Zum Autor
Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, war u. a. unter den Finalisten für den Alfred-Döblin-Preis 2013, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Bleiweiß (2000), Die Leute aus Brody (2005). Bei Limbus: Tanzstraße (2010), Villa Klestiel (2011), Die Hunde im Souterrain (2014), Geisterroman (2016) und Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe (2019).
Adelbert von Chamisso (1781–1838)
Als Chamisso den Roman verlässt, ist er fünfundzwanzig Jahre alt. Wir wissen nicht, ob er schon eine Andeutung von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, seinem zum Weltbestseller gewordenen, in viele Sprachen übersetzten Märchen, im Herzen trug. Ähnlich zerrissen, wie er Schlemihl schilderte, dürfte sich Louis Adélaide Chamissot de Boncourt, der in Preußen den Namen Adelbert von Chamisso annahm und ein deutscher Dichter wurde, gefühlt haben. Die Jahre als Groupie der Madame de Staël, die ihn mit den führenden Geistesgrößen Europas zusammenbrachte, im Sommer 1810 in den Schlössern Chaumont und Fossé, später – von Napoleon aus Frankreich vertrieben – in Coppet am Genfer See, machten ihm nicht nur sein Schwanken zwischen Deutschland und Frankreich bewusst, sondern auch seine berufliche Ziellosigkeit. Eine auf Französisch geschriebene Komödie misslang, er zerstreute sich mit nutzlosen Degenkämpfen und fruchtlosen Diskussionen. Einzig die wilden Ausritte mit Staëls neunzehnjährigem Sohn Albert, mit dem er sich ein Zimmer teilte, verschafften ihm Befriedigung. Sie lasen zusammen Reiseberichte, lernten Englisch, träumten von der Südsee. Chamissos Freund aus Berliner Tagen Louis de la Foye, inzwischen Professor in Bayeux, schrieb besorgt: Wie kann man in der Schweiz Englisch lernen! Lerne doch lieber die Blumen kennen und lieben, dann bist du nicht allein, dann haben die schönen Gebirge Reiz für dich. Er regte sogar einen Pflanzenaustausch an: Kann Adelbert ihm nicht Alpenpflanzen verschaffen? Er selbst gäbe Seepflanzen dafür. Dass in Genf zwei führende Botaniker Europas lebten – Horace-Bénédict de Saussure und Augustin-Pyrame de Candolle –, nahm Chamisso erst durch diesen Weckruf wahr. Er begann, Pflanzen im Hochgebirge zu sammeln, und bestieg den Mont Blanc. Als Napoleons Scheitern 1812 absehbar wurde, zog Chamisso zurück nach Berlin und schrieb sich an der neugegründeten Universität für die Fächer Zoologie, Anatomie, Physiologie, Mineralogie und Botanik ein.
Das Signal zur allgemeinen Volkserhebung gegen die französische Fremdherrschaft, die Aufrufe eines Ernst Moritz Arndt, der keine Preußen, keine Bayern, keine Schwaben oder Sachsen, sondern nur noch Deutsche und Deutsche für Deutsche haben wollte, fanden starke Resonanz. Major von Lützow stellt in Breslau ein Freiwilligenkorps auf, zu dem nicht nur Joseph von Eichendorff und Theodor Körner stießen, sondern auch als Männer verkleidete Frauen. Und nachdem Friedrich Wilhelm III. sein Volk zu den Waffen gerufen hatte, die Universität geschlossen und der Kanonendonner schon zu hören war, konnte sich auch Adelbert Chamisso nicht mehr zurückhalten; schließlich fühlten sich er und seine Familie Preußen unendlich verbunden.
