-minütige Schwarz-Weiß-Film fertiggestellt ist und zum Kopieren gebracht wird, werden mehrere Filmrollen durch ein Feuer im Filmlabor zerstört, nur 36 Minuten bleiben erhalten. Daraufhin gibt Tarantino das Projekt endgültig auf.11
Wie Wensley Clarkson in seiner gründlich recherchierten Biografie Quentin Tarantino. The Man, the Myths and His Movies berichtet, scheint Tarantino mit diesen Widrigkeiten erstaunlich souverän umgegangen zu sein: »It was chaos. The young, inexperienced cast and crew hit a whole range of difficulties, from electric cables that were not long enough, to actors not showing up on time. Despite all this, Quentin kept reasonably calm throughout. He recognised the entire process as part of a learning curve that he had to experience if he was ever to go on to bigger and better things.«12
Nicht minder kurios als die Produktionsgeschichte ist die autobiografisch inspirierte Story des Films um die beiden Freunde Clarence Pool (Tarantino) und Mickey Burnett (Hamann), die beide als DJs bei dem Radiosender K-Billy arbeiten. Mickey, der vor kurzem von seiner Freundin verlassen wurde, wird, ebenso wie Clarence, am Vorabend seines 30. Geburtstags gefeuert. Grund hierfür ist ein von Clarence verschuldetes Missverständnis, das beide als drogensüchtig erscheinen lässt. Clarence, ein unerschütterlicher Optimist, möchte seinen deprimierten Kumpel aufmuntern, indem er heimlich eine Geburtstagsparty organisiert und das Callgirl Misty (Chrystal Shaw) engagiert, dem er den Schlüssel für Mickeys Wohnung gibt. Trotz der gut gemeinten Planung gerät der Abend für Mickey zu einem Alptraum. Zuhause findet er seine Ex-Freundin Pandora (Linda Kaye) vor. Zu Mickeys Freude sieht es zunächst so aus, als wolle sie wieder mit ihm zusammen sein, doch stellt sich schnell heraus, dass sie nur gekommen ist, um ihre alten Rod-Stewart-Kassetten abzuholen. Als Mickey später unter der Dusche steht, taucht plötzlich Misty auf, die ihn auffordert, ins Schlafzimmer zu kommen, sobald er fertig geduscht hat. Statt des erhofften Sex wird Mickey jedoch von Mistys afroamerikanischem Zuhälter Clifford (Al Harrell) verprügelt. Ein (sexuelles) Happy End gibt es lediglich für Clarence und Misty, die sich in dieser Nacht ineinander verlieben. Aus dem 99-seitigen Drehbuch geht hervor, dass die nicht erhalten gebliebenen Filmteile noch zahlreiche weitere Unannehmlichkeiten für Mickey beinhalteten, die direkt oder indirekt sämtlich von Clarence verschuldet sind: Mickey wird mehrmals versehentlich k. o. geschlagen, u. a. von Clarence und einem sadistischen Polizisten; während eines handgreiflichen Streits mit Clarence fällt Mickey kopfüber in seine Geburtstagstorte; jedes Mal, wenn er unter der Dusche steht, kommt jemand herein und sieht ihn nackt; ein Schlägertyp bedroht ihn, weil er angeblich dessen 10-jährige Tochter belästigt hat usw. Kurz vor Schluss des Films setzt sich der völlig desolate Mickey neben Clarence auf die Motorhaube eines Autos und gelangt zu dem Fazit: »This has been the worst night of my life.«13 Als Wiedergutmachung schenkt ihm Clarence einen Joint und geht anschließend in eine Bar, um ein Bier zu trinken. Mickey raucht den Joint, doch als ein Blaulicht aufblitzt, bemerkt er, dass er auf der Motorhaube eines Polizeiautos sitzt …
Die tragikomische Handlung um Mickey umfasst indes nur etwa ein Drittel des Films. Den weitaus größeren Raum nehmen Szenen ein, die Clarence (der ebenso wie Tarantino selbst eine notorische Quasselstrippe ist) im Dialog mit diversen Personen zeigen. Diese Szenen, für die der Mickey-Plot quasi nur den Anlass liefert, sind die filmhistorisch bedeutsameren, denn sie beinhalten den Nukleus dessen, was spätere Filme von Tarantino auszeichnen wird. Dies betrifft zunächst den hohen Dialoganteil. Alle Filme des Regisseurs gelten als dialoglastig, und MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY bildet hier keine Ausnahme. Rund 60 % des Films zeigen Clarence im Gespräch mit anderen Figuren, wobei die Rollen sehr ungleich verteilt sind: Clarence ist weniger Zuhörer als monologischer Dauerredner. Seine Gesprächspartner sind oft Figuren, die – abgesehen von Mickey und Misty – für die Handlung des Films bedeutungslos sind. Auch treibt das, was Clarence ihnen mitteilt, die Handlung nicht voran. Die Dialoge bilden quasi autonome Einheiten, ohne jedoch reiner Selbstzweck zu sein. Vielmehr öffnen sie die Fenster zu dem intertextuellen Kosmos der Popkultur, in dem sich Tarantinos Filme bewegen.
Diese für Tarantinos nachfolgende Filme typische Vorgehensweise lässt sich bereits in der allerersten Szene von MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY nachweisen, die im Aufnahmestudio des Radiosenders K-Billy spielt, wo gerade die Clarence Pool Show live gesendet wird. Anwesend sind Clarence »The Hillbilly Cat« Pool und ein Studiogast namens Lenny Otis (Rowland Wafford), der Vorsitzende des kalifornischen Eddie Cochran Fan Clubs. Clarence erzählt weitschweifig, dass er sich noch genau an den Tag erinnern könne, an dem Eddie Cochran starb, obwohl er damals erst drei Jahre alt war. Er sei an jenem Tag ohne Grund äußerst depressiv gewesen und habe beschlossen, sich umzubringen. Also habe er die Badewanne mit heißem Wasser volllaufen lassen, um sich darin mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschlitzen. Dann habe er jedoch gesehen, dass im Fernsehen eine Folge der Serie THE PARTRIDGE FAMILY läuft und entschieden, sich zuvor noch die Sendung anzusehen. Die Folge sei allerdings so lustig gewesen, dass er anschließend keine Lust mehr hatte, sich umzubringen.
Abgesehen von ihrer komischen Wirkung verdeutlicht diese Szene, welch enorme Bedeutung Tarantino der populären Kultur als kollektivem Referenzrahmen beimisst. Der Tod eines Popstars, hier des amerikanischen Rockabilly-Sängers Eddie Cochran (1938–1960), wird als einschneidendes Ereignis gewertet, das sich ins kollektive Gedächtnis eingräbt,14 und der Verweis auf die amerikanische Sitcom-Serie THE PARTRIDGE FAMILYPARTRIDGE FAMILY