Seinem Wunsch, wieder preußischer Offizier zu werden, konnte jedoch wegen seines französischen Passes nicht stattgegeben werden. Während befreundete Intellektuelle und Künstler – Schleiermacher, Fichte, Iffland, auch Schadow – bis zu den Zähnen bewaffnet exerzierten und dabei keine allzu gute Figur abgaben, wie so mancher zeitgenössische Karikaturist feststellte, und der Dichter Friedrich de la Motte Fouqué als Freiwilliger in das Jägerbataillon des Brandenburgischen Kürassierregiments eintrat, wurde Chamisso in das brandenburgische Kunersdorf im Oderbruch zu Peter Alexander von Itzenblitz geschickt. Dieser, einer der reichsten Männer Preußens, betrieb mit seiner Frau Henriette Charlotte ein modernes landwirtschaftliches Unternehmen, führte ein offenes Haus, empfing Künstler, Schöngeister und Naturforscher und nahm auch den verarmten französischen Grafensohn bei sich auf, der weder ein Reitpferd noch einen Diener bei sich hatte – und sich zum Abendessen nicht einmal umziehen konnte.
In Kunersdorf freilich geschahen wegweisende Dinge. Adelbert begann seine naturwissenschaftliche Laufbahn: Zusammen mit dem Obergärtner Friedrich Walter untersuchte er die Wasserpflanzen im Schlosspark, sammelte Kräuter in den Feuchtgebieten der Oderniederungen und vervollständigte das 1803 von Carl Ludwig Willdenow aufgestellte Verzeichnis der auf den Friedländischen Gütern cultivierten Gewächse. Mindestens genauso wichtig ist allerdings, dass Chamisso im Kunersdorf’schen Bibliothekszimmer Peter Schlemihls wundersame Geschichte zu schreiben begann. Dass sie plötzlich aus ihm herausbrach und er sie in kurzer Zeit – als Blitz-Prosa, wie er es nannte – zu Papier brachte, spricht für ihre längst schon vorhanden gewesene Existenz.
Vom 30. Juli 1815 bis zum 3. August 1818 umsegelte Adelbert Chamisso als Botaniker des russischen Kriegsschiffs Rurik unter dem Kommando von Otto von Kotzebue die Welt. Dass seine Erzählung sich quasi in seiner Abwesenheit zum Weltbestseller entwickeln würde, nachdem sie 1814 erschienen und sehr bald ins Französische, Englische, Spanische und Italienische übersetzt worden war, hätte sich Chamisso in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ebenso wenig wohl, dass künftige Größen wie Thomas Mann und Franz Kafka sich für den Mann ohne Schatten so sehr begeisterten, dass sie ihn und seinen Schöpfer immer wieder als Inbegriff der Entfremdung bezeichneten und logischerweise die jüdische Konnotation der Kunstfigur betonten.
Nach seiner Rückkehr verfasste Chamisso einen Bericht über die ihn über England nach Teneriffa, Südamerika, Kamtschatka, die Beringstraße, weiter nach Kalifornien, auf die Sandwich-Inseln, nach Manila und Russland führende Reise. Der 1821 erschienene, Bemerkungen und Ansichten einer Entdeckungsreise genannte Aufsatz verknüpfte auf nie dagewesene Weise ethnografische mit kultur- und sprachwissenschaftlichen Überlegungen, bezog sich auf Forschungsliteratur und Poesie und verband Naturbeschreibungen sowie ornithologische Bestimmungen und Tierdarstellungen mit Fakten wie Ortskoordinaten, Reisedaten und Wetterverhältnissen. Die Gratwanderung zwischen seiner poetischen und seiner naturwissenschaftlichen Existenz gelingt Chamisso perfekt.
Der die Reise begleitende Maler Ludwig Choris porträtierte den jungen Adelbert: seine Locken unter der Mütze versteckt, gekleidet in eine Jacke mit Knebelknöpfen und Bordüren, die Pfeife in der Hand, verträumt in die Ferne schauend. Als er wieder in Berlin lebte, wissenschaftlich anerkannt und als Kustos des Botanischen Gartens und Leiter des Herbariums unermüdlich weiterarbeitend, verheiratet mit einer bürgerlichen Frau und Vater von fünf Kindern, schien er diesen sogenannten altdeutschen Rock noch zu tragen, wenn man ihm begegnete: groß gewachsen, seine gewaltige, nunmehr graue Mähne immer noch bis auf die Schultern reichend, heftig rauchend und schmauchend.
Seit einer Grippe fühlte sich Chamisso nicht mehr richtig gesund, er hustete stark und hielt dies für eine hartnäckige Erkältung, obgleich die Ärzte längst einen Lungentumor diagnostiziert hatten. Ein Jahr nach seinem Tod am 21. August 1838 im Alter von 57 Jahren widmete der spätere Paulskirchen-Parlamentarier Heinrich Laube ihm einen biografischen Essay, in welchem er ihn als liberalen Demokraten feierte und damit den Protest von Chamissos hochadeliger Schwester Louise hervorrief, die mit dem Werdegang ihres Bruders nie einverstanden gewesen war.
Ab 1831 begann Chamisso wieder Lyrik zu veröffentlichen und wurde mit seinen Erzählgedichten und Balladen zum Lesebuchdichter, auch war er mit Gustav Schwab Herausgeber des Musenalmanachs, unter dessen Dach Chamisso – harmoniesüchtig und rettungslos optimistisch – den unterschiedlichsten deutschen Dichtern, auch solchen, die sich bekriegten wie Heinrich Heine und August von Platen, Publikationsmöglichkeiten gewährte. Als er Heinrich Heine aufs Titelblatt hob, verließ Gustav Schwab wutentbrannt die Redaktion und kündigte Adelbert die Freundschaft. Ohnehin stand die Literaturzeitschrift unter der Kuratel der Zensur, Metternichs Spitzel-Wesen hatte sich längst auch in Preußen verbreitet.
Bis 2017 wurde übrigens der Chamisso-Preis verliehen an verheißungsvolle junge Schriftsteller, deren Muttersprache nicht die deutsche war und die man gerne Chamissos Enkelkinder nannte …
Chamissos Gedicht Das Dampfroß, geschrieben 1830 – vier Jahre vor der ersten Eisenbahnfahrt von Nürnberg nach Fürth und noch in Unkenntnis dessen, dass man die Lokomotive, die das Züglein zog, einmal so nennen würde – zeugt von seinen antizipatorischen Fähigkeiten. Abgesehen davon, dass er in dem in fünfhebigen Jamben, in Paarreimen und Strophen geformten Gebilde Einsteins Relativitätstheorie präludiert, wie Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Anthologie beschreibt, ist es außerdem ungemein witzig. Immerhin konnte der bereits todkranke Dichter 1837 auf der ersten Teilstrecke Leipzig–Dresden das Dampfross in Augenschein nehmen. Und auch Eisenbahnaktien kaufte er, was für seinen Optimismus spricht.
Chamissos Dampfroß hätte unser Romanheld lesen sollen auf seinen Reisen, in der Eisenbahn, im Flugzeug, in seinem Lotterbett. Es ist furios, und es passt gut zu Léon Saint Clairs unendlichem Leben.
Adelbert von Chamisso: Das Dampfroß
Schnell! schnell, mein Schmied! mit des Rosses Beschlag!
Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. –
„Wie dampfet dein ungeheures Pferd!
Wo eilst du so hin, mein Ritter wert?“ –
Schnell! schnell, mein Schmied! Wer die Erde umkreist
Von Ost in West, wie die Schule beweist,
Der kommt, das hat er von seiner Müh’,
Ans Ziel um einen Tag zu früh.
Mein Dampfroß, Muster der Schnelligkeit,
Läßt hinter sich die laufende Zeit,
Und nimmt’s zur Stunde nach Westen den Lauf,
Kommt’s gestern von Osten schon wieder herauf.
Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt,
von gestern zu gestern zurück sie geschraubt,
Und schraube zurück sie von Tag zu Tag,
Bis einst ich zu Adam gelangen mag.
Ich habe die Mutter, sonderbar!
In der Stunde besucht, da sie mich gebar;
Ich selber stand der Kreißenden bei
Und habe vernommen mein erstes Geschrei.
Vieltausendmal, der Sonne voran,
Vollbracht’ ich im Fluge noch meine Bahn,
Bis heut ich hier zu besuchen kam
Großvater als glücklichen Bräutigam.
Großmutter ist die lieblichste Braut,
Die je mit Augen ich noch erschaut;
Er aber, grämlich, zu eifern geneigt,
Hat ohne weitres die Tür mir gezeigt.
Schnell! schnell, mein Schmied! mich ekelt schier,
Die jetzt verläuft, die Zeit von Papier;
Zurück, hindurch! es verlangt mich schon,
Zu sehen den Kaiser Napoleon.
Ich sprech’ ihn zuerst auf Helena,
Den Gruß der Nachwelt bring’ ich ihm da;
Dann sprech’ ich ihn früher beim Krönungsfest
Und warn’ ihn, – o, hielt’ er die Warnung fest!
Bist fertig, mein Schmied? nimm deinen Sold,
Eintausendneunhundert geprägtes Gold.
Zu Roß! Hurra! nach Westen gejagt,
Hier wieder vorüber, wann gestern es tagt! –
„Mein Ritter, mein Ritter, du kommst daher,
Wohin wir gehen, erzähle noch mehr;
Du weißt, o, sag’ es, ob fällt, ob steigt
Der Kurs, der jetzt so schwankend sich zeigt?
Ein Wort, ein Wort nur im Vertrauen!
Ist’s weis’, auf Rothschild Häuser zu baun?“ –
Schon hatte der Reiter die Feder gedrückt,
Das Dampfroß fern ihn den Augen entrückt.
Epilog
Auf Rat des in eine elegante dunkelblaue Uniform gewandeten, dezidiert Hochdeutsch und sehr langsam sprechenden Portiers, der sich trotz einer sich vor seinem Tresen drängelnden Reisegruppe sehr viel Zeit nahm, beschloss Léon Saint Clair am nächsten Morgen, mit der Rhätischen Bahn Richtung St. Moritz bis Samedan zu fahren und dort in den Zug nach Pontresina zu steigen. Die Fahrt würde knapp zwei Stunden dauern, der Wetterbericht sei gut, der werte Gast würde dort oben – aufgrund der Schneefälle heute Nacht – eine grandiose Alpenlandschaft entdecken können, die vermutlich morgen schon – weil ein umfangreiches Tiefdruckgebiet angesagt sei – für den Zug- und Autoverkehr gesperrt wäre.
Während seines Rundgangs durch das idyllische Städtchen Chur hatte Léon den vom Rezeptionisten ausreichend frankierten Umschlag mit dem Speicherchip für Herrn Doktor und Frau Zucker in einen Briefkasten geworfen. Es gab wunderschöne kleine Läden in den engen Gassen, Léon konnte Juwelieren, Geigenbauern, Edelsteinschleifern und Herrenschneidern bei der Arbeit zuschauen. Sein Koffer befand sich im Hotel. Er würde sich vielleicht noch ein, zwei Tage Luxus gönnen, aber dann wäre er für ein neues Leben bereit. Als spätberufener Auszubildender, wie man heutzutage sagte, Schnittmuster ausrädeln in der Maßschneiderei, Holz zurechtschneiden beim Instrumentenmacher. Im allerschlimmsten Fall könnte er sich auch an irgendeine Kasse setzen, im Getränkemarkt, im Supermarkt, im Bioladen.
Im Atelier Adam trugen selbst die Lehrlinge Anzüge, fiel ihm ein, als ihn die rote Bahn über das Landwasserviadukt bei Filisur trug und die Luft kälter zu werden begann. Die gelben Maßbänder hatten die Jungs locker um den Hals gelegt, durch die offene Tür warfen sie ihm Blicke zu. Im Schaufenster lag ein Buch, dessen Titel ihn ansprach: The Gentleman’s Guide to Grooming and Style. Wenn es ihm in der Schweiz zu eng wurde, könnte er nach England weiterziehen, überlegte er. Als er bemerkte, dass er sich um einige Jahrhunderte vertan hatte, musste er lächeln – auf ein paar weniger oder mehr kam es wirklich nicht an. Der Gedanke, dass die ihn plötzlich durchströmende Sehnsucht mit einem gewissen Jérôme de Savigny zu tun haben könnte, mit dessen Kutsche vielmehr, in der er in die Welt hinausgefahren war, erfüllte ihn mit Zuversicht. Auf den Anfang kam es ihm an. Nichts musste so bleiben, wie es war.